Gezeitenruf - Yola Stahl - E-Book

Gezeitenruf E-Book

Yola Stahl

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Beschreibung

Wenn sich das Land in die See verliebt …

Muriel ist bereit, alles für König Cuan zu opfern, denn er rettete sie aus dem Meer und gab ihrem Leben als Ridare einen Sinn. Als der König im Sterben liegt, gibt es nur ein einziges Heilmittel: Das Herz eines Drachen.
Geführt von der Druvid Glenna macht sich Muriel auf den beschwerlichen Weg in das Brackmoor, um den letzten Drachen zu finden – eine Reise, die alles in Frage stellen wird, was sie zu wissen glaubt.
Und wieso schlägt ihr Herz in der Nähe der Druvid mit den Seeglöckchen im Haar nur so schnell ...?

Eine märchenhafte Sapphic Fantasy Romance inspiriert von der keltischen Mythologie.


Dich erwartet in Gezeitenruf ...

★ Zwei Frauen, die jede auf ihre Weise stark ist ★ Eine schicksalhafte Liebe ★ Eine bildgewaltige Sprache voller Poesie ★ Eine Welt voller Wesen aus der keltischen Mythologie und der Artussage ★ Ein Hauch Spice ★ Mehr als 30 schwarz-weiß Illustrationen und eine wunderschöne Buchgestaltung

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum
Vorwort
ERSTES BUCH: STILLE EBBE
1: Starre Maske
2: Kalte Rose
3: Stiller Aufbruch
4: Schöner Tod
5: Gebotener Anstand
6: Verlorene Heimat
7: Süßes Verhängnis
8: Kalte Mörderin
9: Unbekannte Dame
10: Schiefe Hütte
11: Brechendes Eis
12: Müdes Geheimnis
13: Falscher Krieg
14: Ungewollte Erinnerung
15: Silberner Gesang
16: Gewecktes Interesse
17: Fehlende Worte
18: Neugierige Welle
19: Glänzendes Blut
20: Zerstörte Hoffnung
ZWEITES BUCH: TIEFE WASSER
21: Unerwünschter Zweifel
22: Halbe Wahrheit
23: Schmerzende Erkenntnis
24: Dunkle Flecken
25: Zerstörerische Wut
26: Verlorene Scherben
27: Dampfender Wald
28: Nasses Kupfer
29: Erzwungene Aufmerksamkeit
30: Heißer Honig
31: Schlaflose Märchen
32: Zersplitterter Käfig
33: Endgültige Entscheidung
34: Unverhoffter Frühling
35: Weiße Angst
36: Verdrängte Wahrheit
37: Salzige Strömung
38: Fremde Nähe
39: Stumme Sehnsucht
40: Gestohlener Funke
DRITTES BUCH: KÜHNE FLUT
41: Schwarzer Honig
42: Drei Steine
43: Unbarmherzige Umarmung
44: Zwölf Glockenschläge
45: Bindendes Gelübde
46: Verwerflicher Wunsch
47: Untröstliche Träume
48: Törichte Wunder
49: Wiedergefundener Splitter
50: Zorniger Segen
51: Rasche Gnade
52: Verdiente Hoffnung
53: Blutiger Sand
54: Letzte Wahl
55: Goldener Schatten
56: Flammende Magie
57: Schlafender Drache
58: Lodernde Sterne
59: Unheilbare Wunde
60: Erwartungsvolle Stille
Epilog: Neue Gezeiten
Danksagung
Über die Autorin
Birkenherz Trilogie
Asche ist alles, was bleibt
Content Notes

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

© 2023 Yola Stahl

Karte erstellt mit Inkarnate.

Cover und Buchsatz von Yola Stahl.

 

Korrektorat von Marianne Molzer.

https://www.instagram.com/mari.yaniv.liest/

 

Yola Stahl

Obere Gartenstraße 14

64646 Heppenheim

 

www.birkenherz.de

www.instagram.com/yola.stahl_autorin

www.facebook.com/BirkenherzRoman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von Yola Stahl

 

Vorwort

 

So geschah es einst.

Es ward Licht, wo Dunkelheit herrschte.

Es ward Leben, wo Tod herrschte.

Es ward Liebe, wo Trauer herrschte.

 

So beginnen die Geschichten, in denen alles gut wird. Doch das hier ist ein dunkles Märchen. Wunderschönes wird passieren, aber auch Dinge, die schrecklich und traurig sind.

Wenn es dir nicht gut geht und du dir nicht sicher bist, ob dieses Buch für dich im Moment das richtige ist, dann geh bitte an das Ende und lies dir die Content Notes durch.

Achte bitte auf dich. Kenne deine Grenzen. Sei gut zu dir und liebe dich so, wie du bist. Scham, Schuld und Pflichtbewusstsein halten uns viel zu oft davon ab, die wichtigste Person in unserem Leben aufrichtig zu lieben: Uns selbst. Und davon erzählt dieses Märchen. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen.

 

Deine Yola

 

ERSTES BUCH: STILLE EBBE

 

»Die hohe Burg Tùriànmar« aus

»Das Buch der Balladen und Volkslieder«,

geschrieben und gesammelt von Saoirse Clàrsaich

 

Die hohe Burg Tùriànmar

Steht überm Meer ganz still und starr.

Sie trotzt der See und jedem Sturm,

Vom tiefsten Schacht zum höchsten Turm.

 

Geschlagen aus des Feuers Glut,

Erbaut aus Zorn und heller Wut.

Nie eingenommen dieser Schild,

Tobt die See auch noch so wild.

 

Der schwarze Turm trägt Licht so weit,

Zu jeder Zeit steht er bereit,

Da Wind und Wellen niemals schlafen,

Führt Feuer uns zum sich’ren Hafen.

 

Jedoch das Meer nagt Tag um Tag,

Die dunkle Tiefe wird zum Sarg,

So wehret sie der Flut sogar:

Die hohe Burg Tùriànmar.

 

 

 

 

1: Starre Maske

Schon seit drei Tagen tobte und schäumte das Meer, donnerte gegen die Klippen von Tùriànmar, als wollte es die Küste mitsamt der Burg zu sich in die Tiefe reißen. Der Sturm warf sich mit aller Kraft dem Felsen entgegen und ließ das Gemäuer erzittern.

Muriel legte eine Hand an die Wand und spürte dem Beben nach. Ein letztes Mal knirschte der Boden, dann verebbte die Erschütterung. Wetterleuchten erhellte die Galerie, erschuf Schatten wie zerrissene Banner, offenbarte den Kampf zwischen Land und See. Wolken und Wind umtobten die Festung und zerrten an ihren Wurzeln. Doch die schwarzen Türme streckten sich stur in den Himmel, während die Wellen am Stein zerschellten.

Tùriànmar, der Turm der Gezeiten, kann nicht bezwungen werden. Die Burg ist stark, das Meer zu schwach.

Und trotzdem erschauderte Muriel beim Klang der zornigen See. Wie so oft verspürte sie in ihrer Brust das altbekannte Flattern und die Atemnot.

Angst. Sie starrte auf ihre zitternden Finger. Dreiundreißig Jahre lebe ich hier und habe immer noch Angst vor dem Wasser.

Erbärmlich.

Sie rieb ihre steifen Hände. Bei Sturm schmerzten die Narben an den Fingern besonders scheußlich und das Stechen fraß sich bis in ihre Knochen hinein. Energisch zog Muriel die Lederhandschuhe nach, ließ ihre Fingerknöchel knacken und rückte den Waffengurt auf ihrer Hüfte zurecht. Ihre Finger schlossen sich um den Schwertgriff, als könnte sie an ihm Halt finden.

Stahl und Stein. Wenigstens zwei Dinge, auf die ich mich in der Sturmzeit verlassen kann.

Muriels Blick wanderte zum nächsten Fenster, doch in der Dunkelheit sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild. Sturmgepeitschte Wolkenfetzen zogen über den Himmel und verliehen ihr eine bedrohliche Krone. Wieder ächzte der Felsen von Tùriànmar unter einer besonders großen Welle. Unruhig wandte Muriel sich von ihrem Abbild ab. Obwohl sie wusste, dass keine einzige Haarsträhne unter dem Seidenstoff hervorsah, überprüfte sie erneut den Sitz des dunkelblauen Schleiers. Das Geräusch von Schritten ließ sie schuldbewusst zusammenzucken. Hastig drehte sich Muriel um.

Fin trat auf sie zu und er sah sterbenselend aus. Seine Haut wirkte blass, sein Blick war unstet. Der Prinz blinzelte sie an und wischte sich fahrig schwarze Haare aus dem Gesicht. »Sind sie schon wieder rausgekommen?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Nein.«

»Wieso brauchen sie so lang?« Er starrte auf die gewaltige Flügeltür, welche in die Gemächer des Königs führte.

Ich weiß, warum die Druvid so lange brauchen. Aber wie soll ich ihm erklären, dass sein Vater sterben wird? Wie soll ich Fin begreiflich machen, dass er bald die Krone tragen muss?

Die Finger des Prinzen verschränkten sich immer wieder ineinander, lösten sich, nur um sich gleich erneut zu verflechten. Muriel presste die Lippen aufeinander. Sie hatte sich Sätze zurechtgelegt; abgewogen und überlegt. Aber jetzt waren die tröstenden Worte weg, als hätte der Sturm sie mit sich genommen.

»Er ist sehr krank, Fin.« Die Antwort hörte sich selbst in ihren eigenen Ohren feige an. Sie seufzte schwer und fuhr stockend fort. »Cuan … König Cuan … dein Vater wird vermutlich bald … von uns gehen.« Laut ausgesprochen klang die Wahrheit noch hilfloser, als sie es sich ausgemalt hatte. Fin sagte nichts, nur seine Unterlippe bebte. Er wirkte nicht wie der Kronprinz, den Muriel seit seiner Geburt kannte. Sie vermisste die Zuversicht in seinen Augen, die er auch dann nicht verlor, wenn sie ihn zum wiederholten Male beim Schwertkampf in den Sand schickte.

»Eines Tages besiege ich dich!«

Das sagst du mir dann immer und wir beide lachen, weil wir wissen, dass es nie dazu kommen wird. Ich bin eine Meisterin des Schwertes, die jüngste, die es jemals in Tùriànmar gegeben hatte. Und du bist vieles, aber kein geborener Ridare. Trotzdem lässt du keine Gelegenheit aus, mich herauszufordern, weil du meine Bewegungen studieren willst. Du lernst aus deinen Fehlern, besitzt Willenskraft und die Klugheit, deine eigenen Schwächen einzugestehen. Mehr kann man sich von seinem Schüler nicht wünschen. Eines Tages wirst du den Verlust deines Vaters überwinden und ein guter König sein.

Und das ist mein einziger Trost.

Denn vor Muriel stand in diesem Moment nur ein erschütterter, sechzehnjähriger Knabe, der seinen Vater um keinen Preis verlieren wollte.

»Das kann nicht … Das darf nicht sein!«, stammelte er. »Es … es ging ihm doch vor drei Tagen noch so gut!« Der mitschwingende Unglaube versetzte Muriel einen Stich ins Herz. Sie konnte es ja selbst kaum fassen.

Aber das darf Fin nicht bemerken. Er brauchte Stärke, für das, was vor ihm liegt.

Muriel straffte ihre Schultern. »Blaues Fieber kommt rasch und ist unbarmherzig, das weißt du.« Ihre Erwiderung klang härter als von ihr beabsichtigt. Er ließ den Kopf hängen. »Es geht viel zu schnell«, flüsterte er. »Ich kann das einfach nicht, Muriel! Wenn er … wenn er tatsächlich …« Nach Worten ringend brach Fin ab. Wie er so vor ihr stand, mit den schimmernden Augen und den bebenden Schultern, da kam er ihr unerträglich verletzlich und alleine vor.

Aber du bist weder das eine noch das andere. Ich habe dich in Tùriànmar aufwachsen sehen. Du bist mehr als ein guter Freund für mich, du bist wie mein kleiner Bruder. All die Jahre war dein Vertrauen mir eine Stütze. Vielleicht nicht von allen gerne gesehen, aber unter dem Wohlwollen von Cuan geduldet. Doch jetzt … jetzt steht der zukünftige König der Insel Crunamara vor mir. Viele Dinge werden sich ändern, mein Prinz. Und es ist an der Zeit, dass du das verstehst.

Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und sie unterdrückte das Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen. Rasch wollte sie die Wahrheit aussprechen, aber da wurde die große Flügeltür aufgestoßen. Muriel nahm in einer fließenden Bewegung hinter Fin Haltung an. Sieben Druvid traten in ihren wallenden Gewändern heraus in die Galerie.

Weiße Raben … Der Name passt wirklich gut.

Der flatternde Leinenstoff, die rot ummalten Augen, der stechende Blick – alles erzeugte bei Muriel eine Gänsehaut. Den Druvid folgte der Geruch von bitteren Kräutern, Tinkturen und Räucherwerk. Es war der Gestank der Verzweiflung.

»Mein Prinz.« Der Oberste Druvid Aidan deutete ein schwaches Kopfnicken in Richtung Fin an. Auch die anderen Raben verbeugten sich leicht. Es war mehr Freundlichkeit, als wirkliche Ehrerbietung. Druvid verneigen sich einzig vor dem König des Landes und noch war Fin nur der Prinz.

»Wie geht es meinem Vater?«

»Eure Mutter verlangt, Euch zu sprechen.« Der Druvid wich der Frage aus, aber für Muriel war es Antwort genug.

Cuans Tod steht kurz bevor.

»Sagt mir, wie es ihm …!«, setzte Fin aufgebracht an. Muriel legte eine Hand auf seine Schulter und brachte den Prinzen so zum Schweigen.

»Wir werden wie gewünscht zu Königin Rhona gehen«, stimmte sie dem Druvid zu. Der Prinz schnaubte. »Nein! Ich will zu ihm! Jetzt!« Fin schüttelte Muriel ab und trat ungestüm an den Weißen Raben vorbei in die Dunkelheit der Kammer. Empört blickten ihm die Druvid hinterher und innerlich fluchte Muriel. Sie verbeugte sich tief, aber trotzdem entging ihr nicht der scharfe Blick, mit dem Druvid Aidan sie bedachte. Muriels Nackenhaare stellten sich auf. Rasch folgte sie Fin, um den blutunterlaufenen Augen der Raben zu entkommen. Mit wenigen Schritten stand sie neben dem Prinzen. »Ausgerechnet jetzt solltest du dir das Wohlwollen der Druvid nicht verspielen!«, zischte sie ihm zu. Sein finsterer Gesichtsausdruck sagte ihr, dass sie recht hatte.

Das Königshaus ist auf die Druvid angewiesen. Nur sie vermögen es, den Willen von Meeresmutter, Erdenherz und Himmelsglanz zu deuten und den Segen der Drei Mütter zu schenken.

Trotzdem brummte Fin einen leisen Fluch auf die Weißen Raben. Muriel verstand seine Frustration. Sie konnte die Druvid und ihre geflüsterten Geheimnisse auch nicht leiden.

Zwei der Raben schlossen hinter ihnen die Tür und sperrten das spärliche Fackellicht der Galerie aus. Stickige Luft umgab Muriel, geschwängert mit Räucherwerk, Heilkräutern und dem unverkennbaren Geruch von Krankheit. Sie wusste nicht genau, nach was es hier noch roch, doch die süßliche Note ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Abstoßend legte sich die Duftmischung wie ein klebriger Film auf ihre Haut. Sie erschauderte.

Gegen die hohen Fensterscheiben trommelte unentwegt der Regen, klopfte wie tausend Finger hart an das Glas. Allmählich gewöhnten sich Muriels Augen an das schummrige Licht. Ihr Blick strich über den breiten Schreibtisch, eingefasst von Regalen voller Bücher, Antiquitäten und Artefakten. Dahinter erhob sich die exzentrische Sammlung des Königs, die fast die gesamte Rückwand des Raums einnahm. In der Dunkelheit wirkten die sorgfältig angeordneten Waffen und Rüstungen der Tuatha wie die Gerippe absonderlicher Kreaturen. Über dem Kamin entdeckte Muriel die große, weiße Muschel mit dem aufgemalten Wappen von Crunamara.

Ein einsamer Turm in den Wellen des Meers. See und Land vereint, so wie es sein soll … Eines Tages würde ich es verstehen. Das hast du mir damals versprochen. Doch ich verstehe nichts. Und du hast es mir nie erklärt.

Der unausgesprochene Vorwurf hallte in ihrem Kopf wie ein düsteres Echo. Ein Blitz erhellte den Raum und verwandelte mit seinen harten Schatten die Muschel in ein bleiches Maul voller spitzer Zähne. Muriel sah schnell fort. Sie verspürte nur Kummer beim Anblick der vertrauten Umgebung.

Du hast mich vor drei Tagen zu dir gerufen. Doch ich war auf Patrouille, habe Merrow und Selkies von der Küste verjagt. Und als ich endlich gekommen bin, warst du bereits krank und deine Zunge vom Fieber gelähmt. Über was wolltest du mit mir reden, Cuan? Wir hatten seit Wochen nicht mehr miteinander gesprochen.

Neben ihr zog Fin scharf Luft ein und zerrte Muriel aus ihren grüblerischen Gedanken. Sie folgte seinem Blick und es war, als würde eine kalte Hand nach ihrer Kehle greifen.

Das große Bett am Ende des Raums war mit hauchdünnen Tüchern verhängt und wirkte bereits jetzt wie ein Totenlager. Einsam brannte eine Kerze auf einer Kommode, spendete spärliches Licht und rötliche Schatten. Der Schein enthüllte eine Maske; ein starres, schreckliches Gesicht, das zwischen den düsteren Laken schwebte. Muriel erkannte die Fratze nur deshalb, weil der Mann, dem diese Züge gehörten, sie aufgezogen hatte. Die Augen blickten unbeweglich wie zwei Murmeln in die Schwärze und auf den Lippen des Königs zeichneten sich deutlich die blauen Adern des tückischen Fiebers ab. Alles in Muriel verknotete sich vor Entsetzen.

Ich habe richtig vermutet: Cuan steht der Tod bevor.

Fin ging langsam auf das Bett zu und verharrte wenige Schritte davor. »M’athair …?« Das liebevolle Wort war so leise gehaucht, das es in dem Hämmern des Regens fast unterging. Trotzdem hörte Muriel das erfolglos unterdrückte Schluchzen von Fin.

Die starre Maske im Bett reagierte nicht, blickte weiterhin aus glasigen Augen in die Ferne. Die Nasenflügel bebten, blähten sich auf und doch wirkte das Gesicht wie versteinert, unnatürlich bleich und verkrampft.

»M’athair, bitte rede mit mir!« Fin machte einen weiteren Schritt vorwärts, aber da war Muriel schon bei ihm und zerrte ihn energisch vom Bett zurück. »Nicht!«

»Muriel, ich muss …!«

»Nein! Das Fieber darf dich nicht bekommen, Fin!«

»Seine Anrede ist Prinz Finley, Ridare!«, fuhr eine schneidende Stimme dazwischen. Muriel zuckte heftig zusammen. Erst jetzt bemerkte sie die Königin. Rhona stand vor einem der großen Fenster und ihre dürre Gestalt hob sich von den Fensterkreuzen kaum ab. Ein Blitz zerschnitt den Himmel, erleuchtete kurz das tobende Meer und Muriel wurde bei dem Anblick endgültig schlecht. Zitternd kniete sie nieder. »Verzeiht mir, meine Königin!« Muriel senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Hätte sie gewusst, dass die Königin noch hier war, nie hätte sie es gewagt, Fin so anzusprechen oder hierher zu kommen. Muriel hatte angenommen, dass Rhona in der Kapelle der Drei Mütter war, um dort für die Genesung des Königs zu beten. So war es zumindest in den letzten Tagen gewesen, seit Cuan erkrankt war.

Eine fatale Fehleinschätzung.

»Warum bist du hier, Ridare?« Rhona gab sich keine Mühe, die Kühle in ihrer Stimme zu überspielen, im Gegenteil. Sie schnitt wie ein Messer durch Muriels Herz, ließ sie bis in ihr Innerstes hinein erschaudern. In diesem Moment war Muriel versucht, den Gerüchten Glauben zu schenken, dass Rhona wirklich die Stimme der Sidhe in sich trug.

»Ich warte auf eine Antwort, Ridare!«

Muriel schluckte hart und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich … ich …«, stammelte sie heiser.

»Bitte, Mutter!«, unterbrach Fin sie. »Natürlich ist sie hier. Athair hätte es so gewollt.«

Rhona entkam ein Schnauben. »Ja, das hätte er. Aber dein Vater hat dieser Ridare schon lange genug solch unangebrachten Fehltritte durchgehen lassen. Denkst du etwa, ich sehe nicht, was hier passiert?«

Irritiert hob Muriel den Blick. Seit Rhona den König vor zwanzig Jahren geheiratet hatte, schien sie nur Verachtung für Muriel zu empfinden. Aber diese offensichtliche Feindseligkeit und Ablehnung trafen sie trotzdem unerwartet hart. Tränen pressten sich in ihr hinauf und sie verabscheute dieses Gefühl der Hilflosigkeit. »Meine Königin …?«

»Halte dich fern von meinem Sohn, Ridare! Und mach dir keine Hoffnung darauf, jemals durch ihn an die Krone zu gelangen.«

Muriel schoss glühend heißes Blut in das Gesicht.

Das denkt sie also von mir …?

»Mutter, das ist absurd! Wir sind Freunde!«

»Schlimm genug! Ab sofort wird Ulik dich im Schwertkampf unterweisen. Und nun wünsche ich, mit meinem Sohn zu sprechen. Alleine. Geh, Ridare!«

Das Blut rauschte in Muriels Ohren und sie konnte kaum sagen, ob es vor Wut, Verzweiflung oder Scham war.

»Mutter, bitte …«, setzte Fin verzweifelt an.

»Sofort!«

»Natürlich, meine Königin«, würgte Muriel hervor. »Wie Ihr wünscht.« Sie kam steif auf die Beine und schritt zur Tür. Schwerfällig drückte sie das Portal auf. Auf der Schwelle drehte sich Muriel noch einmal um.

Fin stand zusammengesunken neben dem Bett. Dahinter erhob sich Rhona wie ein dürrer, vertrockneter Baum. Selbst auf die Entfernung konnte Muriel die Abscheu in ihren Zügen erkennen.

Das Gesicht des Königs leuchtete weiß in der Dunkelheit, ummantelt von roten Schatten, wie eine grauenvolle Erscheinung aus einem Albtraum.

Muriel floh in den Gang hinaus.

 

 

 

 

 

 

 

 

»Das Rote Gesetz« aus

»Landrecht und Ordnung des Königtumes Crunamara«

 

So wollen wir hinfür keine Ketzer der Roten Flamme /

In Unseren Fürstentümern geduldet wissen /

Viel weniger in Unseren Flecken, Dörfern, Höfen /

Und all andern Orten gehauset oder beherberget werden /

Denn Solches steht unter schwerer Strafe und Ungnade /

Im gleichen verbieten Wir unter Strafe die Rote Magie /

Und was dieser gleich ist und angrenzen tut /

Was lasterhaft der Drei Mütter spottet /

Drum verbieten Wir ernstlich die rote Kluft /

Blutrobe genannt und geschimpft /

Die Zeichen der Flamme, den Namen der Flammenden /

Und soll man mit dem Roten Buch dergleichen angetroffen werden /

So drohet harte Strafe und der Tod.

 

 

2: Kalte Rose

 

Erst in ihrer Kammer wagte es Muriel, tief durchzuatmen. Sie wankte zum Bett, entledigte sich auf dem Weg dorthin ihrer Stiefel und des Schwertgurtes. Ihr Wehklagen ließ sie vom Kopfkissen verschlucken.

Der Mann, der mich gerettet und nach Tùriànmar gebracht hat, liegt im Sterben. Ich verdanke König Cuan alles. Eine unbeschwerte Kindheit, meine Ausbildung zur Ridare, ja, mein ganzes Leben. Und jetzt wird er elendig dahingerafft von einer Seuche, gegen die es kein Heilmittel gibt. Und ich habe mich nicht verabschieden können.

Muriel zerrte die Handschuhe von den schmerzenden Händen und griff nach dem Anhänger um ihren Hals. Die glatte Wärme des Bernsteins tat ihren vernarbten Fingern gut und ließ den Schmerz verblassen. Ihre Fingerspitzen beschrieben kreisende Bewegungen auf der ebenmäßigen Oberfläche, als ob sie das eingefangene Feuer des Steins streicheln wollte.

Muriel versuchte sich ins Gedächtnis rufen, wann sie zuletzt mit König Cuan zwanglos geredet hatte. Wann sie sein dröhnendes Lachen vernommen hatte. Wann seine große Hand bei den Schwertübungen zum Lob so kräftig auf ihren Rücken geklopft hatte, dass ihr fast die Luft weggeblieben war. Wann sie diesen seltsamen Stolz in seinen Augen zum letzten Mal gesehen hatte.

Aber sie wusste es nicht mehr. Alles, was blieb, waren nur vage Fragmente und verschwommene Erinnerungen. Muriel klammerte sich voller Verzweiflung daran und schrie ihre hilflose Trauer in das Kissen hinein.

Als sie wieder erwachte, spürte sie die Spuren getrockneter Tränen auf ihren Wangen. Der Stoff des Kopfkissens klebte unangenehm an ihrer Haut und in ihrem Mund schmeckte sie Salz.

Ungelenk stützte sie sich auf. Ein Blick aus dem Fenster der Kammer verriet ihr, dass es früher Morgen sein musste. Sturmwolken verhängten die Sonne. Das diesige Ostlicht tauchte die Türme in trübe Farben und lange Schatten. Schwarze Rauchfahnen offenbarten, dass die Schmiedefeuer im unteren Hof bereits brannten. Muriel blinzelte und stellte benommen fest, dass jemand energisch gegen die Tür hämmerte.

Das hat mich geweckt.

»Ja … ja, ich komme …!« Noch halb vom Schlaf gefangen stand Muriel auf, schlüpfte in die Handschuhe und schlurfte in Richtung Tür. Rasch wischte sie sich über das Gesicht und hoffte, dass keine verirrten Tränen mehr zu sehen waren. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel bestätigte jedoch ihre Vermutung. Mit der geröteten Haut und den tiefen Augenringen sah sie miserabel aus. Missmutig zupfte Muriel den Schleier zurecht, dann trat sie auf das hartnäckige Hämmern zu. Sie riss die Tür auf und dahinter stolperte ein Diener bei dem Versuch, ein weiteres Mal anzuklopfen, fast in ihre Arme.

»Was?«, blaffte Muriel. Der Mann wich hastig einen Schritt zurück und räusperte sich verlegen. »Verehrte Ridare Muriel Leanmara! Die Königin lässt alle Ridaresofort in die Große Halle rufen.«

Muriel verengte die Augen zu Schlitzen und entließ den Diener mit einer knappen Handbewegung. Rasch schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz.

Cuan ist sicher diese Nacht gestorben … Die Königin wird seinen Tod und Fins Krönung verkünden.

Muriel atmete tief ein und schluckte die bittere Trauer hinunter. Dann wusch sie ihr Gesicht, legte Wappenrock und Waffengurt an. Sorgfältig zog sie die weiße Blüte auf ihrer Brust zurecht. Die Seerose auf dem blauen Grund weckte normalerweise Stolz in Muriel.

Stolz darauf, dass sie die Ausbildung zur Ridarebestanden hatte.

Stolz darauf, dass König Cuan ihr zur Weihe feierlich die Wasserblume verliehen hatte, weil sie als Waise kein eigenes Familienwappen führte.

Stolz darauf, von nun an dem Königreich Crunamara als Beschützerin beizustehen. Doch jetzt mischte sich bittere Traurigkeit darunter. Behutsam strich sie über die Stickerei.

»Kalte Rose!«, das rufen sie mir bei den Turnieren hinterher. Schön und wehrhaft, aber unnahbar und kühl. Pah! Sollen sie mich nennen, wie sie wollen. Ich siege trotzdem. Und wer es wagt, mir zu nahe zu treten, bezahlt mit Demütigung und Niederlage dafür.

Muriel schenkte ihrem eigenen Spiegelbild ein schmales Lächeln und rückte sich erneut den strengen Schleier zurecht. Dann machte sie sich auf den Weg zur Großen Halle.

Die meisten Ridarehatten sich bereits versammelt, als Muriel eintraf. In dem Saal hallte das Murmeln tuschelnder Stimmen wieder und das Raunen erinnerte Muriel an das Brechen von Wellen am steinigen Strand. Angestrengt versuchte sie, sich auf einzelne Satzfetzen zu konzentrieren, um dem dröhnenden Geräusch zu entkommen.

» … besteht keine Hoffnung mehr …«

» … werden wir schon bald eine Krönung auszurichten haben …«

» … hat wahrlich ein besseres Schicksal verdient …«

Das Gerede war noch schlimmer. Energisch drängte sich Muriel durch die Menge, um näher an das Podest zu gelangen.

»Weißt du etwas, Muriel? Was ist mit dem König?« Pirmin, ein junger Ridare, den sie zusammen mit Fin im Schwertkampf unterrichtet hatte, hielt sie mit der Frage auf. Muriel schüttelte den Kopf. »Der König ist schwer erkrankt, mehr ist mir nicht bekannt«, wimmelte sie ihn ab und setzte ihren Weg hastig fort. Sie spürte Blicke auf sich gerichtet, doch wich jedem Augenkontakt aus, um niemanden zu weiteren Fragen zu ermuntern. Wahrscheinlich vermuteten die anderen Ridare ebenfalls, dass sie durch ihre Freundschaft zu Fin ihre Neugier befriedigen konnte. Es war kein Geheimnis, dass König Cuan ihr zugetan gewesen war, mehr als es Muriel aufgrund ihrer Herkunft zugestanden hätte. Entgegen den Gerüchten hatte der König sie aber nie bevorzugt behandelt.

Ich habe mir mein Können und meinen Stand hart erkämpft, mit Blut, Schweiß und vielen Tränen.

Muriel fand schließlich einen Platz an der Wand neben dem königlichen Podest und blieb mit verschränkten Armen stehen. Die Leere auf den drei Thronen war für sie kaum zu ertragen. Sie senkte den Blick, um die verwaisten Herrschersitze nicht sehen zu müssen.

»Was macht das Treibgut hier?«

Die dreisten Worte und das darauffolgende Gelächter ließen Muriel zusammen zucken. Angespannt vermied sie es, sich umzudrehen und hoffte, die Kühle in ihren Gesichtszügen bewahren zu können. Sie wusste ganz genau, wer sie beleidigt hatte.

Treibgut. So hat mich schon lange niemand mehr genannt.

Der letzte Bursche, der Muriel so beschimpft hatte und dabei erwischt worden war, hatte vom König persönlich Schläge angeordnet bekommen. Das war Jahre her. Doch Caiptein Nemain machte keinen Hehl daraus, dass sie Muriel nicht leiden konnte.

Und Cuan kann mich nicht mehr vor Nemain und ihren stiefelleckenden Anhängseln beschützen. Diese Respektlosigkeiten werden wohl bald mein Alltag sein.

Wie zur Bestätigung folgten weitere anzügliche Bemerkungen, die Muriel vor Scham die Röte ins Gesicht trieben.

»Ob schonmal jemand die kalte Rose entblättert hat?«

»Vergiss es, an den Dornen kommst du nicht vorbei.«

»Die wärmt dir nicht das Bett. Die lässt es eher zufrieren.«

»Wer will schon bei einem Eisklumpen liegen? Da kannst du gleich in die See stoßen. Das gibt genauso viel Liebe zurück.«

Prustendes Lachen.

»Die ist doch nur ein hässlicher Meeresbastard.« Nemains verächtliche Stimme kratzte wie eine schartige Klinge durch Muriels Ohren. »Das Treibgut wurde am Strand angespült und sollten wieder zurück in die Wellen geworfen werden. Wer will das Seebalg schon haben?«

Seltsam, als du mich küssen wolltest, schien ich noch gut genug für dich zu sein, dachte Muriel verbittert. Aber meine Zurückweisung hat nicht nur deine Nase, sondern vor allem deinen Stolz getroffen. Und das lässt du mich bei jeder Gelegenheit spüren.

Aber es war besser, Nemains Gemeinheiten zu ertragen, wenn Muriel nicht die nächsten Wochen Wachdienst auf der zugigen Nordmauer schieben wollte. Schon oft genug war sie dort gelandet und vermutete dahinter die Boshaftigkeit der Caiptein. Deshalb tat Muriel so, als hätte sie die bösen Worte nicht gehört und wandte ihre Aufmerksamkeit rasch der großen Fensterfront zu. Noch immer tobte draußen der Sturm und brachte die Glasscheiben zum Klirren. Der Regen hatte zwar über Nacht nachgelassen, doch der Wind rüttelte nach wie vor am Dach und ließ das Gebälk des Saales ächzen.

Muriel legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Risse in dem Gemäuer. Wie ein in Stein erstarrter Blitz zogen sich die Spalten von der Decke bis zum Boden hinab. Im flackernden Licht der Fackeln und Kerzen konnte man die Furchen deutlich erkennen. Schaudernd dachte Muriel an das Erdbeben zurück, das beim letzten Vollmond zusammen mit einer gewaltigen Springflut Tùriànmar in den Grundfesten erschüttert hatte. Die Burg hatte den Angriff des Meeres überstanden, aber Wunden davon getragen.

Schlagartig kehrte Stille in dem Raum ein und Muriel riss ihren Blick von den bedrohlichen Schäden los. Königin Rhona hatte mit ihrem Sohn den Thronsaal betreten und rauschte durch die Ridare hindurch. Sie trug ein schwarzes Samtkleid, bestickt mit den Silberrosen der Königin. Schmuck aus schimmernden Amethysten glänzte in ihrem dunklen Haar.

Trauerkleidung.

Die bewaffneten Frauen und Männer wichen ehrfurchtsvoll vor der Königin zurück. Rhona trennte die rüstungstragende Menschenmasse wie ein eisenbeschlagener Schiffsbug das Meer. Mit erhobenem Haupt und in prunkvollem Ornat folgte ihr Fin. Auch er trug Schwarz und seinen Kopf zierte die goldene, eichenblättrige Krone des Prinzen. Aber sein selbstsicheres Auftreten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kronprinz am Ende seiner Kräfte war. Mitleidvolle Blicke hafteten an ihm.

Hinter dem Prinzen schlurfte der Oberste Druvid Aidan in den Saal. Zwei weitere Raben begleiteten ihn. Während der eine den Alten stützte, trug der andere ein kleines Bündel aus Leder.

Muriels Herz sank noch ein Stückchen tiefer. Wenn der oberste Berater von seinem höchsten Turm hinabstieg und sich öffentlich zusammen mit der Königsfamilie zeigte, dann war das kein gutes Zeichen. Der Stab des Weißen Raben gab mit jedem seiner schwerfälligen Schritte ein durchdringendes Pochen von sich. Die goldene Sichel, das Symbol seines Standes, tanzte am Gürtel hin und her. Druvid Aidan hatte für sein Alter eine stattliche Größe und strahlte trotz seiner gebrechlichen Gestalt eine schwer zu fassende Würde aus. Aber er schien Muriel um Jahre gealtert zu sein, seit sie ihn zuletzt zu Gesicht bekommen hatte.

Als hätten die vergangenen Stunden an seiner Lebenszeit gezehrt. Vermutlich der Preis eines königlichen Beraters.

Die Königin und der Kronprinz nahmen voneinander getrennt Platz. Der mittlere Thron des Königs blieb leer. Aidan und die Raben positionierten sich in respektvollem Abstand hinter der Königin. Die darauffolgende Stille in der Großen Halle dröhnte in Muriels Ohren.

»Meine Ridare!« Rhonas Stimme füllte den Saal mühelos, was Muriel bei der zierlichen Statur der Königin immer wieder überraschte. »Ich habe euch rufen lassen, da der König eure Dienste benötigt.«

Muriel zog die Augenbrauen zusammen. Das klang nicht nach der erwarteten Totenansprache.

»Ich will euch nicht belügen, treue Ridare: Mein geliebter Gemahl, König Cuan ist dem Tode nahe.«

Das Flüstern raunte wie eine Welle durch den Saal. Die Königin hob eine Hand und das Wispern verebbte sofort. »Nur dem Wirken der Druvid und dem Segen von Erdenherz haben wir es zu verdanken, dass ich heute nicht als Witwe vor euch trete. Und wir haben nur wenig Zeit.«

Muriels Blick flatterte immer wieder zu Fin. Der Prinz wirkte distanziert, sah seine Mutter an und schien sie doch nicht wahrzunehmen.

»Denn es ist keine Krankheit, die den König heimsucht! Nein, es ist Magie!«

Magie!

Muriel keuchte auf, ließ die Arme aus der Verschränkung sinken, starrte unentwegt Fin an. Doch das Gesicht des Prinzen war wie versteinert. Aus der geflüsterten Welle wurde eine Flut, aus Gemurmel wütende Schreie. Muriel brach kalter Angstschweiß im Nacken aus. Denn Magie konnte nur eines bedeuten.

»Wir werden aus dem Nebel heraus angegriffen, meine treuen Untertanen. Euer König wurde von den Tuatha Dé Danann verflucht!«

Schreie wurden laut, Schwerter gezogen und zornig gegen die Decke gestreckt. Schlagartig lag die Ahnung von Blutdurst in der Luft, wie bei einem Schwarm Haie, der Witterung aufgenommen hatte.

»Feige hat sich das Alte Volk in den letzten hundert Jahren im Nebel versteckt, doch jetzt ist es erneut hervorgekrochen! Unser geliebter König soll an ihrer Magie sterben!« Rhona ließ den Zorn der Ridare kurz aufbranden, bevor sie ihn mit einer wischenden Handbewegung erstickte. »Doch das werden wir nicht zulassen. Es gibt noch Hoffnung. Eine einzige Hoffnung.«

In der angespannten Stille hörte Muriel ihr eigenes Herz donnernd pochen.

»Denn wir kennen ein Gegenmittel.« Rhonas Blick wanderte zu Aidan. Der Druvid verneigte sich schwach und winkte dann einen seiner Schüler heran. Das unscheinbare Bündel aus Leder wurde aufgeschlagen. Noch bevor Muriel das Objekt in den Händen des Mannes vollständig sehen konnte, war ihr anhand der grellen Farbe klar, worum es sich handelte. Ihr wurde schwindlig.

Ein Rotes Buch. Nein … Nein, das kann nicht sein!

Aber so war es. Aidan nahm den blutroten Folianten entgegen und wieder rauschte ein Murmeln durch den Saal. Doch diesmal schwangen auch aufgebrachte und ängstliche Stimmen mit.

»Still!«, fuhr die Königin auf. »Der Oberste Druvid wird jetzt zu euch sprechen!«

Der alte Mann räusperte sich und es klang, als würde er an seiner eigenen Zunge ersticken. »Verehrte Ridare … Zu recht sehe ich Zorn und Zweifel in euren Blicken. Lasst mich euch versichern – wir würden anders handeln, wenn wir die Möglichkeit dazu hätten. Jedoch, für den Fluch, der König Cuan erfasst hat, gibt es nach unseren Nachforschungen nur eine einzige Heilung: Das Herz eines Drachen. Wir müssen es der Bestie aus dem Leib schneiden und die Lebensessenz in einer Roten Flamme verbrennen, um den heilenden Rauch zu erhalten. Nur so werden wir den Fluch brechen und das Leben des Königs retten können. Gelingt uns das nicht bis zum nächsten Vollmond, ist König Cuan des Todes.« Aidans kratzige Stimme verklang in dem Saal.

»Nein …!« Muriel hörte sich selbst viel zu laut in der angespannten Stille widerhallen. Alle Augen lagen schlagartig auf ihr. Hitze schoss ihr in das Gesicht, als sich jede Person in dem Raum ihr zuwandte.

»Nein?«, fragte Königin Rhona eisig und Muriel senkte rasch den Blick. »Verzeiht mir, meine Königin! Aber König Cuan hätte niemals gutgeheißen, dass wir das Rote Gesetz brechen, um sein Leben zu retten!« Muriel wusste nicht, woher sie den Mut nahm, um diesen Gedanken laut auszusprechen. Sie wusste nur, dass sie sich aus tiefstem Herzen wünschte, dass diese Behauptung wahr war.

Cuan hätte niemals einen Angehörigen des Alten Volkes für sein eigenes Leben geopfert. Keine Selkie, keine Merrow und erst recht keinen Drachen. Solange ich ihn kannte, wollte er immer den Nebel durchschreiten, um endlich Frieden zwischen den Tuatha Dé Danann und seinem Königreich zu schaffen.

»Eines Tages fällt der Nebel«, hat er mir so oft gesagt. »Und dann wird wieder Frieden herrschen. Das ist der Tag, an dem ich meine Krone wahrlich verdient habe.«

Er ist fasziniert, ja, wenn nicht sogar ein wenig besessen vom Alten Volk. Er würde sie doch nicht in der Roten Flamme töten!

»Ridare Muriel Leanmara!«, peitschte die Stimme der Königin über alle Häupter hinweg. Muriel zog den Kopf zwischen den Schultern ein, aber dadurch wurde sie kaum kleiner. Sie überragte die meisten der Ridare noch immer fast um eine Handlänge.

»Hat König Cuan dich nicht als Säugling am Strand gefunden und gerettet?«

Muriel starrte mit prickelnden Wangen auf den Boden. Sie wusste, worauf das hinauslaufen würde. Irgendwo hinter sich hörte sie Nemain höhnisch auflachen.

Treibgut.

»Antworte mir, Ridare!«, verlangte die Königin streng.

»Ja … ja, das hat er«, gab Muriel leise zu. Jeder konnte ihre geflüsterten Worte hören.

»Und hat er dich nicht aufgenommen, wie eine eigene Tochter aufgezogen, dir Kleidung, Unterricht und väterliche Liebe geschenkt?«

»Ja, das hat er.«

»Hat er dich nicht zur Ridare ausbilden lassen, dir Schwert, Rüstung und die Ehre eines Wappens gegeben?«

»Ja, meine Königin.«

»Und willst du diese Güte nun mit Verrat und Feigheit vergelten?«

Muriel riss den Kopf hoch. Zorn brodelte glühend heiß in ihr empor. Der Wind heulte auf und ließ das Gebälk erzittern. Wellen donnerten gegen den Felsen von Tùriànmar, als hätten sie die Unterstellung der Königin ebenfalls erzürnt.

»Ich würde mein eigenes Leben geben, wenn es ihn rettet. Niemals würde ich den König verraten!« Muriel presste die Worte voller Wut hervor, spuckte sie Rhona geradezu vor die Füße. Auf den Lippen der Königin erschien ein herausforderndes Lächeln. Muriel ahnte, dass sie kurz davor stand, wegen ihrer Aufmüpfigkeit in den Kerker geworfen zu werden, aber in ihrem Zorn war es ihr egal.

»Meine Königin, bitte habt Nachsicht mit der jungen Ridare«, schaltete sich Aidan mit sanfter Stimme ein. »Sie meint es sicher nur gut.« Der Druvid schenkte Muriel ein anerkennendes Lächeln. »Du bist tapfer und klug, Ridare Muriel Leanmara. Ja, der Rote Sturm hat schreckliche Dinge getan und dass wir uns ihrer Riten bedienen, ist gefährlich, das will ich nicht leugnen. Doch was einst zu bösen Zwecken genutzt wurde, werden wir in das Gute verkehren.« Der Druvid machte eine Pause, als hätte ihn das Sprechen zutiefst angestrengt. »Wir werden angegriffen, Ridare«, fuhr er mit brüchiger Stimme fort. »Es war nicht unser Wunsch, auf diese Maßnahmen zurückzugreifen und das Rote Gesetz zu brechen, doch man lässt uns keine andere Wahl. Die Tuatha Dé Danann haben einen der ihren zum Tode verurteilt, als sie diesen Fluch aussprachen. Und wir erretten mit dieser Tat nicht nur unseren König, junge Ridare. Wir retten auch einen Gemahl und einen Vater. Ist das nicht ein guter Zweck für dich?«

Muriels Blick wanderte zu Fin. Sie musste schwer schlucken. In seinen Augen standen Tränen und der Anblick zerriss ihr das Herz.

»Natürlich ist es ein guter Zweck, Druvid Aidan«, stimmte sie schwach zu.

»Dann schwörst du alles zu tun, um deinen König zu retten, Ridare Muriel Leanmara?«, fragte die Königin harsch. »Auch gegen die Tuatha Dé Danann in den Krieg zu ziehen? Auch einem Drachen das Herz zu nehmen?«

Für einen Atemzug schwieg Muriel. Sie hörte nur ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen. Ihr lagen widerspenstige Worte auf der Zunge, zornig und unversöhnlich. Doch Muriel schluckte sie hinunter, senkte geschlagen den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten.

»Ja, meine Königin.« Die Worte schmerzten Muriel auf eine unbegreifliche Weise, bohrten sich wie Dornen in ihre Seele. »Ja, das schwöre ich.«

»Gut. Denn genau das erwarte ich von jedem einzelnen Ridare.«

Um Muriel schien sich alles zu drehen. Panisch tastete sie nach der Wand in ihrem Rücken, krallte sich in das kalte Gestein und schloss die Augen, als Rhona die verhängnisvollen Worte sprach.

»Ich, Königin Rhona, Gemahlin unseres geliebten Königs Cuan und Mutter des Kronprinzen Finley I., erkläre Kraft meiner herrschaftlichen Gewalt und mit dem Segen des Obersten Druvid, dem Reich im Nebel Eilean Uaine den Krieg!«

Das Gebrüll aus den Kehlen der Männer und Frauen brachte den Stein unter Muriels zitternden Fingern zum Beben. Doch tief in ihr herrschte eine unheimliche Stille, die alles dumpf und weit weg erscheinen ließ.

»Ja, das schwöre ich«, flüsterte sie. »Aber ich werde es auf meine Weise vollbringen.«

»Ein Märchen, eine alte Mär« aus

»Das Buch der Balladen und Volkslieder«,

geschrieben und gesammelt von Saoirse Clàrsaich

 

Horch, aus den Hügeln klingt es her.

Ein Märchen, eine alte Mär,

Das Stille Volk so war’s bekannt,

Tuatha Dé Danann genannt.

 

Sie leben in der Zwischenwelt,

Wo Nebel über alles fällt,

Geschaffen aus der Meeresflut,

Ein Stern als Herz, ein Funken Glut.

 

Die Stimmen voller Zauberglanz,

Sie wiegen sich zum wilden Tanz,

Zwei Häute tragen sie zugleich,

Sie bringen dich ins Zauberreich.

 

Eilean Uaine, die Insel grün,

Wo die Blumen ewig blüh’n,

Doch wer im Nebel ist fürwahr,

Der sei verloren immerdar.

 

 

 

 

3: Stiller Aufbruch

Muriel drückte sich in die dunkle Seitengasse. Der Regen durchdrang bereits ihren Mantel. Kaltes Wasser traf auf ihre Haut, schickte ein Schaudern ihren Rücken hinab. Aber das spielte keine Rolle. Durchweichte Kleidung hatte ihr noch nie viel ausgemacht.

Das flackernde Licht der Wachpatrouille verschwand aus ihrem Blickwinkel und Muriel zählte innerlich bis zehn, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Der Wind schob sie so zornig durch die Gassen der Unterstadt, als wollte er sie aus Tùriànmar vertreiben.

Aber ich werde freiwillig gehen.

Der breite Paradeplatz lag still und verwaist vor ihr. Dahinter hob sich das langgezogene Gebäude der Stallungen als düsterer Schemen im Regen ab.

Morgen wird hier die Heerschau stattfinden. Aber da bin ich hoffentlich schon weit weg.

Vorsichtig spähte sie um die nächste Ecke.

Niemand zu sehen. Gut so. Die Pferdeknechte hocken bei dem Wetter in der warmen Stube und zechen.

Muriel rannte über den Platz, huschte durch den angelehnten Türspalt in den Stall hinein und schob die Pforte rasch zu. In der Dunkelheit hörte sie die Bewegungen großer Körper, die ihre nächtliche Ankunft bemerkt hatten. Schnauben und das Poltern von beschlagenen Hufen gegen Holz erklang. Mit einer Hand an der Wand tastete sich Muriel vorwärts, zählte die Pfosten und blieb schließlich bei der vierundzwanzigsten Tür stehen. Sie schlüpfte unter dem Zaun hindurch und klopfte zur Begrüßung auf den breiten Hals des Pferdes. »Hallo, Epana. Lust auf einen Ausritt?« Die Stute schnaubte.

»Ja, ich auch nicht.« Muriel seufzte schwer. Suchend drückte Epana ihre Nüstern gegen den nassen Mantel und stöberte nach Leckereien in den Taschen der Ridare. Muriel schmunzelte und gönnte Epana einen schrumpeligen Apfel, den sie ihr mitgebracht hatte. »Lass es dir bekommen, verfressenes Mädchen. Wir haben leider nicht viel Zeit.«

Zielstrebig machte sich Muriel an die Arbeit. In der Dunkelheit des Stalls dauerte es länger als sonst, aber es gelang ihr, Epana zu satteln und das Gepäck sicher zu verstauen. Mit pochendem Herzen führte Muriel die Stute aus dem Verschlag und durch den Gang zum Tor. Die anderen Pferde wurden unruhig, schnaubten und wieherten. Muriel flehte darum, dass der Regen die Geräusche der aufgeregten Tiere übertönte.

Sie schob die Pforte einen Spalt auf und warf einen Blick auf den großen Platz. Doch außer dem glänzenden Pflaster und tosenden Regen konnte Muriel nichts sehen. Rasch zog sie die widerwillige Stute in den Sturm hinaus und verriegelte die Tür. Epana legte die Ohren an und schüttelte sich. Wie auch Muriel war das Pferd innerhalb kürzester Zeit völlig durchnässt.

»Entschuldige, altes Mädchen, es geht nicht anders.« Muriel überprüfte ein letztes Mal den Sitz des Gepäcks, klopfte der Stute aufmunternd auf den Hals und schwang sich dann in den Sattel. Zügig trieb sie das Pferd an und verschwand in der Dunkelheit der Gassen. Muriel atmete tief durch, um ihr hämmerndes Herz zu beruhigen.

Ganz ruhig … Bis jetzt ist alles gut gelaufen. Ich habe heimlich Proviant besorgt, das Nötigste gepackt und meine letzte Wachschicht angetreten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst der Einbruch in die Waffenkammer und Fins Gemächer hat ohne Probleme geklappt. Mein Plan funktioniert. Aber das Schwierigste kommt erst noch. Jetzt muss ich es durch das Osttor schaffen.

Und an eine Umkehr war nicht mehr zu denken, denn die Wachmannschaft des Hauptportals hatte sie bereits bemerkt. Die kleine Tür des Wehrturms öffnete sich und ein griesgrämig dreinblickender Soldat erschien. Muriel wurde flau im Magen. Sie kannte den Mann nicht – was Vor- oder Nachteil bedeuten konnte.

»So spät noch unterwegs, Ridare? Was wollt Ihr hier?« Der Soldat hielt sich nicht mit Freundlichkeiten auf. Muriel gab ein angemessen missmutiges Schnauben von sich und setzte ihren herablassendsten Gesichtsausdruck auf, was ihr mühelos gelang. »Ich wäre auch lieber in meinem Bett. Aber ich habe einen Auftrag bekommen und muss sofort aufbrechen.«

»Jetzt? Wir öffnen das Tor nicht in der Nacht, Ridare.«

Muriel fischte mit einem Seufzen einen durchweichten Brief aus ihrer Satteltasche und reichte ihn dem Soldaten. »Für mich wirst du das Tor öffnen.«

Der Mann starrte im Schein der nächsten Fackel auf die verlaufenen Buchstaben. »Da kann man ja nichts mehr lesen! Völlig verwaschen!«, beschwerte er sich. Muriel atmete innerlich auf.

Bis jetzt läuft alles wie geplant.

»Aber das Siegel des Königs erkennst du doch wohl?«

Der Soldat starrte auf den wellenumspielten Turm, der sich klar und deutlich in dem roten Wachs abzeichnete. »Ja, schon, …«

»Ich habe es eilig. Wirklich eilig. Jetzt öffne endlich das Tor!« Muriel legte alles an Autorität in ihre Stimme, die sie in ihrer Aufregung zusammenkratzen konnte. Der Mann trat einen Atemzug auf der Stelle, dann verschwand er mit dem Brief im Wachturm. Das Leder der Zügel knirschte, als Muriels Griff sich verkrampfte.

Wenn der Wachmann einen Boten zur Königin schickt, um die Echtheit des Dokuments zu überprüfen, bezahle ich das mit dem Kerker. Oder meinem Tod. Ich könnte vorher versuchen zu fliehen, vielleicht durch die Kanalisation von Tùriànmar. Aber dann muss ich Epana und meine Ausrüstung zurücklassen. Und ob mir eine Flucht vom Tor gelingt, ist sowieso fraglich …

Bevor sich Muriel weiter in ihren beunruhigenden Gedanken verlieren konnte, ertönte das erlösende Geräusch von rasselnden Ketten und schabendem Holz. Der Tormechanismus wurde in Gang gesetzt, das schwere Fallgatter hob sich. Der Soldat kehrte mit dem durchweichten Wisch zurück, drückte ihn Muriel wortlos in die Hand und sie stopfte das Pergament in die Tasche. »Danke«, murmelte sie und wollte Epana durch das Tor treiben.

»Halt!«

In Muriels Magen rutschte ein Steinschlag hinab. Langsam drehte sie sich zu der bekannten Stimme um. Natürlich hatte sie sich nicht geirrt.

Fin stand dort im Regen und sah alles andere als königlich aus. Sein Mantel war durchweicht und Wasser tropfte aus seinem glänzenden Rabenhaar. Unverkennbar blitzte Zorn in seinen Augen.

»Majestät …!«, stammelte der Soldat aufgelöst und blickte panisch zwischen dem offenen Tor und dem Kronprinzen hin und her. »Sie hatte einen Befehl von der Königin, Majestät, ich hätte sonst nie …«

»Schon gut, Soldat. Ich muss mit ihr reden. Lass uns alleine!«

Eine eisige Gänsehaut zog sich über Muriels Rücken, als sie den autoritären Klang in Fins Stimme wahrnahm.

Da ist der willensstarke Kronprinz, den ich so sehr schätzte. Nein, kein Prinz. Ein König, ganz und gar.

Der Soldat verschwand hastig in dem Wachturm und schlug die Tür hinter sich zu. Muriel saß noch immer wie erstarrt auf dem Pferd. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Epana einfach die Sporen zu geben und hinaus in die Dunkelheit zu preschen.

Vielleicht kann ich den Wald erreichen, bevor sie mir Verfolger hinterherschicken …

Aber Muriel entschied sich dagegen. Stattdessen saß sie in einer eleganten Bewegung ab. Fin war mittlerweile an sie herangetreten. »Du desertierst? Wirklich, Muriel? Ausgerechnet du?!« Die Enttäuschung in seiner Stimme war noch nicht mal das Schlimmste. Es war dieser Ausdruck des Verrates, der sie aufrichtig traf. »Mir bleibt keine andere Wahl, Fin.« Sie erschrak vor ihrer eigenen Verzweiflung. Fin schien es in seinem Zorn nicht zu bemerken. »Ja, das hast du mir geschrieben!« Er wedelte aufgebracht mit einem Pergament vor ihrer Nase herum und Muriel wurde etwas bleich.

Deshalb ist er also hier. Er hat meinen Abschiedsbrief sehr viel eher gefunden, als von mir beabsichtigt.

»Dieser Kriegszug ist ein Todesurteil, Fin, das weißt du. Ich versuche nur, eine andere Lösung zu finden.«

»Im Brackmoor?! Und deshalb klaust du meinen Siegelring und fälschst einen Befehl meiner Mutter? Bist du von allen guten Geistern verlassen, Muriel? Wenn sie jemals davon erfährt, wird sie dich im Brunnen verrotten lassen oder gleich vom Turm stoßen!«

Muriel schluckte schwer, weil Fin recht hatte. Der tiefste Kerker von Tùriànmar war so dunkel und feucht, dass er die Bezeichnung »Brunnen« voll und ganz verdiente. Und doch würde sie die kalte Düsternis des Felsens vorziehen, bevor sie von der höchsten Zinne des Schwarzen Turmes hinab in das tobende Meer geworfen wurde. Alleine der Gedanke ließ sie vor Angst erstarren. »Bitte Fin, versteh doch!«, setzte sie heiser an. »Ich bin nicht stolz darauf, was ich getan habe. Aber ich muss Tùriànmar verlassen. Die Heerschau hat noch nicht begonnen. Die Boten sind gerade erst aufgebrochen. Ich kann das alles noch aufhalten!«

»Was meinst du, Muriel?«

Sie räusperte sich, versuchte, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. »Unsere Truppen werden den Nebel nicht durchqueren können. Ich weiß nicht, was deine Mutter plant, aber das wird in einem Blutbad enden. Unzählige Ridare werden sterben. Du wirst sterben. Das werde ich nicht zulassen. Solange es die Möglichkeit gibt, einen Drachen auf dieser Seite des Nebels zu finden, werde ich sie nutzen.«

Fin starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Trotzig erwiderte Muriel seinen Blick. Dann flammte ein Funke Neugier in seinem Blick auf.

Ohne Zweifel eine Eigenschaft, die du deinem Vater zu verdanken hast.

»Du … du glaubst wirklich, es gibt einen Drachen im Brackmoor?«

»Ja.«

Fin starrte sie in einer Mischung aus Neugier und Angst an, dann versteifte sich seine Haltung wieder. »Erzähl meiner Mutter davon! Erzähl Aidan und den Druvid davon! Du kannst keinen Drachen alleine jagen, Muriel! Lass mich mitkommen!«

Sie lachte verbittert auf, ein kaltes, herzloses Geräusch, vor dem Fin zurückzuckte.

»Die Königin und Aidan würden mich für verrückt erklären und als Unruhestifterin in den Kerker werfen, das muss dir doch klar sein. Ein Drache jenseits des Nebels? Das wäre eine Katastrophe, es würde zu panischen Aufständen kommen. Ich bin mir selbst nicht mal sicher, ob ich der Sache trauen kann. Und du …« Ihre Stimme senkte sich bedrohlich ab. »Du bist der Kronprinz, Fin. Was denkst du, was mit mir passiert, wenn sie uns zusammen aufgreifen? Erst recht nachdem, was deine Mutter von mir denkt. Nein, das Volk braucht dich hier. Ich werde alleine gehen.«

Allmählich machte sich Verzweiflung in Fins Gesichtszügen bemerkbar. Er schien zu begreifen, dass sie ihre Sache ernst meinte. »Und wieso bist du in die Waffenkammer eingebrochen?«

Unwillkürlich fuhr ihre Hand zu dem ehernen Messer, das an ihrer Hüfte hing. Die Kälte des Stahls konnte sie selbst durch die dicke Lederscheide spüren. Sie erschauderte. »Das Gift des Drachenbanns wird die Bestie so lange lähmen, bis ich sein Herz bergen kann. Und das schwarze Messer offenbart seine Magie. Das behaupten zumindest ein paar alte Geschichten.« Fin schüttelte schwer den Kopf. »Du riskierst dein Leben auf Grund von alten Geschichten?«, schnaubte er.

Du musst mich wirklich für völlig verwirrt halten – und ich kann es dir nicht einmal verdenken.

Muriel schüttelte den Kopf. »Es geht nicht nur um alte Geschichten. Da ist noch mehr.«

»Bitte bleib!«, flehte Fin sie an. »Bitte bleib und ich vergesse, was hier gerade passiert!« Es war pure Verzweiflung, die aus ihm sprach, doch statt ihn zu trösten, wich sie von Fin zurück. »Ich kann nicht«, flüsterte sie aufgelöst. »Die Königin hat recht. Dein Vater hat mir alles gegeben und ich habe es ihm nie genug gedankt. Ich werde einen Drachen im Moor finden und ich werde sein Herz nach Tùriànmar bringen, um Cuan zu retten. Es wird keinen Krieg mit Eilean Uaine geben. Ich begleiche endlich meine Schuld.«

Ein Hauch von Trauer huschte über sein bleiches Gesicht. »Er hat es nie als Schuld gesehen, Muriel.«

»Aber es fühlt sich so an, schon mein ganzes Leben lang. Du kannst das nicht verstehen, Fin. Du weißt, wer deine Familie ist, wer du bist. Ich … ich weiß nichts über mich. Ich will wenigstens seine Güte vergelten.«

»Und wenn du nicht zurückkehrst? Was dann?«

Muriel holte tief Luft. Es war an der Zeit, es endlich auszusprechen. »Dann werdet Ihr Euch an den Gedanken der Krone gewöhnen müssen, Prinz Finley.« Die distanzierten Worte schlugen einen unsichtbaren Graben zwischen sie. Fin starrte sie an, als hätte sie ihm gerade eine Ohrfeige gegeben. Unglaube, Enttäuschung und ein Hauch von Wut flammten in seinen hellgrünen Augen auf. Er wollte etwas erwidern und Muriel wappnet sich für aufgebrachte Vorwürfe, vielleicht sogar, dass er nach der Wache rufen würde. Aber er tat nichts dergleichen und sah sie nur entsetzlich kühl an. Wieder war der Prinz zum König geworden.

»Ich gebe dir einen Tag Vorsprung. Dann muss ich der Königin erzählen, was du getan hast. Gute Reise, Ridare.« Er trat von ihr zurück. Die Kälte in seinem Blick ließ ihr Herz gefrieren.

Es tut mir leid. Aber es muss sein. Du bist mein kleiner Bruder, mein bester Freund, mein Prinz. Und du wirst es immer sein. Ich vermisse dich jetzt schon und bin stolz auf dich. Du bist ein großer Prinz und wirst ein noch viel größerer König sein.

Muriel machte einen kleinen Schritt auf ihn zu, wollte Fin zum Abschied umarmen. Aber sie zögerte einmal mehr, blieb stumm und senkte den Blick. Schweigend schwang sie sich auf Epana. »Denkst du denn wirklich, dieser Krieg wäre sein Wille gewesen?«

Er gab ihr keine Antwort.

Muriel ritt los. Sie sah nicht zurück.

»Mond, oh Mond« aus

»Erbauliche und lehrreiche Verse für die Kinderschar«

von Davina Flùr

 

Weißer Mond, oh weißer Mond,

Dreimal werd‘ ich von dir belohnt.

Leuchtest hell in ganzer Pracht,

Schützt du mich in dunkler Nacht.

 

Roter Mond, oh roter Mond,

Dreimal werd‘ ich von dir belohnt.

Setzt den Himmel du in Brand,

Alles fort, was ich gekannt.

 

Schwarzer Mond, oh schwarzer Mond,

Dreimal werd‘ ich von dir belohnt.

Schenkst du Leben und auch Glück,

Bringst den Liebsten mir zurück.

 

 

4: Schöner Tod

Mit einem kräftigen Tritt stieß Glenna die Tür zu der Taverne auf und stand tropfend nass im Vorraum der Hinkenden Rotkappe. Notdürftig schüttelte sie den Regen aus ihren Locken und versuchte erfolglos, den knöchelhohen Schlamm von ihren Stiefeln abzustreifen. Schließlich gab sie es mit einem Seufzer auf und betrat den gut gefüllten Schankraum.

Die klebrige Wärme eines Raumes, in dem sich zu viele Menschen aufhielten, umfing sie sofort. Im breiten Kamin auf der anderen Zimmerseite brannte ein prasselndes Feuer und trieb die Hitze noch weiter in die Höhe. Der Geruch von Fischsuppe, Tabakrauch und Hanfseil lag in der Luft. Aus einer der hinteren Ecken klang das zaghafte Zupfen einer Laute. Die Melodie wob sich unter Gelächter und lautstarkes Gebrüll von einem Tisch, an dem eine Runde Schwarzer Fischkopf gespielt wurde. Unaufhaltsam bahnte sich die erste Schlägerei des Abends an. Glenna nickte sich selbst zufrieden zu und rieb ihre kalten Hände aneinander.

Das ist nach dieser verdammten Woche genau das, was ich jetzt brauche.

Sie kämpfte sich durch die dicht gedrängte Menschenmasse in Richtung Tresen. Das gestaltete sich schwierig, da die meisten Einwohner von Bougleach gut einen Kopf größer als Glenna waren. Aber sie besaß spitze Ellenbogen und konnte sehr zielsicher gegen ein Schienbein treten.

»Hey, Fähe!«

Glenna wusste sofort, dass sie gemeint war und noch bevor sie sich umdrehen konnte, landete schon eine Hand klatschend auf ihrem Hintern. Ihre goldene Sichel lag so schnell an der Kehle des Mannes, dass er zusammenzuckte und sich mit der unbedachten Bewegung eine unfreiwillige Rasur verpasste. Glenna hatte nicht gezögert. Zögern bedeutete Angst und Angst war Schwäche. Zumindest war das ihre bisherige Erfahrung im Umgang mit betrunkenen Fischern. Die anderen Männer und Frauen an dem Tisch waren plötzlich mucksmäuschenstill. Sie alle hatten die goldene Sichel sofort gesehen und ihren Fehler erkannt.

»Ja?«, fragte Glenna und zog die Klinge noch ein Stück höher. Irgendwo hatte sie den Fischer geschnitten und ein feiner Faden Blut lief über die polierte Bronze.

»Es … es tut mir leid, verehrte Druvid«, stieß der Mann kreidebleich aus.

»Ich glaube dir nicht, Ratte.« Glennas Stimme war ruhig, aber ihr Blick durchbohrte den Fischer.

»Doch, wirklich!«, winselte der Mann. »War nur’n Spaß, mehr nicht!«

Die Sichel schabte über rissige Haut.

»Ein Spaß?« Zufrieden sah Glenna die blanke Furcht in seinen Augen aufziehen.

»Es tut mir leid«, hauchte er. Sein Kehlkopf hüpfte panisch auf und ab, stieß dabei an die scharf geschliffene Bronze. »Wird nicht nochmal vorkommen!«

»Das will ich hoffen. Versuchst du jemals wieder, jemanden gegen seinen Willen anzufassen, werden deine Netze leer bleiben, egal ob im Meer oder fürs Bett! Verstehst du mich?« Ihrer Stimme hallte der bedrohliche Klang eines Fluchgelübdes nach.

»J… ja!«

Glenna zog die gebogene Klinge zurück und stieß den Mann auf seinen Stuhl nieder. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Menschen um sie herum die Szene gebannt verfolgt hatten und eine drückende Stille in dem Gasthaus eingekehrt war. Mit einem verächtlichen Schnauben drehte sie sich auf dem Absatz um, verstaute in der gleichen Bewegung ihre Sichel und marschierte weiter in Richtung Theke. Wenigstens machte man ihr jetzt freiwillig Platz. Hinter ihr hörte sie das Klatschen einer flachen Hand auf einem Hinterkopf.

»Eine Druvid zu begrabschen, du verdammter Fischsack! Wenn wir morgen nix fangen, ist das deine Schuld!«, schimpfte eine Fischerin.

»Hey, du wolltest sie doch auch angraben!«, beschwerte sich der Mann halblaut. Die weiteren Schuldzuweisungen und Beschimpfungen gingen in dem wieder aufbrandenden Geräuschpegel des Schankraumes unter.

Glenna erreichte die Theke und wurde dort bereits von einer breit grinsenden Frau erwartet. »Kaum in der Stadt und schon Ärger?«, gluckste die Wirtin der Hinkenden Rotkappe und schob Glenna ein heißes Honigbier zu. Mit einem Ächzen ließ die Druvid ihre Reisetasche auf den Boden sinken und griff nach dem Humpen. »Ich war nicht diejenige mit dem Ärger am Hals. Und diesmal habe ich nicht einmal angefangen«, brummte Glenna und nahm einen großen Schluck von dem Bier. Sie verbrannte sich die Zunge an der würzigen Flüssigkeit und unterdrückte einen Fluch. »Auch schön dich zu sehen, Lia.«

Die Wirtin gluckste und wischte sich die Hände an ihrer speckigen Lederschürze ab. Die drei Messer an ihrem Gürtel klimperten dabei leise. Glenna war sich ziemlich sicher, dass damit schon lange keine Fische mehr ausgenommen wurden. Trotzdem sah man den Klingen an, dass sie regelmäßig in Gebrauch waren. Mit Lia legte man sich nicht leichtfertig an und deshalb mochte Glenna sie. Sie nahm noch einen Schluck von dem Honigbier und seufzte selig auf.

»Das habe ich wirklich vermisst.«

»Warst auch lange nicht mehr hier, Kleine.«

Glenna zuckte mit den Schultern. »Hatte viel zu tun.«

»Was, Kelpie-Dung im Moor suchen?« Die Wirtin lachte schallend auf und Glenna schnitt eine Grimasse, weil Lia nicht ganz unrecht hatte. Diese Zutat stand tatsächlich regelmäßig auf ihren Listen. »Ich brauche neue Vorräte. Kannst du mir das alles beschaffen?«, wechselte Glenna geflissentlich das Thema und schob einen kleinen Zettel über den Tresen. Lia fischte das Papier von dem glatten Holz und musterte die säuberlich ausgeführte Auflistung. »Salz, Seil und der Schleifstein sind kein Problem. Zündhölzer und Kerzen kriegst du günstig von mir, ich habe gerade aufgestockt. Nur den Honig musst du dir aus dem Kopf schlagen. Ich kann dir einen Block Zucker stattdessen anbieten.«

Glenna verzog unwillig den Mund. »Ich will mal wieder süßen Honigtee trinken«, murmelte sie. »Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

»Im Moment schon. War kein gutes Jahr für die Zeidler. Und die wenige Ausbeute haben die Brauer aufgekauft. Außer Honigbier ist nichts zu kriegen. Bist zu spät dran, Kleine. Die Erntezeit ist vorbei und so hübsch du auch bist, selbst für dich machen die Bienen keine Ausnahme.«

Glenna verdrehte die Augen. »Wenn ich schon keinen Honig bekomme, dann vielleicht ein Zimmer für die nächsten paar Tage?«

Die Wirtin schüttelte den Kopf und ihre Lippen verzogen sich wieder in ihr breites Lächeln. »Ne, brauchst du nicht.«

Irritiert hob Glenna eine Augenbraue und Lia ruckte mit dem Kopf zur Seite. Glenna wusste sofort, wen sie meinte. Die Frau in der Ecke der Taverne war kaum zu übersehen. Auch ohne die Rüstung und das Schwert hätte Glenna darauf getippt, dass es sich um eine Kriegerin handelte. Selbst im Sitzen war die muskulöse Frau groß. Der dunkelblaue Schleier betonte die hohen Wangenknochen zusätzlich und verlieh ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck. Trotzdem war der Kriegerin eine eigentümliche Schönheit zu eigen, aber Glenna konnte nicht benennen, warum sie so empfand. Weder die Augenringe unter den hellen Augen, noch der harte Zug um die bleichen Lippen waren besonders einladend.

Genau genommen sieht sie wie der Tod persönlich aus. Gut, wie ein verdammt hübscher Tod, aber trotzdem unheimlich.

Etwas an ihr ließ Glenna erschaudern. Sie kniff die Augen zusammen.

Habe ich sie schon einmal gesehen …?

Unvermittelt traf sie der stechende Blick der Kriegerin und Glenna sah rasch weg. Sie räusperte sich. »Was ist mit ihr?«

»Braucht einen Führer fürs Moor. Sie will morgen aufbrechen. Mir wurde zugetragen, dass du in der Stadt bist und ich war so frei, dich zu empfehlen.«

Vorsichtig nippte Glenna an ihrem Bier. Es war noch immer verdammt heiß. »Ich muss Besorgungen machen. Und mich ausruhen.«

»Sie zahlt gut. Sehr gut sogar.«

»Dann stimmt etwas nicht mit ihr.«

»Ihr Silber ist zumindest echt. Und du könntest nach der Sache in Creagorm Geld und einen Ort zum Untertauchen gebrauchen, oder?«

Glenna gab keine Antwort und nahm stattdessen einen großen Schluck Bier. Die brennende Flüssigkeit rann wie Glut ihre Kehle hinab und der Schmerz überschattete kurz das Gefühl der Hilflosigkeit.

Lia hat leider recht. Ich brauche Silber. Und zwar dringend. Danach kann ich aus Bougleach verschwinden.

»Hat sich das schon so schnell rumgesprochen?«, murmelte Glenna und starrte auf die tanzende Schaumkrone in ihrem Humpen.

»Nein, ich habe nur meine Informanten, Kleine. Aber Devon wird dafür sorgen, dass schon bald jeder von Riulàrd bis Glyrdubh von der Sache erfährt. Er soll vor Wut schäumen.«

»Es war ein Unfall!«

Lia schenkte ihr ein mildes Lächeln. »Du weißt, dass du mich nicht belügen musst.«

Die Druvid schluckte schwer. »Du kannst dir nicht vorstellen, was er ihr angetan hat«, wisperte Glenna. »Ich konnte nicht anders, als sie zu befreien. Du hättest es auch getan.«

»Nein, hätte ich nicht, Kleine«, widersprach Lia. Glenna war sich nicht sicher, ob Trauer oder Tadel in der Stimme der Wirtin lag. »Bin nicht so beherzt wie du. Aber dein Mut hilft dir nicht, wenn Devons Schläger hier auftauchen. Die wirst du mit der Sichel nicht so leicht einschüchtern können. Denen ist es scheißegal, ob du eine Druvid bist oder nicht.«

»Weißt du, wie viel er will?«

»Die Rede war von dreihundert Silber.«

Glenna stöhnte auf und schloss die Augen. »Dreihundert Silber!« Diese Summe verdiente sie mit ein bisschen Glück in einem halben Jahr – aber auch nur, wenn sie gute Ware im Moor fand und spendable Käufer hatte. Beides war zurzeit unwahrscheinlich.

Der Winter naht. Die Tuatha ziehen sich in ihre Verstecke zurück und die Menschen legen Vorräte für die kalte Jahreszeit an. Ich habe mich zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt in Schwierigkeiten gebracht.

»Da hinten sitzen dreihundert Silber, Kleine.«

Glenna öffnete die Augen wieder und stürzte das restliche Bier hinunter. »Hab schon verstanden«, brummte sie und deutete auf den leeren Krug. »Bring zwei Humpen rüber. Und etwas zu essen.«

»Kommt sofort!« Lia grinste sie zufrieden an. Glenna schnappte sich ihre Tasche und schritt auf den schönen Tod zu.

 

 

 

 

»Die Schöne und die Fischerin« aus

»Das Buch der Balladen und Volkslieder«,

geschrieben und gesammelt von Saoirse Clàrsaich

 

Fischerin, hey Fischerin, so steh doch endlich auf!

Komm her, nimm meine Hand und lass den Füßen ihren Lauf!

Denn ich tanze, ich tanz‘ die ganze Nacht,

Doch tanzt du nicht mit mir, so hat das alles nichts gebracht.

 

Schöne, ach Schöne, so setz dich doch zu mir!

Die Füße sind so müde, doch ich habe Schnaps und Bier!

Denn du tanzt schon, du tanzt die ganze Nacht,

Doch trinkst du nicht mit mir, so hat das alles nichts gebracht.

 

Fischerin, hey Fischerin, so sing doch unser Lied!

Komm her, und stimme mit ein und horch‘ was drauf geschieht!

Denn ich singe, ich sing‘ die ganze Nacht,

Doch singst du nicht mit mir, so hat das alles nichts gebracht.