Ein Tag und eine Nacht - Sofie Cramer - E-Book

Ein Tag und eine Nacht E-Book

Sofie Cramer

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Beschreibung

Freundschaft überdauert alles. Nur die Liebe nicht. Während des Kunststudiums waren sie unzertrennlich. Oda und Till gegen den Rest der Welt. Spießig werden kam nicht in Frage. Heiraten erst recht nicht. Aus einer Laune heraus schlossen sie einen Schwur: Sollte einer von ihnen jemals heiraten wollen, hätte der andere 24 Stunden Zeit, die Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen – einen Tag und eine Nacht lang. 13 Jahre später ist es so weit: Oda hat den Mann fürs Leben gefunden. Während der Hochzeitsvorbereitungen erinnert sie sich an den Pakt von damals. Sie macht sich auf die Suche – und als sie Till wiedersieht, ist die alte Vertrautheit gleich wieder da. Es knistert sogar zwischen ihnen. Oda ist verwirrt. Und Till muss sich entscheiden: Soll er für seine große Liebe kämpfen? Wo er selbst den Schwur doch schon vor Jahren gebrochen hat … Das neue Buch des erfolgreichen Autorenduos bietet wieder «eine richtig feine Mischung aus Herz, Humor und etwas Wehmut». (Für Sie über «Herz an Herz»)

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Seitenzahl: 420

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Sofie Cramer • Sven Ulrich

Ein Tag und eine Nacht

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Freundschaft überdauert alles. Nur die Liebe nicht.

 

Während des Kunststudiums waren sie unzertrennlich. Oda und Till gegen den Rest der Welt. Spießig werden kam nicht in Frage. Heiraten erst recht nicht. Aus einer Laune heraus schlossen sie einen Schwur: Sollte einer von ihnen jemals heiraten wollen, hätte der andere 24 Stunden Zeit, die Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen – einen Tag und eine Nacht lang.

13 Jahre später ist es so weit: Oda hat den Mann fürs Leben gefunden. Während der Hochzeitsvorbereitungen erinnert sie sich an den Pakt von damals. Sie macht sich auf die Suche – und als sie Till wiedersieht, ist die alte Vertrautheit gleich wieder da. Es knistert sogar zwischen ihnen. Oda ist verwirrt. Und Till muss sich entscheiden: Soll er für seine große Liebe kämpfen? Wo er selbst den Schwur doch schon vor Jahren gebrochen hat …

 

Über Sofie Cramer • Sven Ulrich

Sofie Cramer, Jahrgang 1974, stammt aus der Lüneburger Heide. Zum Studium der Germanistik und Politik ging sie zunächst nach Bonn, später nach Hannover. Nach ihrer Zeit als Hörfunk-Redakteurin machte sie sich selbständig und schreibt seit ihrem Überraschungserfolg «SMS für dich» unter Pseudonym. Inzwischen lebt sie in Hamburg, arbeitet als freie Drehbuchautorin und entwickelt Film- und Fernsehstoffe.

 

Inhaltsübersicht

PrologOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaTillOdaEpilog

Prolog

Berlin, Winter 2001

Till?»

«Hm?»

«Versprichst du mir was?»

Till drehte seinen Kopf, um Oda anzusehen. Sie saß dick eingemummelt neben ihm auf einem kleinen Mauervorsprung vor dem Kaffeehaus Rosenstein im Pankower Bürgerpark. Es war ein kalter Januarabend, und der Ostwind blies an diesem Wochenende besonders stark. Trotzdem waren sie beide froh, der trägen Hochzeitsgesellschaft ihrer Kommilitonen entkommen zu sein. Wenn es auch nur für ein paar Minuten war.

«Wenn wir –»

«A Thousand Miles!»

«Bitte?»

Nun drehte auch Oda ihren Kopf und sah, wie Till sie angrinste.

«Der Song, der gerade spielt: A Thousand Miles von Vanessa Carlton.»

Leicht verärgert runzelte Oda ihre Stirn. «Ich wollte eigentlich –»

«Wie kann man auf seiner eigenen Party nur so oberflächlichen Mist spielen? I would walk a thousand miles just to be with youuuuu», äffte er den Tonfall der Sängerin nach. «Das haben Marlies und Lorenz nun davon, wenn sie Jesper Meyer als DJ auf ihrer Hochzeit an die Turntabels lassen.»

Normalerweise hätte Oda an dieser Stelle gelacht, dachte Till, zumal sie Jesper nicht besonders mochte.

«Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, das ist romantisch», sagte sie stattdessen trotzig und vergrub sich noch tiefer in ihrem Schal. «Außerdem habe ich mit dir geredet.»

Das Licht einer Laterne zauberte einen hellen Kranz um ihr Haar. Er leuchtete so hell, dass Till ihre Augen kaum ausmachen konnte. Dabei hatte sie die schmutzig blausten Augen, die es überhaupt gab.

«Es ist nicht romantisch, es ist plump!»

«Große Kunst ist immer einfach. Und es heißt nicht plump, sondern direkt», antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Natürlich hatte sie recht, aber das würde Till ihr nicht sagen. Genauso wenig, wie er ihr sagen würde, wie hübsch sie war.

«Du klingst wie eine eingebildete Kunststudentin.»

«Ex-Kunststudentin! Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich vor einem Monat meinen Abschluss –»

«Ja, ja, ja, bla, bla, bla», unterbrach er sie und nahm einen Schluck Rotwein. Schweigend sah er anschließend seinem eisigen Atem zu, wie er aufstieg und wieder verschwand. So flüchtig wie die Chance, eine super Frau zu küssen, dachte Till. Da hörte er, wie Oda begann, den schwachsinnigen Refrain leise mitzusingen. Nach einer Weile stimmte Till mit ein: «… and now I wonder, if I could fall into the sky. Do you think, that time would pass me by. Cause you know I would walk a thausend miles. If I could just see you … If I can just hold you … tonight.»

«Du hast recht.» Oda lachte laut auf. «Der Song ist fürchterlich!» Sie lachte so lange, bis sie nicht mehr wusste, worüber eigentlich. Irgendwie hatte sie den Faden verloren. Verdammt! Dabei hatte sie doch etwas Wichtiges sagen wollen.

«Was soll ich dir denn versprechen?» Till leerte sein Glas und stellte es neben sich auf die Mauer.

Genau! Das war es. Rittlings setzte sich Oda auf die kleine Mauer, und um sicherzugehen, dass Till ihr diesmal zuhörte und sie ernst nahm, griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest. Kerzengerade saß er vor ihr, wie es so seine Art war. Till war etwas erschrocken, wünschte sich aber insgeheim, dass sie beide keine Handschuhe anhätten.

«Also, wenn wir mal heiraten sollten …»

Sein Herz schlug so laut, dass er meinte, Oda müsste es hören. «Du willst mich heiraten?»

«Dich doch nicht, du Blödian!»

«Oh!» Und nach einer kurzen Pause fügte er möglichst lässig hinzu: «Äh … Wen willst du denn heiraten?»

«Niemanden!»

«Verstehe ich nicht. Bist du betrunken?»

«Überhaupt nicht. Nur zwei Glas Sekt und eine Cola Rum.»

«Die zwei Wodka zählen nicht?»

«Ach ja … Also gut, ein bisschen betrunken vielleicht. Aber das ist jetzt egal.»

«Also: Wenn wir mal heiraten? Was dann?»

«Ich meine ja nur. Manchmal nimmt das Leben eine dämliche Wendung, und im nächsten Augenblick hat man zu irgendjemandem ‹Ja, warum nicht› gesagt. Und ist verlobt!»

«Dann sag nicht ‹Ja, warum nicht›!»

Sie rollte mit den Augen. «Im Ernst. Ich will nicht so enden wie Lorenz und Marlies. In einem geschmacklosen weißen Kleid mit Hunderten Gästen, von denen ich die Hälfte nicht kenne und die andere Hälfte nicht leiden kann. Und danach folgen nur noch Langeweile, schreiende Bälger und irgendwann die Rente.»

Energisch zog sie ihre rosa-weiß gestreiften Wollhandschuhe aus, die sie zusammen auf dem Weihnachtsmarkt der Kunstakademie gekauft hatten, und hauchte in ihre kalten Hände. Dabei spitzte sie ihre Lippen, und Till musste sich zwingen, seinen Blick abzuwenden.

«Und was soll ich dir jetzt genau versprechen?»

«Na ja, also … Wenn du jemals Gefahr läufst, ein spießiger Ehemann zu werden, musst du mich anrufen, und ich werde dann einen Tag und eine Nacht für dich da sein und mit dir darüber reden.»

«Und mir die scheiß Idee ausreden oder meine Trauzeugin spielen, oder was?»

Oda nickte ernst. «Und umgekehrt natürlich.»

Im Hintergrund lief jetzt Pink, Get the Party started, was Till endgültig an Jespers Geschmack zweifeln ließ.

«Versprechen wir uns das?»

Oda roch nach Wein und Zigaretten und nach diesem Parfüm, nach dessen Namen Till sie nie gefragt hatte, weil es ihm peinlich war.

«Versprochen», sagte er und spürte im nächsten Augenblick, wie Oda sein Gesicht in ihre kalten Hände nahm und ihre Lippen auf seinen Mund presste. Er war so erstaunt, dass er wie festgewachsen sitzen blieb. Wie weich und warm ihre Lippen waren. Und dann war der Moment auch schon vorbei.

Oda machte sich von ihm los und lachte. «So in etwa muss sich das anfühlen, wenn du auch nach 25 Jahren immer noch denselben Partner küssen musst.»

«Mmh, wenn sich das so anfühlt, ist eine Ehe vielleicht doch keine so schlechte Idee», wagte Till einen Vorstoß.

Doch Oda erhob sich gut gelaunt und entgegnete: «Na los! Wir müssen da wieder rein und Jesper abfüllen. Sonst kommen wir noch auf dumme Gedanken.»

«Aber klar», antwortete Till und setzte sein breitestes Grinsen auf, um seine Enttäuschung zu überspielen.

Oda

Du hast es geschafft! Du hast es wirklich geschafft!», triumphierte Rick, als er die Eingangstür seiner Galerie abschloss.

Oda lächelte etwas verlegen. Ihr Blick blieb auf dem Plakat mit ihrem Porträt hängen, das beinahe die gesamte Fläche der gläsernen Tür einnahm. Es war seltsam, dachte sie, sich selbst dabei zuzusehen, wie aus einer von Selbstzweifeln geplagten Schülerin eine aufstrebende Fotografin wurde, die sich ihre Aufträge inzwischen aussuchen konnte und zu deren Ausstellungseröffnung viele gekommen waren, die Rang und Namen in der Hamburger Szene besaßen.

Oda und Rick machten sich auf den Weg in den gefragten Stadtteil Ottensen, wo ihr gemeinsames Loft lag. Rick legte seinen Arm um Odas Schultern, was sie sich gern gefallen ließ. Unzählige Bilder des gelungenen Abends rauschten ihr durch den Kopf. Am meisten aber hatte sie der stolze Blick ihrer Eltern erfüllt, der das erste Mal in ihrem Leben zu sagen schien, dass sie doch etwas richtig gemacht hatte. Auch wenn ihnen ein Enkelkind womöglich lieber gewesen wäre. Vielleicht hatten sie sich aber auch einfach schon damit abgefunden, dass sich Oda lieber mit Stativ und einer analogen Hasselblad als mit Babybrei und Spucktüchern beschäftigte. Und daran würde sich vermutlich auch nichts mehr ändern.

Oda war 36 Jahre alt, die letzten fünf davon mit Rick zusammen. Schon als Kind hatte sie nichts mit Puppen, Kleidern oder Ponys anfangen können. Stattdessen war sie lieber allein durch Wiesen und Wälder der Nordheide gestreunt, immer auf der Suche nach den schönsten Aussichtsplätzen. Und seitdem sie in einer speckigen Tasche auf dem Dachboden ihres Großvaters eine alte Leica gefunden hatte, betrachtete sie die Welt eigentlich nur noch durch die Linse einer Kamera. Irgendwo hoch oben in einer Baumkrone musste sie den Entschluss gefasst haben, eine richtig gute Fotografin zu werden. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, jemals etwas anderes gewollt zu haben.

«Und was kommt als Nächstes?», fragte Rick, nachdem sie eine ganze Zeit lang schweigend nebeneinander hergegangen waren. Er hielt vor einem Schaufenster mit überteuerter Damenmode, die auf riesigen, quadratischen Werbeaufnahmen von Models mit viel Haut und wenig Farbe präsentiert wurde, und grinste verschmitzt.

«Was meinst du?» Fragend sah Oda ihn an.

Ricks Augen hatten den gleichen warmen Braunton wie seine kinnlangen Haare, die er meist unter einem Baseballcap mit dem Logo seines Lieblingsteams aus Philadelphia versteckt hielt.

«Ich meine, jetzt bist du da, wo du hinwolltest: im Rampenlicht. Und das vollkommen zu Recht, meine Schöne!»

Oda kräuselte die Stirn. Sie fühlte sich zwar geschmeichelt, aber gleichzeitig seltsam unwohl. Denn der Wunsch nach Ruhm war es nie gewesen, der sie angetrieben hatte, gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern das Kunststudium durchzuziehen. Sicher, sie hatte am Ende einen guten Abschluss gemacht, war über ein Praktikum in New York an erste Jobs gekommen, die ihr nach und nach zu einem guten Ruf verhalfen, und tatsächlich konnte sie sich nunmehr eine international anerkannte Fotografin nennen. Aber im Rampenlicht?

«Also, ich weiß nicht …»

Zu Odas Überraschung hob Rick sie plötzlich lachend in die Höhe und vergrub sein Gesicht in ihrem langen, bunten Schal. Als er sie dann langsam wieder sinken ließ und sich ihre Blicke trafen, machte er auf einmal ein ernstes Gesicht. «Meinst du nicht, wir sollten es tun?»

Oda verstand immer noch nicht, hatte aber so eine Ahnung, dass dies keiner von Ricks typischen Sprüchen war, um humorvoll seine Lust auf Sex zu äußern.

«Du könntest aus mir einen rechtschaffenen Mann machen. Ich meine, jetzt, da ich ein gesichertes Einkommen habe», schob er noch hinterher und fiel mit theatralischer Geste vor ihr auf die Knie.

Sofort musste Oda herzhaft lachen.

«Du hast zu viele Filme gesehen!», entgegnete sie und bot Rick die Hand, damit er sich mit dem ebenfalls gespielten Seufzen eines immerhin schon 45 Jahre alten Mannes wieder aufrichten konnte. «Außerdem lebst du vom Geld deiner Familie und nicht von den paar verkauften Bildern deiner Freundin.»

«Aber Süße, ich werde dich doch jetzt ganz groß rausbringen!», sagte Rick mit einem Grinsen und stand auf.

«Reich wird man nur mit so was.» Oda deutete auf die Bilder im Schaufenster.

«Das kannst du besser», sagte er. Fast meinte Oda, Stolz in seiner Stimme zu hören.

«Für die Kampagne hat der Werbefotograf bestimmt ein fünfstelliges Honorar abgesahnt.» Skeptisch betrachtete Oda die dünnen Frauen, mit ihren ausdruckslosen Gesichtern und den langen, glattgeföhnten Haaren.

«Du hast es aber gar nicht nötig, dein kreatives Potenzial für rein kommerzielle Zwecke ausbeuten zu lassen. Und wenn, dann nur für meine.» Rick drehte Odas Kopf zu sich und küsste sie in einer Weise, die ihre Knie weich werden ließ. Der Prosecco, den sie heute wegen der Aufregung auf nüchternen Magen getrunken oder vielmehr wie ein Erfrischungsgetränk in sich reingeschüttet hatte, tat ein Übriges. Wenn sie diesen Tag tatsächlich noch mit Sex krönen würden, käme er definitiv auf die Top Ten der besten Tage ihres Lebens, dachte Oda und hakte sich glücklich bei Rick unter. Er hatte recht. Sie hatte es tatsächlich geschafft und ihren Kindheitstraum wahr gemacht.

Till

Till fuhr den kleinen Lieferwagen von der Schönhauser- in die Kastanienallee. Er wusste nicht genau, warum, aber er war endlich mal wieder gut gelaunt.

In der Gegend vom Prenzlauer Berg war er seit Jahren nicht mehr gewesen, und jetzt stellte er überrascht fest, wie aufgeräumt und belebt die Straßen wirkten. Hausnummer 11 besaß tatsächlich eine Toreinfahrt, die er nach Anweisung der Sekretärin seines Auftraggebers benutzen sollte. Es würde also schnell gehen. Mein Glückstag, dachte er lächelnd. Bevor er abbog, musste er jedoch erst mal eine Gruppe hipp angezogener Berlintouristen vorbeilassen, die allesamt aussahen, als seien sie auf dem Weg zum nächstbesten Frühstückslokal. Schließlich rollte er durch die enge Toreinfahrt, die so schmal war, dass er fast das Klingelschild der innen liegenden Haustür geschrammt hätte. Den ersten Hof hatte er geschafft, nun musste er noch durch eine zweite, ebenfalls sehr enge Durchfahrt. In diesem zweiten Hinterhof lag in ein paar ehemaligen Garagen die Werbeagentur, für die Till einen Schreibtisch liefern sollte.

Er hielt vor den schmalen Parzellen, die alle modern und schick renoviert waren. Till war immer wieder überrascht, wie unglaublich paradiesisch einige Berliner Hinterhöfe aussahen. Die ehemaligen Tore waren hier durch große Scheiben ersetzt worden, Weinranken wuchsen aus edlen Holztöpfen bis aufs Dach, und zum Entspannen standen Holzbänke vor dem langen Gebäude. Auf einer der Fensterscheiben war in großen Lettern der Name der Werbeagentur zu lesen: «Meyer & Wächter».

Till zog den Zündschlüssel aus dem Mercedes Sprinter und ließ die Schönheit des Hofes noch einen Moment auf sich wirken. Er liebte es, in der Stadt zu wohnen und immer wieder auf so kleine Oasen zu stoßen. Yeah!

Es war erst neun Uhr morgens, aber die Hitze kündigte sich schon an. Es würde wohl einer dieser Tage werden, an die man sich später mit großem Aha und Wisst-ihr-noch-dieser-wahnsinnig-heiße-Tag-im-Sommer-2014? erinnern würde. Till nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und stieg aus. Um diese Uhrzeit schliefen die Kreativen natürlich noch. Er hoffte, dass wenigstens die Sekretärin pünktlich sein würde.

Als er auf den Eingang zuschlenderte, blieb sein Blick an einer Skulptur hängen. Normalerweise machte er seit dem Verlassen der Kunsthochschule einen großen Bogen um jedes Kunstwerk. Aber dieses zog ihn magisch an, hatte ihn quasi von der Seite angefallen, und nun konnte er nicht anders: Er starrte die Skulptur an. Es war das Abbild einer Frau, lebensgroß aus einem länglichen Betonquader gehauen. Das Gesicht wurde durch eine wilde Haarmähne verdeckt, die sie wie ein Popstar trug. Nur der Mund und ein Stück der Nase waren zu sehen. Der rechte Arm der wohl eher jungen Frau baumelte dicht neben dem Körper, wobei man die Hand nicht sah: Sie verschwand im unbehauenen Quader. Das hatte der Künstler gut hinbekommen. Ein kühner Gag. Mit der anderen Hand bedeckte die Frau ihre Brüste. Nicht schamhaft, sondern kokett. Kein Meisterwerk, so viel stand fest. Vielleicht hatte sich einer der Chefs der Werbeagentur daran versucht. Meyer oder Wächter. Tills alter Prof an der Kunstakademie hätte die Skulptur jedenfalls gehasst. Kaminski hatte allerdings fast alles gehasst, was seine Studenten anfertigten. Trotz der handwerklichen Durchschnittlichkeit der Skulptur löste ihr Anblick in Till etwas aus, nur was, das konnte er nicht sagen. Unweigerlich streckte er seine Hand aus, um die Schulter der Frau zu berühren.

«Till?»

Er fuhr herum. Er hatte den Mann nicht kommen hören, der mit einem Coffee-to-go nun direkt vor ihm stand und breit grinste. Es konnte nur ein Werber sein. Der Klamottenstil pendelte zwischen lässig und teuer. Eine alte Jeans, Lederschuhe, eine große, graue Brille auf der winzigen Nase, Glatze und ein beinahe unverschämt selbstbewusster Blick.

«Ja?», sagte Till mit fragendem Blick. Woher wusste der Typ seinen Namen? Kannte man sich von irgendwoher?

«Erkennst mich nicht, was?»

«Doch, äh … kleinen Moment.»

Nein, er kannte ihn nicht. Eine peinliche Situation. Ein ehemaliger Kunde der Firma? Ein Freund eines Freundes? Andererseits: Viele Leute gab es da nicht. Till hatte keinen großen Freundeskreis und ging eigentlich auch kaum aus.

«Im Moment komm ich gerade doch nicht drauf», sagte Till vage.

Das hinderte den Mann jedoch nicht daran, einen Schritt näher zu kommen und Till zu umarmen. Vor Schreck versteifte sich Till und stand regungslos da, als wäre er selbst eine Skulptur. Er kam sich dämlich vor.

«Mensch, Till. Ich bin es: Jesper!» Er löste die Umarmung und sah Till erwartungsvoll an.

«Jesper», wiederholte Till und nickte mit einem Gesicht, als sei nun alles klar.

Jesper Meyer – dicke Eier … Die Worte zogen in Tills Gehirn Schleifen, arbeiteten sich durch ältere, längst vergessene Schichten hindurch, bis schließlich – pling! – das Bild des langhaarigen Kunststudenten vor ihm auftauchte. Dieser Mann sollte der Jesper aus der Kunstakademie sein? Der auf Marlies’ und Lorenz’ Hochzeit so schreckliche Musik aufgelegt hatte?

«Oh Mann. Natürlich, Jesper!» Zu Tills eigenem Erstaunen klang er ehrlich erfreut. «Wo sind deine Haare geblieben, Jes?»

Leicht verlegen strich sich Jesper über die Glatze. «You can’t have both: hair and brain.»

Sie grinsten sich an. Jetzt kam die Erinnerung wieder. Jesper hatte sich tatsächlich ziemlich verändert.

«Du bist damals einfach verschwunden, Till. Keiner hat danach je mehr von dir gehört!»

Tills Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, sein Mund wurde trocken. So trocken, dass er husten musste. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab.

«Hey, was ist los? Geht’s dir nicht gut, Mann?» Besorgt klopfte Jesper ihm auf den Rücken.

«Alles … wunderbar», log Till und wünschte, er hätte seine Wasserflasche aus dem Wagen mitgenommen. «Vielleicht … das Wetter», fügte er krächzend hinzu.

«Warte, ich hole dir was zu trinken.»

«Nicht nötig.» Aber Jesper war schon im Inneren des Gebäudes verschwunden.

Till atmete einmal tief ein und aus. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick erneut auf die Skulptur. Jetzt wusste er auch, warum ihn das Kunstwerk so magisch angezogen hatte. Er kannte das Model. Natürlich! Es war Oda! Verdammt! Er hätte sie gleich erkennen müssen. Hastig folgte er Jesper in die Räume der Werbeagentur.

Wenig später saßen sie zusammen auf einem gemütlichen Besuchersofa in Jespers Büro und starrten durch die Scheibe nach draußen. Direkt auf die Skulptur.

«Ich …», begann Till und wusste im nächsten Moment auch schon nicht mehr, was er sagen sollte. «Tut mir leid, Jesper, dass ich dir Umstände mache. Weiß auch nicht, was los ist.»

«Hey, kein Problem. Ich bin froh, dass wir uns mal wieder über den Weg gelaufen sind.»

«Ich auch», hörte Till sich sagen, und er war nicht sicher, ob er es ernst meinte.

Schweigend starrten sie auf die steinerne Frau.

«Weißt du noch, wie Oda damals für uns Model gestanden hat?»

Till nickte matt. Natürlich wusste er es noch!

«Habt ihr noch Kontakt? Die Unzertrennlichen?»

Schnell nahm Till einen Schluck aus dem Wasserglas, das Jesper ihm hingestellt hatte.

«Äh … Ich bin ein bisschen in Eile, muss heute noch echt viel ausliefern. Macht es dir was aus, wenn wir jetzt den Schreibtisch reintragen?», murmelte er, während er Jespers Blick auswich und stattdessen auf den Fußboden starrte und nervös mit dem Fuß tappte. Mist! Was war bloß los mit ihm? Er wünschte, er wäre weit weg.

«Kein Problem», sagte Jesper zu seiner Erleichterung und folgte Till zum Lieferwagen, in dem nur ein einziges Möbel stand. Jespers neuer Schreibtisch. Es war ein Einzelstück.

«Handgefertigt vom besten Schreiner der Stadt», erklärte Till, während sie den Tisch gemeinsam auf einen Rollwagen hievten und ihn über den Hof ins Büro schoben. «Ein echtes Schmuckstück, eine Anschaffung fürs Leben.»

Vorsichtig platzierten sie das teure Unikat in Jespers Büro. Jesper verlor kein Wort über den Tisch, der ihn mehr als 20000 Euro gekostet hatte. Stattdessen, so ahnte Till, wollte Jesper lieber wissen, warum er damals so plötzlich verschwunden war. Was in den letzten 13 Jahren geschehen war. Aber Till wollte nichts erzählen.

Übereifrig holte er noch eine spezielle Möbelpolitur aus dem Sprinter und instruierte Jesper, wie oft der Tisch zu pflegen sei, obwohl er bemerkte, dass dieser gar nicht zuhörte. Schließlich streckte er seine Hand aus.

«Hat mich gefreut, dich mal wiedergesehen zu haben», sagte er steif.

Jesper sah ihn ernst an. «So kommst du mir aber nicht davon, Mann.»

Till spürte einen Druck im Magen. «Ich muss jetzt echt los. Die Arbeit ruft.»

«Seit wann arbeitest du denn mit Holz? Stellst du auch irgendwo aus?»

Till schüttelte den Kopf. «Ich arbeite jetzt als Geschäftsführer von Möbel Paulus.» Er deutete auf den Lieferwagen mit dem schwarzen, einfach gehaltenen Firmenschriftzug. «Seit … Also, jedenfalls schon eine Ewigkeit.»

Er erntete einen erstaunten Blick. «Weißt du eigentlich noch, wie Kaminski dich immer genannt hat? Die Zukunft der Bildhauerei.»

Till lachte auf. «Quatsch!»

«Stimmt aber, Mann!» Jesper ging auf ihn zu und legte seine schmale Hand auf Tills Schulter. «Ich habe dich damals gehasst, weil du so beschissen viel Talent hattest. Und dann bist du einfach verschwunden. Seit Jahren forsche ich jedes Kunstmagazin nach deinem Namen durch. Wir wussten alle nicht –»

«Ich muss jetzt weiter. Wirklich.» Till nahm Jespers Hand von seiner Schulter und drückte sie. «Wir können ja mal was trinken gehen. Einen Kaffee vielleicht. Ich rufe dich an. Okay?»

Dann ging er festen Schrittes aus dem Büro und durch den Hof zu seinem Wagen. Er stieg ein, setzte sich und schloss die Tür. Jetzt nur noch den Zündschlüssel umdrehen, dann nichts wie weg. Von wegen mal was trinken gehen! Er würde nie wieder auch nur in die Nähe der Kastanienallee kommen. Hastig wendete Till den Sprinter und fuhr so schnell es ging durch die enge Einfahrt, als gelte es, einem alten, fürchterlichen Fluch zu entkommen.

Oda

Wie sehr habe ich all das vermisst!, dachte Oda, als sie mehrere Stufen gleichzeitig hinaufnahm und von oben ihren Blick entlang der Hafenpromenade wandern ließ. Dann sah sie auf ihr Handy und registrierte zufrieden, dass sie sich auf ihrer Joggingstrecke bis zur Kehrwiederspitze und zurück um sechs Minuten verbessert hatte.

Schon in der Schulzeit war Oda gern mit ihren Eltern in den Hamburger Hafen gefahren, um bei einem Sonntagsspaziergang an der Elbe die großen Schiffe zu beobachten. Damals hatte Oda ihnen voller Fernweh nachgesehen und sich in die Metropolen der ganzen weiten Welt gewünscht. Sie hatte nicht ahnen können, dass es sie eines Tages nach New York verschlagen würde. Und tatsächlich gehörten ihre knapp zwei Jahre im Big Apple zu den spannendsten und am meisten prägendsten ihres Lebens. Doch hier, in Norddeutschland, fühlte sie sich einfach zu Hause. Was für ein Glück, dass Rick sich bereit erklärt hatte, sie in ihre Heimat zu begleiten. Und das, obwohl er als Schweizer schneebedeckte Berge liebte und ihm alle Türen zur New Yorker Kunstszene offen standen. Nicht zuletzt wegen seiner Mutter, die sogar einen US-amerikanischen Pass besaß. Doch er würde auch hier in Hamburg seinen Weg als Galerist machen, da war sich Oda sicher. Wenn er sich dabei nur nicht zu sehr auf Odas Karriere versteifte! So gut war sie doch gar nicht. Aber jeder Versuch, sich von seiner Unterstützung loszusagen, war gescheitert. Dafür liebte Rick sie zu sehr. Auch wurde er nie müde zu betonen, wie sehr er in sie vernarrt war. Natürlich genoss sie seine Bewunderung. Manchmal allerdings beschlich sie die leise Angst, Rick würde sie nur lieben, weil eine erfolgreiche Künstlerin so gut in das Wunschbild passte, das er von seiner Familie hatte. Schon öfter hatte Oda ihm im Streit an den Kopf geknallt, dass es ihm gar nicht um sie ging, sondern bloß um die Welt, in der sie sich bewegten. Und dann wieder fühlte sie sich ganz eins mit ihm, etwa wenn sie gemeinsam eine Ausstellung besuchten und beim Anblick eines Bildes das Gleiche empfanden. Sie mussten auch nicht viele Worte darüber verlieren. Dafür liebte sie Rick. Er war sehr spontan und begeisterungsfähig, wenn es darum ging, irgendetwas Unkonventionelles auf die Beine zu stellen. Allerdings verflogen manche Ideen auch genauso schnell wieder, wie sie gekommen waren. So wie der überfallartige Heiratsantrag, den er ihr nach der Vernissage gemacht hatte und über den sie später kein Wort mehr verloren hatten. Aber diese Sprunghaftigkeit störte sie nicht wirklich. Im Gegenteil, sie war schon auf Ricks nächste verrückte Aktion gespannt.

Während sie ihre Muskeln mit Blick auf Dock 10 der Schiffswerft Blohm + Voss zu dehnen begann, musste sie an ihren ersten gemeinsamen Sommer in New York denken. Sie hatten sich auf einer Party in Soho kennengelernt, und Rick begleitete Oda so oft es ging auf ihrer Suche nach originellen Fotomotiven. Bei einem Spaziergang durch Brooklyn hatte Rick plötzlich eine neongelbe Sprühflasche aus seiner Jeansjacke gezogen und in riesigen Buchstaben «Oda, my endless love» an die Rückseite einer fensterlosen Fabrikhalle geschrieben. Das Graffiti war durchaus eindrucksvoll und auch Monate später noch zu bewundern gewesen. Erst als sie der Stadt gemeinsam Lebewohl sagten und noch ein letztes Mal ihre wichtigsten Orte besuchten, bemerkten sie, dass Ricks Werk von anderen Sprayern übermalt worden war. Von seiner Liebesbotschaft blieb ihnen nur ein Schnappschuss auf Ricks Handy, weil Oda es – Ironie des Schicksals – vor lauter Arbeit nicht geschafft hatte, mit ihrer Kamera nach Brooklyn zu fahren und das vergängliche Zeichen ihrer durchaus lebendigen Liebe angemessen einzufangen.

Dabei hätte sich ein Ausdruck in Übergröße sicher gut gemacht im offenen Wohnzimmer ihres Lofts.

Oda setzte ihre Laufstrecke fort. Als sie an einer roten Ampel stoppte, spürte sie, wie sehr ihre Wangen vom Laufen in der prallen Julisonne glühten.

Wie immer freute sie sich, in ihre Traumwohnung zurückzukehren. Rick machte gerne Scherze darüber, dass der Besitzer des Hauses sich beim Aufsetzen des Mietvertrages mit einer Kommastelle vertan haben musste. Es war ein Schnäppchenpreis, jedenfalls im Vergleich zu den horrenden Quadratmeterpreisen, die er aus New York und der Schweiz gewohnt war. Aber Oda war sich sicher, dass ihre Eltern Herzrhythmusstörungen bekommen würden, wenn sie wüssten, wie hoch die Miete war.

«Du solltest wirklich nicht so viel Geld verbrennen, sondern dir ein anständiges Reihenhäuschen von deinem Ersparten kaufen!», wurde ihr Vater nie müde, sie zu ermahnen. Und angesichts der niedrigen Zinsen bei Immobilienkrediten hatte er vielleicht sogar recht. Doch das kam für Oda nicht in Frage. Am liebsten hätten es ihre Eltern ohnehin gesehen, dass sie nach ihren «wilden Jahren», wie sie Odas Zeit an der Berliner Kunstakademie nannten, zu ihnen zurück in die Heide zog und ein rot geklinkertes Einfamilienhaus mit Gartenzaun und Geranien vor den Fenstern kaufte. Ob sie sich Rick als Vater ihrer Enkelkinder wünschten, wagte Oda zu bezweifeln. Zwar hatten sie sich nie getraut, Odas Freund offen zu kritisieren. Doch gelang es ihnen nicht wirklich, ihre mangelnde Sympathie zu verbergen. Fast ein halbes Jahr lebten Rick und sie nun schon in Hamburg, und ihre Eltern hatten es noch nicht einmal für nötig befunden, ihm das Du anzubieten. Sie verstanden einfach nicht, womit Rick eigentlich sein Geld verdiente. Und dass er zwar ein extrovertierter Mensch war, aber dennoch nie seine eigene Leistung zur Schau trug. Weitab der Scheinwerfer brachte er Menschen aus der gesamten Kunst- und Kulturszene miteinander ins Gespräch. Und nicht zuletzt durch seine Juryarbeit in Genf hatte er schon mehrfach ein gutes Gespür für große Talente bewiesen, die ohne Stipendium niemals ihre wahre Größe hätten entfalten können. Aber für Kunst hatten ihre engstirnigen Eltern noch nie etwas übrig gehabt. In ihrer Welt ging es um die Rentenansprüche des Vaters oder den Jahresurlaub auf Rügen.

Oda seufzte. Wie hatten sie die Zweifel an ihrem Können damals aufgefressen! All die Schuldgefühle, sich auf Kosten ihrer Eltern ein Lotterleben als Künstlerin finanzieren zu lassen. Aber jetzt war alles gut, und Oda konnte es kaum erwarten, sich in ihr nächstes Projekt zu stürzen. Einen Auftrag, den sie Ricks Onkel Urs zu verdanken hatte. Als Unternehmer und Mäzen leistete er sich mit Ricks Galerie ein «kostspieliges Hobby», wie er es nannte. Außerdem konnte er vor seinen Geschäftsfreunden damit angeben, stets die neuesten Trends und Newcomer des modernen Kunstgewerbes zu kennen. Oda sollte nun eine Fotoreportage anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Privatbank eines befreundeten Unternehmens machen. Zwar hatte Rick die Nase über diesen Auftrag gerümpft, weil er Oda daran hindern würde, ihrer eigentlichen Leidenschaft, der Porträtfotokunst, nachzugehen. Doch der lukrative Auftrag kam ihr gelegen. Mit Eröffnung der Ausstellung letzte Woche hatte sie ihre Serie über das Altern in unterschiedlichen Kulturen abgeschlossen, und erfahrungsgemäß brauchte es ein paar Wochen, bis sich ein neues Projekt ergab.

Oda freute sich auf die Reise in die Schweiz. Sie würde ein paar Tage in der wunderschön gelegenen Villa von Ricks Mutter am Zürichsee verbringen. Vielleicht würde sie ausnahmsweise den Wagen statt des Fliegers nehmen. Denn dann brauchte sie sich mit ihrer Ausrüstung nicht zu beschränken und würde spontan aus diversen Objektiven und Lichtquellen wählen können.

Oda setzte zum Endspurt an und lief bis vor die Stufen der kleinen Bäckerei, die am Anfang ihrer Straße lag. Die Verkäuferinnen kannten sie und sprachen sie mit Frau Schumann an, seit sie zu ihrer Einweihungsparty verschiedene Brote auf Ricks Namen vorbestellt hatte. Heute würde sie für ein spätes Frühstück zwei Körnerstangen und zwei Franzbrötchen mitnehmen, die sie in New York so vermisst hatte.

Gut gelaunt klingelte Oda an der Tür Sturm, um Rick aus dem Bett zu locken, und lief anschließend die Treppe hinauf. Es war schon zwölf Uhr durch. Zeit für ihren Freund, aufzustehen. Auch wenn Rick die Öffnungszeiten der Galerie seinen Schlafgewohnheiten angepasst hatte und erst am frühen Nachmittag mit der Arbeit begann, konnte er sich für ein gemeinsames Frühstück ruhig Zeit nehmen, fand Oda und freute sich schon auf sein verschlafenes Gesicht. Doch als sie oben ankam, erschrak sie. Rick empfing sie bereits an der Tür. Er war angezogen und schien hellwach zu sein.

Mit ungewohnt ernsthaftem Gesichtsausdruck sagte er: «Die Praxis hat angerufen. Die Untersuchungsergebnisse sind da. Du sollst Dr. Feldmann umgehend zurückrufen.»

Oda hielt den Atem an. Ihre Beine zitterten. Verzweifelt suchte sie in Ricks Augen nach einem Hoffnungsschimmer, einem Zeichen, dass alles halb so schlimm war. Doch er legte sanft seine Hände um ihre Taille und drückte sie dann so fest an sich, wie er nur konnte.

Till

Nach dem zufälligen Treffen mit Jesper ging es Till mies, keine Spur mehr von seiner morgendlichen guten Laune.

Er hatte das Gelände verlassen, sich bei seinem Chef für den restlichen Arbeitstag spontan abgemeldet und war dann mit dem Firmenwagen nach Hause gefahren. Dort saß er in seinem Arbeitszimmer und starrte durch die Fensterscheibe nach draußen. Er war unfähig, sich zu bewegen. Was war nur los mit ihm, verdammt? Wie Blitze schossen ihm die Erinnerungen an damals durch den Kopf. Aus allen möglichen Windungen seines Gehirns krochen die Bilder hervor. Bilder, die er längst vergraben und vergessen glaubte. Die Werkstätten der Kunstakademie, die Kommilitonen, die wilden Partys, aber auch die stillen Stunden im Atelier, in denen er wochenlang an Skulpturen schuftete, nur, um sie später wieder zu zerstören. Nicht gut genug, banal, einfältig. Wie oft hatte er gedacht, er besäße kein Talent, und wie oft hatte Oda ihn wieder aufgerichtet?

Oda!

Wie lange war das alles wirklich her? Der Tag von Lorenz’ und Marlies’ Hochzeit? Die Kälte im Bürgerpark? Der Kuss? Odas weiche Lippen? Immer wieder endete seine Erinnerung bei diesem Kuss.

Als Till sich endlich aus dem Gedankenkarussell losreißen konnte, ging er ins Bad und sah auf der Digital-Uhr seiner elektrischen Zahnbürste, dass es schon Abend war. Unglaublich! Hatte er die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt? Sechs Stunden lang? Wurde er jetzt irre? Während er sich die Hände wusch, fragte er sich, ob eine elektrische Zahnbürste spießig war. Ob Oda eine hatte? War sie noch in New York? Warum hatte ihn das all die Jahre nicht interessiert, und warum lähmte ihn schlagartig die Vergangenheit? Und am wichtigsten: Hatte es ihn wirklich nicht interessiert, oder hatte er es nur verdrängt?

In der Küche schmierte er sich ein Brot und verspürte plötzlich Durst auf kalten Tee. Früher in seinem Atelier hatte immer eine große Kanne mit kaltem Pfefferminztee gestanden. Wie ferngesteuert füllte er den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Damals hatte er das Wasser im Topf kochen müssen. Er hatte kein Geld für profane Dinge wie Wasserkocher oder elektrische Zahnbürsten gehabt. Kein eigenes Auto und auch keine schicke Uhr, dachte Till beim Betrachten seiner halbautomatischen Armbanduhr der Marke Sinn, die er sich seit Jahren gewünscht und schließlich selbst gekauft hatte. Mit einem Mal schämte er sich beinahe. Hatte er sich heute nicht über Jespers Wandlung vom langhaarigen Kunststudenten zum coolen Hipster lustig gemacht? Und er? Was war aus ihm geworden?

Der Wasserkocher ging mit einem Klack aus, und Till wurde im gleichen Moment bewusst, dass er keinen Pfefferminztee im Haus hatte. Mist. Er hatte eindeutig einen gebrauchten Tag erwischt. Aber davon wollte er sich nicht kleinkriegen lassen. Schnurstracks ging er in den Flur, öffnete die Tür zum Keller und stieg hinab. In der Abstellkammer fiel sein Blick auf ein paar alte Kisten, und ihm kam ein Gedanke. Er öffnete die mit der Aufschrift «Kunst 2000» und holte zielsicher einen Schuhkarton mit alten Fotos heraus. Darin lagen mehrere mit Gummiband ordentlich zusammengehaltene Bündel. Ohne zu zögern, griff er den richtigen Stapel und fand sofort das Bild, das er gesucht hatte. Es zeigte Oda im großen Atelier der Kunstakademie, wie sie halb nackt für ihre Kommilitonen posierte. In genau der Pose, die Jespers Skulptur zeigte. Professor Kaminski hatte damals gewollt, dass alle seine Studenten ein Kunstwerk nach dem gleichen Vorbild schufen. Um ihre Ansätze zu vergleichen! Oda hatte sich bereit erklärt, zu posieren.

Till erinnerte sich, wie irritiert er war, sie halb nackt vor sich zu sehen. Wie sein Herz gerast hatte und wie albern er das gleichzeitig gefunden hatte, wo man doch als Künstler mit Nacktheit ungezwungen umzugehen hatte. Oda hingegen schien ganz locker mit der Situation umzugehen. Es schien ihr nichts auszumachen, angestarrt zu werden. Sie hatte ihm zugezwinkert, danach war er erst recht nicht mehr in der Lage gewesen, eine Skulptur nach ihrem Vorbild zu erschaffen.

Till konnte seine Augen nicht von dem Foto nehmen. Oda! Er erinnerte sich an die Bewegung, mit der sie ihre Haare aus der Stirn strich, und er dachte an Pinks Let’s get the Party started. 2001 war die Hochzeit gewesen, und kurz danach war Oda verschwunden. 13 Jahre hatte er sie nicht gesehen. 13 Jahre!

Mit dem Foto in der Hand verließ Till den Keller und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Diesmal konnte ihn der Ausblick aus dem Fenster nicht ablenken. Er schaltete den Computer ein und suchte auf YouTube das Video zu dem Pink-Lied. Musik hat etwas Magisches, dachte er, der richtige Song kann dich direkt in die Vergangenheit katapultieren. Und so war es auch. Kaum hatte er die ersten Takte gehört, spürte Till, wie sich damals alles angefühlt hatte. Die Kälte, der Mauervorsprung, die Handschuhe … Der Kuss.

Dann gab er Odas Namen bei Google ein.

Oda Florentin. Ein Facebook-Eintrag war das Erste, was er fand, und nach kurzem Zögern drückte er den entsprechenden Link.

Ihr Profilbild zeigte den Hinterkopf einer Frau mit langen Haaren. Im Hintergrund sah man Bäume in kräftigem Lila. Typisch Oda, dachte Till sofort und musste unwillkürlich lächeln. Infos über sie gab es nur, wenn man mit ihr befreundet war. Till starrte auf den Bildschirm und die Worte: Freundschaftsanfrage senden.

Oda

Obwohl es draußen noch nicht einmal dunkel war, lag Oda mit ihrem iPad auf dem Bett und starrte an die Decke. Sie fühlte sich leer und hilflos. So viel war passiert in den vergangenen zehn Tagen. Seit dem Gespräch mit Dr. Feldmann. Nicht einmal weinen konnte sie. Denn dann, so fürchtete Oda, würde sich diese diffuse Angst Bahn brechen und nie wieder aufhören. Doch was hieß eigentlich «nie wieder»?, fragte sie sich zynisch. Nie wieder, bis zu ihrem Lebensende, das nun vielleicht viel früher kommen würde, als sie es sich in den schlimmsten Phantasien je hätte ausmalen können? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Zwei Monate, zwei Jahre, zwei Jahrzehnte? Dr. Feldmann hatte ihr darauf keine Antwort geben können. Oder nicht geben wollen. Er wolle erst weitere Untersuchungen abwarten, hatte er gesagt. Aber er hatte gut reden. Es war ihre Brust, und Oda hatte ein schlechtes Gefühl. Es war wohl das Beste, wenn sie so bald wie möglich eine Liste machen würde mit Punkten, hinter die sie in ihrem Leben noch ein Häkchen setzen wollte. Vielleicht sollte sie auch mal einen Friedwald besichtigen? Oder war sie jetzt hysterisch?

Sie hatte Krebs. Zumindest deutete alles darauf hin: Der besorgte Tonfall ihres Gynäkologen, die unsicheren Blicke der Arzthelferinnen, der betroffene Gesichtsausdruck des Radiologen – alle um sie herum bemühten sich um Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Anteilnahme und katapultierten sie damit auf die andere Seite des Lebens, die düstere, wo Angst, Hoffnungslosigkeit und Trauer herrschten. Plötzlich sollte sie die eine von zehn Frauen sein, denen ein solches Schicksal beschieden war? Niemals hätte Oda gedacht, sich mit dem Thema Brustkrebs überhaupt auseinandersetzen zu müssen. Es kam ihr vor wie … wie ein Stück Hundescheiße, in das sie getreten war und das sich nun nicht mehr abschütteln ließ. Diesen Vergleich fand Rick geschmacklos, was Oda zwar irgendwie verstehen konnte, aber er musste doch mittlerweile am besten wissen, dass hinter ihrer manchmal harten Schale – vor allem hart zu sich selbst – ein sensibler Kern steckte. Schließlich betonte Rick ständig, dass er alles an ihr liebte, erst recht ihren schwarzen Humor. Stattdessen versuchte er sie zu beruhigen: Ohne Gewebeprobe könnten die Ärzte doch gar nicht sicher sein, dass der Tumor in ihrer linken Brust wirklich bösartig sei. Aber Oda konnte nicht anders. Sie ging immer vom Schlimmsten aus, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein.

Seit sie zur Voruntersuchung im Krankenhaus gewesen war, hatte sie nicht mehr gearbeitet. Stattdessen verkroch sie sich wie jetzt mit ihrem iPad ins Bett, um zu recherchieren. Um herauszufinden, was es hieß, dass der Chefarzt des Brustzentrums, Professor Nolte, darauf drängte, den Tumor unter Vollnarkose gleich komplett zu entfernen, statt bloß eine Biopsie vorzunehmen.

Sie richtete ihre müden Augen auf den Bildschirm, las erneut Zeile für Zeile und konnte doch die Artikel und Forenbeiträge nicht mehr aufnehmen. Im Kopf schien kein Platz mehr zu sein für all die Informationen, von denen sie ohnehin nur die Beklemmendsten als glaubwürdig erachtete. In dem Blog einer Frau, die innerhalb von wenigen Wochen an dieser elenden Krankheit gestorben war, las Oda in den Nachrufen, wie wichtig den Angehörigen gewesen ist, sich verbschiedet haben zu können. Doch wenn sie selbst die Wahl hätte, würde sie lieber ohne Vorwissen und quasi mit einem Schlag überraschend sterben, als Tag für Tag dem Tod ein Stückchen näher zu kommen. Und schlimmer noch: das Mitleid der anderen ertragen zu müssen.

Odas Lippen bebten. Sie hatte Angst, furchtbare Angst. Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, und schaute in den Abendhimmel. Nur verschwommen konnte sie die Konturen der Elbphilharmonie und die der Baukräne in der Hafencity ausmachen. Wie sie diesen Blick liebte! Noch vor wenigen Wochen war sie an beinahe jedem sonnigen Morgen, wenn das Licht noch schwach und die Luft klar war, mit dem Fahrrad an die Elbe gefahren, um dem Stadtteil beim Wachsen zuzusehen. Vor all den Touristenströmen und Geschäftsleuten ging sie auf Entdeckungsreise und suchte vor allem die Gegensätze – eine alte Barkasse auf dem Fleet zwischen hochmodernen Häuserschluchten, einen zerbeulten Mülleimer neben einem Nobelschlitten oder einen von Wind und Wetter gezeichneten Seebär mit grauem Bart und Kapitänsmütze auf dem Skateboard eines Teenagers, die auf den Magellan-Terrassen ihre Kunststücke zum Besten gaben.

Für einen kurzen Moment war Oda abgetaucht in die Welt ihrer Kunst. Dann ließ sie das Klopfen an der Schlafzimmertür hochschrecken.

«Hi, Sweety!», flüsterte Rick und trat vorsichtig näher.

Eilig richtete Oda sich auf und schob ihr iPad unters Kissen, damit ihr Freund nicht die Seiten sah, auf denen sie gelesen hatte. Sonst würde er sich nur wieder darüber beschweren, wie sehr sie sich in die ganze Sache hineinsteigerte. Aber sie konnte ihm nichts vormachen.

«Guckst du dir wieder diese Horrorseiten an?», fragte er und reichte ihr ein Glas frischgepressten O-Saft.

Oda nahm es ihm dankend ab und setzte ein Lächeln auf, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. «Ich hab nur meine Mails gecheckt!», erklärte sie.

Mit einem milde strafenden Blick gab er ihr zu verstehen, dass er kein Wort glaubte. «Wollen wir was essen gehen?» Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

«Ich hab schon gegessen.»

«Seit wann gelten Chips als Abendessen?», fragte Rick und deutete auf die leere Packung Pringles, die auf ihrem Nachttisch lag.

Oda zuckte mit den Schultern.

«Und willst du noch ein paar Flips zum Nachtisch?», neckte Rick sie und lachte. Und das tat gut, fand Oda. Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und schloss für einen Moment die Augen. Erst jetzt realisierte sie, wie müde sie war.

«Ich glaube, ich bleibe gleich liegen. Nur Zähneputzen und dann schlafen. Wir können ja morgen ausgehen, ja?»

Rick nickte und gab ihr liebevoll einen Kuss auf die Stirn. «Schlaf gut. Oder versuch’s zumindest, ja?» Leise schloss er die Tür hinter sich.

Wenn das so einfach wäre, dachte Oda. Sie hatte Angst vor einer weiteren schlaflosen Nacht und überlegte kurz, ob sie sich noch ein paar Fotos auf ihrem iPad ansehen sollte. Doch sie entschied sich dagegen und wollte gerade die Programme runterfahren, als sie bemerkte, dass sie eine neue Facebook-Nachricht hatte. Eigentlich stand ihr nicht der Sinn danach, sich heute noch mit irgendwem auszutauschen. Aber neugierig war sie schon, weil sich durch ihre Ausstellung der ein oder andere interessante Kontakt aufgetan hatte.

Oda klickte sich zur Nachricht durch und erstarrte. Sie war von Till. Till Jansen, ihrem alten Freund aus Studienzeiten!

Mit klopfendem Herzen begann sie zu lesen:

Verehrte Oda,

lila Bäume und ein Kopf nur aus Haaren, das kannst eigentlich nur du sein. Bist du es? Und wenn ja, kannst du dich noch an unsere gemeinsame Zeit erinnern? Oder schaust du immer noch nur nach vorne?

 

Till

Till

Schon seit Tagen ging das so: Eine Stunde vor dem Wecker wachte Till auf und konnte nicht mehr weiterschlafen. Wenn der Alarm dann schließlich schrillte, wusste Till nicht, welcher Wochentag war und ob er in die Firma musste oder nicht. Es war, als stecke er in einer Zeitschleife, aus der es kein Entkommen gab.

Wann hatte diese Unruhe eigentlich begonnen? Seit der Begegnung mit Jesper? Jedenfalls war alles noch schlimmer geworden, nachdem er Oda die Freundschaftsanfrage gestellt hatte. Mittlerweile war ihm die Aktion peinlich, besonders weil sie sich noch nicht gemeldet hatte. Löschen wollte er die Anfrage aber auch nicht. Wäre das nicht noch demütigender? Oder sollte er …? Verdammt! Es war, als ob er Styropor im Kopf hatte. Der einfachste Gedanke entpuppte sich als riesige Anstrengung. Till fühlte sich schwindelig, und er hatte unsägliche Kopfschmerzen. Und da es keinerlei Anzeichen gab, dass sein Zustand sich bald bessern würde, hatte er sich krankgemeldet.

Vier Tage war das jetzt her, bevor er sich endlich aufraffte, einen kleinen Gang zum Bäcker zu machen. Denn er verspürte eine bisher unbekannte Lust auf Croissants. Wann er sie das letzte Mal gegessen hatte, wusste Till nicht. Aber er erinnerte sich plötzlich, dass sie auf der Kunstakademie jeden Morgen Croissants gegessen hatte.

Mit der Tüte in der Hand trottete er durch Schmargendorf. Draußen war es heiß. Schwachsinn, dachte er, bei diesem Wetter im Bett zu liegen. Depressiv geradezu.

Er setzte seine Sonnenbrille auf, spazierte durch die Nachbarschaft und dachte, was er jeden Tag dachte: dass ihm dieser Teil von Berlin, in dem er seit zehn Jahren lebte, viel zu spießig war: Schmargendorf! Schon der Name klang bieder. Die Straßen waren leer, Kinder Mangelware. Dafür gab es viele ältere Leute und kleine, unaufgeregte Häuschen wie seins.

Till biss in sein Croissant und schlenderte weiter in Richtung Ku’damm. Er lief und lief ohne Plan und ohne Ziel. Schließlich kam er an den teuren Boutiquen des Ku’damms vorbei, ging weiter Richtung Tiergarten und fand sich plötzlich in Berlin-Mitte wieder. Nach ungefähr zwölf Kilometern stand er – wie von Geisterhand gesteuert – wieder vor der Kastanienallee 11. Dort, wo er eigentlich nie wieder hinwollte. Er zückte sein Handy.

«Hi, Jesper. Wie sieht’s aus? Lust auf einen spontanen Kaffee?»

Zehn Minuten später schlenderten sie nebenan in den Prater, wo man im Sommer herrlich auf Bänken sitzen und Bier trinken konnte. Die Stimmung zwischen ihnen war gut, und Till fühlte sich wieder etwas wohler in seiner Haut. Sogar seine Kopfschmerzen waren verschwunden.

«Coole Sonnenbrille», sagte er zu Jesper, als sie sich in den Schatten einer Kastanie setzten.

«Tauschen wir? Mir gefällt dein Modell.» Jesper hielt ihm seine Brille hin. «Gut, dass ich heute Kontaktlinsen trage …»

«Seit wann brauchst du eine Brille?»

Statt einer Antwort winkte Jesper nur ab.

«Erst keine Haare und jetzt noch Augenschwund?»

Till wusste auch nicht, aus welcher Ritze sein Humor gekrochen war, aber er fühlte sich richtig gut. Das Gespräch mit Jesper gefiel ihm, und die Zeit verging wie im Flug.

Zwei Stunden redeten sie über dieses und jenes, wobei Jespers Telefon anfänglich alle drei Minuten klingelte. Aber irgendwann schaltete er sein Handy einfach aus. «Wir haben letzte Woche einen Pitch gewonnen, und nun spielen alle verrückt», erklärte er. «Dabei kann man sich doch jetzt erst mal gemütlich zurücklehnen.» Er prostete Till mit seiner Kaffeetasse zu. «Rauchst du eigentlich noch Pfeife?»

Noch so eine längst verschüttete Erinnerung aus seiner Vergangenheit.

«Oh Gott, das habe ich total verdrängt», rief Till.

«Du hast unseren Pfeifen-Club vergessen? Bist du wahnsinnig?» Für ein paar Monate hatten sie sich regelmäßig getroffen, um Pfeife zu rauchen. Das erschien ihnen damals unendlich mondän und feinsinnig, und alle nahmen es unheimlich ernst. Alleine deshalb, weil damals sonst niemand mehr Pfeife rauchte. Schon bald tauchten die ersten Pfeifen auf den Kunstwerken der Studenten auf. Oda hatte sich über diese Modeerscheinung fürchterlich lustig gemacht. Für sie war Pfeiferauchen eine Alt-Herren-Sache.

Weder Jesper noch Till hatten seitdem geraucht, wie sie sich jetzt lachend eingestanden.

«Was macht denn deine zweite Karriere als DJ?», fragte Till spöttisch.

«Ach, die Zeit reicht nicht mal mehr zum Gitarrespielen.»

«Du kannst Gitarre spielen?»

«Seit der Grundschule!», erwiderte Jesper nicht ohne Stolz.

Zu seiner Überraschung erfuhr Till, dass Jesper großer Jazz-Fan war, seit er als Kind Chat Baker live bei einem Konzert in der Hamburger Fabrik erlebt hatte.

«Warum habe ich das nicht schon damals gewusst?»

«Dreimal darfst du raten, woran das wohl lag!»

Till sah ihn fragend an. Ihm fiel kein Grund ein.

«Du bist von Tag eins an der Kunstakademie jede Minute mit Oda zusammen gewesen. Deswegen!»

Till schüttelte den Kopf. «Quatsch! In den Pfeifen-Club zum Beispiel hätten sie keine zehn Pferde bekommen», sagte er matt. Irgendwie klang das Argument selbst in seinen Ohren vage.

«Hm …» Jesper räusperte sich. «Ich will dich ja nicht nerven, aber …» Er machte eine Kunstpause und rührte dabei verlegen in seiner leeren Kaffeetasse.

«Ja?»

«Ich meine, es wird schon seinen Grund haben, warum du ein paar Tage nach Odas Abflug ebenfalls verschwunden bist, aber …»

«Aber, aber … Kannst du auch was anderes sagen?», erwiderte Till schnell und viel zu barsch. Und weil ihm sein Ton sofort leidtat, fügte er milder hinzu: «Ich habe Oda seitdem weder gesehen noch gesprochen.»

«Wow!»

«Ja. Wow!»

«Und die Kunst? Was machst du? Woran arbeitest du?»

Jetzt war es Till, der verlegen mit seiner Kaffeetasse spielte. «Gar nichts mache ich», sagte er schließlich mit gepresster Stimme und stellte die Tasse etwas zu fest zurück auf den Tisch. «Und du? Hast du noch Kontakt zu jemandem? Zu Marlies oder Lorenz?»

Jesper sah ihn stirnrunzelnd an, sodass Till schon dachte, er würde sich an die beiden vielleicht nicht erinnern.

«Hey, du hast bei ihrer Hochzeit die Musik aufgelegt!», fügte er erklärend hinzu. «Ziemlich mies übrigens für einen Jazz-Fan.»

«Willst du mich verarschen, Till?» Jesper grinste über beide Wangen, etwas schien ihn königlich zu amüsieren.

«Nee, warum?»

«Wächter.»

Till verstand kein Wort. «Wächter, was?»

«Meyer & Wächter. Unsere Firma heißt Meyer & Wächter.»

«Was hat das damit zu tun?»

Jesper lachte. «Mensch, Till, du hast wirklich keine Ahnung, was? Jesper Meyer & Marlies Wächter. Ich bin mit Marlies verheiratet, seit acht Jahren. Drei Kinder: fünf und drei Jahre alt, und eins hat Marlies aus ihrer Beziehung mit Lorenz in die Ehe gebracht. Johnny ist jetzt schon zwölf.»

Till starrte ihn an. «Johnny?»

«Johnny ist Lorenz’ und Marlies’ Sohn. Er wohnt jetzt aber bei uns.» Irgendwie stolz fügte Jesper hinzu: «Wir verstehen uns gut. Moderne Patchworkfamilie eben. Auch mit Lorenz läuft es okay. Er arbeitet als selbständiger Layouter für mehrere Zeitschriften. Er ist gut im Geschäft und inzwischen zum zweiten Mal geschieden», ergänzte er mit einem schiefen Grinsen.

«Sodom und Gomorra also.» Till wusste nicht genau, warum er meinte, das sagen zu müssen.

«Genau: Sodom und Gomorra.»

Beide lächelten, als plötzlich ein junger Mann zu ihnen an den Tisch trat. Wie sich herausstellte, ein Praktikant von Meyer & Wächter. Jesper wurde gebraucht.

«Ich muss los.»

Wie auf Knopfdruck standen beide auf. Zum Abschied umarmten sie sich umständlich über den Tisch hinweg, dann war Jesper verschwunden. Till blieb noch eine Weile in dem Biergarten sitzen, bis er feststellte, dass er noch immer Jespers Sonnenbrille trug. Und dass das Styropor in seinem Kopf verschwunden war.

Oda

Ich weiß wirklich nicht, was das Ganze soll!»

Argwöhnisch lugte Oda ihrem Freund über die Schulter. Rick war damit beschäftigt, Raclette-Käse für das Abendessen mit ihren Eltern zuzuschneiden. Obwohl Oda ganz und gar nicht der Sinn nach Gesellschaft stand und schon gar nicht nach Smalltalk mit ihrer Mutter und ihrem Vater, wollte sie Rick bei den Vorbereitungen helfen. Schließlich war er hier der Chef in der Küche und hatte weit mehr Freude am Kochen als sie. Er war es auch, der das leuchtende Rot der Wände ausgesucht hatte.