Ein verbummelter Student - Gustav Sack - E-Book

Ein verbummelter Student E-Book

Gustav Sack

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Beschreibung

Erich, der "verbummelte Student", zweifelt: Er zweifelt an sich, an seinem Studium, an der Wissenschaft, am Denken, am Sinn des Lebens, an Gott und der Welt. In seinem nihilistischen Skeptizismus erhält ihn allein seine Liebe zu der schönen Grafentochter Loo aufrecht. Doch gibt es hinieden selbst in der Liebe überhaupt noch einen anderen Ausweg als den Tod? Das vielschichtige Meisterwerk des deutschen Frühexpressionismus spielt mit Reflexionen auf die literarische Romantik, um daraus ein ganz neues und eigenwilliges, gebrochen schillerndes Kaleidoskop von betörender Schönheit entstehen zu lassen. Ein zutiefst faszinierendes Buch, das zu schade ist, um es allein der Literaturgeschichte zu überlassen!-

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Ein verbummelter Student

Gustav Sack

Saga

Gustav Sack †

Mit diesem Werke tritt ein Toter zum ersten Male als Gesamterscheinung vor die Öffentlichkeit. Was von Gustav Sack bei seinen Lebzeiten hier und da in Blättern erschien, zeigt nicht den ganzen Mann, sondern erhält nur von seinen großen Werken aus das volle Licht. Unter ihnen ist der Roman »Ein verbummelter Student« das erste.

Er schrieb ihn zum ersten Male nieder im Spätherbst 1910, fünfundzwanzigjährig, in seinem Heimatsort Schermbeck bei Wesel. Hier und in der Umgegend spielt die Handlung. Ort und Landschaft sind bis auf die Namen treu dargestellt; das alte Schloß, in dem die schöne Loo bei ihrem Vater wohnt, ist das halbzerfallene, unbewohnte Raesfeld. Mit derselben unbeirrten Sicherheit hat der Dichter seine eigene äußere und innere Lage geschildert. Sie spricht aus dem Titel, dem endgültigen sowohl wie dem ursprünglichen, der sinnbildlich »Der dunkelblaue Enzian« lautete.

Als Sohn des Hauptlehrers in Schermbeck am 28. Oktober 1885 geboren, besuchte Gustav Sack nach der Dorfschule von 1896 an das Gymnasium zu Wesel. Ostern 1903 erwarb er das Einjährigenzeugnis. Nach einer vierteljährigen Lehrzeit als Apotheker in Hadersleben kehrte er nach Hause zurück und trat, ohne Zeit verloren zu haben, zum Herbst wieder ins Gymnasium ein. Ostern 1906 bestand er die Abschlußprüfung. Er studierte drei Semester in Greifswald, eins in Münster Germanistik, dann ein Semester in Halle und drei in Münster Naturwissenschaften. Den Sommer 1910 verbrachte er zu Hause, fuhr aber zu Vorlesungen und Übungen zweimal wöchentlich nach Münster. Seinen Wunsch, jetzt zur Medizin umzusatteln, mußten ihm die Eltern, die ihm das Studium unter schweren Opfern ermöglicht hatten, versagen. So verbrachte er den Winter von 1910 auf 1911 in seinem Heimatsort, angeblich, um zum Examen zu arbeiten, tatsächlich aber, um seinen Roman zu schreiben.

Es war nicht nur die Länge seines Studiums und der Wechsel des Faches, was ihn in Schermbeck als verbummelt gelten ließ. Man wußte, daß er zu Zeiten unbändig und über seine Verhältnisse gelebt hatte. Er hatte getrunken, gerauft, über die Schnur gehauen, Schulden gemacht und vielfältigen Unfug verübt. Sein kraftvoller Körper und seine ungestüme Seele rissen ihn zu gewaltsamen Entladungen fort. In Greifswald war er bei der Turnerschaft Cimbria aktiv geworden; im dritten Semester wurde er aus der Verbindung entlassen, weil er an einem Abend nicht weniger als elf »Ramsche« hatte. In Münster gehörte er der Rhenania an. Sein Gesicht war arg zerhauen. Strafmandate und Pfändungen folgten ihm nach Schermbeck. Trotz eines ausreichenden Wechsels geriet er immer wieder in Bedrängnis, weil er nicht rechnen konnte und mitunter in einen Taumel des Geldhinauswerfens geriet. In Halle hatte er es ganz versäumt, sich einschreiben zu lassen. Die Schermbecker wußten nur von solchen Dingen. Die geachteten Bürger rückten von ihm ab, die Einwohner mißbilligten seinen Wandel laut, ja, Kinder riefen ihm nach. Er wehrte sich gegen die Verachtung durch Hochmut, der mitunter wie Dünkel aussah; bei Gelegenheit auch mit Heftigkeit. Dennoch litt er. Denn er fühlte wohl, wieweit Berechtigung in dem Vorwurf war, fühlte sich in der Schuld der Eltern und in der seinen. Den einzigen Freispruch sah er in der gelungenen und anerkannten Leistung.

Er hätte viel zu seinen Gunsten anführen können. Denn mit demselben Temperament wie auf den Genuß hatte er sich auf die Arbeit gestürzt. Den Perioden des Nichtstuns standen andre voll strammsten, ja wütenden Fleißes gegenüber. Die Naturwissenschaft, namentlich die Pflanzenkunde, in die ihn sein Vater schon früh eingeführt hatte, war ihm allgegenwärtig. Noch in den schwersten inneren Zerwürfnissen beobachtete, sammelte, untersuchte, mikroskopierte er. Die Flora und die niedere Tierwelt der Heimat waren ihm ganz vertraut. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, in Bescheidung auf diesem engen Gebiet eine wertvolle Arbeit zu leisten; etwa über den Chaetonotus Chuni, den »Bauchhaarigen«, dessen Name über einem Abschnitt des Romans prangt. Aber dazu war er zu ungenügsam, zu stark auf das Unbedingte gerichtet. Er wollte mehr als kennen, er wollte erkennen. Der Widerstreit zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Erfassung der Welt war die Qual seines Lebens. Stets ging er auf die letzten Dinge los, mit den feinsten und den brutalsten Methoden. Äußeres Schicksal und Wirklichkeit sind nebensächlich; das Leben kommt über diesem Suchen immer wieder zu kurz. Es gibt schwerlich einen zweiten Dichter, dem das Denken so gefühlsmäßig, so Lebensinhalt geworden ist, wie Sack.

Hinter aller Handlung seiner Bücher tobt die Schlacht in seinem Hirn; sie ist es, auf die es ankommt. In dem ersten Briefe, den er an seine spätere Frau richtete, schrieb er (12. November 1912): »Daß Sie es sich nicht haben verdrießen lassen, die hundert und mehr Seiten schlechter Schrift durchzulesen und sich willig den oft nur allzu krausen Gedanken hinzugeben, sagt mir, daß Sie mit mehr als nur literarischer Neugierde den erkenntnistheoretischen Hilflosigkeiten Erichs zusahen; denn gerade diese bilden ja die eigentliche Tragik in seinem Leben, um Himmels willen aber nicht die dumme Liebesgeschichte mit ihren proletarierhaften Folgen – wie es A. L. angenommen zu haben scheint, der von einer wenig geglückten Zusammenstellung von Roman und philosophischen Erörterungen redet. Wäre es so, weswegen nimmt sich dann nicht unser armer Tölpel und Tor seine Loo und segelt mit ihr und ihres Papas Kassenscheinen nach Indien? Weswegen kommt er auf den sonst doch wahnwitzigen Gedanken, Loo zu töten usf. und Fabrikarbeiter zu werden? Alles Erleben wird schließlich nur Bestätigung und Gleichnis für die inneren Vorgänge; es ist tragische Notwendigkeit, daß Glück und Dasein schließlich als unwesentlich zerstieben. Das Ergebnis ist ungeheure Einsamkeit; kein Zufall, daß der Dichter sich immer wieder hingezwungen fühlt dahin, wo jede Spur von Leben erstirbt: in die Erdtiefe, unter die Sterne, zum nackten Fels, auf den Gletscher. Einen Anhauch davon fühlt das warme Leben selbst, um so stärker und erschreckender, je inniger die Berührung wird. »Du, weshalb lachen wir eigentlich nie?« fragt Loo. Und später, als sie über die Ahnung weg zur Gewißheit kommt, ruft sie: »Das Leben ist so schön, mein Freund – so schön wie die Liebe. – Aber das ist bei uns beiden anders –... Und darum sterbe ich.« Der Erkenntnisdrang in dieser Unbedingtheit ist lebensfeindlich. Erich, der das grüngoldene, tönende Himmelsweinglas, das voll Wein und Trunkenheit über ihm hängt, an die Lippen hebt, – er findet sich schließlich im Bergwerk, siebenhundert Meter unter der Erde: »Es ist das Einzige der Stolz und der Wille zu sich und eine Mauer von Eisen um mich und eine Mauer von Stein in mir« – und er endet seine Tage in blankem Hohn. Der dunkelblaue Enzian hat ausgeläutet, die Sehnsucht ist zerstoben und verflogen. Sack kannte die Gefahr solcher Veranlagung tief und wehrte sich dagegen. In seiner eigenen Lebensnot wurzelt seine Anschauung, daß alles geistige Schaffen im Grunde Krankheit sei, krisenhafte Ausscheidung eingedrungener Fremdkörper aus der Seele, die gesunden will. Wenn Sack in seinem zweiten Roman kurzerhand entscheidet: »Lieber verroht, als vergeistigt,« so ist das Notwehr gegen eine Bedrohung. Alle seine Schöpfungen sind Selbstbefreiungen aus schwerster Bedrängnis.

Daß Sack früh auf den Weg des Schaffens kam, ist natürlich. Sein geräumiges Vaterhaus bot für jedes Kind ein eigenes Zimmer. Die Familie besaß, trotz gegenseitiger Liebe oder vielleicht besser wegen ihr, eine zartfühlende Scheu vor seelischer Zudringlichkeit. Die ländliche und kleinstädtische Umwelt war arm an Zerstreuungen, arm auch an unmittelbaren geistigen Beeinflussungen; die aus eigenem Studium kommenden wirkten dafür um so nachhaltiger. Die Provinz, die es den Menschen schwerer macht, ist darum viel fruchtbarer in der Erzeugung eigener Köpfe als die Großstadt. Auf den jungen Sack wirkten einige Bücher sehr tief: die Edda, Byron, daneben Shelley, später Goethe; von Denkern Spinoza, Schopenhauer, Nietzsche. Vor allem hat ihn Byron aufs stärkste beeinflußt; die Strophe des Childe Harold rollte ihm so im Blut, daß sie ihn die natürliche dichterische Ausdrucksform deuchte. Er schrieb in ihr als Schüler zwei Heldengedichte als die beiden ersten Teile einer Trilogie, eins von mehr als 400, das zweite gar von der doppelten Anzahl Strophen. Es ist ein – freilich etwas bitterer – Witz, daß das erste ‚»Olof«, ein Gedicht in sechs Gesängen, das er als Sekundaner schrieb, das einzige seiner Bücher geblieben ist, das er bei Lebzeiten gedruckt sah. Es erschien unter dem Verfassernamen Ernst Schahr (so hieß der Großvater) 1904 bei Gustav Schuhr in Berlin. Die Eltern hatten die 150 Mark Druckkosten bezahlt, die Mutter, – ohne daß er es je erfahren hatte – heimlich die saubere Abschrift für den Druck hergestellt. Die Fortsetzung, »ErwinsTod«, 1906 geschrieben, blieb ungedruckt. So unfertig, abhängig und mitunter ein bißchen komisch diese Jugendwerke sind, blieben sie Sack doch auch später noch lieb. Sie waren ihm – mit Recht – treue Dokumente eines früheren Zustandes. So dachte er noch 1913 an eine Umarbeitung. Er sah deutlich die Linie, die von ihnen weiter führte, und stellte in einer Eintragung in die Handschrift die folgende Entwicklungsreihe hin:

Olof. – Unbewußt suchendes und drängendes Gefühl des Herumwühlens und Wütens in Gottgestalten und tollen Phantastereien;

Erwins Tod. – Überwindung des Götterglaubens;

Ein verbummelter Student. – Versuch, die Reste dieses Glaubens in der Philosophie zu vernichten (mißglückt);

Der Namenlose. – Der Götterglaube ist völlig überwunden; um aber im Relativismus und Positivismus bestehen zu können, Stütze und Verbindung mit dem Innersten der Natur durch geschlechtliche Liebe;

Im Hochgebirge (später: Paralyse, Bruchstück). – Der vollkommene Positivist und freie Mensch.

Eine Eintragung an gleicher Stelle gibt aus einem etwaigen ausführlichen Vorwort zu der gleichzeitigen Ausgabe der umgearbeiteten Jugend werke die folgende Auskunft über seine Entwicklung: »... und so wäre es mir sehr recht, wenn die drei Romane (Student, Namenloser, Hochgebirg) als Selbstbiographien aufgefaßt würden ... und so mag man sehen, daß ich, ohne es selbst zu wissen, auch in den drei ersten Büchern eine Entwicklung gab (in den zwei folgenden war die Fortführung bewußt). Für solche Leser, wie ich sie mir wünsche, und ich wünsche mir wenige, vorurteilslose und sucherische, brauche ich nicht hinzuzufügen, daß in diesem Bekenntnis (wie überhaupt in meinen Büchern) auch nicht ein Hauch nur des Selbstgefälligen liegt; ich bin mir, als ein Beobachtender und Schreibender, nichts anders als was mir ein Stein oder eine Blume ist, und das ist ein undurchdringliches Rätsel, an dem immer neue wundersame Seiten uns aufblitzen. Und daß ich und wir dieses Aufblitzen sehen, daß das Denken sich selber denkt, das ist das Allerwundersamste.«

Was aus den Jugendwerken bei einer Bearbeitung geworden wäre, entzieht sich der Beurteilung gänzlich. Sack war ungenügsam und unermüdlich. Gerade der »Verbummelte Student« beweist das. Sein Gedeihen vom ersten sichtbaren Keim bis zur letzten Form umfaßt nicht weniger als neun Jahre; innerhalb von sieben Jahren zeigt es sich in vier verschiedenen völlig fertigen Formen. Dieser Mann, der scheinbar die Dinge gehen ließ, wie sie wollten, und durch dessen Leben sich eine Reihe von Versäumnissen zieht, war ein Arbeiter von unerbittlicher Strenge.

Die Liebesgeschichte des Romans liegt vorgebildet in einem Gedicht von etwa 500 Zeilen, »Loo«, geschrieben im Frühjahr 1909. Vieles vom Gang, manches selbst von wörtlichen Anklängen findet sich in dem Roman wieder; dennoch ist das Gedicht an sich recht unbehilflich und ohne eigene Bedeutung. Dagegen ist ein noch älterer Bestandteil des Romans bereits in der Niederschrift von 1908 der Reife nahe: das Märchen von dem glückhaften Schiff Musarion, das Erich Loo erzählt. Es heißt in der alten, längeren, ironisch umrahmten und mit Stanzen reich durchsetzten Fassung: »Beschäftigung! Oder Marga und ihre zwölf Freunde. Eine scherzhafte Geschichte in Prosa und Reimen.« Auch das Märchen vom fehlenden Reim, das Loo erzählt, liegt bereits in einer Fassung von 1929 vor; auch hier ist der Unterschied, obwohl viel stehenblieb, erheblich. Immerhin: es war bereits allerhand da, als Sack den Entschluß faßte, sein Vorhaben in kurzer Frist zu bewältigen. Die Niederschrift mußte rasch geschehen; denn die Täuschung, durch die sich Sack die Möglichkeit dazu schuf, ließ sich nicht allzulange aufrechterhalten. Er hoffte, den Roman sofort zu verlegen, und rechnete dabei – genau – auf ein Honorar von 600 Mark. Diese Summe war dem in literarischen Angelegenheiten ganz Unbewanderten gelegentlich einmal als Bezahlung eines Romans durch eine Zeitung genannt worden und verließ ihn nicht. Von diesem Geld hoffte er ein weiteres Studiensemester selbst bestreiten zu können. Oktober 1910 sandte er die Handschrift »Der dunkelblaue Enzian« an einen großen Münchener Verlag. Es folgten Wochen qualvollen Wartens zwischen Zuversicht und Angst, Ergebung und Empörung. Tag für Tag lief der Bedrängte selbst zur Post, angeblich, um nach den Examensarbeiten zu fragen. Aus dieser Zeit (nur aus ihr vor dem Kriege) sind einige wenige Tagebuchaufzeichnungen erhalten; sie verraten deutlich den fürchterlichen Zustand. Dazwischen fing er Grillen: so begann er eine bissige Satire auf etwaige Kritiker des noch gar nicht angenommenen, geschweige denn gedruckten Buches. Endlich kam die Ablehnung; sie brachte ihn dem Selbstmord nahe. Aber der Verleger gab eine Hoffnung; er riet zu einer Umarbeitung. Sack nahm sie vor. Er ließ keinen Stein auf dem andern. Längen wurden unbarmherzig ausgemerzt, ganze Abschnitte umgestürzt; jede Seite erstand neu. Der Ausdruck gewann lebendige Körperlichkeit, die Farben begannen zu leuchten. So sandte er den Roman, der jetzt »Ein verbummelter Student« hieß, im Frühjahr abermals ein. Er erhielt ihn wiederum zurück. Nun faßte er den verzweifelten Entschluß, als Stromer ins Ausland zu gehen; als Ziel schwebte ihm Konstantinopel vor. Ein Freund lieh einiges Geld. Aber der Plan wurde entdeckt, und die Wirrnisse fanden einen einstweiligen Abschluß dadurch, daß Sack im Oktober 1911 nach Rostock ging, um sein Jahr abzudienen, was der Unbändige mit tiefstem Widerstreben tat, ohne Lorbeeren zu ernten.

Während seiner Dienstzeit lernte er den gleichfalls sein Jahr abdienenden Schriftsteller Dr. Hans Harbeck aus Hamburg kennen. Sack erwähnte, als er dessen Beruf erfuhr, gelegentlich, er habe auch einmal etwas geschrieben, und gab ihm die Handschrift. Dr. Harbeck las sie und gab sie seiner Schwester Paula, Sacks späterer Frau. Diese brachte es mir. Das Buch schien mir sofort, trotz einiger Vorbehalte, ganz ungewöhnlich, ja genial. Der vereinigte Zuspruch machte Sack neuen Mut. Im Winter 1912/13, den er wieder in Schermbeck verlebte, wo er seinen zweiten Roman schrieb, nahm er eine nochmalige Durchsicht des Studenten vor; er strich dabei auf meine Anregung die zahlreichen Verse, die der Roman gegen den Schluß enthielt, und fügte das Bergwerkskapitel ein. Gerade dieser Abschnitt ist jetzt einer der stärksten des Buches, den man nicht mehr wegdenken kann. Und nun begann die Odyssee des »Studenten«. Das einzige handschriftliche Exemplar, meist von Paula Harbeck verschickt, reiste nach und nach zu fast einem Dutzend deutscher Verleger; zuweilen war es von einer Empfehlung begleitet; es lagerte dann eine Weile und kehrte abgelehnt wieder. Nach fünf Vierteljahren des Hungerns und Schaffens in München, kurz nach Sacks Verheiratung, brach der Krieg aus und rief einen jungen Verleger sofort ins Feld, der eben Teilnahme an Sacks Werken gewonnen hatte. Damit war die Wanderung vorerst zu Ende und die erste greifbare Aussicht auf Annahme dahin. Aber gewisse Dinge, die schwer zu tragen sind, scheinen dennoch notwendig zu sein und im Plane der Vorsehung zu liegen. Sack war Anfang 1916 aus dem Westen als Leutnant zurückgekehrt. Nach einem Aufenthalt im Lazarett zu Lippstadt und einem Vierteljahr Garnisondienst in München kam er nach Aschaffenburg, wo er von August bis Oktober blieb. Von Lippstadt aus hatte er mit seiner Frau Schermbeck besucht und alle Örtlichkeiten, die im »Studenten« eine Rolle spielen, wiedergesehen. In Aschaffenburg las er, unter diesem Eindruck, den »Studenten« wieder durch: er hatte daran eine naive Entdeckerfreude. Und nun ging er nochmals an eine gründliche Überarbeitung. Jetzt erhielt der Roman die vierte, letzte, endgültige Form. Die Durchsicht greift nirgends in das Wesentliche des Buches, läßt aber kaum eine Seite unberührt, ändert auch keineswegs nur Ausdrücke, sondern fügt Absätze zu und streicht andre. Es ist eine Durchfeilung von unbestechlicher Gewissenhaftigkeit und strengster Künstlerschaft. Mit den – gesondert geschriebenen – Änderungen stellte er in gemeinsamer Arbeit mit seiner Frau die endgültige Fassung fertig, unausgesetzt abwägend und sichtend. In der letzten Nacht, die er in der Garnison zubrachte, wurde der Schlußpunkt unter den Roman gesetzt, der nun, wie sein erstes, auch sein letztes reifes Werk wurde. Am 16. Oktober reiste er nach Rumänien ab; am 5. Dezember 1916 traf ihn die tödliche Kugel auf dem Vormarsch nach Bukarest bei Finta Mare in die Brust.

Das Buch geht nun als erstes seiner Werke in die Welt; er hat es nicht mehr erlebt. Daß ich ihm das Vorwort schreiben darf, erfüllt mich mit Stolz. Ich habe ihn persönlich nur bei seinem kurzen Urlaub in Hamburg gesehen, aber in einer höchst lebendigen Berührung mit ihm gestanden. Das heißt etwas; denn er stand, selbst als er unter Literaten lebte, ganz außerhalb aller eigentlichen literarischen Beziehungen. Er war einsam als Schaffender, wie heut kaum ein zweiter. Die wenigen Skizzen und Gedichte, die von ihm bei Lebzeiten erschienen, verloren sich. So war er, als er starb, ein Unbekannter. Als er gefallen war, gab mein Aufsatz :»– so will ich für Hektorn zeugen« im Berliner Tageblatt zum ersten Male einer breiten Öffentlichkeit Kunde von dem ganzen Mann. Jetzt werden seine Werke selbst sprechen: nach dem »Studenten« alle die andern, der »Namenlose«, die »Paralyse«, die Novellensammlung »Der Rubin«, sein Drama »Der Refraktär«, seine Skizzen und Kriegsbilder, Aufsätze und Sonette, wie sie die Gesamtausgabe, die bei S. Fischer erscheinen wird, vereinigt. Dann wird auch die Zeit sein, über sein Leben und sein Gesamtwerk Abschließendes zu sagen. Diese Zeilen sollen nur zu dem vorliegenden Roman ein paar Hinweise und Daten geben; einen kleinen Beitrag zur Geologie dieses prachtvollen, ragenden Berges, dessen Wunder und Gefahren nun ein jeder auf eigene Hand ergründen mag.

Hamburg, 9. Mai 1917

Hans W. Fischer.

Der Lichtenhagen

In einem flachen Kessel am Niederrhein liegt zwischen waldigen und heidigen Höhen ein Dorf, dessen Signum ein kurzer klobiger Backsteinkirchturm ist und dessen Hauptstraße kurz und gut die Mittelstraße heißt, und die wird zu beiden Seiten begleitet von der Kaffeestraße und Kirchstraße und ist mit ihnen verbunden durch mehrere Sträßlein, deren offizielle Namen man nur in dem heimatkundlichen Unterricht der Schule hört; später vergißt man sie und bezeichnet die Sträßlein nach irgendeinem irgendwie hervorstechenden Anwohner.

Die Bewohner aber neigen ein wenig zum Kretinismus und haben insbesondere vor ihren Nachbarn einen eigentümlichen hämischen und bissigen Witz voraus – sonst leben sie wie diese in den Tag und wissen nichts von der transzendenten Idealität der Zeit, der Verneinung des Willens, dem Pathos der Distanz und wären so glücklich wie ihr Vieh, wenn sie eben nicht den hämischen Witz hätten und so eingefleischte Ebenbilder ihres Gottes wären.

In diesem Dorfe ging gerade der Küster zur Kirche, um das Abendläuten zu besorgen, als ihm Erich Schmidt begegnete, der seinen Abendspaziergang begann. »Erich Schmidt«, das hieß für seine Mitbürger soviel wie ein älterer Student, der sich nach seiner, höchst wahrscheinlich doch lustigen, Studienzeit bei seinen Eltern aufhielt, wie er sagte, um sich für sein Examen vorzubereiten, – es war aber schwer, an ihn heranzukommen, und deshalb war er ihnen nur ein dankbares Objekt für ihren schiefmäuligen Witz.

Sein Gang war hastig und unruhig, besonders wenn es seinen Abendspaziergang galt: denn der begann erst draußen mit dem »Tiefen Weg«, und er mußte zusehen, schnell aus dem Drückenden, Engen, Warmen, Hämischen, Vorwurfsvollen und Ungefälligen – daß er aus alle dem herauskam.

Der Tiefe Weg nimmt seinen Anfang gegenüber der letzten Wirtschaft des Dorfes, führt mit einer flechten- und moosgeschmückten Steinbrücke über den Mühlenbach, geht dann unter alten Roßkastanien, die vor einiger Zeit ihre weißen gelb und purpurn gefleckten Blütenblätter zur Erde gekrümelt haben, den Teich entlang und verliert sich durch Garten und Felder im Wald.

Es war den Tag über drückend warm gewesen: die Schulen hatten geschlossen und die badenden Jungen zertraten das hohe Gras, die Frauen setzten für die Feldarbeit ihre ungefügen weißen Hauben auf und die Imker hatten volle Arbeit mit dem Einfangen der Schwärme, da ein Hochzeitsflug den anderen drängte – und jetzt hing es blauschwarz im Osten. Doch Erich zählte eine geraume Zeit, ehe der Donner bei ihm war, oft blieb er noch aus, und es kam als einziger Bote der rasche bleiche Blitz.

Das Gewitter ist noch weit; und wenn auch, mag’s mich übereilen – denn weswegen soll der Blitz, wenn er einmal einen Baum treffen muß, gerade den treffen, unter dem ich mich befinde? Und wenn auch – was geht’s mich an.

So ging er seinen Weg; am Teich entlang, wo er bemerkte, daß die Kaulquappen am ganzen Ufer eine bestimmte Tiefe bevorzugten und sich derart wie ein zitterndes schwarzes Band dahinschlängelten, an den Gärten vorbei, wo wieder Dornhecken zerstört und ersetzt waren durch starrende Drahtzäune, zwischen den süßlich duftenden Kornfeldern hindurch und kam dann in den Lichtenhagen.

Dieses Wort begreift den ganzen Buschkomplex, der sich nordwärts von dem Gärten- und Felderring eine Wegstunde breit bis zum Königlichen Wald hinzieht. Es liegt dort leichter Boden, Sand über Lehm, und außer Streu und Lehm und Brennholz ist wenig zu holen; so holt man dies und läßt das Andere liegen und wachsen wie es will.

Hier hatten einmal Jungen einen kleinen Waldbrand entfacht – man kümmerte sich nicht um den Nachwuchs und ließ die Birken und Heidelbeeren sprießen; hier war vor Zeiten Lehm gegraben – nun wucherten in den aufgewühlten Löchern die Rohrkolben und quakten die Grünröcke und nebenan, umrahmt von Ginster und Brombeergestrüpp lag ein Acker mit kärglichem Hafer; auf der anderen Seite, verborgen hinter Haseln und Adlerfarn schlief eine Wiese und neben ihr kämpfte eine andere um ihr Leben gegen Binsen und Glockenheiden; hier in der flachen Mulde eines Heidestücks, deren Rand düstere Wacholder und Stechpalmen bestanden, lebten Wollgräser und halbmeterdicke Polytrichumpolster und in den trügerischen schwarzen Lachen trieb der Wasserschlauch und hob seine bleichgelben Blüten in die Sonne; und dann wieder weitausladende Kiefern und weiße Birken, Buchen und blitzgetroffene Wipfeldürre Eichen – und das Alles wuchs, wie’s ihm gefiel; wurde ein Buschstück gefällt oder eine Wiese nicht mehr gepflegt, so konnte die Natur dort selber bauen. Und der Hauptweg war sandig, bald lehmig oder torfig, bei schlechtem Wetter kaum zu gehen.

Da lag zu linker Hand ein junger Eichenbusch abgeholzt am Boden, armdick die Stämme und die jungen Blätter zerknittert und grau; aber zwischen ihnen wucherte der gelbe Wachtelweizen so üppig wie nie in den vorigen Jahren.

Euch, die ihr wachsen wolltet wie für eine kleine Ewigkeit, fällt unsere Unvernunft wie ein Schlag – aber unter euch das schmarotzende Kräutervolk kommt und kommt wieder und wird nicht schwinden trotz Streuhacke und Spaten. Aber weswegen umhüllt das Wort Schmarotzer ein peinliches Gefühl? Ist es begründet in dem Ahnen oder gar in dem absoluten Wissen von einer Ordnung der Dinge nach Gut und Böse, oder in unserem rücksichtslosen Selbsterhaltungstrieb? – Er steckte die Pflanzen, die er mit dem Stock ausgegraben und die mit einigen Gräsern verwachsen waren, zu sich, bückte sich zu einer Blume nieder und schaute ihr in die Augen und ging mit ärgerlichen Schritten wieder fort.

Ob nicht bald der blaue Enzian blühen wird? Dort im feuchten Grase unter der Eiche ist sein Ort, die Jägereiche nennt man sie. – Wie eine Blume und ein Baum so seinen Namen hat – und diese Namen sind unsere Welt. Wirklich diese Namen? Oder die Dinge, die uns diese Namen aufzwingen? –

Da prallte ihm plötzlich ein süßer Duft entgegen: ein wildes Gaisblatt hatte einen Haselstrauch überwuchert und sandte in den schwülen Abend seinen lockenden Duft; Käfer und Nachtfalter umschwärmten seine fahlen Blüten. – Da schlug dem Einsamen eine heiße Blutwelle ins Gesicht, und eilends drang er vom Wege ab in den tieferen Wald.

Der hohe Farn streifte seine Brust, die Peitschenzweige des gleißend gelben Ginsters schlugen ihm ins Gesicht, ein Kuckuck stieß seltsam laut und sich überstürzend seinen Ruf aus und zwischen den Salweiden und Dornen rief eine Drossel ihr lärmendes Warnsignal, ein Häher trug es kreischend weiter – fort ging es durch Birken und Krüppelkiefern, Sumpflachen und Heidekraut, bis er sich erschöpft auf einen modrigen Baumstumpf warf, und blitzschnelle Vorstellungen, schimmernd aufsteigende Erinnerungen breiteten ihren charakteristischen aufregenden Duft um ihn – –.

Aber die Ruhe des Ortes, die weite Schonung, die sich vor ihm bis zum Hochwald ausdehnte und einen kühlen Luftzug aufkommen ließ, das spielende Betrachten rotköpfiger Becherflechten, die dem Baumstumpf entwuchsen, all das begann löschend und begütigend auf ihn zu wirken – aber da fuhr ein Rauschen durch den Wald, blendete ihn ein Blitz und brach krachend neben ihm ein Donner ein –:

Oh! nun fliegt wieder des Sturmes lose Braut dahin! In Fetzen stiebt ihr Schleier und wird zu wüsten, nachsausenden Gestalten, zu feurigen Schimmeln, die leuchten in den Blitzen wie Silber und Gold – nun flattere ich in ihren Haaren – es reißt mich hin – fort – fort! Eingewiegt im Sturmwind – weit – weit und hoch!

Es war Morgen, als Erich in sein Dorf zurückkehrte. Arbeiter, Bauernsöhne und Handwerker, die ihr kleines Gut vertrunken und verspielt hatten und jetzt in den Gruben des naheliegenden Industriebezirks ihr Brot verdienten, begegneten ihm auf ihrem Weg zum Bahnhof, sahen ihm nach und machten ihre Glossen über ihn, wie er beschmutzt und durchnäßt daherging. – Der will die Nacht über im Wald gewesen sein? Betrunken hat er im Graben gelegen, kopfüber ist er beim Fenstersteigen in den Mist gefallen!

Aber er ging auf sein Zimmer, kleidete sich um und lehnte sich in das Fenster, blaue Tabakwolken in den Morgen blasend.

Erich führte seit einiger Zeit über seine Stimmungen und mancherlei ihn quälende Fragen eine Art von Tagebuch – wie er sich vor sich selber entschuldigte, nur zu dem Zwecke, diese an sich vagen Zustande und Gefühle unter dem Zwange, sie in feste Worte, Sätze und Verbindungen zu pressen, einfacher, begreiflicher und eindringlicher zu machen. Nun war ihm nach den Erregungen der Nacht und mit dem erfrischend kühlen Morgen ein Besinnen auf sich selbst gekommen, das, so leicht und froh wie es zuerst war, nur sein Verhältnis zu den Dingen betrachtend und dieses rätselhafteinteressante genießend, bei der bald eintretenden Ermüdung und der Unbehaglichkeit der durchnäßten und beschmutzten Kleidung immer persönlicher, kritischer und mißmutiger wurde. –

Da fühle ich wieder den Draht, der mich mitspielen heißt in diesem Marionettentanz des Lebens; soeben in reiner Anschauung über den Dingen schwebend, von mir und dem drängenden Willen befreit – und jetzt ein armer Teufel, rettungslos in die Zwickmühle geklemmt von Leben-Müssen und Nicht-mehr-leben-Mögen, von Lust am Wissen und dem Wissen von dem Nicht-wissen-Können, von – haha! von Examensangst und Philosophasterdünkel – ! –

Und als er, nur für eine kurze Dauer erfrischt durch den Tabaksgenuß und das Bild des erwachenden Tages, schnell wieder verstimmt durch den beginnenden Tageslärm, das hungrige Brüllen der Kühe, das patzige Krähen der Hähne, das Rasseln der Wagen und vermaledeite Knallen der Peitschen – vom Fenster zurücktrat, überfiel es ihn wieder mit aller Macht: Da setzte er sich vor den Tisch, wo auf einer kleinen zierlich gestickten Decke Petrefakten lagen und ein Stein drüben aus der Heide über und über geschmückt mit hervorgeschossenen Kieselkristallen, – und schrieb:

Sie nennen mich, ich weiß es wohl, den verbummelten Studenten, und blicken mit mühsam verhehlter Schadenfreude auf mich und meinen Vater. Daß ich sie wegen dieser spezifischen Primateneigenschaft niedriger schätze als meine verstorbene Katze, ist meine Quittung hierauf. Aber mit ihrem verbummelten Studenten haben sie insofern recht, als mein studere, meine Willenskraft – zwar nicht durch ein überlustiges Leben, wie sie sich zu glauben zwingen – verbummelt, zersplittert, gehemmt und unselig gestört ist; als ich unfähig bin zu akademisch nüchterner, schematischer und absichtlich begrenzter, einseitiger Bearbeitung meiner Wissenschaften; Analogien, Beziehungen, Verbindungen und Zweifel zeigen sich mir überall und reißen mich über die Schranken des Schemas fort.

Zwar macht es mir wenig Sorge, wenn mich ein Leitfossil aus der Geographie hinüberzieht zur Zoologie, zu Entwicklungstheorien und damit zu denen unserer Begriffe, und wieder ein Bodenbakterium zur Chemie und weiter zur eigentlichen Physik – und damit wieder zur Philosophie: mir ist es eben Ernst mit meiner – Wissenschaft.