Ein verflixter Valentinstag - Julia Dankers - E-Book

Ein verflixter Valentinstag E-Book

Julia Dankers

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Beschreibung

26 unheilvolle Kurzgeschichten rund um den romantischsten Tag des Jahres Folgen Sie uns zu verfluchten Dates, seltsamen Treffen, Affären, Rachepläne und Liebschaften, die in den Tod führen oder solche, die auf Youtube zelebriert werden. Doch zwischen reumütigen Eheleuten und Stalkern gibt es auch Mörder, Serientäter und Killer in Ausbildung, Kannibalen, Verrückten und missverstandenen Verfluchten. Und Monster ... Mit Fell oder Tentakel ... Geister, Trolle und Dämonen … Denn auch dieses Wesen sehnen sich nach Liebe. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch hier Misserfolge, Voodoo und Ghosting vorkommen. Genau wie Liebe, die über den Tod hinausgeht und echte, unsterbliche Liebe. Trinkt unsere Liebeszauber, trollt euch im Internet, kuschelt euch an euren heimischen Busen und wehrt unseren nachbarschaftlichen Verehrer ab. Es hilft alles nichts, die Katze ist sowieso immer der Täter.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 362

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Mein Name ist Ungeheuer
FI****NSTER©
Ein semantisch seltsames Date
Fleischverzehr
Valentinsnächte
Bloody Valentine’s Day – live und ungeschnitten
Das Leben, das sie führen wollten
Date mit Dämon
Die Untermieterin
Unsterbliche Liebe
val mein sei tin en
Kresse
Valentinspralinen
Eine Überraschung zum Valentinstag
Auf Ex-Männer ist einfach kein Verlass
Auch Tentakelmonster sehnen sich nach Liebe
Ghosting
Fortuna
Valentin
Kintsugi
Trollolol
Die Venusfallen
Schicksalsbegegnungen
Liebe lauert zwei Schritte hinter dir
Mondschein mit fatalen Folgen
Tierliebe
Autoren

Ein

verflixter Valentinstag

Eine unheilvolle Kurzgeschichtensammlung

ELYSION-BOOKS

Print; 1. Auflage: Januar 2023

eBook; 1. Auflage: Januar 2023

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2023 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Michelle Tocilj https://www.tociljdesigns.de

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-269-7

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-268-0

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf

www.Elysion-Books.com

INHALT

Julia Dankers - Mein Name ist Ungeheuer 5.S

SiStHa - Fi****nster(c) 16 S.

Dieter R. Fuchs - Ein semantisch seltsames Date 20 S.

Michael Johannes B. Lange - Fleischverzehr 28 S.

Jace Moran - Valentinsnächte 31 S.

Sophia Adams – Bloody Valentine´s Date 46 S.

Oliver Fahn – Das Leben, das sie führen wollten 61 S.

Maximilian Wust - Date mit Dämon 78 S.

Claudia van Gozer – Die Untermieterin 91 S.

Lea Baumgart - Unsterbliche Liebe 100 S.

Anke Elsner – val mein sei tin en 106 S.

Agga Kastell - Kresse 110 S.

Nicky DeMelly - Valentinspralinen 119 S.

Lorenzo Maxwell – Eine Überraschung zum Valentinstag 128 S.

Martina Sprenger - Auf Ex-Männer ist einfach kein Verlass 134 S.

Oliver Baron – Auch Tentakelmonster sehnen sich nach Liebe 143 S.

Cordula Ingendahl - Ghosting 148 S.

Alexander Klymchuk - Fortuna 152 S.

Britta Dreyer – Valentin 157 S.

Lyakon - Kintsugi 162 S.

Cassi Chaos - Trollolol 171 S.

Alina Dudek - Die Venusfallen 184 S.

Sandra Wiedemann – Schicksalsbegegnungen 194 S:

Genevieve A. Königsberg - Liebe lauert zwei Schritte hinter dir 214 S.

Rebekka Görtler - Mondschein mit fatalen Folgen 223 S.

Eve Grass - Tierliebe 228 S.

Autoren 241 S.

Mein Name ist Ungeheuer

Julia Dankers

Heute, Rosenmontag 2020

Aus den Lautsprechern an der Decke dröhnt irgendein Evergreen aus den Neunzigern, die schon lange vorbei sind, auch wenn sich das niemand über vierzig eingestehen möchte. Hastig trinke ich einen Schluck aus dem Flachmann, bevor ich ihn zurück in meine hintere Hosentasche stopfe.

Drei pubertäre Mädchen in hautengen, pinkfarbenen Tops streiten sich um eine Vanillemilch, die einfach super zum billigsten Wodka der Hausmarke passen würde, wenn man der Rädelsführerin Glauben schenkte. Ihr leichter Silberblick fasziniert mich. Rot wie die eines Vampirs schimmern ihre Pupillen. Ich schätze, sie trägt diese fürchterlichen farbigen Kontaktlinsen, um hip zu wirken, ein bisschen cool, ein wenig unnahbar - und ziemlich doof.

Vermutlich sehe ich ähnlich derangiert aus, wenn auch fetter und faltiger, weil ich die letzten drei Nächte kaum geschlafen habe und aus ihrer Sicht mindestens uralt bin. Vierzig sei das neue dreißig, behaupten Medienexperten. Ich hingegen fühle mich untot, was streng genommen das Gegenteil von lebendig ist.

Am Milchregal halte ich einen Moment inne. Die Luft zwischen den sorgfältig drapierten Tetrapaks ist zum Zerschneiden dick. Gedankenverloren schnappe ich eines mit grünem Aufdruck, weil dies die Farbe der Hoffnung ist – und die stirbt fast immer zuletzt. Dumpf landet es im Einkaufswagen.

Über der Fleischtheke hängt der Duft des Todes und ein wenig auch der vom Altdamenparfüm. Grauhaarige Gestalten mit schleppenden Schritten erinnern mich an Zombies. Rollatoren säumen den schmalen Gang zwischen Leben und Tod.

Die Fleischereifachverkäuferin trägt neckische Grübchen und eine rotgesprenkelte Gummischürze. In ihren Mundwinkeln klebt roter Fleischsaft, als habe sie gerade hinter dem Tresen vom rohen Steak gekostet. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück, als sie mich anspricht, das Ausbeinmesser nonchalant aus dem Handgelenk schwingend.

Dreißig Jahre lang bin ich Vegetarier gewesen, weniger aus Überzeugung als aus Schuldgefühl. Keine weitere Kreatur hat meinetwegen sterben sollen. Das Rattern der Wurstschneidemaschine zaubert eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper. Ich trage lediglich ein Unterhemd und sehe in der Spiegelung der Tresenscheibe aus wie ein gerupfter Hahn.

Drei Kilo Hackfleisch sollen es sein. Die robuste Dame nickt. Auf ihrem Oberarm beißen sich Schmetterlingstattoos gegenseitig in den Hintern und um ihren Kopf herum surren Fliegen. Zur Untermalung würde schräge Geigenmusik gut passen, anders als die Hits aus einem längst vergangenen Jahrzehnt, an das ich mich kaum erinnern kann. Wissend grinst die Blutwurst mich aus der Auslage an. Die mit Gesicht tut es nicht. Eher hochnäsig und etwas überlegen wie der Clown aus »Es« mustert sie mich, als wüsste sie, was ich getan habe.

»Glotz nicht!«, motze ich ungehalten. Die Fleischereifachverkäuferin weicht einen Schritt zurück. Zu Boden geht scheppernd das Messer, nach dem sie sich bückt. Ihr Dekolleté wirkt so einladend wie eine Gesamtschulabschlussfeier, eher ausladend also.

»Sechs Pfund Hack sind eine ganze Menge«, stellt die rundliche Lady leise fest. Ihr Lächeln ist nicht echt, ebenso wie das auf der Max- und Moritzwurst am Rand der Auslage. Sie erinnert mich an Witwe Bolte, die keiner wollte. Ein Kopftuch würde auch der Verkäuferin gut stehen. Dann würden nicht so viele Haare im Kalbsbries landen, dunkelgrau und reglos wie sehr schlanke, kranke Würmer.

»Ja«, murmele ich und senke den Kopf. »Das sind dreißig Buletten, wenn man sie großzügig formt.« Oder eine Zwischenmahlzeit für ein wirklich hungriges Ungeheuer.

»Sie haben Glück, dass das Gehackte heute im Angebot ist.« Sie sieht nicht hübsch aus, wenn sie über den Preis von Fleischerzeugnissen philosophiert. Ich frage mich, wie ihr Mann sie sieht, falls sie einen hat. Vielleicht hat sie auch eine Frau - oder nur einen sehr üppigen Hund, den sie am Ende eines langen Tages mit Fleischresten mästet. Also den Hund – vielleicht auch den Mann oder die Frau. Herzinfarkte durch zu fette Ernährung sind in den Ländern der westlichen Welt immer noch eine sehr häufige Todesursache. Wie einfach es doch ist, jemanden um die Ecke zu bringen, wenn man ausreichend Zeit dafür hat.

Klobige Hände mit Wurstfingern wühlen sich durch die Fleischmasse und pfeffern ihre Errungenschaften in die Waagschale. Mit dem Messer zerlegt die Dame von der Wursttheke den weichen Teig in drei unterschiedlich große Teile. Beim letzten Schnitt aber entgleitet ihr der Plastikgriff. Geräuschlos landet die Messerspitze in ihrem Handballen. Blut sprenkelt das blassrote Hack und sieht pittoresk aus. Augenblicklich beginnt mein Magen zu knurren.

Von hinten rempelt mich ein älterer Herr an. Mitten in seinem Gesicht klemmt eine knallrote Plastiknase. Sein Atem streift meinen Nacken. Er riecht säuerlich nach zu viel Billigwein. Nach einer Wäsche dürstet sein schütteres Haar, ebenso wie das des klitzekleinen Pinschers zu seinen Füßen, der hungrig das Schnäuzchen krauszieht und bellt.

»Mist!«, flucht die Verkäuferin, während sie ihre Hand anstelle des Hackfleischs in Frischhaltefolie einschlägt, um die Blutung zu stoppen. Kein Verbandszeug befindet sich in der Nähe und ihre Kollegin am Käsestand hat alle Hände voll zu tun, ihre eigene Kundschaft zu bedienen. Der alberne Schwarzwaldhut, den sie trägt, lässt sie wie eine russische Zarin aus einem drittklassigen Comic aussehen. Frischkäseflecken zieren ihre Schürze.

Vor dem Chipsregal torkelt ein junger Mann und schwankt zwischen Erdnussflips und Salzgebäck. Unter seinem Arm trägt er einen abgetrennten Plastikkopf, dessen fieses Grinsen mich irritiert. An einem anderen Tag könnte er auf dem Weg zum Bolzplatz sein, den ledernen Ball locker gegen die Hüfte gestemmt, ebenso wie gerade den Kopf. Ich wünschte, es wäre ein anderer Tag und ich ein anderer als der, der über die Fleischtheke hechtet und die Hand der Angestellten packt, bevor sie die Augen verdreht und nahezu geräuschlos zu Boden fällt. Meine Schuhsohlen hinterlassen ein hübsches Muster in der groben Leberwurst.

Hastig greife ich nach dem Ausbeinmesser. Sein Griff schmiegt sich glatt und kühl gegen meine Finger. Meine Sicht auf die Dinge ist plötzlich eine andere, mein Blick verschwommen und die Geräusche gedämpft.

»Ihr Narren und Jecken, ihr Starren und Kecken«, skandiere ich. »Ich kann euch nicht leiden! Ich will euer Leiden!« Mit beiden Beinen im Leben sehe dem Tod ins Auge. Ein ganzes Schwein liegt auf dem Tisch im Zubereitungsraum der Fleischerei, in den ich durch die angelehnte Tür sehen kann. Mit toten Augen blickt es mich an. Seine Füße stecken kopfüber im Fleischwolf fest und sehen albern aus.

Ein dicker Mann mit freiem Oberkörper, der in einer gestreiften Pyjamahose steckt, klatscht wiehernd Applaus. Obelix ist in den großen Topf mit Zaubertrank gefallen. Leider hat er dabei seine Perücke verloren. Wie Schäfchenwolle lockt sich sein lichtes Haar.

Vor dreißig Jahren

Meine Mutter drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ihr Lippenstift hinterlässt zwei rote Streifen, schmal und leicht fettig wie die Brathähnchen vom Imbiss gegenüber. Verstohlen wische ich sie fort.

»Pass auf dich auf und sei ein guter Junge«, raunt sie mir zu, während mein Vater mir drei Flaschen vom billigen Bier in den Rucksack steckt. Mit fast fünfzehn dürfe man auch einmal fünfe gerade sein lassen, behauptet er. Schließlich sei Karneval und so ziemlich alles erlaubt, ebenso wie im Krieg und in der Liebe.

Auf der Straße herrscht reges Treiben. Meine Freunde, die Ninjaturtels, haben aus ihren sperrigen Schulranzen Schildkrötenpanzer gebastelt. Nicht sehr einfallsreich, wie ich finde, aber immer noch pfiffiger als Graf Zahl im abgewetzten Trenchcoat meiner Oma darzustellen, gerade weil ich in Mathe eine echte Niete bin.

Bunte Gesellen begegnen uns und ein Mädchen, das leise lacht. Annabelle ist ihr Name, sie ist so schön wie das Leben nach dem zweiten Bier überhaupt. Mein Gang gleicht dem einer Ente, aber das ist ihr egal, als sie mich im Hauseingang gegenüber der Kirche küsst. Das Licht der Straßenlaterne zeichnet einen Heiligenschein über meinen Kopf. Das kann ich in der Spiegelung der Bushäuschenscheibe sehen, obwohl ich im Moment ganz sicher keinen verdient hätte. Bescheiden drückt sie ihre kleinen Brüste gegen meinen schmächtigen Oberkörper.

Janne jault wie ein Wolf im Schafspelz. Dabei stellt er doch ein überdimensionales Reptil dar. Konzentriert wirft er achtlos abgestellte Bierflaschen auf die Straße, die ansonsten verlassen daliegt, weil die meisten Karnevalsverrückten schon im Bett liegen oder in der Kneipe an der Ecke weitertrinken.

Urplötzlich wird mir klar, wie verschwenderisch das ist, was mein allerbester Freund dort macht. Stattdessen beschließe ich, die Reste zusammenzukippen, um sie gemeinsam zu vernichten.

Annabelle kann eine Menge vertragen. Sie habe den Magen einer Kuh, die genaugenommen vier Mägen hat. Mit leuchtenden Augen stürzt sie eine halbe Flasche Sekt hinunter, der ihre klammen Küsse säuerlich schmecken lässt. Keine Brathähnchenflecken hinterlassen sie auf meinen Lippen, eher die Hitze eines ganzen Sommers und zugleich die Kälte der Nacht, die unter unsere Mäntel kriecht, immer dann, wenn wir voneinander lassen und uns für eine oder zwei Minuten nicht in den Armen halten. Nicht einen davon wische ich fort.

In meinem Leib tobt ein Orkan. Ich habe nicht gewusst, dass die Liebe ein heiteres Gefühl ist, ähnlich wie der Suff - ein Rausch zwischen zwei Welten. Die Sterne tanzen eine durchgedrehte Polka durch den Nachthimmel. Während wir über den Gehsteig torkeln, dreht sich die Welt um uns - vier schlingernde Schildkröten, einen gehbehinderten Grafen und das schönste Mädchen der Welt. Als der Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit um die Kurve braust, fühle ich mich ein kleines bisschen unsterblich. Was kostet die Welt?

Annabelle hat sie das Leben gekostet, nachdem sie mit einem dumpfen Knall vom hellgrauen Passat Kombi erfasst, über die Frontscheibe geblasen und gegen die Kirchenmauer geschleudert worden ist.

Sie ist nicht mehr schön, als sie tot ist. Auch ich bin ein anderer seitdem. Mein Mund hat verlernt zu lächeln, so sehr Janne mir auch zur Seite steht in den kommenden dreißig Jahren, in denen wir zunächst eine Studenten-WG teilen, vorübergehend ein mittelhübsches Mädchen und eine Vergangenheit, über die keiner von uns gerne spricht.

Heute, Rosenmontag 2020

Ein kleiner Junge weint nach seiner Mutter, die den Kopf nicht in den Sand steckt, sondern in die Tiefkühltruhe, um nach der Salamipizza zu angeln wie eine echte Jägerin und Sammlerin. Rotz läuft sein Kinn hinunter und hinterlässt hässliche Flecken auf seinem Bärenkostüm. Sein Schnuller liegt verdreckt irgendwo auf dem Boden zwischen den Füßen der Wartenden und den Rollatoren. Vielleicht hat sich der Geschmack des Todes bereits in das Gummi gefressen. Zu wünschen wäre es ihm. Warum sollte der Bär das Recht haben, glücklich zu sein? Immerhin weiß er nicht einmal, wie schrecklich die Liebe ist. Der Hintern seiner Mutter lugt unter ihrem Hexenkleid hervor und sieht beschaulich aus. Verdattert schaut der Bär zu ihm auf.

Fasziniert betrachte ich das Blut, das unter der Frischhaltefolie aus der Hand der Fleischereifachverkäuferin rinnt. Sie schaut aus, als habe ein wildes Tier sie gerissen. Vielleicht ist sie gerissen genug, sich schnellstmöglich aus dem Staub zu machen.

Ihr blumiges Parfüm raubt mir den Atem, als ich meinen Mund auf ihren drücke. Noch nie habe ich jemanden wiederbelebt. Säuerlich nach schalem Sekt schmecken ihre Lippen - ebenso wie die von Annabelle vor dreißig Jahren. Einer der Schweinefüße rutscht aus dem Fleischwolf und geht polternd zu Boden, ebenso wie meine Contenance.

Vor fünf Tagen

»Ich muss mit dir reden, Kai. Jannes Vater hat angerufen.« Die Schultern meiner Mutter hängen herab wie die einer Marionette.

»Und?«, frage ich dümmlich und beginne, den Tisch zu decken. So wie damals ist das immer noch meine Aufgabe, wenn ich bei meinen Eltern zum Essen eingeladen bin.

»Janne ist vorletzte Woche gestorben. Ein Auto hat ihn erfasst, als er gegenüber der Kirche die Straße überquert hat.«

Der Geruch des Sauerbratens im Ofen dreht mir den Magen um. Meine Mutter schafft es auch nach dreißig Jahren noch zu ignorieren, dass ich kein Fleisch esse.

»Übermorgen ist seine Beerdigung. Drei Tage vor dem Rosenmontag. Es tut mir so leid.« Lautlos hockt sie sich auf die äußerste Kante ihres Küchenstuhls und schaut zu, wie ich den ganzen Sauerbraten in mich hineinstopfe, ohne wirklich zu kauen. Mein Magen ist ein Stein und der Leib Christi ein fetter Kloß irgendwo darunter. Der Sauerbraten meiner Mutter ist Jannes Lieblingsessen gewesen. Ich hoffe, er trifft Annabelle dort oben im Himmel und küsst sie zur Feier des Tages haargenau am Rosenmontag. Dreißig Jahre im Jenseits sind eine lange Zeit.

Vor meiner Haustür erbreche ich mich geräuschvoll ins Gebüsch. Im Schlafzimmer angekommen, fische ich die Schachtel mit den Psychopharmaka aus der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes. Mein Hausarzt hat sie mir vor drei Jahrzehnten verschrieben, damit ich auf den Boden der Tatsachen zurückfinde. Zaghaft lasse ich ein paar davon auf der Zunge zergehen. Die glänzenden Pillen erinnern mich an rote Smarties. Jeder weiß, dass die roten am besten schmecken. Bei Gummibärchen ist es ebenso.

Heute, Rosenmontag 2020

Eine alte Dame am Gewürzregal neben der Theke trägt die gleiche Frisur wie Marge Simpson, nur dass sie nicht blau ist, sondern helllila. Gelblich glänzt ihr Gesicht. Ihre Lippen sind ein dünner Strich, als sie mich erblickt, während ich mich über die Fleischereifachverkäuferin beuge.

Deren Augen sind weit geöffnet, zwei hellblaue Sterne, in denen sich das Neonlicht bricht. Etwas anderes bricht ebenfalls, unter meinen Fäusten, die ich in den Brustkorb der Wurstdame drücke, um sie am Boden der Tatsachen zu halten. Ich glaube, es sind ihre Rippen, die dieses fürchterliche Geräusch verursachen. Konzentriert pumpe ich dreißig Mal, ganz knapp unter ihrem ausladenden Dekolleté, bevor ich meinen Mund erneut auf ihren drücke.

Hulk betritt den Supermarkt. Im echten Leben wirkt er viel schmächtiger als im Kinofilm. Das würde Janne gefallen, denke ich für einen klitzekleinen Moment. Er ist der Meinung, dass Superhelden im Allgemeinen überschätzt werden. Zwei Sekunden später fällt mir wieder ein, dass Janne tot ist und kein Held der Welt ihn je wieder zurückholen kann. Das ebenfalls verstorbene Schwein grinst mich schadenfroh durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen an. Sein Schwänzchen wedelt frivol, bevor es zu Hackepeter wird. Rotweiß glänzt mein ehemals weißes Unterhemd in der Spiegelung der matt schimmernden Edelstahlarbeitsflächen.

»Bitte erschlag mich! Oh, bitte erschlag mich!«, wispert das Schwein.

Bestimmt bilde ich mir das ein, weil es keine Zunge mehr hat. Die liegt in Scheiben in der Auslage für einen Euro neunundneunzig das Kilo.

Die der Fleischereifachverkäuferin fühlt sich immer noch warm und lebendig an.

Vor drei Tagen

Ich werde nie wieder schlafen, beschließe ich nach Jannes Beerdigung. Das bin ich ihm schuldig. Wenn er tot ist, werde ich für uns beide leben müssen. Und das kostet schließlich doppelt so viel Zeit. Energisch schlucke ich eine weitere der bitteren Pillen und spüle sie mit Kaffee hinunter. Stumm betrachte ich die Blumen auf Jannes Sarg. Viel zu bunt leuchten sie in allen Farben, als wäre mein bester Freund Florist gewesen.

Sein Körper kauert dort unten. Knapp zwei Meter müsste ich hinabspringen, um ihn aus der Holzkiste und dem schicken Anzug herauszuholen. Es würde nichts ändern. Er wäre nicht mehr derselbe und die gemeinsamen Abende in der Kneipe von stummer Eintönigkeit geprägt.

Vor über einer Woche ist er seinen Weg in den Himmel angetreten, unendlich weit fort von mir. Es gibt keine Pauschalreisen dorthin, keine Flixbusse und keinen ICE. Ich selbst werde in der Hölle schmoren, wann immer es an der Zeit ist. Schließlich bin ich das Ungeheuer, das Annabelle, das schönste Mädchen der Welt, mit seiner blödsinnigen Idee umgebracht hat. Wegen eines grobmotorischen Graf Zahl im zu langen Damenmantel ist sie vom Kantstein gestolpert. Janne trägt keine Schuld.

In ein paar Jahren schon wird Jannes Fleisch dort unten verwest sein und sich vom Knochen lösen. Er hat Fleisch geliebt. Jeden Tag hat er Mengen davon verspeist. Ich bin es ihm schuldig, diese Tradition fortzuführen, schon allein aus Respekt. Sein Körper wird Kraft brauchen, um in Form zu bleiben. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass mein bester Freund von Würmern aufgefressen wird.

Hektisch stürze ich einen großen Schluck aus meinem Flachmann in mich hinein und taste meine Jackettaschen nach den knallroten Pillen ab. Eine lasse ich im Mund zergehen. Ihre Farbe erinnert mich an Annabelles Blut vor fast genau dreißig Jahren.

Zähflüssig breitete es sich um ihren Kopf herum aus und färbte ihr hellblondes Haar rot wie das einer Barbiepuppe, die in Kirschsoße schwimmt. Ihre Augen glichen zwei Sternen, in denen sich das Licht des Mondes brach, kurz bevor es erlosch. Für immer.

Nie wieder werde ich die roten Smarties zuerst essen, auch nicht die gleichfarbigen Gummibärchen.

Heute, Rosenmontag 2020

Das Herz der Fleischereinfachverkäuferin hockt starr in ihrer Brust. Hässlich verzogen liegen ihre Lippen da, leicht fettig und dünn, zwei hellrote Striche. Sie erinnern mich an die Abschiedsküsse meiner Mutter aus meiner Kindheit. Mit Inbrunst pumpe ich Leben in ihre Blutbahn und bringe ihr eventuell den Tod.

Mein Atem ist so kalt wie das tote Schwein. Ihrer stockt schon seit einer Weile. Fahl und bleich glänzt ihre entblößte Brust unter dem dünnen Stoff ihrer Arbeitskleidung, die ich zerrissen habe. Einfach war das nicht. Die Hilfe von Hulk hätte ich dabei gut brauchen können. Leider starrt der mich nur entgeistert an, schnappt sich einen Beutel vom Chrushed Ice knapp am Hintern der kopfüber in der Tiefkühltruhe wühlenden Hexe vorbei und erbricht sich neben dem kulinarisch katastrophalen Kopfsalat.

Der Harlekin mit der Hakennase tut es ihm gleich. Sein Gemüsetütchen geht zu Boden. Zum Abend wollte er sich mit Bohnen belohnen. Die liegen nun überall verstreut um den Todesschnuller des brüllenden Bären herum. Grün im Gesicht steht ihm nicht – dem Bären und auch dem Harlekin. Zu Hulk hingegen passt der Farbton sehr gut. Zusätzlich zeichnet das tanzende Blaulicht des vor dem Supermarkt angekommenen Rettungswagen einen außerirdischen Schimmer auf seine Wangen.

Hurtig werfe ich die restlichen Pillen ein und spüle mit Schnaps nach. Mein Puls geht zügig und meine Hände arbeiten konzentriert. Fasziniert betrachte ich mich selbst in der Spiegelung der Schranktür.

Ein mittelalter Mann im blutgetränkten Unterhemd schließt seine Hände um den Hals einer dicken Dame. Ein bisschen doof glotzt das tote Schwein mich an, als der Schlachter seinen Kopf abtrennt. Meiner wackelt gefährlich, bevor mein Hinterkopf den Boden küsst.

Die Retter machen gut Wetter, bevor die Polizisten mich überlisten. Meine Augen sind zwei Sterne, in denen sich das Licht bricht, bevor es erlischt. Ich wünschte, es wäre für immer.

Zwei Tage später, Aschermittwoch 2020

»Bitte erstick mich! Oh, bitte erstick mich!«, flüstert die Stimme. Sie gehört nicht der Fleischereifachverkäuferin, die neben mir liegt und leise schnarcht. Ihr Arm ruht auf meinem Bauch. Fasziniert betrachte ich die Schmetterlingstattoos darauf und werfe eine Handvoll der roten Pillen ein.

Ein Wurstzipfel habe in ihrer Luftröhre festgesteckt. Zudem stünde sie unter Schock, weil sie kein Blut sehen könne - ausgerechnet als Mitarbeiterin einer Fleischerei. Ich habe ihr vermutlich das Leben gerettet, hat der Notarzt behauptet. Ohne eine gleichmäßige Verteilung des Sauerstoffs in ihrem Blut hätte ihr Gehirn irreparable Schäden davongetragen. Ich könne stolz auf mich sein, weil ich ein Held bin. Stolz bin ich ganz sicher nicht. Helden sollten heiter sein.

Zögerlich öffnet sie ihre Augen, in denen sich kein Licht bricht. Der Zauber der Fastnacht ist vorüber.

»Ich weiß, es ist noch fast ein Jahr hin ... Aber möchtest du im nächsten Jahr mein Valentinsdate sein, ... so Gott will und wir beide noch am Leben sind?«

In zwei winzigen klaren Seen treiben ihre Pupillen, blau wie ich seit acht Tagen. Ich bin nie ein guter Schwimmer gewesen.

»Ja, das möchte ich sehr gerne, sofern wir beide dann noch leben.« Seufzend drücke ich das Kopfkissen auf ihr Gesicht, halte die Luft an und zähle bis zweihundert. Die Fingernägel ihrer linken Hand kratzen ein hübsches Muster in meine Brust. Ein violettes Veilchen verpasst mir ihre Rechte.

»Ich bin ein Ungeheuer. Bitte verzeih mir!«, flüstere ich und drücke einen Kuss auf ihre Stirn, schmallippig und fettig wie die Brathähnchen vom Imbiss an der Ecke. Ihr üppiger Hund leckt sich furzend die Pfoten.

FI****NSTER©

SiStHa

Einen Traummann zu finden, ist für mich so wahrscheinlich, wie festen Stuhlgang zu haben, denke ich und schlürfe meinen morgendlichen Mückenbrei.

Ich esse nur flüssigen Brei, da ich keine Zähne habe. Mir fehlen außerdem entsprechende Enzyme, um festen Stuhl zu bekommen. Für mich ist fester Stuhlgang so, wie für dich plötzlich einen Haufen Kohle auf der Bank vorzufinden - unerreichbar, mega unwahrscheinlich.

Das kannst du natürlich nicht kapieren, wie auch. Guck mal in den Spiegel, was siehst du? Ein Gesicht, hoffentlich. Pack dir mal an die Nase, du fühlst Knochen, Knorpel, warme Haut, vielleicht ein wenig Rotze, wenn du drückst. Bei mir ist da leider nichts. Gar nichts. Platt!

Wenn ich zu einem Augenarzt müsste, eine Brille bräuchte - Whoop Whoop, das hält keine Versicherung aus. Ist jetzt kein Witz, halt dich fest, fünfundzwanzig Glubscherchens sag ich nur.

By the way, ich bin schlanke hundert Jahre alt, also noch echt jung.

Fahr mal mit deinen Händen durch deine Haare, schön weich oder du hast ne aalglatte Glatze. Dann freue dich. Wenn ich da hin packe, fühle ich, rate mal! - Nichts, nur Kälte. Nur ein scheiß Gefühl, nichts zu sehen. Abgefahren, ich weiß.

Ich habe ganz schöne Lippen. Bei uns ist es gerade voll im Trend, möglichst viele Herpesbläschen zu tragen. Wir schwören auf Herpes simplex.

Über meine Brüste kann ich mich auch nicht beklagen. Hast du auch welche? Bei euch haben ja manchmal die Typen sogar Tittis. Hier in Monstropia nur die Mädels, die Kerle sind herbe eitel.

Ja, ich bin ein weibliches Wesen, haste das jetzt erst geschnallt? Bitter. Meine Brüste sind aber unter den Armen, wink mal mit deinen! Ich meine die Arme! Ja, so ungefähr sieht es bei mir auch aus, hört sich auch so an. Schwipp, schwapp, schwipp, schwapp!

Und da ich eine Frau bin, habe ich auch ein Geschlechtsteil. Frauen haben eine Vagina und Männer einen Schwanz. Lame. Ist hier in Monstropia wie bei euch. Manche, die Reichen und Attraktiven, haben allerdings mehrere Öffnungen und Schwänzchen.

Ich denke, du konntest dir jetzt ein Bild von mir machen. Aber eigentlich wollte ich etwas ganz anderes erzählen.

Er war unheimlich attraktiv für ein Monster, so mein erster Eindruck.

Gestern Abend, Valentinstag. Ein Date im Restaurant um die Ecke. Ich hatte mir knapp zwei Stunden zuvor irgendeine Dateapp aufs Mophone geladen, »FI****NSTER©« heißt sie.

Schon eine Stunde später machte ich das Date klar. Kurz danach saß ich am Tisch im Restaurant. Die Lippenbläschen brachte ich vor Ort mit »Soeinklaxx©« zum Glühen, zahnlos lächelte ich in Richtung Eingang. Schon lange sehnte ich mich nach einem richtigen Kerl, einer Beziehung, dem Mann fürs Leben. Die Tür öffnete sich und da war er.

Aus seiner Nase tropfte ein grüner, poriger Schleim verführerisch über seine Lippen. »Herpesbläschen!«, kreischte ich innerlich, ich war sofort im siebten Himmel.

»Wildegard?«, hauchte er mir meinen Namen fragend zu.

Sein Atem - er stank! Nach Hundescheiße! So scheußlich lecker hatte noch keiner gerochen, mein Puls beschleunigte sich. Ich schwitzte.

»Ja, Ruschard?«, antwortete ich mit einem tiefen Seufzer. (Anmerkung: Jup, hier enden alle Namen auf »-ard«.)

Er setzte sich mir gegenüber, er war stattlich. Sein muskulöser Körper passte fast nicht unter den Tisch. Er war einer von den Schwänzchen, falls du verstehst, was ich meine.

Hot! Mein Körper glühte, selbst mein Nichts auf dem Kopf wurde ein wenig warm. Ich strich schüchtern darüber und blinzelte ihn an. Kurz zuckte er zusammen, sein Auge fixierte mich.

»Ast du Erfahrungen mit „FI****NSTER©“?«, fragte er mich. Er sprach es mit einem französischen Akzent aus, eher so Finstöhr.

Ich nickte verlegen, log dabei natürlich, war es doch mein erstes Date.

Manchmal ist meine Hautfarbe praktisch. Rot. Sein Blick zog mich magisch an, ich würde Ohrenschmalz sein in seinen Tatzen. Irgendwann, nach dem dritten oder vierten Date. (Erziehung meiner Mutter: »Lass sie nicht zu früh dran, das macht dich interessanter.«)

Er bestellte und aß eine Delikatesse aus deiner Welt, Pferdeäpfel á la Fury. Ich bekam nichts hinunter, denn ich erzählte ihm schlichtweg alles über mich. Ich hatte einfach das Gefühl, dass es passte. Er hörte mir zu, nickte, lachte sogar und gab mir zu verstehen, dass er mich interessant, attraktiv und sexy fand, indem er mit seiner Zunge den grünen, porigen Schleim von seinen Herpes simplex Lippen schleckte.

Ein Volltreffer! Ich spürte es, mein Nichts erhitzte sich während des Essens weiter. Pulsierte. Eigentlich mein ganzer Körper, ich kam richtig in Fahrt. Er war es, der Mann fürs Leben, ich war mir sicher. Danke, „FI****NSTER©“!

»Und du, wie stellst du dir deine Zukunft vor?«, beendete ich meinen Monolog.

»Isch weiß noch nisch genau«, überlegte er und sein Auge kreiste. Dann legte er seine Tatzen auf meine, schaute mir in all meine Augen und ergänzte: »Vielleischt zuerst wir gehen zu dir nach Ause, isch ziehe disch aus und du misch, dann du suschst dir ein Schwänzschon aus.«

Er guckte mich fragend an, ich schaute fassungslos zurück.

»Isch kann auch auswählen, wenn du disch nisch entscheiden kohnst«, ergänzte er das zuvor Gesagte.

Ich konnte nichts sagen.

»Isch weiß nämlisch genau, welscher der Beste ist«, er blinzelte mir einäugig zu.

Ich schluckte, presste meine Lippen fest aufeinander, so dass ein Bläschen platze. Der Saft spritze ihm ins Auge. Herpes simplex, überall. Er interpretierte es in seinem Sinne.

»Du bist also einverschtonden?«, grinste er mich an und sabberte gierig.

Was ich in dem Moment dachte, konnte ich in der Situation nicht in Worte fassen. Es war ungefähr das: »Lass mich in Ruhe, du Arschloch. Ich suche einen Mann fürs Leben, keinen notgeilen Sack oder wie du sagen würdest „Sock“! Steck dir deine Schwänzschons sonst wo hin, meine Vagina bekommst du nicht!«

Raus kam aber nur stotternd: »Ich, ich geh mal kurz aufs Klo. Ka... ka... kacken.«

Das war der Moment, in dem der Tisch nach oben geschleudert wurde, denk mal darüber nach von was. Kleiner Tipp, da ging ´was steil.

Zum Glück gibt es Notausgänge.

Die App habe ich gerade gelöscht.

Nach einer kurzen Recherche weiß ich jetzt, für was »FI****NSTER©« steht.

Nämlich für »FIckmoNSTER©«.

Ja, »Lesen gefährdet die Dummheit«, das wusste euer Goethe schon.

Einen Traummann zu finden, ist für mich so wahrscheinlich, wie festen Stuhlgang zu haben, sagte ich ja bereits.

Daher schlürfe ich meinen morgendlichen Mückenbrei und denk mir so: Ich habe ja noch dich!

Ein semantisch seltsames Date

Dieter R. Fuchs

Eigentlich hatte sie sich wirklich auf dieses erste persönliche Treffen mit ihm gefreut.

Eigentlich ...

Seit vier Monaten chatteten sie schon, nachdem sie sich virtuell und eher zufällig in einem Social Network begegnet waren, bei der hitzigen Kommentarschlacht über die allgemein zunehmende Verrohung des sprachlichen Umgangs miteinander und über das bedauernswerte Verschwinden der Kunst einer geschliffenen Kommunikation, gerade auch in Schriftform.

Sie hatte hinsichtlich einer stilistisch und von der Wortwahl her ansprechenden Ausdrucksweise, wie sie fand, recht vernünftige Ansprüche an alles Geschriebene, wohl auch durch das Elternhaus bedingt. Im Familienkreis legte man schon immer Wert auf einen respektvollen Dialog untereinander und hinsichtlich der Sprache prägte ihr Vater, ein Deutschlehrer, ihre Haltung. Sie hasste alles Schlampige und Verkürzte, was das Schreiben anging, auch wenn sie dadurch nun mit Ende Zwanzig in ihrer Altersgruppe wie ein Alien wirkte. Ihre Bekannten hatten sich durchweg den üblichen digitalen Slang aus Kurzformulierungen und Abkürzungen angeeignet. Sie dagegen liebte schön gestaltete und wohlklingende Sätze und Texte. Dies galt nicht nur für jegliche Korrespondenz auf Papier, sondern auch für die digitale Kommunikation mit E-Mails, Kurzmitteilungen oder Posts in sozialen Netzwerken. Schreiben war für sie kein rein technischer Vorgang der Informationsübermittlung, sondern etwas Musisches und Kreatives.

Da sie im Verwaltungsbereich einer Versicherung arbeitete, war ihr Alltag eher durch sachlich-nüchterne Schriftstücke geprägt. Umso mehr genoss sie es, in ihrer Freizeit in die Schönheit der Sprache einzutauchen, durch das Lesen von Belletristik und Lyrik, vor allem Klassikern. Aber auch den schriftlichen Austausch mit den vielen, ihr ja eigentlich fremden Freunden in ihrem Social Network empfand sie als etwas unglaublich Bereicherndes. Man traf dort manchmal auf Menschen, die anscheinend genau wie sie selbst ihre Worte sehr bewusst, fast wie Töne beim Musizieren zu setzen wussten. So wie in diesem Fall, als ihr sein Kommentar weniger aufgrund des Inhalts denn der Sprachform aufgefallen war.

Oh ja, dieser Mann hatte sie von Anfang an beeindruckt. Schon wie präzise er sich damals ausgedrückt hatte, so klug und scharfsinnig, sie hatte sofort gedacht: Wie gewählt – sicher ein echter Intellektueller! Es dauerte auch nur zwei Tage, bis sie sich traute und ihm eine Freundschaftseinladung schickte. Die er auch prompt annahm. So lernten sie sich schnell über ihre Facebook-Profile näher kennen und aus den ersten üblichen Nettigkeiten wurde langsam ein digitales Beschnuppern und dann echte Neugierde bei ihr. Danach war es in ihrem Empfinden wie ein verbaler Höhenflug, der sich vom Pingpong täglicher kleiner Wortspielereien über längere gedankliche Tandemfahrten durch die Sprachlandschaften ihrer Fantasie bis hin zu langsam persönlicher werdenden Metaphern einer vermeintlichen Seelenverwandtschaft steigerte. Sie war sich sicher: Zwei Suchende haben sich gefunden!

Eigentlich sei doch die Zeit reif, sich auch im analogen Leben zu begegnen, so hatte sie vor einer Woche konstatiert, und den Vorschlag zu einem Treffen »in real life« unterbreitet. Sein Zögern war ihr dann nicht entgangen. Ach wie schön, so schüchtern ist er also! Sie fand das einfach köstlich, ließ keinen anderen Gedanken zu und drängte weiter. Er stimmte schließlich zu. Ob er bemerkt hatte, dass sie als Zeitpunkt ausgerechnet den Valentinstag gewählt hatte?

Sie waren zeitgleich, auf die Minute pünktlich, bei dem vereinbarten Cafe’ in der Altstadt eingetroffen, und optisch hielt er, was sein Profil-Foto online versprochen hatte – ein gutaussehender Mittdreißiger. Er war größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Sein halblanger dunkelblonder Wuschelkopf wirkte burschikos, die hinter der etwas altmodischen Brille hervorblitzenden braunen Augen versprühten Lebendigkeit und Interesse. Sein strahlendes Lächeln und das fast rührend bewegt vorgetragene Begrüßungskompliment interpretierte sie dahingehend, dass er von ihrer Erscheinung wohl auch nicht enttäuscht war. Es scheint zu passen!

Beim Eintreten warf sie einen prüfenden Blick in die spiegelnde Glastür. Wir geben optisch ein schönes Paar ab! Sie musterte ihre eigene schlanke Silhouette, fand das sorgfältig ausgewählte, sportlich-lässige Outfit und dezente Make-up gelungen, auch die üppige rotblonde Mähne umschmeichelte gerade ihr hübsches Gesicht besonders vollendet. Alles passte.

Aber dann kamen schon bei der Tischwahl die ersten Irritationen auf.

Sie: »Ach, nehmen wir doch gleich den kleinen Tisch hier am Fenster, oder?«

Er: »Sie lieben also rhetorisch bestärkende Interjektionen? Das war mir schon früher aufgefallen. Aber warum auch nicht die ganze pralle Fülle an sprachlichen Möglichkeiten nutzen!«

Sie zögerte kurz, erwiderte dann sein leicht süffisantes Lächeln mit einem etwas verunsicherten Blick: »Ähh, ich meinte eigentlich nur, ob wir den Tisch hier oder den da drüben nehmen wollen.«

Er: »Nein, nein – das war von Ihnen keinesfalls im Sinne einer adversativen Konjunktion gemeint, um präzise zu sein der exklusiven Variante derselben. Sondern eindeutig – auch unterstrichen durch ihre Emphase – rhetorisch als Suggestion angelegt. Oder, wenn ich es mir genauer durchdenke, vielleicht doch eher eine inklusive Form, denn beide Tische wären ja möglich und die Alternative ist nicht kategorisch ausgeschlossen. Nun ja, natürlich nur nicht gleichzeitig. Also nun bin ich selbst verwirrt. Aber bitte, ich finde diese Ecke hier mit Blick nach draußen auch sehr schön, wie Sie.«

Sie nahmen Platz, nun erst einmal schweigend.

Ihr dämmerte bereits in jenem Moment, dass seine gesprochene Ausdrucksweise deutlich weniger sexy und faszinierend war als seine Schriftsprache und die auf sie so anziehend wirkenden Zeilen im Cyberdialog. Wenn sie dort seine Fremdwörter nicht verstanden hatte, konnte sie auch in Ruhe googeln und genoss die Vorstellung hinterher, dass sie durch ihn auf ein höheres Sprachniveau vorstoßen konnte: Ach, das ist ja reine Poesie!Nun allerdings kam sie sich etwas verloren vor.

Sie: »Ich weiß ja, Sie haben Linguistik studiert und arbeiten als Lektor in einem großen Verlag. Aber vielleicht sollten wir die Grammatik oder um was es Ihnen gerade ging, nun nicht weiter vertiefen, wir haben sicher interessantere Themen ... oder?«

Er: »Sehen Sie – schon wieder! Das ist höchst interessant, denn in Ihren bezaubernden Zeilen an mich hatten Sie dies ebenfalls getan. Bemerkenswert, zumal falls man Ihre Verwendung des oder als Modalpartikel sehen möchte. Denn dies tritt natürlich häufig im Sprachgebrauch, aber nur selten in der schriftlichen Kommunikation auf. Was übrigens lustig ist: Modalpartikel sind nicht koordinierbar, das heißt, sie sind nicht mit und oder oder verbindbar. Wie wollte man auch das oder mittels eines oder mit etwas anderem verbinden!«

Sie fand das eher weniger amüsant. Will der sich über mich lustig machen? Oder überspielt er gerade nur seine Nervosität?

Noch bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Ich darf aus Ihrer Verwunderung schließen, dass Ihnen diese Feinheiten nicht bekannt sind? Nun, es ist auch nicht ganz so trivial! Zwar ist Ihre Verwendung des oder zweifelsfrei funktional zu den nachgeschalteten Sprechhandlungsaugmentierungen zu rechnen. Wobei im Gegensatz zur Varietät nicht? und ja? ein oder? klar schon auf alternative Gehalte hindeutet. Andererseits könnte man diese Nachschaltung – um ausnahmsweise die verkürzte Formulierung zu verwenden – auch als Ihr Bemühen um eine nachträgliche Modifikation des Verständnisprozesses bei mir sehen. Der propositionale Gehalt der augmentierten Handlung wäre somit nur ein ergebnisoffener Vorschlag, und darauf wollten Sie mich freundlicherweise hinweisen. Dies würde aber marginalisieren, dass Ihre Betonung des nachgeschalteten oder ganz analog der üblichen, am Ende ansteigenden Tonlage und Modulation erfolgte. Die funktionspragmatische Diskursanalyse nennt im Kontext der Sprachtheorie hierfür viele Typologien solcher Ableitungen von sprachlichen Formen für allgemein akzeptierte gesellschaftliche Handlungspraktiken.«

Sie sah ihm an, dass er keineswegs scherzte. Ich fass’ es nicht – der Kerl spinnt doch! Erleichtert registrierte sie dann, dass sich eine Bedienung näherte und freundlich lächelnd ihre Bestellung aufnehmen wollte. Sie: »Ich nehme einen Cafè Latte und ein Stück von Ihrem Käsekuchen, bitte.« Er: »Bringen Sie mir bitte einen Cappuccino und eins von den Petits Fours dort vorne in der Vitrine. Bitte eines mit Marzipan und Schokoladenguss.«

Ohne vom Notizblock aufzublicken, in den sie die Bestellung eintrug, fragte ihn die Bedienung: »Sie möchten den Cappuccino sicher mit Milchschaum, oder?« Auf die heftige Reaktion des weiblichen Gastes vor ihr war sie nicht gefasst und zuckte zusammen, als diese laut prustend in ein leicht hysterisches Lachen ausbrach. Wie auch der Mann und einige Gäste an den Nachbartischen, starrte die Angestellte konsterniert die nun wieder um Haltung bemühte Frau an, die durch ihre vor den Mund gepressten Hände mühsam herausbrachte: »Tut mir leid, aber das war jetzt so komisch, dass ich das Lachen nicht zurückhalten konnte und mich dabei verschluckt habe. Ist ein Insider-Witz, bitte entschuldigen Sie.«

Als sich die Bedienung nach einem leicht mitleidigen Blick und Augenzwinkern zum vermeintlich bedauernswerten Begleiter dieser seltsam überdrehten Person entfernt hatte, musterte jene ihr Gegenüber und stellte fest, dass dieser anscheinend überhaupt nicht verstanden hatte, was sie so lustig fand. Das gibt’s doch nicht! Ich glaub, ich bin im falschen Film.

Er: »Ich denke, ich weiß was Sie soeben gemeint haben. Aber im gerade gegebenen semantischen Kontext war die rückversichernde Natur dieses oder? aufgrund der unverkennbaren Frageintonation nicht auffällig, sondern als Andeutung von Höflichkeit völlig normaler Sprachgebrauch. Man spricht da auch von Appreziativa oder Modulisatoren, das heißt von kommunikativen beurteilenden Modalwörtern. Wobei ich selbst dazu neige, diese Sichtweise nicht mehr dem korrekten referentiell-semantischen Standpunkt zuzurechnen. Außerdem ...«

Sie unterbrach ihn an dieser Stelle recht abrupt: »Bitte entschuldigen Sie, aber ehrlich gesagt ist dies das seltsamste Gespräch, das ich jemals bei einem ersten Treffen erlebt habe! Sie dozieren ja wie vor einem Haufen Germanistik-Studenten, die Sie mit, das muss ich zugeben, höchst speziellen und raffinierten Sprachfeinheiten beeindrucken wollen. Aber wir sollten uns vielleicht doch zunächst etwas besser kennenlernen, bevor Sie mir einen solchen Sermon zumuten, oder nicht?«

Er: »War das nun Absicht, oder ist es am Ende sogar schon eine Art Tick, auf den man Sie anscheinend noch nie hingewiesen hat? Da war es schon wieder, nun in der negierenden Variante! Ist Ihnen bewusst, dass Sie gerade diese erneute nachgestellte Interjektion fast in der Form einer Onomatopoesie intoniert haben? Das bricht ja geradezu aus Ihrem Innersten heraus! Nicht dass dies semantisch gesehen völlig abwegig wäre, nein, das nicht, denn als Wortart werden solche Lautspielereien auch unter den Interjektionen subsummiert und machen dort speziell den Untertypus der primären Interjektionen aus. Missverstehen Sie das nun aber bitte nicht, sonst heben Sie Ihr oder? noch in den Olymp genialer Alliterationen! Überhaupt ...«

Sie fuhr ihm mit einem leicht schrillen »Stopp!« dazwischen und wollte ihn zusätzlich mit einer ausschweifenden Armbewegung zum Innehalten bewegen – und fegte mit dieser Reaktion der Bedienung, die genau in diesem Moment mit den Getränken an ihren Tisch trat, das Tablett aus den Händen. Dem Scheppern und Klirren folgte schlagartige Stille im ganzen Cafe’, und alle Blicke schienen auf ihren Tisch gerichtet. Sie hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst.O Gott ... ich mach mich hier gerade zum Deppen wegen dieses Klugscheißers!

Der jungen Angestellten entfuhr nur ein kurzes, leise gemurmeltes »Oh Mann, was für eine Freakshow heute ...«, schluckte dann aber kopfschüttelnd den Rest ihres Ärgers herunter und begann, die Scherben aufzulesen. Bis sie sich dann entfernte, wohl um einen Lappen und Putzeimer zur Bereinigung der breiträumig verspritzten Kaffeelache zu holen, hatte sich die Verursacherin dieses Schlamassels wieder gefangen und erhob sich betont langsam und vorsichtig. Ein Blick ins noch immer sichtlich schockierte Gesicht ihres Begleiters, aus dem ein verzerrtes Lächeln sie wie festgefroren anstarrte, ließ ihre Stimme vibrieren:

»Sie finden das lustig, ja? Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein durchgeknallter Psychopath Sie sind? Sie halten doch wohl Ihr Benehmen nicht für normal, oder?«

Noch bevor er Worte fand, war sie durch die Tür ins Freie gestürmt und bog hektisch um die nächstgelegene Ecke. Bloß weg von hier! Und daheim werde ich diesen Depp als Erstes aus meinem Facebook-Kreis löschen und blockieren.

Drinnen im Lokal blieb ein völlig verdattert dreinschauender Mann zurück. Man sah ihm an, dass es ihm unangenehm war, wie ihn alle ringsum anstarrten. Die Bedienung hatte inzwischen routiniert den verkleckerten Boden gewischt und wandte sich ihm nun zu:

»Es gibt so Tage. Ich vermute, die Bestellung der Dame wird nicht mehr benötigt, oder? Aber Ihnen darf ich das Törtchen und den Cappuccino nochmals bringen?«

Er zögerte sichtlich. Man sah ihm an, dass es massiv in ihm arbeitete und er nur mit großem Aufwand etwas unterdrücken konnte, was aus ihm reflexhaft heraussprudeln wollte. Aber stattdessen sagte er nur:

»Ja, bitte.«

Eine Quergasse weiter war sein noch immer aufgewühltes Ex-Date inzwischen in eine Eckkneipe gestürmt und hatte sich am Tresen einen Wodka-Shot bestellt. Die Reaktion und das vertraute Lächeln des Barkeepers ließen darauf schließen, dass sie hier öfter verkehrte.

Er: »Hmm... Probleme – und das am Valentinstag? Beruflich oder privat?«

Sie: »Letzteres. Ehrlich gesagt kommt es mir gerade so vor, als wäre die Welt voller Egozentriker und es gäbe kaum noch normale Menschen. Aber das muss ich dir in deinem Job hier wohl kaum sagen.«

Dann stand der Drink vor ihr und sie verfiel in ein langes Nachdenken.

Die Erinnerung und Gedanken an das Gefasel dieses Linguisten-Schwaflers flatterten wild hin und her, losgelöst von jeglichen formalen Regeln. Im Moment wünschte sie alle orthografischen, syntaktischen und semantischen Weisheiten aus vollem Herzen zur Hölle.

Was zum Teufel soll daran intellektuell gewesen sein? Das war doch hohler Mist! Sowas braucht man doch für eine schöne und wertvolle Ausdrucksweise nicht, oder?

Als sie lange später aufbrach, hatte sie dieses gruselige Date am Valentinstag abgehakt. Und eine ganze Berufsgruppe für alle Zukunft aus ihrem persönlichen Beuteschema gestrichen.

Fleischverzehr

Michael Johannes B. Lange

Das ist nicht der Valentinstag, und ich bin ein Schwein, denkt Alex und setzt sich in das Abteil, während sich der Zug in Bewegung setzt und die zurückbleibenden Menschen immer schneller verschwinden. Oder auch eine Sau, wie man es nimmt. Aber was für ein Schwein? Weil ihr es denkt?

Alex betrachtet die Menschen im Zug: Die Frau mit dem Kind, den jungen Mann, der gerade sein Wurstbrötchen auspackt, den Mann mit dem Laptop und in den mittleren Jahren (kommt meiner Altersklasse ziemlich nahe) und den alten Herrn, der Alex nicht aus den Augen lässt, während er seine Hände über dem Knauf auf dem Gehstock gefaltet hält.

Was guckst du? Was siehst du mit deinem Röntgenblick? Man kann den Menschen nur vor den Kopf sehen. Und das ist auch gut so, besonders in meinem, in unserem Fall. Wolf, mein Wolf erwartet mich. Ich werde verzehrt in einer persönlichen Beziehung, in der jeder Tag der Valentinstag ist. Konntet ihr auch so etwas finden?

Das Internet ist noch ein wenig neu. Für die breite Masse ist es Neuland. Wir sind ins Netz gegangen. Wir haben uns gesucht und gefunden. Wir haben unsere Bilder ausgetauscht. Wolf, was hast du für große Augen? Früher hätte es länger gedauert, doch diese neue Technik ist für einen IT-Menschen eine Offenbarung, der ich gefolgt bin. Mein Auto habe ich zurückgelassen genauso wie meine Sammlung von Frida Kahlo. Ich habe reinen Tisch gemacht. Ich werde euch nicht noch mehr Umstände bereiten. Ihr werdet von mir und an mir noch genug zu schlucken haben, wenn Wolf und ich für immer vereint sind, wenn mich dieser Hochgeschwindigkeitszug mit 200 Stundenkilometern in das Herz der Republik getragen haben wird.

Der alte Herr starrt mich immer noch an. Habe ich wieder meine Lippen bewegt? Diese Selbstgespräche, ich ...

Das Kind weint. Die Mutter entblößt ihre Brust. Nicht mein Hunger, nicht meine Art, Hunger zu stillen. Ich werde nicht still. Hoffentlich werde ich bei Wolf endlich still, der offensichtlich so hungrig wie ein Wolf ist, doch ich werde seinen Hunger stillen.

Ich sehe aus dem Fenster. Es hat aufgehört zu regnen. Unter einem strahlend blauen Himmel erkenne ich die Höfe und Felder, während eine Durchsage durch die Lautsprecher quakt. Saat und Ernte, ich säe nicht, ich wurde gesät, und ich wuchs zur Ernte heran, damit neues Leben heranwächst. Ich werde leben in Wolf, und er durch mich. Gott, ich bin so müde. Ich bin so alt, ich habe schon vergessen, wie müde mich die Zugfahrten immer gemacht haben, zur Schule, zur Uni, zur Arbeit und nun jetzt. Materialermüdung auch bei mir. Der Regenbogen am Ende meines Blickfeldes ist schön. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich den alten Herrn mit seinem Stock und dem Röntgenblick. Das ist das Letzte, was ich sehe.

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