Ein Wochenende mit Tucholsky - Marc Kayser - E-Book

Ein Wochenende mit Tucholsky E-Book

Marc Kayser

4,8

Beschreibung

Am 8. Dezember 1921 sinnierte der Publizist Kurt Tucholsky in Die Weltbühne darüber, ob seine Novelle Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte, mit der er 1912 literarisches Terrain betrat, eine ebenso magische Wirkung auf Liebespaare nachfolgender Generationen ausüben würde wie auf seine Zeitgenossen. Er war skeptisch – und sollte Unrecht behalten. Der Schriftsteller Marc Kayser spinnt Tucholskys Gedanken weiter und entsendet Linn und Gilbert, ein gut situiertes Paar mittleren Alters aus Berlin, in das Rheinsberg von heute. Das berühmte Städtchen in der Mark Brandenburg ist nicht mehr der Ort von einst. Und doch blitzt er in Ein Wochenende mit Tucholsky an vielen Ecken auf. Das einzigartige Schloss des Kronprinzen Friedrich und seines Bruders Heinrich; der See mit seinen ungezähmten Ufern; die märchenhaft urwüchsigen Wälder; die herzhaft-schnoddrigen Menschen; die königlichen Geschichten von Liebe, Unterdrückung und Selbstbefreiung: All dies schenkt Linn und Gilbert jene Momente, aus denen Tucholskys Rheinsberg gewebt ist. Und so entzündet sich ein Feuer, das der Sehnsucht nach Zweisamkeit jene Wucht verleiht, nach der sich jeder Mensch sehnt.

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Marc Kayser

Ein Wochenende mit Tucholsky

Liebeserklärung an Rheinsberg

Mit Vignetten von Klaus Ensikat

Bild und Heimat

Von Marc Kayser liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:

Große Freiheit Ost (2015)

Die Rache des Petermännchens (2017)

eISBN 978-3-95958-737-2

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabb.: shutterstock / anyaivanova (oben), fotolia / tunedin (unten)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Nur solange man ernstlichen Widerstand zu überwinden hat, ist es schön zu lieben.

Søren Kierkegaard

Jede noch so kleine Ähnlichkeit der in diesem Buch agierenden Charaktere mit lebenden oder verstorbenen Personen ist unbeabsichtigt und wäre spekulativ. Alle Originalzitate sind kursiv gesetzt und aus folgender Fassung übernommen: Kurt Tucholsky: Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte, Wiesbaden: Marix Verlag 2011.

Für alle Liebenden, alle Geliebten und jene,

die auf der Suche waren oder noch sind.

Für Loui und all die anderen.

Prolog

Am 8. Dezember 1921 bringt der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky eine Vision zu Papier. Er sinniert darüber, ob sein Büchlein Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte eine ebenso magische Wirkung auf Liebespaare nachfolgender Generationen ausüben würde wie auf seine Zeitgenossen. Würde sein Rheinsberg, das berühmte kleine Städtchen in der Mark Brandenburg, zukünftig genauso verzaubern wie einst, auch wenn es sich schon längst gewandelt hätte?

Die Vision, die wir hier etwas modernisiert haben, liest sich so: Als in diesem Jahr, es ist ein junger Frühlingstag im Monat April, ein neugieriger Herr den Bücherschrank seiner schon etwas betagten Mama durchstöbert, stößt er ganz hinten auf einen »auf Bütten abgezogenen und in rotes Bockleder gebundenen« Band des Büchleins Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte von Kurt Tucholsky. Es ist die Geschichte des Paares Wolfgang und Claire, ein Exemplar der Jubiläumsausgabe, vom Verfasser signiert.

»Was ist das?«, fragt der Herr. Und die betagte Frau lässt sich den Band geben, hält ihn sich ganz nahe an die Augen und sagt, dabei liebevoll lächelnd: »Das Buch hat mir mal dein Vater selig geschenkt, als wir uns verlobten. Das ist jetzt beinahe fünfzig Jahre her … Er hat es selbst von seinem Vater übereignet bekommen. Du darfst es behalten und für deine Frau mitnehmen. Wir haben uns damals bei der Lektüre oft geliebt.«

Die Lebensbegleiterin des Herrn bewundert das Buch, blättert ein bisschen darin, zuckt zunächst mit den Achseln, liest dann aber weiter und weiter darin und sagt schließlich zu sich selbst: »Reizend.«

Und so bricht das Pärchen nach Rheinsberg auf, so wie einst Claire und Wolfgang auch.

Das Städtchen von heute ist nicht mehr das Städtchen von einst. Und doch blitzt das Rheinsberg Tucholskys an vielen Ecken auf. Das einzigartige Schloss des Kronprinzen Friedrich und seines Bruders Heinrich, der wild-romantische Park mit seinen Liebespärchen, der See mit seinen ungezähmten Ufern, die märchenhaft-urwüchsigen Wälder, die herzhaft-schnoddrigen Menschen, die königlichen Geschichten von Liebe, Unterdrückung und Selbstbefreiung: All dies ist Rheinsberg noch heute und schenkt Gilbert und Linn jene Momente, aus denen auch Tucholskys Stoff für Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte im Jahre 1911 gewebt, und 1912 veröffentlicht worden war.

Die Liebe schläft nie. Und so entzündet sie auch in diesem Büchlein ein Feuer, das der Sehnsucht nach Zweisamkeit jene Wucht verleiht, nach der sich jeder Mensch sehnt.

Tag eins, Freitag

Ankunft und Einsichten

Kapitel 1

Der Herr heißt Gilbert und fühlt sich seiner Linn – beide nähern sich der Vierzig – seit zehn Jahren eng verbunden. Und doch: seit Wochen schwelt die Liebe von einst nur noch auf kleiner Flamme, die vorhandene Wärme wirkt nur noch wie eine trübe Funzel, die Betten dröhnen nicht mehr, die Laken sind nicht mehr so zerknüllt wie sie einst waren …

Heutzutage fährt das Paar nicht – wie bei Tucholsky – mit dem Zug von Berlin über Löwenberg nach Rheinsberg. Es reist mit dem Auto, dem die Geräusche der einst schnaubenden Dampflok fehlen, und aus dessen Auspuff kein grauschwarzer Qualm entweicht, der die Vorgärten, an denen der Zug 1911 entlangdonnerte, in finstere Schwaden hüllt … Ein Zweisitzer ohne festes Dach, ein Cabriolet aus Frankreich. Herein strömt zu ihnen der Geruch der Wälder, die Geräusche des Asphalts, das Zwitschern der Vögel …

Gerade eben noch waren sie dem Fahrstuhl einer Tiefgarage unter dem dröhnenden Alexanderplatz entwichen; man hatte sich durchgekämpft an den Stadtrand, endlich die Abfahrt gefunden, die sie auf einer alten Reichsstraße mit der Nummer 96 durch das Ruppiner Land in Richtung Norden beförderte …

Der Horizont flimmerte blendend weiß … War es eine Schönheit, diese Landschaft? – Nein: da standen Baumgruppen, durch nichts ausgezeichnet, das Land wurde wellig in der Ferne, versteckte ein Wäldchen und zeigte ein anderes – man freute sich im Grunde, dass alles da war …

Es geht vorbei an Oranienburg, durch das Löwenberger Land, Gransee bleibt rechts liegen, dann kommt Menz, der Ort inmitten kühler Wälder und glitzernder Seen … Dann der Stechlinsee, rechter Hand. Fontanes Paradies, geflossen in ein gleichnamiges Buch, heute Weltliteratur.

»Du?«, fragt Linn ihren Gilbert, während sie das in einen roten Ledereinband gefasste Büchlein auf ihrem Schoß hält, »Du? Hast du schon mal darüber nachgedacht, was das Pärchen von damals wohl alles aus dem Zug nicht sah, was wir heute auf unserem Weg alles entdecken können?«

Sie ist Künstlerin, malt wilde Landschaften auf Leinwände, behaut Steine und stellt sie in Gärten ihrer Kundschaft auf. Wilde Brocken aus Granit. Nie Gesichter, nur Brocken.

»Züge rauben uns die Welt«, antwortet Gilbert, »sie fahren nur auf vorgegebenen Bahnen.« Er ist Manager bei der Bahn, er weiß, wovon er spricht.

»Zugführer müssten selbst entscheiden können, ob sie geradeaus rollen oder Umwege fahren«, sagt sie.

»Dafür bräuchten wir Umwegschienen«, antwortet er.

Dabei fährt sein Auto ebenfalls brav geradeaus. Eben passieren sie ein weites Feld mit jungem Mais, ein Meer aus sattem Grün mit gelben Tupfen.

»Autos könnten aber Umwege fahren. Straßen gibt es schließlich genug. Die Menschen sollten viel mehr anhalten, aussteigen und einfach in den Wald hinein laufen und … und … Liebe machen …«

Gilbert geht darauf nicht ein. Stattdessen:

»Die Straße, auf der wir fahren, ist sehr alt«, sagt er. »Von 1932.«

»Ob Tucholsky sie je kennenlernte?«, fragt sie.

»Wohl kaum«, sagt er. »Er starb 1935 in Göteborg und hat die letzten Jahre im Exil verbracht.«

Aus einer schmalen Ablage blinkt ein Lichtchen seines Mobiltelefons. Auf einem Bildschirm wird der Weg nach Rheinsberg in Millionen Farben angezeigt.

»Das hier«, tippt sie auf den Rand des Bildschirms, »ist der Grund, warum niemand mehr anhält, aussteigt und einfach in den Wald hineinläuft. Der Mensch wird navigiert.«

Gilbert schweigt dazu, weil er sich kennt. In seiner Welt der Arbeit und häufig auch in der Freizeit haben ein Computer, ein Handy und das Internet das Regime übernommen. Jetzt einen Streit darüber vom Zaun zu brechen, warum er so lebt, wie er lebt, würde das Ziel gefährden, das er sich selbst für das Wochenende gesetzt hat: Linn und sich mit neuen Augen zu sehen, sich nahe zu sein, sich zu lieben. Abstand von der Großstadt zu finden.

»Ich kann anhalten und wir laufen in den Wald hin­ein«, sagt er. Die Bäume stehen still und dunkel am Straßenrand, ein Wald wie aus einem geheimnisvollen Märchen der Brüder Grimm.

»Ach, lass uns nur weiterfahren.« Linn greift nach dem schmalen Bändchen Tucholskys und blättert darin. »Ich will endlich ankommen.«

Kapitel 2

Über die Berliner Straße rollen sie hinein ins Städtchen, überholen eine Pferdekutsche, in der Touristen auf Nostalgiefahrt hocken, hier und da die Hände in die Luft gestreckt: »Guck, dort! Das Schloss!«

»Und hier! Da steht ›Post‹ am Haus! Aber typisch, keine Post mehr drin!«

»Herrje, das Eis ist aber teuer …«, da rollt die Kutsche an der Gelateria vorbei, »Ein Euro zwanzig die Kugel … Das war früher aber …«

Doch der Wind verweht die Worte, die an die Ohren des Paares so schnell gelangt waren, wie sie nun wieder zerstoben sind …

Gilbert und Linn stoppen, suchen einen Parkplatz. Noch ist Zeit für einen ersten Gang durch das Zen­trum des Städtchens; ihr Wirt hat sie auf siebzehn Uhr gebucht. Es sind noch mehr als zwei Stunden bis dahin … Das Cabriodach schnurrt in die Versenkung.

Durch die Schlossstraße zum Park des Prinzen Friedrich und seines Bruders Heinrich sind es nur dreihundert Meter. Die Straße führt direkt in den Park des friderizianischen Rokokoschlosses, das der damals wie heute berühmte Baumeister Knobelsdorff zwischen 1736 und 1740 zu jener Vollendung brachte. Gilbert und Linn passieren hier einen Kiosk, dort ein Geschäft für Mode, dort eines für Brillen. Und eine Apotheke, eine Fleischerei, die schöne Kirche St. Laurentius aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie setzen sich auf eine Bank aus rissigem Holz. Über ihnen wippen Spatzen auf dünnen Ästchen des jungen Triebes einer alten Linde.

Den alten Mann, der gerade im Begriff ist, an ihnen vorbeizuschlurfen, fragen sie:

»Wo ist das Café Tucholsky?« Sie hatten darüber gelesen, dass man dort einen guten Kaffee und schmackhaften Kuchen bekommt und es eine Terrasse direkt am See gibt.

Der Mann geht gebeugt, das Gesicht voller Geschichte, in der Hand einen Stock, die Beinkleider glatt, aber das karierte Hemd erstaunlich voller Knitter. Er war plötzlich vor ihnen aufgetaucht, wie aus dem Nichts.

»Vor einem Jahr«, sagt der Mann, »da kehrten wir noch nach einem Spaziergang im Schlosspark in das Café ein, von dem Sie reden. Doch das ist nun vorbei. Die Wirte haben aufgegeben, wie so viele Wirte hier. Niemand kann nun mehr die Aphorismen Tucholskys lesen, die an den Wänden aufgemalt waren.«

Traurig klingt der alte Mann, denken die beiden Großstädter, sehen, wie er sich auf seinen Stock stützt, seine Augen in die Sonne blinzeln und seine Mundwinkel zucken, als ströme in ihm die Geschichte Rheinsbergs vorbei.

»Warum?«, fragt Gilbert.

»Alles hat wohl seine Zeit«, sagt der Alte und sieht betrübt dabei aus. »Was früher einmal war, ist vorbei. Und was vorbei ist, kommt nicht wieder. Adieu.« Er wendet sich zum Gehen.

»Bleiben Sie doch noch«, sagt Linn und streckt eine Hand nach ihm aus.

»Warum?«, fragt nun der alte Mann.

»Erzählen Sie uns mehr von dem, was Sie wissen«, sagt Linn.

Der Alte stützt sich auf den Stock, seine Augen wirken jetzt erstaunlich jugendlich.

»Darf ich mich setzen?«

Gilbert und Linn rücken ein Stück. Der Mann lässt sich stöhnend nieder.

»Was tun Sie hier?«, fragt er.

»Wir sind auf den Spuren von Claire und Wolfgang. Das Pärchen aus dem Bilderbuch für Verliebte. Kennen Sie es?«, fragt Linn.

Der Alte murmelt etwas Unverständliches, nimmt Gilbert und Linn dann ins Visier und sagt: »Wie sollte ich es nicht kennen? So wie jeder hier. Dann hat sich Tucholsky also getäuscht …«

»Getäuscht?«, fragt Linn neugierig, »wie meinen Sie das?«

»Tucholsky hat sich zum Erscheinen der fünfzigtausendsten Ausgabe von Rheinsberg gefragt,