Ein Zuhause für immer - Gill Lewis - E-Book
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Ein Zuhause für immer E-Book

Gill Lewis

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Beschreibung

Eine anrührende Familiengeschichte Wenn das Jugendamt vorbeikommt, räumt Scarlet die ganze Wohnung auf – nur ihr eigenes Zimmer macht sie unordentlich, damit es authentischer wirkt. Und auch sonst führt Scarlet kein normales Teenagerleben. Sie kümmert sich um ihren autistischen Bruder Red, für den sie die einzige Bezugsperson ist. Das geht so lange gut, bis ihre Mutter mit einer Zigarette in der Hand einschläft. Zwar werden alle aus der brennenden Wohnung gerettet, doch nun werden die Geschwister getrennt. Scarlet kommt in eine liebevolle Pflegefamilie. Aber wo ist Red? Scarlet weiß genau, dass ihr Bruder ohne sie verloren ist.

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Seitenzahl: 204

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Gill Lewis

Aus dem Englischenvon Siggi Seuß

Für Big Nose, der es fand und nach Hause brachte

»Sei vorsichtig, Red«, sage ich.

Er sieht mich mit weit geöffneten Augen an. Sein rotes Haar leuchtet in der Abendsonne.

Ich richte den Blick auf den freien Raum zwischen uns. »Ich kann Krokodile sehen.«

»Du meinst Kaimane«, sagt er. »Wir sind nicht in Afrika.«

»Okay, Kaimane«, gebe ich zurück.

Red sieht den Reptilien zu. Er beobachtet, wie sie sich unter Wasser bewegen, wie sich das Wasser um ihre Körper kräuselt und Luftbläschen an die Oberfläche steigen.

»Beeil dich«, drängle ich, »sonst haben wir keine Zeit mehr für eine Geschichte.«

Red ballt die Hände zu kleinen Fäusten und öffnet sie wieder.

Er denkt darüber nach und plant jede einzelne Bewegung im Kopf. Er braucht fünf Schritte, um über diesen grünen Lagunenteppich zu kommen. Er muss mit seinen Fußsohlen nur die braunen, rauen Flecken berühren, bevor er wieder sicheres Ufer erreicht. Ich drücke die Daumen, dass er es beim ersten Mal schafft. Falls es danebengeht, wird er ganz von vorne, im Badezimmer, anfangen und seine Zähne noch einmal putzen. Letzte Nacht haben wir drei Anläufe gebraucht. Ich habe mich auf dem Sitzsack neben dem Bett niedergelassen und ziehe den Überwurf zurück. Seine Fleecedecke ist mit Pfauenfedern gemustert. Red macht fünf Schritte und hüpft ins Bett. Er dreht sich erst auf die linke Seite, dann auf die rechte und drückt die Hände unter seinem Kinn zusammen. Ich ziehe die Bettdecke über ihn, sodass nur noch Haare und Augen hervorlugen.

»Also, welche Geschichte ist heute Abend dran?«, frage ich.

»Die Caronisümpfe«, sagt er.

Ich lächle, weil es immer nur diese eine Geschichte gibt, dimme das Licht der Nachttischlampe und fange an. »Eines Tages werden wir in einem Flugzeug sitzen und hinauf in den weiten blauen Himmel fliegen. Wie Vögel werden wir uns fühlen. Wir fliegen hoch über die Straßen und Häuser hinweg, über Big Ben, über The Eye und über den Zoo von London. Wir überqueren den ganzen Atlantischen Ozean, bis hinüber nach Trinidad.«

»Und was passiert dann?«, fragt Red.

»Wir nehmen uns ein kleines Boot und fahren hinaus zu den Caronisümpfen«, sage ich.

»Nur du und ich?«, fragt Red.

»Nur wir zwei«, antworte ich.

Als er lächelt, bilden sich in seinen Augenwinkeln Fältchen. Er sieht das tiefgrüne Gewässer vor sich und das Dickicht des Mangrovendschungels.

»Und dann warten wir«, fahre ich fort, »wir warten, bis die Sonne untergeht und sich die Berge der Northern Range in dunkelblaue Farbe hüllen.«

»Nur du und ich?«, fragt er noch einmal.

»Nur wir zwei«, sage ich. »Und wenn das Licht vom Himmelszelt verschwunden ist, dann beobachten wir, wie sie zu Hunderten, zu Tausenden kommen. Wir sehen zu, wie sie sich in den Bäumen niederlassen, als seien sie hell leuchtende rote Laternen vor dem dunklen Nachthimmel.«

Red zieht seine Decke fester um sich. »Und wir sind immer zusammen?«

»Immer«, sage ich. »Nur du und ich in diesem kleinen Boot. Und wenn es Nacht wird, schauen wir zu, wie der Rote Ibis in die Caronisümpfe zurückkehrt.«

 

»Nacht, Red«, flüstere ich.

Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge zu. Ich ziehe sie langsam zu, weil ich die Taube nicht erschrecken will, die draußen auf dem Fenstersims sitzt. Sie sitzt in einem verknäuelten Nest aus Hölzchen und Plastikteilchen, die blassgrauen Flügel an den Körper gelegt und das Köpfchen im Schlaf an die Brust geschmiegt. Versteckt unter ihrem weichen Federkleid liegt das kleine weiße Ei, das Red jeden Tag bewacht.

Red öffnet ein Auge und blickt mich kurz an. »Ist noch nicht ausgeschlüpft.«

»Wird schon noch«, sage ich.

»Wann?«

Ich neige mich über ihn. »Wenn’s bereit ist«, flüstere ich. »Und jetzt pssst! Schlaf!«

Seine Augen fallen zu, ich bleibe sitzen und sehe zu, wie er langsam in den Schlaf hinüberdämmert. Reds kleine Stirnrunzeln entspannen sich und lassen ihn wieder wie einen Vierjährigen aussehen, obwohl er schon fast acht ist. Ich falte seine Schulkleidung über den Stuhl, lege die Legosteine zurück in die Schachtel und packe sie weg. Dann setze ich mich wieder zu ihm und streichle Reds Haar. So könnte es ewig sein mit Red und mir. Ich will nicht, dass sich irgendetwas ändert. Ich möchte nicht mal dran denken, was der nächste Tag bringen könnte.

»Scarlet!«

Mum ist in der Küche und ruft nach mir. Sie schlägt Schranktüren zu, reißt Schubladen auf und schließt sie wieder.

»Scarlet, wo bist du?«

Ich ziehe Reds Zimmertür hinter mir zu und sehe Mum in Morgenmantel und Hauslatschen. Auf dem Küchentisch steht eine Tasse Tee. Mums langes dunkles Haar fällt zottelig und verknotet auf ihre Schultern.

»Ich hab nicht gehört, dass du aufgestanden bist«, sage ich. »Im Backofen gibt’s noch etwas Pastete für dich.«

Mum öffnet noch eine Schublade und wühlt in dem Durcheinander von Schlüsseln, Gummibändern und Kleinzeugs, von dem wir nicht wissen, wo wir es sonst unterbringen sollen. Dann knallt sie die Sachen auf die Arbeitsplatte neben sich.

»Wonach suchst du denn?«, sage ich.

Mum zieht die ganze Schublade heraus und kippt den Inhalt auf den Tisch. »Meine Tabletten. Hast du sie gesehen?«

»Ich hab sie im Badezimmerschrank weggesperrt.«

Mum starrt mich an. »Warum das?«

»Wir müssen sie irgendwo aufbewahren, wo Red nicht drankommt. Mrs Gideon wird das überprüfen. Sie kommt morgen. Hast du das vergessen?«

»Oh!«, sagt Mum. Sie legt die Stirn in Falten und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du meinst den Pinguin?«

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und auch ich muss lächeln. Mrs Gideon ist die Sozialarbeiterin, die uns nachschnüffelt. Red nennt sie alle Pinguine. Ich weiß, was er damit sagen will. Diese Sozialarbeiter sind wie die Pinguine im Zoo, so wie sie herumstolzieren, mit ihren Schnäbeln klappern und überall herumstochern.

Mrs Gideon bittet mich immer wieder, sie Jo zu nennen. Sie möchte beim Vornamen genannt werden, damit wir »eine Beziehung gegenseitigen Vertrauens« aufbauen können. Aber ich spreche sie mit »Mrs Gideon« an, weil ich nicht will, dass sie denkt, sie sei meine Freundin.

»Sie kommt um zwei«, sage ich und beobachte Mum genau. Sie lag den ganzen Tag im Bett, und ich weiß, dass sie die ganze Nacht wach sein wird – genau wie letzte Nacht. Sie wird in ihrem Zimmer auf und ab gehen oder am Fenster sitzen und hinausstarren, über die Stadt blicken und den Zügen lauschen, die durch den Bahnhof rattern. Morgen Nachmittag wird sie dann wahrscheinlich wieder im Bett liegen.

Mum nickt. »Ich werde da sein, versprochen«, sagt sie.

»Gut«, sage ich. Aber eigentlich ist es nicht gut, weil Mum ja nicht wirklich weggeht. Sie verlässt die Wohnung nur, um ihre Tabletten und ihre Zigaretten zu besorgen. Ich möchte lediglich, dass sie aufgestanden und angezogen ist, wenn Mrs Gideon kommt.

Ich schalte den Herd an und kippe gefrorene Erbsen in eine Pfanne, während Mum ihre Tabletten holt. Wenigstens nimmt sie sie. Das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen. Vielleicht geht es ihr morgen gut.

Mum setzt sich hin, nimmt drei Pillen in den Mund und spült sie mit einem Schluck Tee hinunter. »Du hast die Wäsche gemacht!«, ruft sie erstaunt.

Ich setze mich neben sie. »Ich hab die Betttücher gewaschen, obwohl sie bis morgen nicht trocknen werden. Staub gesaugt hab ich auch«, sage ich. »Du weißt ja, wie pingelig Pinguine sein können!«

Mum beugt sich zu mir und legt ihre Hände über meine. »Wir kriegen das schon hin, mach dir keine Sorgen.«

Ich lächle und mir wird ganz warm ums Herz. Sie schaut mich an. Heute bin ich für sie nicht unsichtbar. »Red hat schon wieder eine Feder gefunden«, sage ich.

Mum nimmt noch einen Schluck Tee. »Was für eine?«

»Die Schwanzfeder einer Elster«, sage ich, »eine ganz schön lange. Sie ist rabenschwarz, aber im Sonnenlicht funkelt sie grün. Er hat sie auf dem Spielplatz gefunden. Wenn du magst, bring ich ihn dazu, sie dir zu zeigen.«

Mum lächelt zwar, aber sie hört nicht wirklich zu. »Wollen wir heute Abend nicht was zusammen machen, nur du und ich? Wir könnten uns eine DVD ansehen«, sagt sie. »Würde dir das gefallen?«

Ich nicke, denke aber an die Hausarbeiten, die ich bis morgen erledigen muss. »Leg sie doch schon mal ein, ich bring erst noch den Müll raus«, sage ich.

Ich nehme den vollen Beutel aus dem Mülleimer und durchforste den Kühlschrank nach alten Lebensmitteln. Ich werfe ein Stück verschimmelten Käse weg, das Mrs Gideon möglicherweise gegen uns verwenden könnte. Bei ihrem letzten Besuch bot sie an, Milch für Mums Tee aus dem Kühlschrank zu holen. Aber ich weiß, dass sie nur herumschnüffeln wollte. Ich sehe, wie sie mit ihren Blicken unsere Wohnung durchleuchtet, auf der Suche nach etwas, das sie in ihren Bericht schreiben kann. Jetzt sind nur noch eine angebrochene Tüte Milch und ein halbes Brot im Kühlschrank. Kann durchaus sein, dass sie Mum deshalb vorwirft, uns hungern zu lassen. Es ihr recht zu machen, ist wirklich schwer.

»Dauert nicht lange!«, rufe ich.

Ich schleppe den Müllsack die Treppe hinunter und meine Tritte hallen durchs leere Treppenhaus. Der Aufzug ist wieder mal defekt, aber ich benutze ihn sowieso furchtbar ungern. Dort drin stinkt es immer nach Bier und Pisse, und du weißt nie, wer mit dir fährt. Und die Stufen machen mir nichts aus. Ich wohne gern ganz oben. Vom achten Stockwerk aus können wir den Bahnhof sehen, die Züge und all die Häuser dahinter. Red tut so, als seien wir Vögel und die Wohnung wäre unser Nest.

So fühlt es sich auch für mich an.

Hier oben sind wir sicher.

Unerreichbar.

Ich nehme drei Stufen auf einmal. In der Wohnung der Kanwars auf der sechsten Etage plärrt der Fernseher. Auf der ersten Etage höre ich, wie Pat und Brian miteinander streiten. Im Erdgeschoss ist es still. Die Wohnung steht leer und der Eingang ist zugenagelt. Draußen drehen Chalkie und seine Bande Runde für Runde auf ihren Rädern und flitzen den Gehsteig entlang. Ich halte mich im Schatten, laufe um das Haus herum und schleudere den Müllsack in den Container. Hinter der Mauer stehen die Züge. Und die Donutbuden. Die Abendluft riecht nach Diesel und Zucker. Die Sonne ist untergegangen und hinter dem orangefarbenen Lichtschleier der Straßenlampen kann ich schon die Sterne sehen. Auch das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen.

 

»Titanic«, sagt Mum.

»Okay«, sage ich. Das ist ihr Lieblingsfilm. Ich hole uns eine Decke und Papiertaschentücher, weil ich weiß, dass sie sie braucht.

Mum kuschelt sich samt ihrem Teller mit Pastete und Erbsen aufs Sofa. Ich schlüpfe unter die Decke und lehne mich an Mum. Die Bilder flackern über den Bildschirm, aber ich gucke nicht zu. Egal, schließlich habe ich den Film schon hunderttausend Mal gesehen. Ich denke an morgen. Ich gehe in meinen Gedanken noch einmal die Checkliste durch: Küche sauber gemacht, Toilette gereinigt, Wäsche gewaschen, Betten neu bezogen, fürs Abendessen Fischstäbchen und Pommes ins Gefrierfach gelegt. Ich habe sogar mein Zimmer unaufgeräumt gelassen, damit Mrs Gideon glaubt, ich sei die Chaotin und Mum habe all die Schwerarbeit geleistet. Auch Reds Federn habe ich unterm Bett versteckt. Ich will nicht, dass irgendetwas passiert, das alles wieder vermasselt. Der Pinguin beobachtet uns mit wachem Auge.

Ich nehme Mums leeren Teller, spüle ihn ab und stelle ihn zum Trocknen auf das Abtropfgitter. Als ich ins Zimmer zurückkehre, wird gerade der Titelsong gespielt. Die beiden Helden stehen mit ausgestreckten Armen am Bug des Schiffes, als seien sie Vögel. Mums Lippen formen ihre Lieblingszeile des Liedes und ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Sie starrt auf das Foto im Silberrahmen, das sie in den Händen hält. Ich reiche ihr die Taschentücher, kuschle mich an sie und betrachte das einzige Bild, das sie von meinem Dad hat. Er lächelt in die Kamera. Hinter ihm, am Abendhimmel, zerstiebt ein Schwarm Roter Ibisse. Daher habe ich meinen Namen. Scarlet Ibis Mackenzie. Scarlet Ibis – so heißen die leuchtend roten Vögel, die in den Caronisümpfen unterhalb der blauen Berge der Northern Range in Trinidad leben. Von dort kommt mein Vater. Von Trinidad. Mum sagt, dass er eines Tages zurückkommen, uns finden und uns hier rausholen wird. Sie und Red und mich.

Ich starre auf das Bild meines Dads. Er blickt in die Kamera, als würde er mich direkt ansehen. Mum sagt, ich hätte seine Augen und sein Lächeln. Sie sagt, dass auch meine Hautfarbe wie seine wäre. Wie die Farbe von zarter Karamellcreme. Als ich klein war, sagte sie immer, sie würde mich gerne auffressen. Aber meinen Dad habe ich nie gesehen. Außer auf diesem Foto. Auch Reds Daddy habe ich nie gesehen. Reds Haare sind leuchtend orange und er hat die gleiche Hautfarbe wie Mum, weiß, weiß und noch einmal weiß. Wir sehen nicht gerade wie Bruder und Schwester aus. Manchmal glaube ich, dass das ein Teil unseres Problems ist. Mag sein, dass es hilfreich wäre, wenn wir uns ein bisschen ähnlicher sehen würden. Vielleicht könnten wir dann zusammenbleiben. Vielleicht würde dann niemand versuchen, uns auseinanderzureißen.

»Scarlet … wach auf!«

Ich spüre, wie mir die Decke weggezogen wird. Ich halte sie fest und vergrabe meinen Kopf im Kissen.

»Scarlet!«

Ich öffne die Augen und versuche, den Schlaf wegzublinzeln. Der Digitalwecker zeigt 6:15. »Schlaf weiter, Red«, sage ich. »Viel zu früh!«

Red zieht mir die Decke weg. Er hüpft auf der Stelle und kann nicht stillhalten. »Das Ei! Es ist so weit, Scarlet. Komm schon!«

Ich wickle mich in meine Decke ein und folge ihm in sein Zimmer. Draußen bringt eine blassgraue Dämmerung wieder Farbe über die Hausdächer. Ein leuchtend goldenes Band zwischen den Wolken kündigt die Sonne an.

Red geht am Fenster in die Hocke und presst die Nase gegen die Scheibe. »Scarlet, schau mal!«

Ich knie mich neben ihn und blicke in das Gewirr von Stöckchen und Plastikteilchen. Die Taubenmutter ist nirgendwo zu sehen, aber das kleine weiße Ei ist in zwei Hälften zerbrochen. Ich kann das Küken sehen, wie es zusammengekauert, zusammengedrückt und gequetscht in den Schalen liegt und Mühe hat, herauszuschlüpfen.

»Es klemmt fest, Scarlet!« Red öffnet das Fenster bis zum Sicherungsbügel und versucht, den Arm durch die schmale Lücke zu zwängen. »Es braucht Hilfe!«

Ich ziehe Red vom Fenster zurück. »Das schafft es schon, Red. Das Vögelchen muss das selbst machen.« Ich wickle auch Red in meine Decke ein und wir sitzen beide da und beobachten, wie sich das Küken den Weg in die Welt freikämpft. »Siehst du?«, sage ich und drücke Red fest an mich. »Der Kampf macht es stärker. Manchmal sind es Vögelchen wie das da, die später am höchsten fliegen.«

Das Küken sieht nicht wie eine Taube aus, sondern irgendwie urzeitlich, wie eine eigenartige Mischung aus Ente und Dinosaurier, mit graurosa Haut, stummeligen, federlosen Flügeln und einem großen Schnabel. Es sitzt auf seinen Beinen, sperrt den Schnabel auf und will Futter. Selbst jetzt, wo es erst eine Minute alt ist, glaubt man kaum, dass es jemals in das kleine Ei gepasst hat. An Kopf und Körper kleben nasse Federchen, aber als die Sonne durch die Wolken bricht, trocknen die Federn zu einem orangefarbenen Flaum.

Ich lächle und stupse Red in die Rippen. »Weißt du, an wen mich das Vögelchen erinnert?«

Red runzelt die Stirn. »An wen?«

»An dich«, sage ich.

Red beugt sich mit ernstem Gesicht näher zum Fenster. »Findest du wirklich?«

»Finde ich wirklich«, sage ich. »Wir sollten es ebenfalls Red nennen.«

Red beobachtet, wie das Küken versucht, mit seinen stummeligen Flügeln zu flattern. »Aber ich bin Red«, sagt er und deutet auf das Vögelchen, »und er ist Little Red.«

In meinem Zimmer plärrt der Wecker. »Es wird Zeit«, sage ich, »mach dich für die Schule fertig.«

Red murrt. »Heute nicht.«

»Little Red wird es gut gehen, bis du zurück bist. Schau … da kommt die Taubenmutter, um ihn zu füttern!«

Die Taubenmutter landet in einer Wolke aus Flaumfedern, stolziert den Fenstersims entlang, untersucht ihr Küken und befestigt das Nest mit Hölzchen. Red beobachtet, wie das Küken seinen Schnabel in ihren Rachen steckt und eine wässrige Flüssigkeit trinkt, die die Mutter aus ihrem Magen hochzieht. Das sieht unappetitlich aus, aber Red ist hingerissen.

»Komm jetzt, Red«, sage ich, »Zeit, dich anzuziehen.«

»Er könnte runterfallen«, antwortet Red.

Das Nest klemmt in einer Ecke des Fenstersimses, einen kleinen Hüpfer von der Kante entfernt. »Tauben bauen ihre Nester schon seit Ewigkeiten an Häusern und Klippen«, sage ich. »Ihm wird nichts passieren.«

Ich helfe Red beim Zuknöpfen und Sockenanziehen und sehe anschließend nach Mum. Die Vorhänge sind zugezogen und sie schläft fest. Das Zimmer riecht nach abgestandenem Rauch, also öffne ich die Fenster, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen. Der Aschenbecher auf dem Nachttischchen ist voller Zigarettenkippen. Als ich gestern ins Bett ging, war er noch leer. Ich schreibe eine Nachricht und lege sie ihr ans Bett: Mrs Gideon kommt heute um 14 Uhr. Wir lieben dich! S & R xxx

Ich hoffe nur, sie wacht rechtzeitig auf, um sie zu lesen.

 

Die letzte Schulstunde des Tages. Ich kann mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Geografie bei Mr Barnes. Oder eher so etwas wie Geografie bei Amar und Chalkie, weil sie die ganze Zeit herumalbern und Papierkügelchen nach vorne schnipsen. Mr Barnes ist nicht mehr Herr der Lage. Unsere Siebte wird im Lehrerzimmer als Albtraumklasse gehandelt, was sich Amar und Chalkie als persönliches Verdienst anrechnen.

Aber ich denke nicht an Geo oder an Amar und Chalkie. Ich muss an Mum denken und daran, dass Mrs Gideon genau in diesem Augenblick in unserer Wohnung ist. Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, ein paar Lebensmittel für den Kühlschrank einzukaufen. Jetzt ist er leer. Mum hat den Rest Brot in der Nacht aufgegessen, also musste ich Red zum Frühstück ein Schinkensandwich vom Bahnhofskiosk kaufen. Bis zu Mums Sozialhilfezahlung nächste Woche habe ich weniger als zehn Pfund zur Verfügung und ich will das Geld für den Zoo nicht anrühren. Ich habe Red versprochen, dass wir am Sonntag dorthin gehen.

Amar und Chalkie und der Rest der Klasse sind aufgesprungen und drängeln sich durch die Tür nach draußen, noch bevor die Schulglocke aufhört zu läuten. Mr Barnes sieht so aus, als habe er eben einen Tsunami überlebt – fassungslos und erleichtert, dass er wieder eine Unterrichtsstunde überstanden hat. Ich dränge mit den anderen ins Freie, schultere meine Tasche und renne durch dunkle Gassen in Richtung von Reds Schule. Das geht schneller als im Freitagsverkehr den Bus zu nehmen. Außerdem will ich Sita und ihrer Mum nicht begegnen. Ich will nicht, dass sie ihre Nasen in unsere Angelegenheiten stecken.

Ich finde Red im Hort in der Turnhalle. Die anderen Kinder spielen Softball, Red jedoch sitzt, wie üblich, allein herum. Sein Lernbetreuer kommt nur vormittags. Red ist am Fenster und zeichnet mit seinen Händen Schattenfiguren auf den Boden. Ich stehe hinter ihm und sehe zu, wie sein Schattenvogel die Flügel ausbreitet und losfliegt. Unbändig und frei schwingt er sich über die Streifen aus Sonnenlicht in die Höhe. So sehe ich etwas von Reds Wesen, das außer mir niemand sehen kann.

»Red?«, sage ich.

Er reißt die Hände auseinander und wirbelt herum. Über seine Stirn zieht sich eine tiefe Falte. Der Schattenvogel ist verschwunden.

»Komm, Red, lass uns nach Hause gehen.«

Mrs Evans, die Putzfrau, hält uns auf dem Weg nach draußen auf. Ich glaube, sie wohnt in der Schule. Sie ist so eine Art Mädchen für alles: Kantinenfrau, Schülerlotsin, Putze. Irgendwie ist sie immer da.

Sie lehnt sich auf ihren Wischmopp. »Gut, dass ich dich erwische, Scarlet.« Sie schaut sich um und versichert sich, dass sie niemand hören kann. »Ray hat am Sonntag Frühschicht an der Zookasse«, sagt sie. »Wenn du’s schaffst, komm vor zehn hin.«

Ich lächle und nicke. Seit Red auf der Schule ist, hat Mrs Evans eine Schwäche für ihn. Sie hat Reds Faszination für Vögel gesehen und wie sie ihm über den ganzen Schulhof folgen. Sie hat ihren Mann überredet, dass er uns in den Zoo einschleust. Und seitdem lässt uns Ray einmal im Monat rein, ohne dass wir Eintritt zahlen müssen. Mrs Evans wuschelt durch Reds Haare. »Geht’s dir gut heute, Red?«

Red versteckt sein Gesicht in meinem Mantel und drückt sich an mich.

»Ihm geht’s gut«, sage ich.

»Stimmt’s, du bist in deiner eigenen Welt, Red?«, sagt sie. »Schätze mal, das ist der beste Platz.«

Ich nehme Reds Hand. »Wir gehen mal besser«, sage ich. »Vielen Dank, und sagen Sie Ray, dass wir rechtzeitig da sein werden.«

Auf dem Weg nach Hause machen wir im Express-Supermarkt halt. Ich kaufe Käse und Brot und ein bisschen Keksbruchware aus der Sonderangebotskiste. Fünf Pfund sechzig bleiben übrig. Die müssen fürs ganze Wochenende reichen. Red möchte ein bisschen Vogelfutter für die Taubenmutter kaufen, aber das ist zu teuer, und ich schlage ihm vor, dass wir ihr stattdessen Brotkrümel geben. Im Treppenhaus nehme ich Red seine Schultasche ab und trage sie hoch in unsere Wohnung. Ich frage mich, was der Pinguin in seine Beurteilung geschrieben hat. Den ganzen Tag über habe ich die Daumen gedrückt, dass es Mum gut geht.

Ich stoße die Wohnungstür auf und runzle die Stirn, weil nicht zugesperrt ist. Normalerweise schließt Mum die Tür ab.

Ich drücke die Tür noch weiter auf. »Mum?«

»Scarlet!« Mrs Gideon dreht sich um und blickt mich an. Ein Lächeln zieht über ihr Gesicht. Mit ihrem schwarzen Hosenanzug und ihrer riesengroßen Höckernase sieht sie tatsächlich wie ein Pinguin aus.

Hinter ihr sitzt Mum am Tisch. Sie trägt ein grünes Shirt und Jeans. Ihr Haar ist zu einem hübschen Pferdeschwanz gebunden. Wahrscheinlich hat sie sogar ein bisschen Make-up aufgelegt.

Mrs Gideon strahlt auch Red an. »Ich war heut ein bisschen spät dran, aber so kann ich wenigstens euch alle sehen.«

Red hat seine Augen auf den Boden gerichtet und lehnt sich an mich. Ich stupse ihn. »Warum bringst du nicht deine Tasche in dein Zimmer?«

Ich lege die Einkäufe auf den Tisch und blicke zwischen Mum und Mrs Gideon hin und her.

Mum lächelt. »Ich hab Mrs Gideon dein Schulzeugnis gezeigt und ihr gesagt, was für ein kluges Mädchen du bist.«

Ich werfe einen flüchtigen Blick auf den Pinguin. Sie hat mich schon ausgestochen, indem sie Mum benutzt hat, um in meinen Zeugnissen herumzuschnüffeln.

»Du bist ja sehr fleißig«, sagt Mrs Gideon. Sie beugt sich nach vorn und zwinkert mir zu. »Vielleicht könntest du ein bisschen was von deiner Energie darauf verwenden, dein Zimmer sauber zu halten. Deine Mum könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.«

Ich senke meinen Blick und lächle. »Ich werd mich bemühen«, sage ich, aber eigentlich will ich aufspringen und einen Freudentanz aufführen. Ich habe es geschafft, den alten Pinguin zu täuschen, wenigstens dieses Mal!

Als Mrs Gideon geht, schließe ich hinter ihr die Tür und hänge die Kette ein. Es fühlt sich an, als hätte unsere Wohnung die Luft angehalten. Ich lehne meinen Kopf an die Tür und spüre, wie mich eine Welle der Erleichterung durchströmt.

Mum zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Gesäßtasche ihrer Jeans.

Ich setze Teewasser auf und nehme neben ihr Platz. »Was hat sie gesagt?«

Mum klopft mit der Zigarettenschachtel auf den Tisch. »Das Übliche. Sie hat ’ne Menge Fragen gestellt.«

»Was für Fragen?«

»Alle möglichen«, antwortet Mum. »Besonders über Red. Sie wollte alles über Red wissen.«

Ich spüre, wie mein Gaumen trocken wird. »Red geht’s gut«, sage ich, »einfach nur gut. Du hast ihr das doch gesagt, oder? Du hast ihr doch gesagt, dass es Red gut geht?«

Mum nimmt eine Zigarette und dreht sie zwischen ihren Fingern. »Sie wollte wieder alles über die Federn wissen.«

»Du hast ihr doch nichts von den Federn erzählt?«

Mum blickt mich finster an. »Natürlich hab ich. Ich hab sie ihr sogar gezeigt. Red hat sie unters Bett gelegt.«

Ich springe auf und werfe dabei den Stuhl um.

»Scarlet!«

Aber ich höre nicht zu und renne durch den Flur in Reds Zimmer.

»Red?«, flüstere ich.

Red sitzt auf seinem Bett und umklammert mit den Händen seinen Kopf. Er wiegt sich vor und zurück und vor und zurück. Auf dem Boden steht die offene Schachtel. Die Federn liegen verstreut herum, als wäre ein sonderbarer exotischer Vogel im Zimmer gerissen worden. Red hasst es, wenn jemand außer mir seine Federn berührt.

Ich setze mich neben ihn und lege ihm meine Hand auf den Rücken.

»Red, ich bin’s, Scarlet.«

Red ignoriert mich völlig. Er versperrt sich der ganzen Welt. Ich hebe die Elsterfeder auf, die, die wir vor ein paar Tagen gefunden hatten. Ich versuche, sie ihm in die Hand zu drücken.

»Red, fass die mal an«, sage ich. »Das ist die Elsterfeder. Fass sie einfach mal an.«

Red wiegt sich schneller, hält dabei aber die Feder fest in seiner Hand.

»Schau sie an, Red«, sage ich. »Schau sie an!«

Aber seine Augen sind fest, ganz fest geschlossen und mit den Armen umklammert er weiterhin seinen Kopf.