Eine Frau allein - Lise Gast - E-Book

Eine Frau allein E-Book

Lise Gast

0,0

Beschreibung

Deutschland zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Elma, eine junge Mutter, flüchtet mit ihren fünf Kindern von Schlesien nach Westdeutschland. Sie ist völlig auf sich alleine gestellt und muss täglich um das Überleben ihrer Familie kämpfen. Hunger, Armut und Krankheit bestimmen die Sorgen der jungen Mutter. Ihre letzte Hoffnung erlischt, als sie vom Tod ihres Mannes erfährt. Inmitten der Trauer bemerkt sie, dass sie ein weiteres Kind in sich trägt... Elma muss einen Neuanfang wagen und vor allem ein Zuhause für ihre Kinder finden. Unterstützung bekommt sie dabei von neuen und altbekannten Freunden. Lise Gast beschreibt in Eine Frau allein das bewegende Schicksal einer alleinerziehenden Mutter, die während des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verlässt, um sich und ihre Familie vor den Wirren des Krieges zu schützen. Der Roman ist ein literarisches Zeugnis einer Zeit, wo Flucht, Essensknappheit und Zerstörung den Alltag bestimmten. -

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lise Gast

Eine Frau allein

Ein Schicksal aus unseren Tagen

Saga

Eine Frau allein

© 1948 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509272

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Für meinen Mann

Ich muß doch eingeschlafen sein, trotz der Engigkeit, trotz Uwes Absätzen, die in regelmäßigen Abständen an meine Schienbeine hämmern, trotz der Spannung und der Angst vor Beschuß. Denn ich bin auf einmal zu Hause und fahre in Großvaters Wagen, also bin ich wohl noch klein, ein Kind. Und es ist Herbst. Wunderbar klar steht das Gebirge am Horizont, duftig blau, und das Land davor ruht in einer Schale von warmem Gold. Ach, Heimat, Kindheit — aber, wie das manchmal in Träumen ist — ich bin gleichzeitig groß, Leonhard ist bei mir, ich fühle seine warme Hand auf meinem Knie, und die Kinder sind um mich, fragend, drängend, lachend. Alles ist um mich, was ich liebe: es ist Frieden.

„Gehst du nun nicht mehr fort?“ frage ich Leonhard aus dem Gefühl heraus, als könne das ja gar nicht wirklich sein. Er lächelt.

„Ich gehe nie wieder von dir“, sagt er, „weißt du das nicht?“

In diesem Augenblick rüttelt mich jemand an der Schulter. Leo wird das sein, der Bandit, der auf dem Schnatterbänkchen sitzt.

„Laß doch“, will ich sagen, aber da schreit er mir schon in die Ohren, und ich wache davon auf:

„Du mußt aufwachen! Los, wach auf! Wir sind angekommen!“

Wir sind angekommen. Sogar mit der Bahn, obwohl das ganz unmodern ist. Eigentlich fährt man jetzt nicht mit der Bahn, man treckt oder läßt sich von Lastkraftwagen, LKWs, mitnehmen. Früher dachte ich immer, LKW wäre eine Firma, so wie DKW. Leo belehrte mich mit der Überlegenheit des Zwölfjährigen eines besseren.

Sogar Fahrkarten gab es zu kaufen, und sie wurden unterwegs kontrolliert. Auf der ersten Hälfte der Fahrt dachte niemand daran. Wer im Zug war, war drin. Kein noch so robuster Schaffner wäre durchgedrungen, um die „Fahrkarten bittäh!“ nachzusehen. Nein, wir fuhren mit Fahrkarten — sogar zweiter hatte ich gelöst — und stiegen ordnungsgemäß um. In Mitteldeutschland ist alles noch wie früher.

Dreimal hat Irmeli gefragt, ob dies das richtige Randersleben wäre. Es gibt hier unzählige Dörfer, die mit „... leben“ aufhören. Ich nehme das als gutes Vorzeichen. Wir wollen ja leben — —

Unser Gepäck ist lange nicht so umfangreich, wie man annehmen sollte, jedenfalls, wenn man es mit dem der Alleinreisenden vergleicht. Eine Dame fuhr mit uns, die vierzehn Koffer hatte. Wir haben einen, sonst nur Rucksäcke. Und die Schulranzen der Größeren und ein paar gerollte Decken. Das Rollen kann Leo wunderbar, er überläßt es keinem anderen. Er hat die geschickten Hände von Leonhard, auch seinen praktischen Blick. Irmeli hat tüchtig mit geschleppt, sie ist ja fast so groß wie ich. Die Kleinen sind selbst noch Gepäckstücke. Ich bin glücklich, daß ich sie alle beisammenhabe; monatelang träumte ich von dieser Flucht und daß ich eins oder das andere dabei verlor. Dann wachte ich keuchend und schweißgebadet wieder auf und konnte nicht wieder einschlafen. Manches ist wirklich leichter zu erleben als sich vorzustellen. Das muß man sich merken für später.

Am meisten Angst hatte ich um Holder. Er ist mit seinen sieben Jahren gar zu unternehmend, und wenn die andern Kinder auch nicht wie solche, die von „richtigen“, d. h. von ernst zu nehmenden Müttern erzogen sind, aufs Wort gehorchen, so tun sie doch im großen und ganzen das, was ich ihnen sage. Ich selbst habe mich eigentlich nie ganz ernst genommen als Erzieherin, vielleicht, weil ich so jung geheiratet habe und so gern lache. Sicher ist das falsch, und Holder ist das mißratene Produkt. Er tut nie, was man ihm sagt. Es ist schrecklich, bestimmt bin ich schuld; oder gibt es Kinder, die wie Dackel sind, denen Gehorchen einfach gegen die Natur ist?

Rose machte gar keine Schwierigkeiten. Und Uwe war so vergnügt unterwegs, als wären wir auf einer Ferienreise. Freilich, der kleine Kerl kennt Eisenbahnfahrten nur in Verbindung mit Kamenz und der Großmutter, die man besucht und bei der er trotz allem immer etwas Süßes und Gutes zu essen bekommt. Wo sie sein mag? Wo Marie Agnes steckt? Wann wird man etwas voneinander erfahren?

Man versicherte uns, daß wir im richtigen Randersleben wären. Und als ich den Bahnhofsvorstand mit der roten Mütze und dem wunderschönen Gebiß — es muß einen guten Zahnarzt hier geben, gottlob! — nach Frau von Mirtzlaff fragte, nickte er gleich und wies über die Felder. Ob ich anrufen könnte? Ja, auch das. Ich ging also in das kleine Bahnhofsgebäude hinein und rief an.

Sie war da. Und unsere vorangeschickten Sachen sind auch da, ich atmete auf. Wo man ein paar Betten, Bezüge und Decken hat, fühlt man sich gleich ein bißchen zu Hause. Obwohl meine Zuversicht sofort einen Dämpfer bekam.

„Zu der wollen Sie? Mit det Kroppzeug?“ fragte der Rotbemützte und wies mit dem Daumen nach draußen, wo meine kleine Kolonne wartete.

„Ja. Ich komme vom Osten ...“

Er sagte nichts mehr. Mir wurde etwas schwach. Durch den jahrelangen Umgang mit Patienten hab ich gelernt, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Leonhard konnte es viel besser, aber ein bißchen bekommt man es auch weg Dieses Gesicht war nicht mißzuverstehen. Ich hatte eigentlich um einen Handwagen bitten wollen — und gehofft, es würde dann ein Pferdewagen sein. Aber nun fehlte mir der Mut. Ich sagte also nur, als Frau von Mirtzlaff selbst am Apparat erschien — ich hatte erst mit irgendeinem dienstbaren Geist verhandelt —, wir kämen also nun. Sie bejahte. Die Kinder waren enttäuscht, als ich wieder herauskam und „Gepäck aufnehmen!“ befahl. Kinder sind oft enttäuscht, sie haben noch das Recht darauf. Erwachsene nicht mehr — —

Wir nahmen nach einigem Überlegen auch den großen Koffer gleich mit. Es sei nicht weit, hatte der Mann mit dem gutsitzenden Gebiß versichert, mit einem gewissen Mitleid in der Stimme, das mir gleichzeitig rührend und unangenehm war. Ich lasse mich ungern bemitleiden. Höchstens Leonhard durfte mich trösten, nicht einmal von meiner Mutter hatte ich es gern. Sie war oft traurig darüber, fand es „gewollt männlich“. Als ob man als Frau nicht das Recht hätte, tapfer zu sein. Leonhard verstand das gut. Aber die Mutter meinte, es hinge damit zusammen, daß ich als Kind immer ein Junge hatte sein wollen und so gern in Hosen lief. Das konnte sie gar nicht leiden. Irmeli wäre die richtige Tochter für sie. Irmeli würde nie ein Junge sein wollen. Dafür weint sie aber auch bei jedem Dreck. Das kann ich nun wieder nicht leiden und schelte darüber. Immer sind die Töchter anders, als die Mütter es wünschen.

Irmeli schleppte den Koffer und Leo den größten Rucksack. Holder und Rose mußten jeder eine Decke tragen, worüber sie erst begeistert und nach zehn Schritten beleidigt waren. Den Kleinen trug ich. Er ist drei Jahre und könnte ruhig laufen, meint Irmeli; vielleicht hat sie recht, und ich bin ihm gegenüber zu nachgiebig. Aber er ist nun mal mein Jüngster, und wenn er die Arme ausstreckt und „Zu dir!“ verlangt, dann muß ich immer denken, daß er das nicht mehr lange tun wird. Jungen werden einem so schnell fremd, ich sehe das an Leo. Der geht nun schon am liebsten auf der andern Seite der Straße, wenn ich mit dem Kometenschweif losziehe, wie er sagt. Aber das ist kein Standpunkt, und Irmeli hat recht, wenn sie sich darüber ärgert. Ich ärgere mich wieder, daß sie es sagt, denn ich hätte meiner Mutter so etwas nie zu sagen gewagt. Aber die Kinder heutzutage sind wohl anders, als wir waren. — —

Das Gut ist groß und ganz vorzüglich gehalten. Leo sah das sofort — er wird ja Bauer, wie er sagt — und erklärte mir, woran man das erkenne. Aber selbst ich fühlte es gleich. Alles piksauber und großartig in Schuß. Wir klingelten an der Tür. Ich hatte Herzklopfen.

Gewiß, Leonhard ist hier aufgewachsen, und sein Vater hat Jahrzehnte hindurch den Mirtzlaffschen Wald gehegt. Aber das ist selbstverständlich kein Grund, daß seine Familie hier sechs Mann hoch einfällt. Selbst bei nahen Verwandten ist das peinlich.

Daß es Tausenden ähnlich geht, erleichtert die Sache etwas, aber doch nur etwas. Denn man sagt sich immer wieder, daß diese Tausende eben doch nur zum ganz geringen Teil Mütter von so viel Kindern sind.

Wir wurden in ein Empfangszimmer gebeten und standen dort eine Weile. Parkett, goldgerahmte Spiegel, glänzende Möbel. Uwe war längst von meinem Arm gerutscht und mußte alles genau ansehen. An „sehen“ geschieht bei ihm mit Händen und Füßen. Irmeli fing ihn immer wieder ein und schalt auf mich ...

Frau von Mirtzlaff kam und war sehr freundlich. Ich atmete ein bißchen auf. Ja, wir könnten das Giebelzimmer bekommen, natürlich nur, bis sich etwas Passendes gefunden hätte, wir sollten es uns nur inzwischen behaglich machen. Die Koffer wären schon oben. Am Abend wären wir selbstverständlich ihre Gäste, sie wollte es gleich in die Küche durchgeben. Ich kann gut „danke“ sagen, wenn mir jemand freundlich etwas schenkt.

Das Zimmer ist groß, für uns sechs natürlich nicht zu groß, im Gegenteil. Aber Betten stehen darin, und der Kreis der nun doch zahlreichen Koffer macht es zu einer kleinen Heimat.

Wir packen aus, überziehen Betten, waschen uns. Wir sind fast fröhlich. Ich schreibe rasch noch eine Karte und schicke Leo damit an die Bahn. Leonhard soll so schnell als möglich wissen, daß wir gut angekommen sind.

Das ist also seine Heimat, die Landschaft, in der er aufwuchs. Ich war noch nie hier. Seine Eltern sind lange tot. Ich will versuchen, dies Land liebzugewinnen; es ist so wichtig, ja ausschlaggebend, ob man zu der Landschaft, in der man lebt, Ja sagen kann. Etwas kann man natürlich mit gutem Willen nachhelfen, aber nur etwas. Mir fehlen unsere Berge sehr.

Das Essen findet im Speisesaal statt. Nur Frau von Mirtzlaff und wir. Es gibt Bechamelkartoffeln und hinterher eine rote Grütze mit Milch. Die Kinder sind infam hungrig. Ich sehe nur die aufgetragenen kleinen Schüsseln und werde seekrank. Irmeli nimmt sich noch verhältnismäßig wenig, sie sieht meine Augen. Leo gebe ich lieber auf. Er hat den Teller leer, als ich Uwe als letztem seine Portion hinschiebe. Leo hat immer Hunger, aber nach so einer Reise — und nach den Tagen in der Stadt, wo wir nach der ersten Fluchtetappe verschnauften — —

Leider bin ich selbst sehr ausgehungert und empfinde meinen halben Teller nur als Tropfen auf den heißen Stein. So kann ich Leo gut nachfühlen, was er jetzt denkt. Man sagt, der Satte versteht den Hungrigen nicht. Aber ich kann nachher eine Zigarette rauchen und den Magen damit beschwichtigen.

„Mutter, ich hab noch solchen Hunger!“ flüstert Holder vernehmlich, als die rote Grütze aufgeputzt ist. Sie schmeckte einfach phantastisch, kein Wunder, daß der kleine Kerl mehr möchte. Frau von Mirtzlaff lächelt und meint, die Kinder sähen ja auch sehr gesund aus. Ihre hätten immer so schlecht gegessen, aber das wären ja auch andere Zeiten gewesen.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie selbst einmal Kinder gehabt hat. Dabei ist sie noch gar nicht so alt, aber so steif — und so korrekt — und so grau. —

Als wir uns verabschiedet haben, ist mein erster Blick auf die Uhr: Bekommen wir noch was im Bäckerladen? Es ist noch nicht sieben, gottlob. Ich übergebe Irmeli den Kleinen und renne die Treppe hinunter. Mein ganzer Etat, der schon durch die Reise sehr ins Wackeln gekommen ist, wird umgeworfen; aber die Kinder müssen noch etwas bekommen. Gerade, weil wir so lange nichts Gutes gegessen haben, fühlt man bei solcher Kost den Hunger doppelt. An den Kartoffeln war Speck — und die Milch, die es zu der Grütze gab, war unverfälschte, richtige, hiergemolkene und durch keinerlei Verfahren veränderte Kuhmilch.

Ich renne in langen Sprüngen durchs Dorf. Die Bäckersfrau lächelt, als ich atemlos hereinstürze. Sie habe noch länger auf. Ihr Gesicht ist rund und warm und freundlich. Sie schwatzt gleich ein bißchen mit mir und horcht mich versuchsweise aus. Als sie hört, daß ich aus dem Osten komme, schiebt sie mir gleich noch ein „verunglücktes“, d. h. etwas zu dunkles Brot zu dem andern dazu. Ohne Marken. Ich lache sie glücklich und dankbar an. Sie erinnert mich plötzlich an meine Mutter.

Strahlend komme ich heim. Die Kleinen hat Irmeli schon ins Bett gebracht, wo sie putzmunter sitzen. Immer zwei in einem, wir haben nur drei Betten. Mit dem Reisemesser schneide ich ab und teile aus. Leo sitzt auf dem Fensterbrett und guckt in den Hof hinunter, während er ißt. Wenn er nicht solchen Hunger hätte, wäre er längst unten. Ein richtiges Gut, ein richtiges Dorf — ich gönne es ihm, daß er sich freut. Freude ist jetzt so rar.

Ich kann lange nicht einschlafen. Hier wollen wir nun warten, auf das Kriegsende und auf Leonhard. Meine Sehnsucht nach ihm droht mein Herz zu sprengen, ich kämpfe sie nieder. Ich habe kein Recht, zu weinen, solange er lebt und ich seine und meine Kinder lebendig um mich weiß. Ich drücke mein Gesicht in Uwes Haar, der neben mir im Bett liegt und mehr Platz braucht als ein Erwachsener; aber Irmeli weiß das nicht und fand es sehr nett und aufmerksam von sich, ihn mir zuzuteilen. Ich mochte sie nicht in ihrem Stolz kränken, sie war so nett, eifrig und „erwachsen“. Sie ist ein lieber Kerl. Und Uwe ist auch ein Trost für mich. Ich muß schlafen, morgen gibt es tausenderlei zu tun.

Mit dem Schlafen wurde es nicht viel. Leo puffte Holder, als ich gerade eingeduselt war, und Holder brüllte und kratzte. Später flog Rose aus dem Bett. Sie fiel zu Hause auch mit Vorliebe heraus, ist aber so geartet, daß sie auf dem Fußboden ruhig weiterschläft. Rose kann herrlich schlafen, daher ihre süße Rundlichkeit und die herrlichen Farben.

Wir müssen mehr Betten beschaffen. Frau von Mirtzlaff versprach, einmal nachsehen zu lassen, ob noch welche frei seien. Leo erklärte, er würde künftig lieber auf der Diele liegen als noch einmal mit diesem kleinen Satan zusammen. Wir frühstückten mit Frau von Mirtzlaff, und es war wohl die letzte Mahlzeit an ihrem Tisch. Obwohl ich den Kindern vorher in unserem Zimmer je zwei Schnitten bewilligte. Sie hieben derart ein, daß ich mich schämte. Wir müssen einen Herd haben und selbst kochen. Ich ging in die Küche, um mir Rat zu holen.

Mamselling lachte.

„Da hat die Alte wohl Augen gemacht? Das glaub ich. Ich weiß einen Herd, er ist man klein, aber für den Anfang geht’s vielleicht. Da habt ihr zwei Töpfe, oder habt ihr welche mit?“

„Einen“, sage ich dankbar, „aber mit einem kommt man ja nicht weit.“

Die Mamsell ist ein Lichtblick — klein, vielleicht fünfzig, rund und lebhaft. Sehr geradezu. So geradezu, daß ich die Kinder lieber spielen schicke, wenn Mamselling so richtig in Fahrt kommt. Sie kann manches sagen, was in anderm Mund abscheulich klänge; aber das wissen die Kinder nicht. Ich muß oft über sie lachen. Frau von Mirtzlaff ist nur „die Alte“ für sie oder „Amalie“. Das haben Leo und Holder schon aufgegriffen. Amalie mag noch gehn, wenn es niemand hört, aber „die Alte“ dürfen sie keinesfalls sagen. Mamselling steckte mir ein Stück Speck zu und versprach Kartoffeln. Irmeli holt sie. Unsere erste Mahlzeit ist im Werden, vorläufig noch auf dem Herd der Gutsküche. Leo soll den Sack heranrollen, dazu müssen wir einen stabilen Handwagen beschaffen. Überall und immerfort muß man borgen, bitten, fragen. Das geht allen Flüchtlingen so, aber es verdrießt die Eingeborenen. Ich bitte sehr ungern, — aber wer täte es gern?

Nein, was es für Zufälle gibt! Da treffe ich doch ausgerechnet hier in Randersleben auf der Dorfstraße Elisabeth, die göttliche Elisabeth, wie Leonhard immer sagte, das schwarze Schaf unseres Seminars. Sie war dann später in unserer Nachbarstadt als Kindergärtnerin tätig und machte dort so viel von sich reden, daß man kaum sagen durfte, man wäre mit ihr befreundet. Nun hat sie doch ihren Gotthard geheiratet, er ist an der Front, sie seit zwei Jahren hierher evakuiert. Unverändert mit ihren funkelnden schwarzen Augen und der etwas zu üppigen, aber unglaublich reizvollen Figur, die etwas Südliches an sich hat, so daß Männern „sofort heiß“ wird, wie Leonhard einmal sehr treffend bemerkte. Und unverändert auch mit ihrem unwiderstehlichen Charme; trotz Schminke und Puder. Sie freute sich sehr, ich mußte sofort mitkommen und ihre Wohnung ansehen, Wohnung und Kinder. Vier entzückende, geradezu vorbildlich erzogene kleine Mädel — ich hab noch nie so reizend artige Kinder erlebt, von meinen nun schon ganz zu schweigen. Wie macht sie das nur? Vielleicht wären meine auch besser gelungen, wenn ich damals das Examen doch noch gemacht hätte!

Elisabeth scheint die ungekrönte Königin des Dorfes zu sein, alles, soweit es männlichen Geschlechts ist, tanzt nach ihrer Pfeife. Ich bin das gewöhnt — ihr Verschleiß an Männern war immer immens, wie wir damals sagten, dabei hat sie die seltene Gabe, auch Frauen zu gefallen. Mir jedenfalls gefällt sie — trotz allem. Ich muß immer wieder über sie lachen. Sie vereinigt, was nur wenige können, einen — mild gesprochen — fahrlässigen Charakter mit einem goldguten und hilfsbereiten Herzen und ein leicht zerflossenes Äußere mit großem „Ankratz“ bei der Männerwelt, wie der technische Ausdruck lautet.

Sie freute sich schrecklich. Ich bekam zu essen, was ich gar nicht wollte, mußte einen Schnaps trinken, bekam Zigaretten — und dann schenkte sie mir zwei Blusen und ein Kleid, als sie hörte, wie wenig wir gerettet hatten. Auch sonst will sie mir helfen.

„Du mußt heute abend mitkommen, der Lehrer hat Geburtstag“, bestimmte sie. „Nein, nein, deine Kinder kannst du ruhig vorher ins Bett legen, vor zehn braucht man gar nicht zu erscheinen, das ist hier so. Er ist ein alter Zausel, aber er hat Humor — neulich spielte er auf der Orgel sehr gefühlvoll auf zwei Manualen ‚Hörst du mein heimliches Rufen?‘ Der Pastor hielt es für ein geistliches Lied, er ist stockunmusikalisch, sagte: ‚Heute haben Sie aber wiedermal schön gespielt!‘ Ich werde dann immer schamrot.“

„Ich kann doch da nicht einfach mit hinkommen“, meinte ich bedenklich, aber sie ließ keinen Einwand gelten.

„Natürlich, ich werde wohl meine Freundin mitbringen können. Bei wem wohnst du übrigens? Bei Amalien? Du lieber Gott! Na, wir finden schon etwas anderes! Übrigens — da, trink noch einen —“ und sie hielt mir erneut das Glas an die Lippen. Ich trinke — ich bin das nicht gewöhnt, weder den Schnaps noch Elisabeth — vor mir fängt alles schon verdächtig an zu kreiseln — — „Wir können gleich mal rübergehn zu Friedrichs. Da lernst du auch die Lilie kennen, seine Schwester Lili, so groß —“ sie steigt auf die Couchecke und reckt die Hand zu einer schier übermenschlichen Größe aus. „Stell dir vor, als ich hier meine ersten Antrittsvisiten machte und zum Lehrer komm, stehn wir im Hof, und sie kommt angesegelt. Ich dachte, es wäre ein dienstbarer Geist, und fragte: ‚Was haben Sie denn da für einen wandelnden Verkehrsturm?‘ Worauf er, wahrheitsgemäß, antwortete: ‚Das ist meine Schwester.‘ Ich dachte, ich sinke in den Boden. —“

„Mein Gott, wie kannst du aber auch!“

„Nicht wahr? Das fragte ich mich auch. Leider erst hinterher. Mir fällt immer erst hinterher ein, was man tun darf und was nicht.“

Wir gehen hinüber zum Lehrer. Ein hübsches, großes Haus, davor ein nußbaumumstandener Schulhof. Sehr, sehr nett — ich muß an den Nußbaum im Garten der Großeltern denken. Ich schmecke auf einmal frische Nüsse, nach vielen, vielen Jahren — ich fühle den feuchten Kern, den man von der Haut befreien muß. Hier werden Holder und Rose in die Schule gehen — wenn wir im Herbst noch da sind. Im Herbst — Gott weiß es. Leo muß in die Höhere Schule in der Stadt, darum muß ich mich auch baldigst kümmern. —

Der Lehrer, Herr Friedrich, ist reizend, schon älter, gütig, braunäugig. Er sieht aus, als habe er schon vielen, vielen Jahrgängen in der Dorfschule mit einem freundlichen „Na?“ eingeholfen, wenn sie in der „Bürgschaft“ steckenblieben, oder das Einmaleins mit der Siebzehn noch einmal von vorn anfangen lassen, weil es mit Schwung besser geht. Ich möchte noch einmal bei ihm mit Fibel und Tafel anfangen dürfen. —

Es plaudert sich so gut, wenn man auch in eine Dorfschule gegangen ist und alles wiederfindet; man vergißt die Zeit, wird wieder Kind. —

Zu Hause ist das Essen längst kalt, zum Glück hat Irmeli die Kleinen abgefüttert. Leo ist gar nicht erschienen, er hat zu viel zu tun in Ställen und Scheunen. Irmeli ist erhitzt und vorwurfsvoll.

„Ich kann nichts dafür“, sage ich schuldbewußt, „ich helfe dir jetzt.“ — Es ist eine meiner unausrottbaren Eigenschaften, daß ich mich immer entschuldige, auch meinen Kindern gegenüber. Es bekommt ihnen nicht, aber ich kann’s nicht lassen. Früher verdarb ich mir damit Kindermädel und Sprechstundenhilfen.

Elisabeth, die mich herbegleitet hat, sitzt auf meinem Bett und raucht, während ich aufwasche. Auf dem Eßtisch, in unserer einzigen Waschschüssel. Alles ist noch so unaussprechlich primitiv, und ich —

„Ich kann unmöglich heute abend kommen, Elisabeth. Du siehst es ja selber — die Arbeit liegt da —“

„Unsinn, nachts arbeitet man nicht! Du kommst! Du kannst wichtige Verbindungen anknüpfen, vielleicht eine andere Wohnung finden.“

Ich sehe Irmeli von der Seite an. Sie sagt nichts, aber ich kenne ihr Gesicht. Früher durfte man nicht ausgehen, weil die Eltern warteten; jetzt, weil es den Kindern nicht paßt. Ich will aber auch Elisabeth nicht vor den Kopf stoßen.

Diese letzte Sorge war unbegründet. Elisabeth gehört zu den Menschen, die nichts übelnehmen, auch sich selbst nicht: Eines Tages zum Beispiel erbat sie das geschenkte Kleid und die Blusen zurück, um sich Zigaretten dafür einzutauschen, und war baß erstaunt, als ich gestand, aus dem Kleid eine Wickelschürze für Irmeli gemacht zu haben. Aber sie nahm es auch nicht übel. —

Ein Donnerschlag: wir dürfen nicht bleiben! Unser Landstrich „gehört“ woanders hin. Ich will aber bleiben, ich will!

Vom Gemeindebüro aus renne ich zu Elisabeth. Sie nimmt es sehr ruhig.

„Das kriegen wir schon hin. Ich spreche mit dem Lehrer. Heute abend. Du siehst, wie gut es ist, Freunde zu haben.“

Also ich komme heut abend. Irmeli wird das auch einsehen. Der Tag ist um, ohne daß eine einzige der tausend wichtigen Sachen erledigt wäre. Ich lege die Kinder ins Bett, ziehe mich um. Meine Sachen sind zerdrückt, keine Plätte da —

Der Abend wurde sehr nett. Herr Friedrich hatte auch den Pastor und einige Dörfler eingeladen, oder sie waren von selbst erschienen. Das wäre hier so, erklärte Elisabeth. Es wurde wieder recht alkoholisch. Ich hielt mich zurück.

Alle waren einstimmig empört, daß ich nicht bleiben sollte. Der Amtsschimmel! Herr Friedrich meinte, wir sollten gleich morgen zum Landrat in die Kreisstadt fahren. Er stelle sein Rad zur Verfügung. Die Lilie stimmte heftig zu.

„Ja, man muß immer zur höchsten Substanz gehen!“

Sie ist, wie Elisabeth sagt, im Besitze einer soliden Pseudobildung. Ich blieb ernst. Auch Elisabeth gelang es. Herr Friedrich legte die Hand auf den Arm seiner Schwester und streichelte ihn. Das fand ich reizend von ihm.

Ich wurde ganz zuversichtlich. Elisabeth wickelt auch einen Landrat ein. Nachts um zwei kam ich nach Hause. Ich schwur mir: Nie wieder! Ich habe diesen Schwur gehalten.

Leonhard schreibt, mit Flugpost. Er ist glücklich, uns hier zu wissen. Das freut mich, aber es ist auch das einzige, was mich an diesem Briefe freut. Er schreibt so — ich dachte es schon damals, am Zuge, als er uns verfrachtet hatte und nachwinkte. Seine zwei letzten Urlaubstage — waren es die letzten? Ich will, will es nicht glauben. Wie soll ich denn ohne ihn leben? Andere Frauen können das vielleicht, sie sind stärker, klüger, erwachsener. Aber ich —

Ich darf nicht daran denken. Er lebt noch, und ich muß ihm die Kinder hüten, bis er wiederkommt. Nur bis dahin. — Tausendmal am Tag irren meine Gedanken zu ihm — immer nahm er mir alles Unangenehme ab. Wie viel er mir abnahm, beginne ich erst jetzt zu ahnen.

Wir dürfen bleiben. Ich hab es durchgesetzt — die polizeiliche Anmeldung ist getätigt, die Lebensmittelkarten bekam ich. Gott sei Lob und Dank! Bleibt die Wohnungsfrage. Man behauptet, es gäbe nichts. Die einzige Stube bei Frau von Mirtzlaff ist auf die Dauer eine Unmöglichkeit. Vorläufig haben wir nun für die größeren Kinder auf dem Boden vor der Stube Stroh aufgeschüttet und Pferdedecken darübergelegt. Dort schlafen Irmeli und Leo. So bleiben die Betten für mich und die drei Kleinen. Das geht ganz gut. Leo schläft sogar gern auf Stroh, wie er beteuert; was sofort bei Holder Neid und den absoluten Willen, auch dort zu schlafen, erweckt. Er brüllt — ich schmeiße ihn raus, damit er mir Uwe nicht weckt. Erfolg: Er kriecht zu den andern und hat wiedermal seinen Willen durchgesetzt.

In Gottes Namen denn! Ich kann jetzt nicht alle meine Erziehungssünden wieder gutmachen, ich kann nicht konsequent bleiben, wie Irmeli verlangt. Zu Konsequenz gehört Zeit; ich habe sie nicht. Ich muß an Leonhard schreiben, jeden Tag, jeden Abend. Ich muß ihm berichten, wie es uns geht, — daß es uns gut geht, denn all die Schwierigkeiten darf er nicht wissen! — Die werde ich schon allein bewältigen — und vor allem muß ich ihm danken, danken für sechzehn glückliche Jahre, danken für jedes gute Wort, das er mir sagte, danken für jeden, jeden Tag, dessen Licht über unserm gemeinsamen Leben aufging. —

Ach, daß dies alles nur ein dummer, kindischer Aberglaube wäre, das, was mich so quält! Wie gern will ich mich auslachen lassen, wenn er gesund und lebendig wiederkommt! Wie gern seine kleinen Frotzeleien hören! Ich weine, während ich schreibe; immer tropft es mir aus den Augen — oft kann ich die Zeilen kaum erkennen. Wieviel Briefe hab ich neu beginnen müssen, weil auf den ersten Bogen Tränen fielen! Er darf nicht wissen, daß ich weinte. Ich weine ja auch nicht aus Traurigkeit, auch nicht aus Angst, wie man wohl denken könnte, nein, nein! Ich weine aus Liebe, aus Sehnsucht, aus Dankbarkeit — aus Zärtlichkeit. So wie ich damals unaufhaltsam weinte, als Irmeli geboren war — alle dachten, es wäre Enttäuschung, weil ich mir so sehnlich einen Sohn gewünscht hätte. Ach nein —! Genau so weine ich jetzt. Ja, Zärtlichkeit, das ist es vor allem. Und Dankbarkeit, ihm und dem Schicksal gegenüber. Ich hatte es so gut all die Jahre! Sogar im Krieg war er noch bei mir, so lange. Vielleicht kommt er ja auch wieder, er, als Arzt! Aber wieviel Ärzte fielen schon! Er steht in Gottes Hand. Kein Grübeln nützt, auch kein Beten. Man darf nicht beten: Erhalte ihn mir! Auch wenn das Herz nur dies eine schreit. Man darf nur beten: Schenke mir Kraft, daß ich ertrage, was auch kommt! So lehrte mich mein sehr geliebter Pfarrer in der Konfirmandenstunde. Ich habe es nie vergessen, in all den zwanzig Jahren, seit er es sagte. —

Gib mir Kraft! Ich habe so wenig, immer hatte Leonhard sie für mich. Aber ich muß sie jetzt haben, ich muß lernen, mich durchzusetzen, nicht nur den Kindern, auch dem Leben gegenüber —

Vielleicht lernt man es. Daß ich durchsetzte, hier bleiben zu dürfen, gibt mir schon etwas Rückgrat. Vielleicht ist manches gar nicht so schwer, wie es aussieht. Man muß sich nur daranwagen.

Das Schlafen auf der Erde gefällt mir nicht. Wir müssen noch ein Zimmer dazubekommen; es ist auch noch eins da, eine zweite Dachstube. Aber sie liegt über Frau von Mirtzlaffs Schlafstube. Deshalb bekommen wir sie nicht.

Ich habe versucht, ihr klarzumachen, daß auch fünf Kinder nachts still sind, wenn sie schlafen, nicht trampeln, tollen und springen. Zumal hier, wo sie von der vielen Luft und dem dauernden Draußensein abends doch todmüde und erschöpft in die Betten fallen. Aber sie gab nicht nach. Ich müßte doch froh und dankbar sein, überhaupt untergekommen zu sein, da ja, wie ich selbst sagte, im ganzen Dorf kein Platz für mich sei. Ich schwieg, kapitulierte. Die Kinder müssen eben weiter auf dem Stroh schlafen, es zieht sich schon irgendwie zurecht, denke ich. Sobald ich Zeit habe — wann wird das sein? Die doppelte Zeit reichte nicht, unsern mühsamen Haushalt zu führen. Es ist alles so unsagbar schwierig: kein Wasser, kein Ausguß, kein Eimer, um Wasser zu holen und wegzutragen, keine Feuerung, ein Herd, der nicht hin und nicht her reicht, und so weiter und so weiter — sobald ich also einmal etwas Zeit erübrige, gehe ich Mathilde suchen. Falls sie noch lebt, was ich bisher nicht feststellen konnte. Mathilde war Leonhards Kindermädel, er trug mir extra noch Grüße an sie auf. Sie wohnte hier, aber bis wann?

Der erste Ärger, diesmal nicht über Holder, sondern ausnahmsweise über Uwe. Er hat zu Frau von Mirtzlaff gesagt: „Nicht wahr, du bist der Geizdrache?“ Als sie empört wissen wollte, woher er dieses häßliche Wort habe, antwortete er treuherzig und wahrheitsgemäß: „Die Mamsell hat’s gesagt.“ Nun ist nicht nur die Gnädige, sondern auch Mamselling verschnupft. Und was sind wir hier ohne Mamselling! Immer ist sie die letzte Nothilfe, immer erwischt man bei ihr, was man braucht und absolut nicht auftreiben konnte: Die Kartoffeln für die nächste Mahlzeit, die Waschschüssel, die fehlte, den Fleischwolf, den Besen. Wir haben ja nicht einmal einen Besen! Als Scheuerlappen opferte Irmeli jetzt, als ich nicht da war, ihren alten Mantel. Ich war entsetzt, ließ es aber nicht merken. Gewiß, er war kein Staatsstück, aber er wäre noch gegangen, hätte seine Dienste getan, auf dem Feld, oder bei weiten Wegen über Land und Regen ...

Ich habe Uwe verhauen und Holder, weil er danebenstand und schadenfroh grinste, gleich mit. Aber was hilft das im Grunde! Mit Holder ist es schrecklich, um so schrecklicher, weil er so ausgesprochen hübsch ist. Jeder findet ihn beim Kennenlernen entzückend, verhätschelt ihn, was ihm nicht bekommt, und ärgert sich schon am zweiten Tag grün und blau über ihn. Rose steht ganz in seinem Schatten. Das Leben ist ungerecht. Aber die Menschen sollten es nicht sein, wenigstens nicht die Mütter. Bin ich gerecht? Wenn Holder brüllt, kriegt er eben doch manchmal eine Schnitte mehr als die geduldige und zufriedene Rose. Schlimm, ich sehe das ein. Aber ich jage von einer Arbeit zur andern, der Tag ist ein Hindernisrennen. Zu Hause hatte ich zwei Mädchen. Das sage ich mir selbst zum Trost. Ich kann nicht alles können. Das Essen schmeckt nicht, es ist nicht zur Zeit fertig, die Kinder sehen nicht halb so sauber aus wie zu Hause, die Stube ist immer wieder im Handumdrehen so, daß ich blaß werde, sobald es klopft. Hätte ich Irmeli nicht, ginge alles aus den Fugen. Aber Irmeli muß auch wieder in die Schule, sobald die anfängt. —

Leo bekommt es gar nicht, daß er keine Schule hat. Er treibt sich rum, neulich war er in der Kreisstadt, zehn Kilometer entfernt. Ich ängstigte mich so, es sind jetzt oft Tieffliegerangriffe; und was soll ich Leonhard sagen, wenn mir der Junge umkommt — ich schwur mir, ihn zu verhauen, wenn er wiederkäme. Ich tat es auch, aber hinterher heulte ich mehr als er. Er war ganz fassungslos, hatte überhaupt nicht gewußt, was er mir antat mit diesem Ausflug. Bestimmt wäre in diesem Falle eine ruhige Ermahnung besser und dienlicher gewesen.

Es kommt keine Post mehr durch. Gestern noch ein Brief von Leonhard, daß es ihm gut geht, er hat einige von meinen Briefen noch bekommn. Er schreibt so ruhig und zuversichtlich, — aber anderseits auch so heiter, so abgeklärt — ich stürze mich in die Arbeit, um nicht nachdenken zu müssen. Nachts liege ich und ringe mit mir, versuche immer wieder, sein Leben aus Gottes Hand zu reißen. —

Leo hat eine Blutvergiftung. Er klagte schon länger über seine Hand, ich hielt es für Zimperlichkeit. Immer, wenn den Kindern wirklich etwas fehlt, bin ich zu streng — er solle sich gefälligst zusammennehmen, sagte ich. Nachts jammerte er so, daß ich ihn ins Zimmer holte. Seifenbad — jawohl, aber woher das heiße Wasser nehmen? Er mußte warten bis zum Morgen, ich gab ihm eine schmerzstillende Tablette. Trotzdem schlief er nicht, weder er noch ich. —

Die Stelle muß geschnitten werden. Der Arzt des Nachbardorfes — Randersleben hat keinen — war zufällig da, ein netter älterer Herr, sehr vertrauenerweckend. Ich soll mit Leo hinüberkommen, gleich heute vormittag. Leo sieht fahl aus; ich habe mehr Angst, als ich zeige. Blutvergiftung — wie leicht kann das eine allgemeine Sepsis werden.

Irmeli muß die Kleinen versorgen und kochen. Sie tut, was sie kann; aber sie ist ja erst fünfzehn. Sie tut mir leid. Jeder Tag hier hat seinen neuen Schrecken, keiner war bisher normal und geruhig. Ich muß mit dem Jungen gehn, ich schicke ihn nicht allein.

Wir gingen. Es ist eine halbe Stunde Weg, ich erzählte Leo allerhand von früher, als ich so alt war wie er. Damals war auch Krieg. Ich lenkte ihn wirklich ab. Wenn es darauf ankommt, bin ich oft mutiger und ruhiger, als man denken sollte.

Der Arzt betäubte nicht, sondern vereiste nur. Ich hielt meinen Jungen, als das Messer in die geschwollene Stelle fuhr — er spürte es trotz der Vereisung. Ich auch! Eine Unmasse Eiter kam heraus. Leo hielt sich tapfer, aber er ist eben noch ein kleiner Kerl. Als er fertig verbunden war, wurde mir ganz komisch, ich setzte mich schnell. Der Doktor sah mich mitleidig an und meinte, ich dürfte mir in meinem Zustand so was eigentlich gar nicht ansehen. Kein Wunder, wenn mir blau würde.

Ich war fassungslos. Mein Gott, sieht man es mir denn schon an — ich war mir selbst noch nicht klar darüber, schob es immer von mir. Aber wenn ein Arzt es sagt. —

Ich habe mich nicht untersuchen lassen. Ich will noch abwarten. Jeder Tag kann noch die Erleichterung bringen — früher sagte ich: die Enttäuschung. Wenn ich ehrlich bin, ganz, ganz ehrlich — wär es nicht auch jetzt eine? Wünsche ich es mir — oder —

Es wünscht in mir. Trotz allem, trotz meiner schrecklichen, erwürgenden Angst um Leonhard, um die Kinder, um unser ganzes Land. Ich kann nichts dafür. Ich habe mir jedes unserer fünf Kinder gewünscht und kann auch jetzt nicht anders. Denn es wäre Leonhard, ein lebendiges Stück von ihm. Aber es wäre — nicht abzusehen. —

Leo hat geschlafen, er sieht wieder besser aus. Schmerzen hat er noch, morgen gehen wir den Verband wechseln. Ich gehe wieder mit, obwohl er beteuert, er ginge auch allein. Nichts rührt mich mehr, als wenn so ein Kerlchen tapfer sein will. Ich schäle die Kartoffeln heute abend noch, wenn alle im Bett sind. Dann braucht Irmeli sie nur aufzusetzen. —

Wir haben den halben Vormittag im Wartezimmer vertan. Der Doktor schalt, daß wir uns nicht eher gemeldet hätten.

„Sie haben doch wohl einen Affenzirkus zu Hause mit den vielen Blagen“, sagte er. Er erinnerte mich an Leonhards Freund Dr. Hansen, der auch immer „Blagen“ statt Kinder sagt. Ich sagte ihm das. Er freute sich: Eine Kollegenfrau? Rechnung schicke er dann natürlich nicht. Ich finde das sehr nett, obwohl ich es bezahlen könnte. Geld haben wir gottlob genug mit. Aber es tut wohl, wenn man Freundlichkeit erfährt.

Zu Hause war der Teufel los. Alle drei Kleinen haben sich den Magen verdorben, aber gründlich. Die „Villa Herz“, die wir benützen müssen — Frau von Mirtzlaff ließ uns durch Mamselling wissen, daß das Zimmer mit Ziehkette nicht für Evakuierte sei — befindet sich jenseits des Hauses. Irmeli mußte dreimal in jeder halben Stunde mit dem zugedeckten Emaillegefäß hinüberlaufen. Sie weinte vor Zorn. Ich tröstete sie und schickte sie, um sie abzulenken und zu beruhigen, Mathilde suchen. Nun laufe ich alle Viertelstunden. —

Wir haben nicht mal Zeit, Radio zu hören. Elisabeth kommt von Zeit zu Zeit, sie hat eigene Möbel hier und auch einen guten Apparat, sie berichtet dann, was sich begibt. Die Front ist schon ganz nahe. Es läßt sich nichts mehr ändern. Wir sind ihr entgegengeflohen. Trotzdem habe ich weniger Angst als im Osten. Oder ob man die Angst allmählich überhaupt verliert?

Mathilde ist da! Ich fühle zum erstenmal, seit ich hier bin, etwas wie Erleichterung, wie Zuversicht, Hilfe, Beruhigung. Mathilde ist eine ziemlich große, starkknochige, energische Person, die Backen rot und seidenweich wie die eines Winterapfels, die Hände hart und verarbeitet, aber warm und gut. Ich muß immer an die „Alte Waschfrau“ denken: Du siehst geschäftig bei den Linnen ... Sie hat Leonhard noch durchgehauen, wenn er bei Mirtzlaffs Äpfel klaute; sie wird auch mit Leo fertig werden. Auch mit Irmeli, mit Uwe, vielleicht sogar mit Holder.

Sie fragte gleich, ob sie bleiben dürfte. Nicht sollte, sondern dürfte, als wäre das eine Gnade, die ich ihr erwies. Und dann scheuerte sie das Zimmer, daß es zum erstenmal, seit wir hier sind, wirklich sauber wurde. Ich fragte am Abend, als wir ihren vorzüglichen Kartoffelsalat verspeisten, am ordentlich gedeckten Tisch, alle Kinder zur rechten Zeit da, abgeputzte Schuhe, gewaschene Hände — da fragte ich sie, ob sie bei dem und dem Monatslohn bleiben wollte. Sie blies durch die Nase — der Ton galt dem Lohn: Deshalb bleib ich nicht. Und sagte: „Ja. Frau Doktor können das doch nicht. Das sieht man ja.“

Ja, man sieht es, man sah es. Denn jetzt glättet sich alles. Mathilde wäscht und kocht, fegt und putzt. Sie hat Leo einmal gesagt, daß er jetzt immer Stiefel putzen würde, und er tut es. Ich habe ihn mindestens täglich dreimal darum gebeten, daran erinnert, deshalb gescholten.

Kinder brauchen eine feste Hand. Ich habe sie nicht. Aber vielleicht lerne ich etwas von Mathilde. Ich bin sehr lernbegierig, da ich ihre durchschlagenden Erfolge sehe. Sie ist keineswegs unfreundlich mit den Kindern. Die Kleinen gehen in den Kindergarten, von dessen Existenz ich bisher nichts ahnte. Sie sind dort gut aufgehoben, von früh acht bis mittags und dann ab zwei wieder bis um sechs. Seitdem fällt man nicht mehr dauernd über sie oder vertut alle Zeit mit Nasewischen und Hosenheraufziehen oder Verfolgung der Durchgegangenen. Irmeli strickt einen Pullover für Uwe, sie strickt so gern. Ich habe es ihr erlaubt, sie hat dazu ihre alte Strickjacke aufgetrennt. Sicher wäre manches noch wichtiger, aber sie hat so schön geholfen, als ich noch allein war und die Wogen über uns zusammenschlugen.

Mathilde ist großartig. Sie kann alles, weiß alles, findet alles, tut alles, sie sitzt abends zu Hause noch und stopft die Strümpfe meiner Kinder. Ich komme aus der Beschämung nicht heraus. Voriges Jahr ging sie aufs Feld, sagt sie. Aber Arbeit ist Arbeit, und hier ist sie nötiger. Ich schenkte ihr gleich zwei meiner Schürzen, die ich hierher voranschickte. Das freute sie wirklich.

Ich brauche jetzt keine Schürzen mehr, ich mache Außendienst. Mathilde sagt mir, wo ich um Kartoffeln anpochen kann. Ein Rad hat sie von ihrem Neffen, ich darf es benützen und flitze darauf herum, Rucksack auf dem Gepäckträger, in meiner alten Reithose und den geliebten Stiefeln. Überall, wo ich erzähle, daß Mathilde mich schickt, werde ich freundlich aufgenommen. Unser Kartoffelvorrat wächst — sehr wichtig im heutigen Haushalt. Ich trage zusammen, emsig wie eine Biene. Wenn wir alle am Tisch sitzen, kann ich mich sogar schon wieder freuen am vollen Nest. Noch kurz vorher sah ich nur die schwindenden Kartoffeln — mit Grauen und Angst. Mathilde merkt mein Aufatmen und brummt, ebenfalls die Runde überfliegend: „So viele wären ja nicht nötig gewesen. Na ja, der Leonhard. Ich kenn ihn ja.“

Ich schweige dann. Wenn sie erst erfährt — — Ich bin schrecklich feige. Nicht im üblichen Sinne; ich würde nachts um zwei allein ins Nachbardorf laufen, über den Kirchhof, ohne einen Schimmer von Angst. Aber Mathilde gestehen, daß — — Mathilde, die trotz ihrer närrischen Liebe zu Leonhard immer wieder feststellt, daß fünf Kinder wahrhaftig „übertrieben“ seien. Außerdem weiß ich es ja selbst noch nicht sicher. Ich bekäme zusätzlich Nahrungsmittel, wenn ich ein Attest brächte, aber ich kann mich nicht entschließen.

Eins jedoch tue ich. Als ein Bekannter von Mathilde durchkommt, der nach Osten fährt und in den Bereich der noch funktionierenden Post zu gelangen trachtet, gebe ich ihm einen Brief an Leonhard mit. Und in dem deute ich an — nein, ich deute nicht an. Ich schreibe ihm klar und einfach, daß wir wiederum ein Kind erwarten. Und daß ich mich freue. Und daß ich ihm danke. Daß er mir, wenn wir uns nicht wiedersehen sollten, in diesem Kinde wiedergeschenkt werden wird. ... Ich habe keine Zeit, zu überlegen, ob dieser Brief abgehen soll oder nicht. Der Bote muß fort. Er nimmt den Brief und steckt ihn in seine Mütze, wo noch mehr Post ruht. Es bleibt mir keine Wahl mehr. Und es ist gut, daß es so ist.

Ich atme auf, als er fort ist. Leos Hand ist besser. Die Bäuche der kleineren Kinder haben sich erholt, nachdem sie Mathildes Gänsefingertee, selbst geerntet und auf der Grude getrocknet, gekostet haben. Man darf hier kein Wasser trinken. Das Wasser taugt nichts. Wir wußten das nicht. Es geht allen Neuangekommenen so, sie sind hier anfangs monatelang krank.

Eigentlich jetzt erst, bei meinen Kartoffelausflügen, lerne ich das Dorf kennen. Es ist ein richtiges Bauerndorf, unverfälscht; aber unsere Dörfer sind hübscher. Ach, unsere Grafschaft — an die Hänge gehuschelte Häuser aus Fachwerk mit tiefgezogenen schwarzen Dächern, und die Wände zwischen dem Fachwerk leuchten schneeweiß, weil sie vor jeder Kirmes frisch gekalkt werden. Die bunten Bauerngärten davor, die der niedrige Zaun mit der Straße mehr verbindet als sie von ihr trennt, — mit hängenden Herzen drin und Sonnenblumen, gelben Ringelrosen und dunklem Rittersporn, mit Feuerbohnen und dem so stark nach Sommer duftenden Thymian. Die Wiesen — und dahinter überall die sanftgeschwungenen Höhen, mildgrün oder duftig blau. —

Hier sind die Häuser aus Stein gebaut, zum Teil sehr alt, wuchtig, aber nüchtern, mit Pfannen gedeckt. Die Höfe sind umfriedet von Mauern, über die man nicht gucken und einen nachbarlichen Schwatz halten kann; jedes Haus eine kleine Festung. Abends wird das Tor abgeschlossen. Gärten ums Haus? Kennt man nicht. Wer Interesse an einem Garten hat, legt sich draußen hinter der Schmiedestraße einen Schrebergarten an. Schrebergärten