Eine Frau muss schweigen können - Sylvia Schraut - E-Book

Eine Frau muss schweigen können E-Book

Sylvia Schraut

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Beschreibung

Helene Wolf, die respektable Kaufmannsgattin, hat ein Problem. Vor wenigen Tagen, am 7. Oktober 1865, ist in Mannheim ein Mord geschehen. Eigentlich sind Kriminaluntersuchungen und Gerichtsverfahren keine Frauensache. Gerne würde sie die Suche nach dem Mörder den zuständigen Behörden überlassen. Doch es droht ein Familienskandal. Aber wie kann eine Frau, die ihren Wissensstand dürftig findet, einen Mord aufklären? Ärgerlicherweise hat sie keinen Zugang zu offiziellen Informationen und noch dazu muss sie im Interesse der Familie äußerst diskret vorgehen. Dann ist da noch die ganze Hausarbeit! Die Dienstboten müssen überwacht werden, gesellschaftliche Verpflichtungen fordern ihren Tribut, in Berlin und Leipzig entsteht die Frauenbewegung und zu allem Überdruss gibt es auch noch Krieg zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten. Der historische Kriminalroman spielt in Mannheim, dem Odenwald und Berlin. Er begleitet die Recherchen von Helene Wolf über ein Jahr hinweg zwischen dem 11. Oktober 1865 und dem 6. September 1866.

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sylvia Schraut

Eine Frau muss schweigen können

Historischer Kriminalroman

Impressum

Impressum

Titelbild: Postkarte „Lauschige Winkel“ nach einem Original von Maxim Trübe (Wenau-Brabant No. 1172), gelaufen 1918/19 mit deutschösterreichischer Briefmarke

Titel: Eine Frau muss schweigen können

Untertitel: Historischer Kriminalroman

Autorin: Sylvia Schraut

Herstellung: verlag regionalkultur

Satz: Nico Batschauer, vr

Umschlaggestaltung: Charmaine Wagenblaß, vr

Endkorrektorat: Tamara Klaric, vr

EPUB-Erstellung: Charmaine Wagenblaß, vr

EPUB-ISBN 978-3-89735-021-2

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 280 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-95505-328-4.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Inhaltsverzeichnis

Alltag mit Mord

Frauenthemen

Gehaltvolle Besuche

Marie putzt Schuhe und es weihnachtet

Heikle Befragungen

Ordnungen

Amalie Jung und ein abenteuerlicher Ausflug

Belustigungen und Läuterungen

Ehe- und Arbeitsleben

Waschtag, Kindergeburtstag und Fröbelbewegung

Innere und äußere Reisen

Pelze, Bettfedern und Licht im Dunkel

Damenausflug mit Folgen

Die Abendgesellschaft

Krieg!

Krieg, Not, Sodom und Gomorrha

Krieg und Liebe

Epilog und alles wie gehabt?

Alltag mit Mord

Mittwoch, 11. Oktober 1865

Heute Morgen frühstückte Helene zusammen mit ihrem Mann. Er war allerdings wenig gesprächig und trank seinen Kaffee tief über das „Mannheimer Journal“ gebeugt. Seine dunklen, mit ersten grauen Fäden durchzogenen Haare fielen ihm in die Stirn, und wenn er nicht aufpasste, würden sich ein paar Krümel des Frühstückseis in seinem Schnurrbart verfangen. „Sodom und Gomorrha! Mord und Totschlag“, murmelte er gerade. Was er wohl damit meinte? Es war besser, Julius bei der Zeitungslektüre nicht zu unterbrechen. Darauf reagierte er stets ungnädig. Stören durfte man ihn ohnehin eigentlich nie. Es war immer alles so wichtig, womit er beschäftigt war. „So ist das eben mit Männern und Frauen“, überlegte Helene. Männer trugen die Verantwortung für alle wesentlichen Belange des Lebens. Sie ernährten ihre Familie und kümmerten sich um die öffentlichen Aufgaben in ihren Heimatstädten. Manche trugen darüber hinaus Verantwortung für die Geschicke ihres Heimatlandes. Manchmal begannen sie sogar Revolutionen, weil sie noch mehr an den politischen Geschicken der Nation beteiligt sein wollten. Und die Frauen? Ihnen blieben das Hauswesen und die Unterstützung des Ehegatten. Sie glaubte zwar nicht, dass Rousseau die Beziehungen zwischen Männern und Frauen richtig beurteilt hatte. Ein Paar verband keinesfalls nur die erotische Anziehung, die eine Frau auf ihren Mann ausübte. Schließlich gebar sie ihm seine Kinder und sorgte für diese. Für Rousseau hatte die Vaterschaft allerdings keine Rolle gespielt. Der Philosoph hatte seine unehelichen Kinder im Findelhaus abgegeben. Sein Ruf war dadurch nicht beschädigt worden. Oder unterschätzte sie die erotische Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern, über die Rousseau so anschaulich geschrieben hatte? Reichlich missmutig ging sie in Gedanken die Ratschläge durch, die Henriette Davidis in ihrem Buch „Die Hausfrau“ niedergelegt hatte. Das Buch war ein Geschenk von Tante Eugenie zur Verlobung ihrer Nichte vor fünfeinhalb Jahren, und noch immer nahm sie es gelegentlich zur Hand. „Man verlasse früh morgens nicht das Schlafzimmer, ohne vorher aufgeräumt zu haben, damit dem Dienstmädchen beim Ablegen der Betten kein Aufenthalt werde“, hatte Davidis geschrieben. „Die Gewohnheit mancher Damen sich abends, sich aber dann nicht wieder morgens zu waschen, hat etwas sehr Unangenehmes. Die junge Hausfrau sei also gleich am Morgen frisch gewaschen, ordentlich und nett gekleidet, niemals erscheine sie ihrem Manne anders. Der gute Eindruck am Morgen wird ihn in sein Tagwerk begleiten, gleichwie der Anblick einer unreinlichen und unordentlichen Hausfrau am Morgen für ihn das Bild des ganzen Tages sein wird; letztere kann, und wäre sie noch so schön, unmöglich den Mann fesseln. Ein Morgenrock, zum Waschen eingerichtet, einfach, nett und um die Taille anschließend, mit einem schlichten weißen Krägelchen, ziert die Hausfrau wahrlich mehr als im erwähnten Falle große Schönheit. Das Haar kann nicht sogleich vollständig geordnet werden, es würde für die nötigen Besorgungen zu zeitraubend sein, darum sorge sie für ein einfaches kleidsames Morgenhäubchen.“

Helene gratulierte sich selbst. Sie hatte alles richtig gemacht. Aber von erotischer Anziehung zwischen den Geschlechtern hatte Henriette Davidis nichts geschrieben. Glaubte die Autorin, diese sei zu vernachlässigen? Sollte sie ihren Mann nach seiner Meinung über Rousseau und die Beziehung zwischen Mann und Frau befragen? Besprach man so etwas mit seinem Ehemann?

Julius indes war im Aufbruch. „Sodom und Gomorrha! Mord und Totschlag“, wiederholte er kopfschüttelnd, während er die Zeitung zusammenfaltete. Er küsste sie auf die Stirn und verschwand in seinen Geschäftsräumen.

Was es wohl mit „Mord und Totschlag“ auf sich hatte? Gar zu gerne hätte sie jetzt nach dem „Mannheimer Journal“ gegriffen. Aber die leidige Pflicht rief. Helene beschloss, „Sodom und Gomorrha“ später nachzugehen, denn heute stand wie jeden Mittwoch die Grundreinigung des Wohnzimmers an. Die konnte sie Marie nicht allein überlassen. Das Mädchen arbeitete sonst zu nachlässig.So waren sie halt, die Dienstmädchen! Schon vor dem Frühstück hatte Helene die Fenster im Wohnzimmer geöffnet und die kühle Herbstluft hereingelassen. Jetzt trug sie die Blumenvasen und Blumentöpfe in den Vorraum, ordnete die Zeitungen und Modejournale in den für sie vorgesehenen Korb und stellte die herumliegenden Bücher in den Bücherschrank im Kaminzimmer. Über Kommoden, Tischchen und Polstermöbeln breitete sie Möbeltücher aus. Nun konnte Marie die Gardinen und Portieren hochstecken und die Fenster putzen, die kleinen Teppiche hinaustragen und die größeren mit Teeblättern reinigen. Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Sie selbst wandte sich den Topfpflanzen zu. Sich um diese zu kümmern, machte ihr Freude. Anna, die Köchin, hatte frisches Wasser vom Brunnen geholt und leicht angewärmt. Vorsichtig tupfte Helene die Blattpflanzen mit einem Schwamm ab. Die übrigen Stöcke würde sie anschließend im Hof mit einer Blumenspritze von Staub befreien. So ein Gerät war äußerst praktisch. Hoffentlich war dann Marie auch so weit, dass sie das Zimmer ausfegen und wischen konnte. Anschließend sollte sich das Mädchen ans Bohnern des Parketts machen. Helene blickte kritisch auf die Messingknöpfe der Türen. Ja, die mussten bei der nächsten Grundreinigung mit Putzseife gesäubert und mit Putzpomade wieder zum Glänzen gebracht werden. Schließlich waren sie ein Aushängeschild für den Zustand des Haushalts. Es galt, einen guten Ruf zu verteidigen. Auch die Lampen waren bald in ähnlicher Weise zu putzen. „Putzen, putzen, putzen“, dachte Helene resigniert. Sie hatte zwar ausreichend Hilfe, aber die Verantwortung dafür, dass alles ordnungsgemäß verlief, konnte sie nicht aus der Hand geben. Nachdem sie Marie nachdrücklich ermahnt hatte, beim Bohnern nicht die Zimmerecken zu vergessen, verließ die Herrin des Hauses das Wohnzimmer und zog sich in das blaue Gartenzimmer, ihr so recht eigentlich eigenes Reich, zurück. Es war der einzige Raum im Haus, den sie nach ihrem Geschmack hatte einrichten können. Das Zimmer lag aus der Hausfront herausragend zum Innenhof hin. Die großen Sprossenfenster reichten auf drei Seiten des Raumes vom Fußboden bis zur Decke und sorgten für eine schöne Lichtstimmung. Vor den türkisblau gehaltenen Wänden machte sich die reichliche Pracht der Zimmerpflanzen besonders dekorativ. Helene war stolz auf ihre Pflanzen. Keine der Damen, mit denen sie gesellschaftlichen Umgang pflegte, konnte eine ähnliche Pflanzenvielfalt in ihrer Wohnung vorweisen. Man hatte selbstverständlich jegliches Lob bescheiden zurückzuweisen. Aber insgeheim war sie der Meinung, dass sie auch in der Möblierung ihres Reiches weitaus mehr Geschick bewiesen hatte als alle ihr bekannten Damen der Gesellschaft. In der Mitte des Raumes stand eine größere Sitzgruppe mit Tischchen und Stühlen aus Bugholz mit Korbgeflecht von Thonet (Fauteuil Nr. 3). Sie konnte bei Bedarf, zum Beispiel für Tee-Gesellschaften, erweitert werden. Die zierliche Kommode und das Schreibtischchen im englischen Stil Georges III. aus Mahagoni mit Fadenintarsien aus Stechpalme, das sie so sehr liebte, entstammten dem Haushalt ihrer Großeltern mütterlicherseits. Sie waren wohl schon Ende des vorigen Jahrhunderts hergestellt worden, aber sie passten bestens zu den Thonet-Möbeln, um die sie alle beneideten. Der Papagei und die Goldfische brachten Leben und Farbe in den Raum. Ein Klavier, behäbig und schwer, aber ein notwendiger Ausweis für die musische Bildung der Hausherrin, war an der Wand neben der Eingangstüre zum Gartenzimmer untergebracht. Helene blickte zufrieden um sich. In den übrigen Zimmern standen überwiegend Möbel, die schon ihre Schwiegereltern besessen hatten. Ihre eigene Mutter hatte es übernommen, das Schlafzimmer von Helene und Julius zu möblieren. „Ich bin natürlich nicht nach meiner Meinung gefragt worden“, dachte Helene bitter. Nach ihrem Geschmack waren die Möbel zu altmodisch und zu schwer. Aber selbstverständlich hatte sie sich dankbar und erfreut über die Mühen ihrer Mutter gezeigt. Ja, so ein großes Kaufmannshaus musste nicht nur dem Status seiner Bewohner entsprechend ausstaffiert werden, es machte auch recht viel Arbeit. Gut, dass die Geschäfte von Julius hervorragend liefen und sie sich genügend Personal leisten konnten. Wie sonst konnte man ein standesgemäßes Haus führen? Ihre Mutter hatte ihr aus ihrem eigenen Gesinde zwei erfahrene, halbwegs fleißige und diskrete Dienstboten, die Köchin Anna und Marie, das „Mädchen für alles“, mitgegeben, als sie 1860 aus dem Heidelberger Elternhaus austrat und den angesehenen Mannheimer Kaufmann Julius Wolf, seines Zeichens Besitzer etlicher Tabakfabriken und Getreidegroßhändler, heiratete. Anna war absolut zuverlässig und der Familie Wolf treu ergeben. Sie ging schon auf die 40 zu. Es war also nicht mehr zu erwarten, dass sie noch einmal heiraten würde. Irgendwie gehörte sie sozusagen zur Familie. Selbstverständlich nur am Rande, und man würde sich beizeiten Gedanken machen müssen, was mit ihr geschehen sollte, wenn sie einmal nicht mehr arbeiten konnte. Über Maries Loyalität hatte Helene so ihre Zweifel. Aber es war ohnehin besser, dem Gesinde gegenüber ein gesundes Misstrauen zu bewahren.

Da die Eltern von Julius bereits verstorben waren, hatte er den eigenen Hausstand in seinem Elternhaus begründen können. Im Erdgeschoss waren die Warenlager, die Geschäftsräume und das Kontor des Hausherrn untergebracht. Der erste Stock diente dem Familienleben und stellte genügend Raum zur Verfügung, um Gesellschaften im eigenen Haus abhalten zu können. Man musste dazu einfach die Flügeltüren zwischen den Wohnräumen öffnen. In der letzten Ballsaison hatte das Handelshaus Wolf eine große Gesellschaft gegeben. Mit Genugtuung hatte sie beobachtet, wie anerkennend die eingeladenen Damen ihre Raumdekoration gemustert hatten. Im Dachgeschoss befanden sich die Kammern der Dienstboten, von Anna, Marie und neuerdings von Johann, der sich vor allem um die Pferde und den Garten kümmerte. Für die beiden Kinder war noch ein Kindermädchen zum Haushalt dazugekommen. Ihre Kammer, die Kinder- und das Gästezimmer waren ebenfalls im Dachgeschoss eingerichtet worden. Erfreulicherweise hatte Julius nach ihrer Heirat das Arrangement beibehalten, das er als lediger Kaufmann für seinen ständigen Handlungsgehilfen und seine zwei Lehrlinge getroffen hatte. Sie waren äußerst günstig als Pensionäre im nahegelegenen Gasthaus „Zum kühlen Krug“ untergebracht. Helene musste sich folglich nicht um deren Wohlergehen kümmern. Das hatte sie doch sehr erleichtert. Auch noch das Personal des Handelshauses zu versorgen, hätte ihre ohnehin geringe freie Zeit noch weiter geschmälert. Zum Lesen wäre sie gar nicht mehr gekommen. Zudem war die Küche ohnehin zu klein, und die Köchin wäre ohne weitere Hilfe mit der Verköstigung so vieler Personen überfordert gewesen.

„Nun ist mein Eduard auch schon vier Jahre alt, und die drollige Amalie feiert im kommenden März ihren dritten Geburtstag“, dachte Helene leicht gerührt. Gottlob waren ihre beiden Kinder gesund, und sie entwickelten sich prächtig. Das lag selbstverständlich auch daran, dass sie das Kindermädchen wachsam beaufsichtigte. Sie konnte mit ihrem Leben wirklich sehr zufrieden sein! „Eine Tasse Tee täte jetzt gut“, befand sie. Und da sie Marie nicht beim Bohnern stören wollte, machte sie sich selbst auf den Weg, um sich Tee von der Köchin zu erbitten. Zum Mittagessen würde es heute Blumenkohlsuppe, gedämpfte Kalbsbrust, eine Lieblingsspeise des Hausherrn, und Birnenkompott geben. Julius wollte mit einem Geschäftspartner zum Essen kommen und hatte sich ein gediegenes, nicht zu aufwendiges Mahl erbeten. Beruhigt stellte Helene fest, dass die Vorbereitungen in der Küche in gutem Lauf waren. Sie konnte sich also – wenn auch mit schlechtem Gewissen – dem „Mannheimer Journal“ widmen, das im Gartenzimmer auf sie wartete. „Du junges Hausfrauchen musst selbst früh wachsam sein“, hatte Henriette Davidis ermahnt. „Musst rührig und lebendig auf deine Umgebung einwirken, dich überall bei den Arbeiten blicken lassen und es zeigen, dass du alles beachtest. Gerade dadurch wirst du bei den Dienstboten das Interesse für ihre Arbeiten ganz anders wecken, als wenn sie wissen, dass ihr Tun nicht beachtet wird … Verlangst du so die Arbeiten von deinen Dienstboten vom frühen Morgen bis zum Abend, dann wirst du es dir in deinem eigenen Interesse nicht gestatten, des Morgens selber der Ruhe zu pflegen, da du solche nach Wunsch und Willen, so oft du derselben bedarfst, dir wirst gewähren können.“

Dem Urteil der Verfasserin würde sie folglich nicht standhalten, resümierte Helene. Es hatte sie immer schon geärgert, dass weder ihre Eltern noch ihre Erzieherinnen Lesen als sinnvolle Beschäftigung für ein Mädchen oder eine Frau betrachteten. Auch im Pensionat war die Beschäftigung mit Lektüre nur erlaubt gewesen, wenn es sich um unterrichtsnahen Lesestoff gehandelt hatte. In ihrem Elternhaus hatte sie manche Nachtstunde in ihrem Bett heimlich im Kerzenlicht lesend zugebracht. Wahllos und verstohlen hatte sie Bücher aus dem nicht sonderlich gefüllten Bücherschrank ihres Vaters mit in ihr Zimmer genommen. In ihrem verzweifelten Lesehunger hatte sie sogar begonnen, das Conversationslexikon systematisch zu erforschen. Bis zum Buchstaben D war sie vorgedrungen. Noch immer hatte sie das Gefühl, etwas nahezu Verbotenes zu tun, wenn sie die Hausarbeit vernachlässigte und sich einer Lektüre widmete. Aber sie las doch so gern! Und keineswegs nur die Zeitung. Erfreulicherweise verfügte Julius über eine umfangreiche Bibliothek, aus der sie sich schon manches interessante Buch gegriffen hatte. Vor allem die Reisebeschreibungen hatten es ihr angetan. Zu wenig Romane hatten die Bücherregale von Julius zu bieten. Sie würde dem nach und nach abhelfen.

Der unverständliche Ausspruch von Julius beim Frühstück „Sodom und Gomorrha, Mord und Totschlag“ wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Aufklärung versprach einzig das „Mannheimer Journal“. Auf dem Schreibtisch lagen die Ausgaben der Zeitung von heute und von den letzten beiden Tagen. Gestern war Waschtag gewesen. Zwar war die meiste Arbeit gottlob von der Wäscherin erledigt worden, die vierzehntägig ins Haus kam. Auch Marie hatte mit angepackt. Doch sie selbst hatte das Ganze überwachen müssen. Zeit zum Lesen war da leider nicht geblieben. Tags zuvor war sie zum Tee bei Frau Oberhofgerichtsrat Rotermund eingeladen gewesen. Mit den üblichen Haushaltsfragen und der Visite war auch dieser Tag ärgerlicherweise ohne Zeitungslektüre verflogen. Die würde sie jetzt nachholen.

Helene beschloss, mit der ältesten Ausgabe der Zeitung anzufangen. Sie musste nicht lange suchen, bis sie Artikel fand, die sich mit Mord und Totschlag beschäftigten. Letzte Woche hatte eine Reihe von Verhandlungen am hiesigen Schwurgericht stattgefunden. Das „Mannheimer Journal“ pflegte ausführlich von den Prozessen zu berichten. Aber auf den ersten Blick deutete nichts auf eine Anklage wegen Mordes oder Totschlags hin. Bei den vermischten Nachrichten wurde sie schließlich fündig.

„Mannheim, 9. Oktober. Am gestrigen Sonntag nachmittags um 2 Uhr machten Gemeinderechner Dinkel und Waldhüter Neuer von Neckarsteinach eine grausige Entdeckung im Neckarvorland auf dem Weg zu den Mannheimer Neckargärten. Sie fanden auf dem Weg die Leiche eines Mannes, der offenbar ermordet worden war. Derselbe lag quer über den Weg mit der Vorderseite des Körpers gegen den Boden gekehrt. Der Kopf war etwas links gewendet, in der Nase zeigte sich geronnenes Blut und auf dem behaarten Teil des Kopfes oberhalb der Stirn sah man eine Verletzung. Der linke Arm lag unter dem Körper, der rechte Arm war gebogen und die geschlossene Hand, welche ein Stöckchen hielt, in die Hüfte gestemmt. Rechts am Kopfe der Leiche, etwa 1 Fuß davon entfernt, lag der Wassersack und das Rohr einer Tabakspfeife, links von der Leiche, 2 Fuß von derselben entfernt ein porzellanener Pfeifenkopf. Die Mundspitze der Pfeife hatte der Leichnam noch im Munde. Einen Schritt vom Kopfe entfernt fand sich der Hut des Getöteten, ein sogenannter Dreispitz. Da wo der Kopf lag, war eine größere Blutlache auf dem Boden. Der Tod war offenbar schon am Vortag eingetreten. Nur wenige Schritte entfernt sah man im Weg den Eindruck eines Absatzes, als ob sich jemand dort auf dem Absatz herumgedreht hätte. Die beiden Finder der Leiche machten sofort auf der Polizeistation Meldung von ihrer Entdeckung. Die Identität des getöteten Mannes ist noch nicht geklärt. Die Polizei bereitet derzeit Aushänge vor, auf denen die Leiche mit ihrer Kleidung näher beschrieben werden soll, und hofft, dass sich bald Bürger melden, die den Getöteten kennen oder Hinweise auf den Täter und den Tathergang geben können. Schon jetzt aber wollen wir unserer Bestürzung darüber Ausdruck geben, dass nun also auch ein großes Gewaltverbrechen unsere an sich so friedliche Stadt heimgesucht hat. Wir hoffen, dass der Täter bald seiner gerechten Strafe zugeführt werden kann.“

Helene war schockiert. Eine solche Bluttat in Mannheim, das war wirklich erschreckend. Selbstverständlich fanden auch hier Straftaten statt. Nicht selten gab es Nachrichten über Diebstähle oder Raufereien und sonstige Händel. Mit ihrem eigenen Leben hatten solche Vorkommnisse wenig zu tun. Vor dem hiesigen Schöffengericht wurden allerdings häufig entsprechende Delikte verhandelt. Aber Helenens Ansicht über die örtliche Kriminalität entsprach viel eher eine kurze Nachricht, die sie letztens in der Zeitung gelesen hatte. Wie das Journal berichtete, hatte sich eine Frau, die unter der Anschuldigung der Entwendung eines Kübels vor das Schöffengericht kommen sollte, am Morgen der Gerichtsverhandlung erhängt. Das war zwar betrüblich, zeugte jedoch mehr vom Schuldgefühl der Diebin als von ihrer Verwahrlosung.

Die Wanduhr im Esszimmer schlug elf. Helene schreckte hoch. Es half alles nichts. Sie musste sich sofort wieder um ihre Hauswirtschaft kümmern. Hoffentlich war Marie mit dem Wohnzimmer fertig. Auf ein Uhr war Julius mit seinem Geschäftsbesuch angekündigt. Eine kurze Überprüfung des Arbeitsstandes im Wohnzimmer machte ihr klar, dass sie heute ärgerlicherweise selbst den Tisch würde decken müssen. Für das kleine (geschäfts)freundschaftliche Mittagessen im Esszimmer war nicht allzu viel Aufwand nötig. Der Esstisch brauchte nicht mit Hilfe von eingelegten Platten erweitert werden. Es galt, die Balance zwischen Alltag und informellem Geschäftsessen zu halten. Ein schlichtes weißes Damasttischtuch und ein seidener Tischläufer genügten. Sie würde das gewöhnliche Porzellan verwenden, beschloss sie. Das musste nicht eigens abgerieben und poliert werden. Die Kristallgläser und das gute Silber sollten den Gesamteindruck ein wenig heben. Erfreulicherweise hatte sie erst vorgestern Marie damit beschäftigt, das Silberzeug abzuledern. Auch dieses konnte sie daher ohne Mehraufwand einsetzen und so einen diskreten Hinweis auf den Wohlstand des Handelshauses Wolf unterbringen. Ein paar herbstliche Weinranken aus dem Garten in der Mitte des Tisches drapiert, und fertig war der Tischschmuck. Man wusste sich schließlich zu helfen. Ganz, wie sie es im „Großherzoglichen Fräulein-Institut“ gelernt und im elterlichen Haushalt eingeübt hatte, verteilte sie die flachen Teller, rechts daneben die Messerbänkchen, dazu die Messer mit der Schneide nach innen, und die Gabel, darüber den Suppenlöffel, quer vor den Teller auch den Kompottlöffel. Vor jedes Gedeck stellte sie die Wasser- und Rheinweingläser, etwas nach rechts verschoben – oder sollte sie diese doch schräg nach der Tafelmitte zu anordnen? Nein, das wirkte zu formell. Nun nur noch die kleinen Salznäpfchen vor jedes Gedeck und die Damastservietten auf die Teller, dann war sie fertig, denn Tischkarten brauchte es für die kleine Runde wahrlich nicht. Die Wanduhr schlug halb zwölf. Der Kontrollgang ins Wohnzimmer trug zu ihrer Beruhigung bei. Das Dienstmädchen war schon damit beschäftigt, die Teppiche wieder auszulegen – hoffentlich hatte sie diese anständig ausgeklopft – und die Möbeltücher zu entfernen. Helene blieb also noch genug Zeit für die Toilette. Welches Tageskleid war wohl dem Anlass angemessen? Vielleicht das dunkelgrüne schlichte Baumwollkleid mit den raffinierten Rosetten an der Seite? Den einfachen Haarknoten, den sie schon am Morgen aus ihren langen blonden Haaren geschlungen hatte, würde sie beibehalten und keine aufwendigere Frisur gestalten. Dafür reichte ohnehin die Zeit nicht, musste sich die Hausherrin eingestehen.Das Kleid betonte über dem weiten schwingenden Rock ihre schmale Taille, die sie trotz der zwei Geburten noch immer vorzeigen konnte. Darauf war sie richtig stolz. War das schon wieder ein Ausdruck von unangemessener Eitelkeit? Egal! Die Farbe des Kleides harmonierte so gut mit ihren braunen Augen. Nur die diskret angedeutete Schleppe ließ den Kenner wissen, dass es sich eigentlich nicht um ein einfaches Kleid handelte. Sicherlich war der eingeladene Gast in der Lage, ihre Toilette zu würdigen. Plötzlich ertönte lautes verzweifeltes Kindergeschrei auf der Treppe zum Dachgeschoss. Besorgt eilte sie die Treppe hinauf. Die kleine Amalie kam ihr schluchzend entgegen, gefolgt vom großen, weit die Augen aufreißenden Bruder und dem nicht minder verschreckt wirkenden Kindermädchen. Wie ihr alle drei durcheinander berichteten, hatte Amalie ihre Stoffpuppe auf die Treppe gesetzt. Als diese zwei Stufen hinunterfiel, tat es ihr die kleine Puppenmutter nach, weil sie ihr Puppenkind retten wollte. Gottlob war nichts Schlimmeres passiert. Helene fiel ein Stein vom Herzen. Aber ermahnen musste man das Mädchen wohl schon. Helene nahm ihr Töchterchen auf den Arm, streichelte ihm über den wilden blonden Lockenkopf (noch konnte man keine Zöpfe flechten) und erklärte mit strengem Ton:

„Du weißt, dass du nicht allein an die Treppe darfst! Da kannst du sehen, was passiert, wenn du nicht brav bist! Du machst deine Mutter ganz traurig, wenn du nicht gehorsam bist!“

Amalie nickte ergeben und wischte sich die Tränen ab. „Das Kind ist halt doch schon recht verständig“, dachte Helene zufrieden. „Wir sprechen uns später“, herrschte sie das Kindermädchen an, setzte ihre Tochter ab und ergänzte, um Mäßigung ihrer Lautstärke bemüht: „Die Kleider der Kinder sind auch nicht mehr sauber. Du vernachlässigst deine Aufgaben!“ Damit war wohl ihren mütterlichen und hausfraulichen Pflichten Genüge getan.

„Jetzt komme ich aber wirklich in Bedrängnis mit der Toilette“, dachte sie auf dem Weg ins Ankleidezimmer. Beschämt stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, wen Julius zum Mittagessen mitbringen wollte. Es würde einiges Geschick in der Konversation beim Essen erfordern, den passenden Sachverstand und das nötige Wissen über den Gast einzubringen, wenn in ihrem Gedächtnis so gar nichts von den Erläuterungen ihres Mannes hängengeblieben war. Helene seufzte.

Das Mittagessen verlief zu ihrer Erleichterung dann ohne jede Störung und Peinlichkeit. Julius stellte ihr seinen Gast ausführlich vor. Robert Blochmann, der Tabakkaufmann aus Frankfurt, ein großer hagerer Mann mit schütterem Haar und freundlichen Augen, wollte sich das Etablissement zur Herstellung von Zigarren anschauen, das Julius nach modernsten Gesichtspunkten hatte errichten lassen und in dem er eine beträchtliche Zahl von Arbeiterinnen beschäftigte. Helene war erleichtert. Zum Thema Tabak würde sie ein paar Sätze in die Konversation einfließen lassen können. Artig hatte sich der Gast zur Begrüßung tief über ihre Hand gebeugt und sich für die freundliche Essenseinladung bedankt. Zu ihrer Überraschung wollte Julius dem Geschäftspartner die Kinder vorstellen.

„Du musst wissen“, sagte er augenzwinkernd zu seiner Frau, „Robert Blochmann ist ein alter Fröbelianer.“

Was um Himmels willen war ein Fröbelianer? Konnte man das fragen oder bewies man damit seine mangelnde Bildung? Aber die galt ja bei Frauen eher als Vorteil denn als kritikwürdig, befand Helene irritiert. Wie auch immer, es blieb keine Zeit, die Wissenslücke zu füllen. Helene klingelte nach dem Kindermädchen und den Kindern. Wenig später standen sie – erfreulicherweise frisch gekleidet und mit sauberen Händen– vor dem Besuch. Ihre gute Erziehung bewiesen sie, indem sie stumm den Fremden musterten. Der fragte gütig, ob der Sohn des Hauses denn schon mit Zinnsoldaten spiele. Eduard holte tief Luft und nickte wortlos. Klein-Amalie zeigte ebenso schweigend die Stoffpuppe vor, die sie so sehr liebte, und der Gast beeilte sich, sie zu loben. „Mädchen können nicht früh genug anfangen, ihre mütterlichen Aufgaben zu trainieren“, erklärte er dem staunenden Kind, das wohl nicht so recht verstand, wovon die Rede war. An das Kindermädchen gewandt dozierte Herr Blochmann ein wenig über die Notwendigkeit, sich mit Kindern viel an der frischen Luft, in Wiesen und Gärten aufzuhalten. Dort könnten sie ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen und so körperliche Sicherheit erlangen. Julius und Helene beeilten sich, zustimmend zu nicken, obwohl sie wohl beide zumindest vom Bewegungsdrang von Mädchen nicht allzu viel hielten. Dann konnten sich die Kinder zu ihrer eigenen Erleichterung und zu der ihrer Mutter zurückziehen. Selbstverständlich würden sie wie jeden Tag mit dem Kindermädchen in ihren eigenen Räumen zu Mittag essen. Es würde noch einige Jahre dauern, bis sie erzogen genug waren, um mit den Eltern zu speisen. „Wir müssen uns nicht damit beeilen, die Kinder an den Mahlzeiten der Erwachsenen teilnehmen zu lassen“, überlegte Helene. Es war doch weitaus ruhiger ohne sie. Andererseits, wie sollten sie jemals gutes Benehmen lernen, wenn sie keine Chance zum Üben hatten? Am besten überließ sie die Entscheidung Julius. Am Esstisch wanderte das angenehm fließende Gespräch vom vertrauten Thema Tabak weiter zu den brennenden sozialen Fragen der Zeit. Angesichts der guten wirtschaftlichen Lage sei es immer schwerer, Arbeitskräfte für die Tabakindustrie aus dem heimischen Arbeitskräftepotential zu gewinnen, erzählte Julius, und Helene bemühte sich um sichtbares Interesse an seinen Ausführungen. Für die zuziehende Arbeiterschaft gäbe es indes schon seit dem letzten Jahrzehnt nicht mehr genügend billigen Wohnraum. Um diesem Missstand abzuhelfen, habe sich jüngst die „Gesellschaft für gemeinnützige Zwecke“ gebildet. Sie wolle unter anderem für billige und gesunde Arbeiterwohnungen sorgen und zu diesem Ziel eine Baugenossenschaft gründen. In Mannheim gebe es derzeit rund 2.000 Arbeiterfamilien mit etwa 8.000 Köpfen, die größtenteils sehr schlecht wohnten. Wolle man überdies neue Arbeitskräfte anwerben, bräuchte es unbedingt ein reformorientiertes Bauprogramm. Selbstverständlich sei er, als wichtiger Arbeitgeber in der Tabakfabrikation, Mitglied in der neuen Gesellschaft geworden. Sie habe bei der „Gesellschaft der Ärzte“ ein Gutachten angefordert, dass aus medizinischer Sicht die gesundheitlichen Folgen mangelhaften Wohnraums beleuchten solle. Es sei für den Januar angekündigt. Der Gast zeigte sich äußerst interessiert an den sozialen Unternehmungen ihres Mannes. „Ob das was damit zu tun hat, dass Blochmann Fröbelianer ist?“, fragte sich Helene und beschloss später unbedingt zu klären, was sich unter dieser ominösen Bezeichnung verbarg. Kurz bevor Julius und sein Gast aufbrachen – Helene hatte schon begonnen, ihre höfliche, größtenteils schweigsame Aufmerksamkeit zu reduzieren – sprach Robert Blochmann tatsächlich noch kurz den Mannheimer Mordfall an. Bis nach Frankfurt sei die Kunde vom Mannheimer Mord gedrungen. Und heute habe er im „Mannheimer Journal“ gelesen, dass bereits ein Verdächtiger verhaftet worden sei. Man könne die hiesigen Polizeibehörden nur loben.

„Künstler sind und bleiben halt doch ein zwielichtiges Volk“, warf Julius ein. „Die großen begnadeten künstlerischen Genies natürlich ausgenommen“, ergänzte sein Geschäftspartner. „Freilich lässt auch deren Moral nicht selten zu wünschen übrig!“

Und bevor Helene fragen konnte, was es mit diesen Bemerkungen auf sich habe und was einen Künstler mit dem Mord in Zusammenhang brachte, verabschiedeten sich Julius und sein Gast und stiegen die Treppe hinab in Richtung der Geschäftsräume im Erdgeschoss. Helene zog es mit Macht zu den Zeitungsausgaben auf ihrem Schreibtischchen. Aber, rief sie sich zur Ordnung, erst mussten die notwendigen Haushaltsarbeiten verrichtet werden. Das Tischabdecken konnte sie der Köchin und Marie überlassen. Das Silber nachzuzählen, damit auch ja nichts verloren ging, so wie Davidis es den jungen Hausfrauen empfahl, hielt Helene für übertrieben. Auch hätte sie es unpassend gefunden, die übrig gebliebene Fleischspeise selbst in der Speisekammer zu versorgen. Sie vertraute der Köchin und hatte ohnehin wenig Vergnügen daran, ihre Zeit mit Kontrollarbeiten zu vertrödeln. Sie vermerkte allerdings sehr wohl, dass die Essensreste morgen den Dienstbotentisch angenehm bereichern würden. „Jedenfalls sei es deine Sache, ohne Ausnahme täglich das Essen der Dienstboten selbst zu versuchen, und das etwa Fehlende noch hinzuzufügen und auf Mängel aufmerksam zu machen. Das Essen der Dienstboten muss mit derselben Aufmerksamkeit und Reinlichkeit behandelt werden, als das für den eigenen Tisch.“ In Gedanken sah Helene Henriette Davidis mit erhobenem Zeigefinger vor sich stehen. Vernachlässigte sie schon wieder ihre Pflichten? Energisch verbannte sie das Bild. Ein Mord in Mannheim legitimierte zweifellos ein paar Nachlässigkeiten in der Haushaltsführung. Rasch noch das Kindermädchen instruieren, worauf es angesichts des kalten Oktoberwindes beim täglich, so auch heute angesetzten Spaziergang mit den Kindern zu achten habe, dann konnte sie sich endlich wieder dem „Mannheimer Journal“, zunächst der gestrigen Ausgabe widmen. Sie musste nicht lange suchen.

„Mannheim, 10. Oktober. Vom Mordfall in den Neckargärten gibt es Neues zu berichten. Den Polizeibehörden ist es schon gestern gelungen, die Identität des Getöteten zu klären. Es handelt sich um den hiesigen Bürger und Kaufmann Georg Munch (47 Jahre). Derselbe war Inhaber des Leinengroßhandelsgeschäfts gleichen Namens, das Stoffe und Gewebe aller Art importiert und zum Kauf anbietet. Georg Munch unternahm auch selbst die Leinenheimweberei, vor allem aber die Heim-Strohflechterei in großem Umfang im Odenwald. Viele Bauernkinder verdanken dem Handelshaus Munch ein wichtiges Zubrot zu ihrem bäuerlichen Einkommen. Die Ehefrau und nunmehrige Witwe des Getöteten, Katharina Munch, vermutete ihn auf Geschäftsreise beim Besuch verschiedener Heimarbeiter im Odenwald. Als er nicht wie geplant am Abend des 7. Oktober heimkehrte, glaubte sie noch an eine unerwartete Verlängerung der Reise. Die Nachricht von der Auffindung des Toten bewog sie jedoch, sich bei den Behörden nach dem getöteten Mann zu erkundigen, der sich rasch als ihr Ehemann herausstellte. Das Handelsunternehmen Munch besitzt im Neckarvorland eine Reihe großer Gärten. Die untröstliche Witwe glaubt, ihr heimkehrender Mann habe sie in den Gärten vermutet und wahrscheinlich deshalb seine Schritte dorthin gelenkt. Katharina Munch wird derzeit ausführlich von der Polizei befragt. Sie hofft, dass die Witwe dazu beitragen kann, das gewerbliche und gesellschaftliche Umfeld des Ermordeten zu beleuchten und will auf diese Weise den möglichen Täterkreis bestimmen. Im Übrigen bitten die Untersuchungsbehörden um Hinweise aus der Bevölkerung. Wer hat Georg Munch am letzten Samstag, 7. Oktober gesehen? Sind den Besuchern der Neckargärten an diesem Tag Fremde aufgefallen, die sich dort herumtrieben? Sind etwaige Konflikte bekannt, in die der Ermordete verwickelt war? Jede ungewöhnliche Beobachtung kann dazu beitragen, den Mord aufzuklären. Das Mannheimer Journal wird über den weiteren Fortgang der Kriminaluntersuchung berichten.“

Helene war bestürzt. Das Handelsgeschäft von Georg Munch war eine Mannheimer Institution, auch wenn sie selbst in der Regel ihre Stoffe von anderen Handelshäusern bezog. Denn feinere und deshalb teure Gewebe wurden bei Munch nicht angeboten, und für Waren aus Stroh – eine Spezialität des Handelshauses Munch – hatte sie keine Verwendung. Die waren ihr dann doch zu volkstümlich. Sie konnte sich nicht erinnern, mit dem Geschäftsinhaber mehr als ein paar Höflichkeiten auf Vereinsfeierlichkeiten ausgetauscht zu haben. Katharina Munch war ihr indes durchaus bekannt. Hin und wieder traf man sich auf größeren Tee-Gesellschaften oder bei kulturellen Veranstaltungen, Bazars und ähnlichen Ereignissen, die zur Unterstützung der Armen dienten. Die nicht sonderlich attraktive Kaufmannsehefrau war ein paar Jahre älter als ihr Mann. Sie stammte aus einer alten angesehenen Mannheimer Familie, und sie benahm sich entsprechend würdevoll. Offensichtlich war sie sehr belesen und auf ihr kulturelles Niveau stolz. „Zu Recht“, dachte Helene ein wenig neidisch. Das Auftreten der Ehefrau des Mordopfers war nach Meinung Helenes dem Warenangebot des Handelshauses Munch nicht angemessen. Aber wenn man den sozialen Stand der Eltern nicht halten kann, betont man vielleicht die eigene Herkunft besonders? War ein solches Verhalten wirklich verwerflich? Eigentlich hatte Katharina Munch das Geschäft in die Ehe eingebracht. Wie sie bei jeder Gelegenheit erzählte, war es schon ihr Großvater gewesen, der das Handelshaus aufgebaut hatte. Ebenso häufig hatte sie in die Konversation einfließen lassen – auch wenn es unpassend war –, dass ihr Mann aus dem Odenwald stammte und nicht sonderlich gebildet, aber vertraut mit der Odenwälder Heimarbeit sei und diese deshalb mit dem Mannheimer Handelsgeschäft habe verbinden können. Ob Helene wohl einen Kondolenzbesuch machen musste?

Es wurde schon wieder düster, und sie konnte die Lettern des Journals nur noch schemenhaft erkennen. Ja, die dunkle Jahreszeit schritt mit Riesenschritten voran. Gut, dass sie letztens dafür gesorgt hatte, alle Petroleumlampen auf das Sorgfältigste inwendig säubern zu lassen. Sie hatte dafür eigens einen zuverlässigen Klempner bestellt. Die äußerliche Reinigung der Lampengläser – unabhängig, ob es sich um lackierte Lampen oder solche aus Gusseisen oder Messing handelte – besorgte Marie ohnehin täglich. Julius dachte darüber nach, das Haus mit den neumodischen Gaslampen ausstatten zu lassen. Aber wenn sie ihn richtig verstanden hatte, dann würde eine solche Umstellung zwar die tägliche Arbeit mit dem Licht verringern und insgesamt die Beleuchtung der Räume verbessern, aber eine Reihe aufwendiger Ein- und Umbauten nötig machen. Wie auch immer: Das zu entscheiden, war seine Aufgabe. Helene überlegte, ob sie die dritte noch zu lesende Ausgabe des „Mannheimer Journals“ bei Kerzenlicht bewerkstelligen wolle. Sie entschied sich dann aber doch, zuvorderst ihren mütterlichen Pflichten zu genügen, denn inzwischen war das Kindermädchen mit den Kindern vom Spaziergang zurück. Helene hatte die drei freundlich an der Eingangstür in Empfang nehmen wollen, war dann aber abgelenkt gewesen. Denn aus dem Nachbarhaus, das ähnlich wie das ihre, das Handelsgeschäft seines Besitzers im Erdgeschoss und im ersten Stock die Privaträume seiner Familie enthielt, war mit tief gebeugtem Kopf die Hausherrin, Hedwig Wolf, getreten. Ganz im Gegensatz zu sonst war sie eher nachlässig und nicht über ihre Verhältnisse hinausgehend teuer gekleidet. Das war Helene selbstverständlich sofort aufgefallen. Hedwig war die Ehefrau von Emil Wolf, dem Inhaber des Kolonialwarenhandels Wolf, eines Vetters von Julius. „Man kann die Geschäfte von Emil Wolf nicht mit denen von Julius vergleichen“, dachte Helene und schämte sich gleich ein wenig wegen ihrer Hochnäsigkeit. Sie beruhigte sich jedoch recht schnell. Schließlich lud sie wegen der nahen Verwandtschaft ihre angeheiratete, nahezu gleichaltrige Cousine gelegentlich zu Tee-Gesellschaften ein – natürlich nur, wenn es die Zusammensetzung der übrigen Gäste erlaubte. Helene stellte sich daher auf ein kleines Gespräch mit Hedwig ein, über das Wetter, den neuesten Mannheimer Klatsch oder die Pariser Mode. Aber die Cousine blickte nur kurz auf. Sie nickte ebenso knapp und eilte an ihrer Nachbarin vorbei. „Gut“, dachte Helene ein wenig irritiert, „dann sind jetzt also doch die Kinder an der Reihe.“ Gemeinhin ließ es sich die Mutter nicht nehmen, im Kinderschlafzimmer dem wissbegierigen Eduard vor dem Zubettgehen eine Geschichte aus dem Struwwelpeter vorzulesen. Klein-Amalie hörte dann auch brav zu. Allerdings hatte Helene Zweifel, ob ihre Tochter schon genügend Verstand für die Geschichten besaß. Aber das Mädchen würde sich vielleicht doch manches Lehrreiche merken. Heute war die Erzählung vom Daumenlutscher dran. Sie fand die Geschichte äußerst passend. Schließlich musste man diesbezüglich nicht nur Amalie, sondern auch Eduard immer noch gelegentlich ermahnen.

‚Konrad!‘ sprach die Frau Mama,

‚Ich geh’ aus und du bleibst da.

Sei hübsch ordentlich und fromm,

Bis nach Haus ich wieder komm’.

Und vor allem, Konrad, hör’!

Lutsche nicht am Daumen mehr;

Denn der Schneider mit der Scher’

Kommt sonst ganz geschwind daher,

Und die Daumen schneidet er

Ab, als ob Papier es wär’.‘

Weiter kam Helene mit dem Vorlesen nicht. Eduard vergrub seinen verstrubbelten Kopf im Schoß des Kindermädchens und hielt sich die Ohren zu. „Wieso eigentlich nicht in meinem Schoß?“, fragte sich die Vorleserin. Und Klein-Amalie starrte mit schreckensweiten Augen auf ihre Mutter. Helene brach die Lesestunde also ab und beruhigte ihre Kleinen. Sie müssten selbstverständlich keine Angst vor dem Schneider haben, denn sie würden ja nicht am Daumen lutschen. Nach einem kurzen prüfenden Blick – das Kindermädchen hatte ihren Anweisungen entsprechend tatsächlich dafür gesorgt, dass keine Scheren, Messer, Nadeln oder sonstiges Gefährliches im Zimmer herumlag, und sie hatte offensichtlich auch alles Unreine aus dem Raum entfernt – verließ sie beruhigt die Kinderstube.

Heute Abend aß Julius außer Haus. Er traf sich mit den Mitgliedern der „Gesellschaft zur Förderung gemeinnütziger Zwecke“. Die Hausherrin hatte deshalb in der Küche Bescheid gesagt, dass sie sich selbst mit einem Teller Suppe begnügen werde. Es sprach also nichts dagegen, sich mit dem „Mannheimer Journal“ im gut zu beleuchtenden Kaminzimmer niederzulassen. Schließlich hatte ihr Julius erlaubt, seinen Rückzugsraum zu nutzen, wenn er auswärts war. Ihre Mutter würde jetzt sicherlich fragen, ob es denn keine zu erledigenden Näharbeiten gäbe. Helene beschloss, die Mahnerin in ihrem Kopf zu ignorieren.

Gleich auf der zweiten Seite der heutigen Ausgabe der Zeitung prangte mit großen Lettern die Überschrift: „11. Oktober. Mannheimer Mord vermutlich bereits aufgeklärt!“ „Das ging aber schnell“, befand Helene und machte es sich in einem Sessel zur weiteren Lektüre bequem.

„Wie wir aus berufenem Munde erfahren haben, hat die Polizei schon gestern den vermutlichen Mörder des Mannheimer Kaufmanns Georg Munch inhaftieren können. Es handelt sich um den Kunstmaler Valentin Knapp. Dieser hatte eine Auftragsarbeit für Georg Munch übernommen. Über die Ausführung sei es zu Streitigkeiten gekommen und der Porträtierte habe den vereinbarten Lohn nicht bezahlen wollen, berichtete die trauernde Witwe des Ermordeten. Der Maler hat ein billiges Quartier in einem der Häuser in den Neckargärten nahe der Stelle, an der Georg Munch zu Tode kam. Als die Polizei in der Wohnung des Malers das Requisit entdeckte, mit Hilfe dessen wahrscheinlich der Mord ausgeführt wurde – eine Keule – hat sie die folgerichtigen Konsequenzen gezogen und den vermutlichen Übeltäter inhaftiert. Die Behörden gehen davon aus, dass der Delinquent unter den strengen Befragungen bald zusammenbrechen und die Mordtat gestehen werde. Der Maler Valentin Knapp ist in den bürgerlichen Kreisen Mannheims bestens bekannt. Er hat hier in den letzten Jahren zahlreiche Aufträge ausgeführt und seine Bilder sind auch vom hiesigen Kunstverein gerne ausgestellt worden. Doch Justitia ist bekanntlich blind und so kann der Gerechtigkeit voraussichtlich bald Genüge getan werden.“

Helene richtete sich verblüfft im Sessel auf. Erst neulich hatte sie ein Gemälde Valentin Knapps besichtigt, das der Kunstverein in seinem Saal dem Publikum präsentierte. Es stellt das Herabsteigen einer Ziegenherde vom höheren Gebirge ins Tal dar, und sie fand, es sei eine der reizendsten Darstellungen, die sie bislang von diesem gemischten Genre, von Tierstück und Landschaft, gesehen hatte. Die Landschaft, ein steiler Felsenabhang, durch eine gähnende Schlucht von der Hauptmasse des Gebirges getrennt, ist in klaren Umrissen und von ruhigem Licht erhellt, während über der Talschlucht grauer Nebel schwebt. Wenn sie sich recht erinnerte, dann nimmt den Mittelgrund des Bildes eine allerliebste Gruppe ein, der Hirte, wie er sorgsam ein eben gefallenes Lämmchen im Arm trägt, während das Mutterschaf besorgt zu demselben aufblickt. Vor dieser Gruppe schreitet ein staatlicher Bock, steigen Ziegen, hier zögernd, dort von Felsen zu Felsen springend, dem Talgrund zu, während den Hintergrund die Spätlinge der Herde bilden, da und dort ein Gräschen reißend. „Aber“, überlegte sie, „der Maler ist in Mannheim nicht wegen seiner Landschaftsbilder, sondern vor allem wegen seiner Portraits bekannt, die er als Auftragsarbeiten für angesehene und deshalb solvente Mannheimer Bürger übernimmt.“ Und so hing in manchem Bürgerhaus ein Bildnis des Hausherrn oder der Hausherrin, mitunter in einer Figurenkonstellation, die auf griechische oder römische Mythen verwies. In dieser Hinsicht besaß das Mannheimer Bürgertum einen altertümlich anmutenden Geschmack. Vermutlich fehlte es eben doch vielen an der notwendigen Geschmacksbildung. „Dafür zumindest“, dachte Helene zufrieden, „hat bei mir das ‚Großherzogliche Fräulein-Institut‘ gesorgt.“ Und dieser Maler sollte der Mörder sein? Sie mochte es kaum glauben. Was hatte es mit der Keule auf sich, die im Artikel des „Mannheimer Journals“ erwähnt wurde? Warum um Himmels Willen verwahrte der Künstler diesen Knüppel in seinen Wohnräumen? War ein Mörder tatsächlich so dumm, sich nicht von seinem Mordwerkzeug zu trennen? Oder machten es sich hier die Untersuchungsbehörden zu einfach? Helene beschloss, die weitere Untersuchung des Mordes genau zu verfolgen. Und selbstverständlich musste sie einen Kondolenzbesuch bei der armen Witwe einplanen.

Frauenthemen

Dienstag, 14. November 1865

Helenes Laune war alles andere als ausgeglichen. Selbstverständlich war sie bemüht, dem Gesinde gegenüber Contenance zu wahren und auch Julius die übliche freundliche Aufmerksamkeit zu zeigen. Sie ordnete fahrig die Blumengestecke, die in den Wohnräumen des Hauses verteilt waren. Das ließ sich auch ohne allzu viel Aufmerksamkeit erledigen. Wichtiger war es, die neuen Informationen im Kriminalfall zu bedenken, zumal nun ihre eigene Familie in den Mord verwickelt schien. Im Anschluss wollte sie sich diesem gebührend widmen.

Eine willkommene Ablenkung von ihren trübsinnigen Gedanken hatte in der Frühe kurzzeitig die Nachricht geboten, dass es ihrem kleinen niedlichen Patenkind Franziska erfreulich gut ging. Das erst drei Monate alte Töchterchen ihrer Cousine Luise mütterlicherseits in Eberbach, für das sie gerne die Patenschaft übernommen hatte, schien über den Berg zu sein. Im ersten Lebensjahr waren die Kleinen bekanntlich hoch gefährdet. Zwar waren die Zeiten schon lange vorbei, in denen ein beträchtlicher Teil der Neugeborenen im ersten Lebensjahr verstarb. Die Kampagnen der Ärzte schon zu Beginn des Jahrhunderts hatten offensichtlich Früchte getragen. Sie hatten sich vehement für Hygiene in der Kinderpflege und die Abschaffung altertümlichen Brauchtums eingesetzt. Aber noch immer gab es kaum eine Familie, die nicht den Tod eines oder mehrerer Kinder im Kleinkindalter zu beklagen hatte. Ihre beiden Kinder, Eduard und Amalie, waren gottlob wohlauf. Franziska, so hatte ihre Cousine geschrieben, könne nun endlich frei atmen. Das quälende Rasseln, das Ringen um Luft, das sie seit der Geburt begleitet habe, sei mehr und mehr verschwunden. Helene beschloss, einen gut gefüllten Korb mit Kaffeebohnen, Teeblättern, Schokolade und Glückwünschen nach Eberbach zu schicken – die dortigen Verwandten besaßen zwar ein außerordentlich großes altes Haus, waren finanziell aber nicht sonderlich gut gestellt. Eine großzügige Geste war sich das Handelshaus Wolf schuldig. „Nicht vergessen, Marie die Abfahrt des Botendienstes nach Eberbach erfragen zu lassen“, notierte sie auf der Schiefertafel, auf der sie alltäglich die anstehenden Aufgaben vermerkte. Der Kriminalfall beschäftigte sie so sehr, dass sie befürchtete, wichtige Erledigungen zu vernachlässigen. Cousine Luise hatte geschrieben, die Hebamme habe die richtigen Kräuter gekannt, die man dem kranken Säugling unter das Kissen legen sollte. Es sei eben diesen Heilkräutern zu verdanken, dass das Kind genas. Natürlich habe sie auch für die Gesundheit ihrer Erstgeborenen ausdauernd gebetet. Helene hatte Zweifel, ob das Gebet wirklich hatte helfen können. Schließlich wusste jeder halbwegs gebildete Christ, Gott half nicht aus der Not, sondern bestenfalls in der Not. Die Gesundung Franziskas den medizinischen Kenntnissen der Hebamme zuzuschreiben, hielt sie allerdings für altmodischen Aberglauben. Dank ihrer guten Kontakte zu Elisabeth, der jungen, spritzlebendigen und etwas zu redseligen Ehefrau Dr. Herzogs, wusste sie um die kritische Haltung, welche die moderne Medizin gegenüber dem altertümlichen Hebammenwesen einnahm. Es sei ein großes Ärgernis gewesen – das meinte jedenfalls Dr. Herzog –, dass es im Großherzogtum üblich war, die Gemeindehebamme durch die verheirateten Frauen des Ortes wählen zu lassen. Wie Frau Dr. Herzog weitschweifig erläutert hatte, war das Landvolk dem klugen Vorschlag der Mediziner, nur ledige Frauen als Hebamme zu wählen – da diese nicht durch Haushaltsgeschäfte von ihrer verantwortlichen medizinischen Tätigkeit abgehalten würden –, auf ganz eigentümliche Weise nachgekommen. Es herrsche nämlich unter den Weibern gewöhnlich die Ansicht, dass eine Person nicht recht zur Hebamme geeignet sei, wenn sie nicht selbst schon geboren habe. Deshalb seien, wenn überhaupt unverheiratete, gewöhnlich solche gewählt worden, die schon unehelich geboren hatten, und die also in sittlicher Beziehung nicht makellos dastünden. Und, so werde gelegentlich auch gemunkelt, diese Hebammen würden nicht selten auch den Weibern in anderer Weise behilflich sein. Was Frau Dr. Herzog damit wohl meinte, hatte sich Helene gefragt. Dieses Jahr sei das Hebammen-Wahlmonopol der Frauen gottlob gefallen, hatte die Arztgattin ergänzt. Der neuen Regelung entsprechend müssten nun die Behörden dafür sorgen, dass es genügend und vor allem in den Hebammenschulen ausgebildete Hebammen in allen Regionen des Landes gäbe. Die moderne staatliche Ordnung würde überdies die äußerste Reinlichkeit, namentlich der Hände, als strengste Obliegenheit jeder Hebamme betrachten. So oder so ähnlich würde jedenfalls der Paragraph lauten, der in der 1866 zu erlassenden badischen Hebammen-Ordnung festgehalten werden sollte.

Helene überlegte, wie es sich mit der Hygiene bei den Geburten ihrer Kinder verhalten hatte. Sie hatte Glück gehabt und ihre beiden leicht zur Welt gebracht. Jetzt schon fiel es ihr schwer, die Erinnerung an die Schmerzen zu wecken, die ihr die Wehen bereitet hatten. Schließlich hieß es in der Bibel: „Ich will dir viel Mühsal bereiten mit Schwangerschaften; mit Schmerzen sollst du Kinder gebären. Und nach deinem Manne wirst du verlangen, er aber soll Herr sein über dich!“

Mit Ersterem war sie ganz einverstanden. Ein leichtes Missbehagen fühlte sie allerdings zumindest heute bezüglich des zweiten Teils des Zitats. Noch immer aber war sie ihrer Mutter dankbar, dass sie das Regiment über den Ablauf der Geburten ihrer Enkelkinder übernommen hatte. Sie hielt vom alten Hebammenwesen erstaunlich viel und misstraute den modernen männlichen Ärzten, die mehr und mehr die Oberhoheit über das Geburtenwesen beanspruchten. Vielleicht war es doch sinnvoll, die Unterstützung von Gebärenden erfahrenen Frauen zu überlassen? „In dieser Frage bin ich wohl ein wenig altmodisch“, befand Helene. Wie ein Dragoner hatte ihre Mutter im Wolf’schen Anwesen die Dienstboten herumgescheucht, die beständig für heißes Wasser und saubere Tücher hatten sorgen müssen. Auch die Hebammen hatte sie ausgesucht und diese aufmerksam bei ihrer Arbeit unterstützt. Aber vermutlich war es schon gut, dass die Medizinalbehörden mehr und mehr ein wachsames Auge auf die Frauengesundheit richteten. Da es nur männliche Ärzte gab, mussten diese folglich auch immer näher an die Wöchnerinnen heranrücken, verständliche Schamgefühle hin oder her. Ja der Fortschritt war nicht aufzuhalten! Auch in der Kriminalistik zogen zunehmend die wissenschaftlichen Kenntnisse der Ärzte ein.

Helene hatte die Arztgattin bei ihrem letzten Zusammentreffen in einer der zwingend zu besuchenden Tee-Gesellschaften scheinbar ganz nebenbei befragt, ob Dr. Herzog in die kriminalmedizinischen Bewertungen des Mannheimer Mordes einbezogen sei. Frau Dr. Herzog hatte mit sichtlicher Begeisterung Bericht erstattet. Ihr Mann sei tatsächlich in die Untersuchung involviert. Sie wisse noch nichts Besonderes von seinen Ergebnissen zu erzählen, aber insgesamt sei das Feld der Kriminalmedizin höchst interessant. Ihr Mann habe ihr ausführlich dargelegt, dass früher die gerichtliche Medizin und die medizinische Polizeiwissenschaft miteinander vermengt worden seien. Heute würde man beide Bereiche – die Anwendung von Grundsätzen der Naturwissenschaft und Medizin zur Aufklärung und Entscheidung zweifelhafter Rechtsfragen einerseits und andererseits die Anwendung medizinischer Grundsätze zur Entwerfung und Ausübung der die öffentliche Gesundheitspflege betreffenden Gesetze – säuberlich voneinander trennen. Überall in den gut verwalteten Staaten Europas sei inzwischen die Unentbehrlichkeit der gerichtlichen Medizin für die Rechtspflege anerkannt. Deutschland darf sich rühmen, habe ihr Mann stolz erklärt, durch seine Gesetzgebung dieser Wissenschaft Dasein und Ausbildung gegeben zu haben. Eine Reihe deutscher Ärzte habe sich in der Sache schon im 18. Jahrhundert hervorgetan.

Helene hatten die Ausführungen der Arztgattin gelangweilt. Ihre höflich zur Schau gestellte Aufmerksamkeit hatte bereits zu schwinden gedroht, als die Arztgattin endlich zum Wesentlichen kam. Im vorliegenden Fall ginge es vor allem um den materiellen Teil der gerichtlichen Medizin, wusste sie zu berichten, genauer um die gerichtlich-medizinischen Untersuchungen am Leichnam. Und die gerichtliche Untersuchung einer Leiche habe strengen Regeln zu folgen: Sie muss zum Beispiel gerichtlich oder polizeilich angeordnet worden sein, von vereidigten Medizinern durchgeführt werden und eine Gerichtsperson hat als Zeuge anwesend zu sein und Protokoll zu führen. Helene hatte sich innerlich vor Ungeduld gewunden. Mit „Aber was untersucht denn der Arzt?“ hatte sie den Redefluss ihrer Gesprächspartnerin unterbrochen. Und diese hatte dann ausführlich von äußerlichen und innerlichen Untersuchungen gesprochen. Letztere seien nur notwendig, wenn die äußerliche Untersuchung nicht hinreichende Belege der Todesart liefere. Die näheren unangenehmen Schilderungen ihres Mannes, bezogen auf die mögliche Öffnung der drei großen Körperöffnungen, wollte sie nicht wiederholen, um die Nerven Helenes zu schonen. Aber grundsätzlich könne man festhalten, dass der Arzt klären muss, welche Verletzungen an der Leiche festzustellen, ob und inwiefern diese verantwortlich für den Tod seien und ob irgendwelche Gesundheitsstörungen vorgelegen hätten, die gegebenenfalls die Wirkung der Verletzungen verstärkt hätten. Die Gerichtsmediziner würden sich heftig über die mögliche Einteilung von mehr oder weniger tödlichen Verletzungen streiten. Helene würde sie im Vertrauen sagen, dass sie diesen Streit ziemlich lächerlich fände. Für die Verurteilung des Delinquenten sei letztlich ja nur entscheidend, ob eine Verletzung als physisch wirkende und bestimmende Ursache den Tod des Opfers hervorgebracht habe. Aber ihr Mann würde Helene diesbezüglich sicherlich bei Nachfragen ihrerseits eine einstündige Vorlesung halten. Ferner diene die Feststellung der Beschaffenheit der Verletzung den Gerichten für Rückschlüsse auf die Absicht des Täters. Habe er töten wollen oder nicht? Gehe es um Verletzungen, die notwendig zum Tod führen müssen? Stehe die Tötungsabsicht des Delinquenten eben unzweifelhaft fest? Der Arzt habe, so die Meinung ihres Mannes, nach sorgsamer Prüfung, so genau als möglich im Gutachten anzugeben, inwieweit die Verletzung und inwieweit die Körperindividualität zum Tode beigetragen haben. Und was es nicht alles für mehr oder weniger tödliche Verletzungen gab! Helene hatte schon gar nicht mehr richtig zugehört. Mehr Interesse hatte sie anschließend für die Überlegungen zur Beschaffenheit des Opfers aufbringen können. Es ging um die Wirkungen von Lebensalter, Geschlecht, Körperbeschaffenheit, Gesundheit, Bildungsfehler, organische Krankheiten, physischer und psychischer Zustand sowie zufällige Einflüsse. Die ganze Aufzählung hatte Helene ein wenig hilflos zurückgelassen. Besonders erhellend hatte sie die Erläuterungen der Arztgattin nicht gefunden. Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Frau Dr. Herzog hatte sie allerdings auch noch nicht gewusst, wie sehr sich ihr Interesse am Mannheimer Mordfall intensivieren würde.

Endgültig verlor Helene ihre mühsam aufrecht gehaltene Contenance. Unversehens stand vor ihrem inneren Auge erneut der Besuch, den sie gestern im Haus von Vetter Emil Wolf absolviert hatte. Wenn sie nicht Marie gefragt hätte, wieso sie so lange mit der Nachbarsdienstmagd untätig auf der Straße herumgestanden habe, wären ihr vermutlich einige Gemütsverwirrungen erspart geblieben. Marie hatte ihr berichtet, dass es der Hausherrin im Nachbarhaus offenbar nicht gut gehe. Der Hausherr sei seit einigen Tagen auf Geschäftsreise und Frau Hedwig gänzlich unpässlich. Seit gestern würde sie überhaupt nichts mehr essen, und sie ließe auch das Dienstmädchen nicht mehr in ihr Schlafzimmer. Vermutlich sei Frau Hedwig mittlerweile richtig krank. Das Mädchen wisse sich nicht mehr zu helfen.

Helene hatte sich selbstverständlich auf ihre familiären und gesellschaftlichen Pflichten besonnen. Schließlich handelte es sich bei Emil und Hedwig Wolf um Verwandte und noch dazu um Nachbarn, auch wenn man, so hatte sie überlegt, eigentlich nicht in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen verkehrte. Aber neulich schon war ihr doch das ungewöhnliche Betragen ihrer Nachbarin aufgefallen. Die Gelegenheit war günstig, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatte also beschlossen, rasch einen Krankenbesuch zu machen und nach dem Rechten zu sehen. Auch ein wenig Krankennahrung wäre sicherlich hilfreich. Für einen Fleischtee im Dunste, auf den ihre Mutter schwor, reichte die Zeit nicht. Dafür musste bestes Rindfleisch ohne Fett und Sehnen in nussgroße Stücke geschnitten und mehrere Stunden mit Wasser in einer weithalsigen, in ein Tuch gewickelten Flasche gekocht werden, bevor man den Fleischsaft durch ein leinenes Tuch gießen konnte. Aber mit einer Leguminosensuppe konnte sie Anna beauftragen. Das dafür nötige Pulver hielt sie in der Speisekammer beständig vorrätig.

Gerüstet mit einem Korb mit frischem Brot und Suppe hatte sie sich am Nachmittag auf den Weg ins Nachbarhaus gemacht. Sie war bester Laune gewesen. Schließlich versprach der wohlmeinende Krankenbesuch Aufklärung in mancherlei Hinsicht. Sie hatte ungebührlich lange warten müssen, bis sie zur Kranken vorgelassen wurde. Hedwig lag nicht im Bett. Im abgedunkelten Schlafzimmer kauerte sie zusammengekrümmt auf einem kleinen Sofa und richtete sich auch angesichts des Krankenbesuches nicht auf. Helene hatte vergeblich darauf gewartet, einen Sitzplatz angeboten zu bekommen und sich schließlich ungebeten einen Stuhl gesucht. Sie hatte die Verwandte freundlichst und besorgt gegrüßt, ihren unerbetenen Besuch weitschweifig erklärt und dabei Hedwigs Aussehen diskret einer kritischen Prüfung unterzogen. Die Haare der Kranken wirkten nachlässig frisiert. Der Schlafrock war offensichtlich nicht mehr ganz sauber. Tiefe Schatten waren unter ihren Augen und um die Nase eingegraben. Offenbar hatte Hedwig keine Mühe darauf verwendet, dies alles zu kaschieren, und vermutlich hatte sie auch geweint. Das alles ließ sich eher auf eine seelische denn auf eine körperliche Missstimmung zurückführen. Es war unsagbar schwierig gewesen, ein angemessenes Gespräch zu führen. Schließlich hatte sich Cousine Hedwig einige Höflichkeiten abgerungen. Ihre Unpässlichkeit sei nicht der Rede wert, hatte sie gemurmelt. Aber selbstverständlich sei sie sehr dankbar für die Aufmerksamkeit der Nachbarin. Dann war sie wieder in Schweigen verfallen. Helene hatte ein wenig hilflos Zuflucht zum Austausch von Familiennachrichten zu nehmen versucht und höchst einsilbige Reaktionen auf ihre Gesprächsangebote erhalten. Anscheinend, hatte sie gemutmaßt, plagte sich ihre Cousine mit einem schwerwiegenden Problem herum und traute sich nicht darüber zu sprechen. Was tun? Wollte sie dieses Geheimnis überhaupt ergründen? „Wieso denn nicht?“, hatte sie im Geiste mit den Schultern zuckend befunden. Doch ganz sicher war sie sich nicht gewesen. Um die Konversation nicht endgültig versiegen zu lassen, hatte sie das Gespräch auf ein anregendes unverfängliches Thema verlagert und sich der aktuellen Kriminalgeschichte bedient. „Hast du schon von dem Mannheimer Mord gehört?“, hatte sie Hedwig gefragt. „Unsere Polizei ist wirklich tüchtig! Sie haben den Mörder schon gefunden. Valentin Knapp hat sich mit dem Ermordeten um die Bezahlung eines Bildes gestritten und eine Keule geschwungen. Das hätte ich dem Kunstmaler nicht zugetraut! Kennst du ihn? Glaubst du, er ist es tatsächlich gewesen?“ Das Ergebnis ihrer Plaudereien war unerwartet und durchschlagend gewesen. Cousine Hedwig hatte völlig die Haltung verloren. Sie war in heftiges Schluchzen ausgebrochen. Den Ausruf „Um Himmels Willen, die Dienstboten!“ hatte Helene gerade noch unterdrückt. Hedwig indes war nicht mehr zu bremsen gewesen. Von stoßweise anschwellenden Tränenflüssen begleitet, hatte sie von der Sorge erzählt, die sie bewegte. „Nein“, hatte Helene entsetzt gedacht (und dachte sie noch immer), „was für ein Skandal steht unserer Familie bevor!“ Ihre Gesprächspartnerin auffordernd, Haltung zu bewahren, dann diese beruhigend, schließlich versprechend, sich um eine Lösung bemühen zu wollen, hatte sie ihren Krankenbesuch so rasch wie möglich abgebrochen.

Eines war jedenfalls klar, sinnierte sie nun, inzwischen mit der letzten Blumenvase im Esszimmer beschäftigt. Sie musste sich nicht nur um den Kriminalfall kümmern, weil sie einfach wissen wollte, wer zu solcher Schandtat fähig war. Nein, jetzt galt es auch, den Ruf ihrer Familie zu schützen.