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Wer kennt heute noch typische Bürgerinnen des Wilhelminischen Zeitalters? Hedwig Heyl (1850-1934), die "beste Hausfrau der Nation", Franziska Tiburtius (1843-1927), die erste promovierte Ärztin Berlins, oder Lily Braun (1865-1916) - sie forderte die Vergesellschaftung der Hausarbeit - sind heute fast vergessen. Doch die Entwicklung Deutschlands zum modernen urbanen Industriestaat und die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaatsmodells wären ohne ihre Beteiligung nicht erfolgt. Es sind die weiblichen Angehörigen des Bürgertums in ihrer Gesamtheit, um die es im Folgenden gehen wird. Ihr Lebensstil war von großer Ausstrahlungskraft und so erhielt das 19. Jahrhundert den Beinamen "das bürgerliche Jahrhundert".
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Wer kennt heute noch typische Bürgerinnen des Wilhelminischen Zeitalters? Hedwig Heyl (1850-1934), die 'beste Hausfrau der Nation', Franziska Tiburtius (1843-1927), die erste promovierte Ärztin Berlins, oder Lily Braun (1865-1916) - sie forderte die Vergesellschaftung der Hausarbeit - sind heute fast vergessen. Doch die Entwicklung Deutschlands zum modernen urbanen Industriestaat und die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaatsmodells wären ohne ihre Beteiligung nicht erfolgt. Es sind die weiblichen Angehörigen des Bürgertums in ihrer Gesamtheit, um die es im Folgenden gehen wird. Ihr Lebensstil war von großer Ausstrahlungskraft und so erhielt das 19. Jahrhundert den Beinamen 'das bürgerliche Jahrhundert'.
Professorin Dr. Sylvia Schraut lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr München und an der Universität Mannheim.
Professorin Dr. Sylvia Schraut lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr München und an der Universität Mannheim.
Herausgegeben von Julia Angster, Peter Steinbach, Reinhold Weber
Die Herausgeber: Professor Dr. Julia Angster lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim. Professor Dr. Steinbach lehrt Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Dr. Reinhold Weber ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale Baden-Württemberg und Lehrbeauftragter am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen.
Sylvia Schraut
Bürgerinnen im Kaiserreich
Biografie eines Lebensstils
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlaggestaltung: Peter Horlacher Gesamtherstellung: Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print: 978-3-17-022436-0
E-Book-Formate
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978-3-17-023314-0
epub:
978-3-17-023313-3
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Bürgerinnen – Biografie eines Lebensstils
Eine bürgerliche Kindheit
Es ist ein Mädchen
Vorbereitung auf die künftige Frauenrolle
Halbwissen und musischer Sinn
Ehe oder Beruf?
Dem weiblichen Wesen gemäße Berufsbilder als Zwischenlösung
Der Himmel auf Erden
Partnerwahl
Eheliche Gemeinschaften
Ehelicher Alltag – die Gattin an seiner Seite
Mutterschaft
Das bürgerliche Haus
Die Entfaltung des bürgerlichen Haushalts
Das Kreuz mit den Dienstboten
Geselligkeit und Netzwerkpflege
Kulturelles Leben
… und Mäzenatentum
Christliche und soziale Pflichten
Fürsorgliche Belagerung und soziale Hilfstätigkeit im Dienste der Nation
Das Fräulein
Die alte Jungfer
Ledig und berufstätig?
Dem weiblichen Wesen gemäße Berufsbilder für ledige Frauen: Lehrerinnen an Mädchenschulen
Schulleiterinnen von Mädchenschulen
Ausnahmegestalten: Franziska Tiburtius
Ausnahmegestalten: Margarete Steiff
Die reifen Jahre
Religion als Lebenshilfe?
Witwen auf dem Abstellgleis?
Freundinnen
Reisen
Alter
Aufbrüche
Die bürgerliche Frauenbewegung
Der Frauenüberschuss als Argumentationshilfe
Mütter für den Staat?
Der Kampf um höhere Mädchenbildung
Ringen um das Frauenstudium
Schreibende Frauen
Sexualethik und Frauenbewegung
… um das Frauenstimmrecht
Grenzgängerinnen?
Ausklang
Nutznießerinnen
Der Erste Weltkrieg: Heimatfront
… und Friedensbewegung
Epilog 1919: Das Ende eines Lebensstils?
Biografien
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Wer kennt heute noch typische Bürgerinnen des Wilhelminischen Zeitalters? Nicken Sie wissend, wenn der Name Hedwig Heyl (1850–1934) fällt? Sie galt zu ihrer Zeit als „beste Hausfrau“ der Nation. Haben Sie schon mal den Namen Lily Braun (1865–1916) gehört? Die Sozialdemokratin adeliger Herkunft forderte bereits 1901 die Vergesellschaftung der Haushalts- und Familienarbeit. Genossenschaftlich betriebene Großküchen und Kindergärten sollten es der Frau ermöglichen, Beruf, gesellschaftliches Engagement und Familienpflichten zu verbinden. Wussten Sie, dass sich in den 1870er Jahren Franziska Tiburtius (1843–1927) als erste promovierte Ärztin in Berlin niederließ, dem Widerstand der staatlichen Behörden und der männlichen Kollegen trotzend? Fällt Ihnen etwas zu Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917) ein? Die Bildungs- und Sozialpolitikerin engagierte sich in der kirchlichen Frauenbewegung. Viele andere wären zu nennen, die heute vergessen sind. Von höheren professionellen Bildungsgängen und Berufslaufbahnen wegen ihres Geschlechts ausgegrenzt, rechtlich der Geschlechtsvormundschaft unterliegend und vom politischen Wahlrecht ausgeschlossen, eroberten sie ihren Platz bestenfalls in den Annalen der bürgerlichen Frauenbewegung. Viele von ihnen werden in der Geschichtsschreibung nur knapp erwähnt, etwa als Angehörige berühmter Familien oder Partnerinnen bekannter Männer. Doch die Entwicklung Deutschlands zum Industriestaat, die Ausformung eines urbanen Lebensstils und die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaatsmodells wären ohne ihre Beteiligung nicht vonstattengegangen. Sie verdienen es also, aus dem Dunkel des Vergessens ans Licht geholt zu werden.
Es sind die weiblichen Angehörigen des Bürgertums der Wilhelminischen Ära in ihrer Gesamtheit, um die es im Folgenden gehen wird. Im Mittelpunkt stehen Frauen, die das Kaiserreich in Jugend und Erwachsenenalter bewusst erlebten, mithin Frauen, die etwa zwischen 1830 und 1880 geboren wurden. Sie umfassen damit zwei bis drei Generationen. Als Töchter, Mütter und Großmütter waren sie Zeitzeuginnen und Akteurinnen eines Zeitalters, in dem sich das Deutschland der Moderne entwickelte. Ihre Leben verliefen im Einzelnen recht unterschiedlich. Doch sie unterlagen gemeinsam den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ihrer Epoche. Ihre Handlungsspielräume und Hoffnungen waren ähnlich und sie hatten verwandte Vorstellungen über eine ihrem Stand angemessene Lebensweise. Es ist ein Lebensstil, den wir heute schlichtweg als bürgerlich charakterisieren. So groß war seine Ausstrahlungskraft auf die Angehörigen anderer gesellschaftlicher Schichten, dass er dem ganzen Jahrhundert seinen Namen gab, und so hat das 19. Jahrhundert den Beinamen „das bürgerliche Jahrhundert“ erhalten.
Der Begriff Bürgertum ist vielschichtig. Er benennt zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches. Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein waren damit vor allem die rechtlich privilegierten Städter gemeint. Wer über das städtische Bürgerrecht verfügte, hatte im Notfall Anspruch auf Unterstützung seitens der Gemeinde. Bürger durften selbstständig ein Gewerbe ausüben. Sie hatten entsprechend ihrer Steuerleistung Anteil an der kommunalen Regierung und partizipierten an der kommunalen Selbstverwaltung. Kinder folgten im Bürgerrecht den Eltern nach. Man konnte das Bürgerrecht auch erwerben, doch die Gemeinden verschenkten ihre Privilegien keineswegs großzügig. Schon diese traditionsreiche, je nach Landesrecht mehr oder weniger große Gruppierung der städtischen Einwohnerschaft pflegte einen einheitlichen Lebensstil. Arbeitsfleiß und Leistung, wirtschaftliche Selbstständigkeit und Besitz, an letzteren gebundener politischer Einfluss auf die kommunalen Geschicke, soziale Verantwortung und Bürgerstolz waren Merkmale bürgerlichen Selbstverständnisses.
Während der Industrialisierung wuchs allmählich die Zahl derjenigen Gewerbetreibenden, die ihren wirtschaftlichen und geistigen Horizont über die Stadtgrenzen hinaus ausdehnten. Inhaber von Handlungen mauserten sich zu Großkaufleuten. Lokale Kapitalgeber wurden von Bankhäusern mit überregionalem Aktionsradius abgelöst. Selbstständigen Handwerkern folgten Manufakturbesitzer und Fabrikanten nach. Nicht selten ertrotzten sie sich mit staatlicher Unterstützung das Recht auf neue Produktionsweisen. Ansiedlungsmöglichkeiten für die wachsende Arbeiterschaft und deren kommunale Eingliederung wurden gegen den Widerstand des alten Stadtbürgertums hart erkämpft. Zum neuen Wirtschaftsbürgertum gesellten sich schließlich dank der Erweiterung staatlicher Verwaltungen und der Ausformung eines qualifizierten Bildungssystems die Bildungsbürger. Namengebend war ihre Wertschätzung einer weitreichenden humanistischen Bildung. Häufig überragte die Bereitschaft der Staatsbeamten, Lehrer und Professoren, den eigenen Kindern kostspielige Ausbildungen zu gewähren, die finanziellen Möglichkeiten und zwang zu großer Sparsamkeit.
Sie alle, Stadtbürger, die Angehörigen des Wirtschaftsbürgertums und das Bildungsbürgertum hatten bis zum Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs einen gemeinsamen Lebensstil herausgebildet: den „bürgerlichen“. Fleiß und Leistungsdenken dienten als Schranke zum Adel, Bildung und Besitz als Abgrenzung gegenüber Arbeiterschaft und Bauern. Kommunale Verantwortung und politisches Interesse an der Entwicklung des Kaiserreiches waren charakteristisch für eine bürgerliche Lebensweise, genauso wie soziales Engagement, kulturelles Mäzenatentum oder die Pflege einer ausgeprägten Geselligkeit in den eigenen Kreisen.
Zum bürgerlichen Selbstverständnis gehörte auch eine fest verankerte Vorstellung von rechter Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Wurzeln des bürgerlichen Geschlechtermodells reichen in die Aufklärung zurück, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entfaltete. Ziel der gebildeten Debatten jener Zeit war, künftig Staat und Gesellschaft vernünftig zu regeln. Die allen gemeinsame menschliche Natur galt als Grundlage von Familie und Staat. Anschaulich formulierte Jean-Jacques Rousseau die Leitideen der Epoche in seinem 1762 veröffentlichten Roman „Émile“. Rousseau zufolge waren alle Menschen vor Natur aus gut, doch Mann und Frau grundsätzlich verschieden. Stand er für Verstand, Vernunft und Tatkraft, so entsprachen ihrem Wesen Gefühl, Unvernunft und Passivität. War er für die öffentlichen Belange zuständig, so wurden ihr die Familie und das Hauswesen als eigentliche Domänen zugewiesen. Letztlich war die Erziehung der Frau an den Bedürfnissen des Mannes zu orientieren. Denn nicht die gemeinsamen Aufgaben konstituierten das (bürgerliche) Paar, sondern die Beziehung der Ehegatten zueinander. Rousseaus Konzept der geschlechtsspezifischen Rollenteilung entfaltete Wirkmächtigkeit auch in der politischen Sphäre und diente dazu, das weibliche Geschlecht von politischen Partizipationsrechten fernzuhalten. Die zunehmende Ausstrahlungskraft bürgerlicher Geschlechterrollen auch auf andere soziale Schichten sowie die rechtliche, bildungs- und sozialpolitische Verankerung der Geschlechterschranken sollten das lange 19. Jahrhundert prägen. Kennzeichnend für die letzten Jahrzehnte dieser Epoche war aber auch, dass sich mehr und mehr Frauen darum bemühten, die ihrem Geschlecht gesetzten Schranken im Bildungswesen, in Berufsarbeit und politischer Betätigung einzureißen. Am Beginn und im Zentrum dieses Prozesses standen die Bürgerinnen, von denen nun die Rede sein wird.
Müller, Müller, mahl’ er!
Die Jungen kosten ’nen Taler,
Die Mädchen kosten ’nen Taubendreck,
Die schuppt man mit den Beinen weg.
Müller, Müller, mahl’ er!
Die Mädchen kriegen ’nen Taler,
Die Jungen kriegen ’n Reiterpferd,
Das ist wohl tausend Taler wert
(Kinderreim nach Hedwig Dohm, 1902, 14).
Kinder machten (und machen) nicht nur im 19. Jahrhundert aus einem Paar eine Familie. In einer vor 1871 gegründeten bürgerlichen Familie kamen durchschnittlich etwa sechs Kinder zur Welt, von denen allerdings nicht alle erwachsen wurden. Hohe Säuglingssterblichkeit, lebensbedrohende ansteckende Erkrankungen, die heute als „Kinderkrankheiten“ ihren Schrecken verloren haben, oder Seuchenzüge wie die Pocken forderten ihre Opfer. Erst allmählich setzten sich Bestrebungen durch, den eigenen Kindersegen bewusst einzuschränken. Die hohen Summen, die investiert werden mussten, um den Kindern standesgemäße Ausbildungen zu erwerben, ließen im letzten Drittel des Jahrhunderts das Bürgertum in Sachen Geburtenplanung zum Vorreiter werden. Doch für die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen war es selbstverständlich, mit mehreren Geschwistern, wenn nicht gar in einer ganzen Geschwisterschar aufzuwachsen. In den Jugenderinnerungen verklärten sich die ersten Lebensjahre nicht selten zu einem fröhlichen, lauten und sorgenfreien Leben im Freien. Ich schaue in den Spiegel, erinnert sich die 1843 geborene, auf einem Gutshof auf Rügen aufgewachsene Franziska Tiburtius, und frage mich, ob ich daswirklich bin, jenes kleine braune Ding mit den fliegenden Zöpfen, wehendem Kleidchen und flinken Beinen, das wie ein getreuer Pudel hinter einer ganzen Schar Knaben und Mädchen herläuft, die über den Gutshof rasen,schreien, raufen, auf die Strohmiete klettern, hinunterrutschen, Versteck spielen. […] (Ich) musste allerhand kleine Dienste tun, Kaninchen füttern, wenn die Großen nicht Zeit und Lust dazu hatten, musste Steine und Sand in der Schürze herbeitragen, zum Bau der großen Festung, die von den Jungen auf der Wiese hinter dem Garten errichtet wurde, musste auf passen, ob Herr Dalmer, der Hauslehrer, schon vom Ufer zurückgekommen war, weil man dann zum Unterricht anzutreten hatte, – und war froh, ‚dabei‘ zu sein (Tiburtius, 1929, 21). Auch Elisabeth Kühne, die 1850 geborene Juristentochter, erinnert sich an sorgliche Überwachungbei denkbarster Bewegungsfreiheit, innige Verbundenheit mit Garten, Wiese, Wald, mit Blumen und Tieren. Eine drei Jahre ältere Schwester; der ein Jahr ältere Bruder […] unzertrennlicher Kamerad in Schutz und Trutz, zu Friedenstaten und auf oft sehr energischen Kriegspfaden (Simon, 1928, 11). Und in ihren publizierten Kindheitserinnerungen schreibt sie: Wenn ich mir meine Kindheit vergegenwärtige und dieder Großstadtkinder damit vergleiche, so kann ich mir nicht vorstellen, was aus mir geworden wäre ohne die Bewegungsfreiheit der köstlichen kleinen Ackerbürgerstadt und ohne die Beziehung zur Natur (Gnauck-Kühne, 1909/10, 126). Sie erwähnt aber auch die mütterlichen Stockhiebe, die Streitigkeiten zwischen den Geschwistern schlichten sollten. Und es ist merkwürdig, wie beredt ein stummer Stock sprechen kann (ebd. 128).
Ein naturnahes relativ freies Leben in ländlicher Umgebung genossen städtische Bürgerkinder seltener. Hier war der Erziehungsstil strenger und artete nicht selten in Drill aus. Das Kinderleben spielte sich unter Beobachtung der Kindermädchen und Gouvernanten fern von den Erwachsenen ab. Doch die mütterliche und väterliche Kontrolle war allzeit spürbar. Kinder im Hause sollten am besten unsichtbar, vor allem aber unhörbar sein, bedeutete man der 1850 geborenen Bremer Großkaufmannstochter Hedwig Crüsemann (verh. Heyl). Die Größeren, die schon am elterlichen Mittagessen teilnehmen durften, wussten, dass sie zu schweigen hatten. Kam ein Kind einige Minutenspäter wie die Eltern an den Tisch, stellte es sich ruhig hinter den Stuhl bis zum Schluss der Mahlzeit. Gnade gab es nicht. Speisen, die nicht aufgegessen wurden, wenn sie auf dem Teller lagen, kamen zum Abendbrot wieder (Heyl, 1906, 39). Ohnehin redete ein streng erzogenes Bürgerkind mit den Erwachsenen nur, wenn es explizit dazu aufgefordert worden war.
Zwar berichten Bürgerinnen auch von liebevollen zärtlichen Beziehungen zu Mutter oder Vater, Großeltern oder weiteren Verwandten. Doch selbstverständlich waren solche Verbindungen nicht. Zumeist waren die Väter fern. Ein stiller, ergebener Herr. Wir wussten nichts von ihm, er wusste nichts von uns (Dohm, 1912, 66), so die 1831 geborene Hedwig Dohm, geb. Schleh in ihren Jugenderinnerungen. Irgendwie waren Väter immer am Arbeiten, die Mütter mit hauswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen befasst und belastet. Gerade die Kleineren hatten häufig engere Bindungen an die Dienstboten als an die Eltern. Ich war das erste ihrer Ammenkinder, erzählt Hedwig Dohm über ihre Mutter. Darum mochte sie mich nicht. Ich weiß es von ihr selbst. Dass ich – ein Säugling – immer nur nach der Amme, nicht nach ihr verlangte – hielt sie für frühzeitige Charaktertücke (Dohm, 1912, 65).
In jedem Fall aber unterschied sich die Erziehung von Jungen und Mädchen und die Sorgfalt, die Eltern auf Erziehung und Bildung von Jungen und Mädchen verwandten. Nicht nur in den Haushalten des Adels und der regierenden Dynastien kündigte die doppelte Böllerzahl die Geburt eines Sohnes an. Auch in Bürgerfamilien zählten Söhne in der Regel mehr. Söhne setzten die Familie und gegebenenfalls das Familienunternehmen fort. Söhne traten in die beruflichen Fußstapfen der Väter. Und Töchter? Töchter wurden fortgegeben. Sie kosteten standesgemäße Aussteuern und schufen bestenfalls neue verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen Familien, so jedenfalls die gängige Anschauung. Söhne durften sich der besonderen Aufmerksamkeit der Väter sicher sein, und die Töchter? Mit Natürlich einen Jungen. Ein Mädchen ist doch nichts Ernsthaftes (Mann, 1974, 29) verstimmte beispielsweise Thomas Mann Hedwig Dohm, als diese ihn nach dem Wunschgeschlecht seines zukünftigen ersten Kindes fragte.
Die leichte Enttäuschung, dass es „nur“ ein Mädchen ist, durchzieht viele autobiografische Texte von Müttern und Töchtern. Ihren Mann bestätigend, schreibt Katia Mann, geb. Pringsheim (geb. 1883), über ihre erstes Kind: Es war also ein Mädchen, Erika. Ich war sehr verärgert. Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam, warum weiß ich nicht. Wir hatten ja im ganzen drei Buben und drei Mädchen, dadurch war Gleichgewicht. Wenn es vier Mädchen und zwei Buben gewesen wären, wäre ich außer mir geraten (Mann, 1974, 29). Und die Professorengattin Emilie Bücher (geb. 1853) berichtet von einer befreundeten Familie: Frau Seeliger bekam gestern ein Mädchen. […] Ich fürchte, sie sind recht enttäuscht, obwohl mit Unrecht. So ein kleines Mädel verschwindet unter den andern, wogegen beim Bub eine ganze Familie u[nd] ein Haushalt nach s[einer] Lernerei u[nd] Studiererei sich richten müssen (Wagner-Hasel, 2011, 141).
Ich habe meinen Eltern keine Sorge gemacht, lässt Hedwig Dohm Agnes Schmidt, die Icherzählerin der Novelle Werde, die du bist (1894), eine Kanzleiratstochter, folgerichtig sagen. Ich tat, was man von mir verlangte. Sie zogen mir aber den Bruder vor, und wenn ich später weder Musik noch Zeichnen noch Sprachen oder sonst etwas lernte, so war es, weil dem Bruder Alles, was gespart werden konnte, zu gute kam. Jetzt weiß ich, warum man mir den Bruder vorzog; weil er der Sohn war und ich nur die Tochter (Dohm, 1894, 15). Und irritiert schreibt Margarethe Krupp (geb. von Ende) über ihren Vater: Es bleibt doch ein psychologisches Rätsel, dass ein derartiger Mann, dem laisser aller im Lernen der Töchter passiv gegenübergestanden, dass auch er sich begnügte, deren Zukunft dem lieben Gott zu überlassen, wo freilich die Söhne genug Sorgen und Ausgaben verursachten (Friz, 2009, 46).
Selbstverständlich unterschieden sich die Kinderwelten der beiden Geschlechter, wenn sie ins Schulalter kamen. Knaben und Mädchen lebten in getrennten Welten, erzählt Hedwig Dohm in ihren „Erinnerungen einer alten Berlinerin“. Meine acht Brüder schlitterten auf dem zugefrorenen Rinnstein, schneeballten sich, keilten sich grässlich untereinander, waren faul in der Schule und wuschen sich am liebsten garnicht. Mir war dieser Teil der Schöpfung durchaus unsympathisch. Die Mädchen, die saßen möglichst still, sittsam, machten Handarbeiten in den Feierstunden, von der mühsamen Perlen- und petit-point-Stickerei bis zum Strumpfstopfen herunter (Dohm, 1912, 53f.). Wilde, knabenhafte Spiele sollte man den Mädchen, wie sich von selbst versteht, nie in Gemeinschaft mit Knaben, aber auch nicht unter sich gestatten, dozierte daher auch der viel gelesene Pädagoge Karl von Raumer 1853 in einem Ratgeber über Mädchenerziehung. Mädchenspiele müssen immer anmutig bleiben, nie die Grenze der feinen Sittsamkeit und Bescheidenheit überschreiten (Raumer, 1853, 63f.). Je älter ich wurde, bestätigt die Juristentochter Anna Pappritz (geb. 1861) in ihren Erinnerungen, jemehr litt ich unter der Zurücksetzung, die mir als Mädchen zuteil wurde. Meine Brüder lernten schwimmen, reiten, sie bereiteten sich auf einen Beruf vor, machten Zukunftspläne, sprachen davon, wie sie später die Welt kennenlernen wollten, das Leben genießen. […] sie waren oft laut und roh und unmanierlich, wie eben viele gesunde Landjungen in den Flegeljahren zu sein pflegen. Und alle ihre Torheiten und Unarten wurden belächelt und bewundert, während bei mir die geringste Unart aufs heftigste gerügt und bestraft wurde (Pappritz, 1908, 5f.). Im alltäglichen kindlichen Spiel wurden die Rollen angelegt, gefördert und eingeübt, die der kleine Mann oder die kleine Frau später ausfüllen sollten.
Um den Tisch im alten Pfarrhaus, sitzen kleine Blondköpf vier, höchst gespannt sind die Gesichter: Muttermir!‚mir auch!‘‚und mir!‘
Ja, heut gibt es Leckerbissen, denn zwei jungen Hähnchen stehn, braun gebraten auf dem Tische appetitlichanzusehen.
‚Nun verteil’ ich‘, spricht die Mutter, schalkhaft lacht sie,dem Papa schnell das größte Hähnchen spendend; lau wehrt der: ‚Nein, du Mama.‘
Nun das andere; ernsthaft blicken die vier Kleinen, wieso fein nun in so viele, kleine Stücke, sie das Hähnchen teilet ein.
‚Etsch‘, sagt da der kleine Walther zu der ros’genSchwesternschar, wenn ich einmal groß bin, ess’ ich auch ein Hähnchen ganz und gar.
Ihr könnte nie ein ganzes haben, Ihr kriegt höchstensnur ein Bein, aber ich werd’ mal ein Vater, und dann ist ein ganzes mein.
Sehr beklommen sind die Schwestern. ‚Mutter, ist eswahr, sag an, kriegen Frau’n nie ganze Hähnchen, isst die immer nur der Mann?‘
(Helene Christhallter, in: die Frau VII, 1899/1900, 272).
Bildung, im Bürgertum wertgeschätzt und als Erziehungsziel angestrebt, stellte keinen Selbstzweck dar. Der Erwerb von Grundkenntnissen und weiterführendem Wissen hatte sich an den zukünftigen Berufserfordernissen zu messen. Für bürgerliche Mädchen war als Berufsziel die Führung eines bürgerlichen Haushalts, idealerweise als Hausherrin an der Seite des Ehepartners geplant. Die erwartete Aufgabe erforderte das zur Haushaltsführung und Leitung der Dienstboten nötige Wissen. Ein gut ausgebildetes Bürgermädchen sollte darüber hinaus über Kompetenzen verfügen, die sie befähigten, als Gastgeberin oder Gast bei geselligen Treffen, im Salon oder Konzert eine gute Figur zu machen. Sie musste sich in Französisch oder gar Englisch unterhalten können. Künstlerisches Talent war an der Staffelei, beim Gesang oder am Klavier zu beweisen. Wenn das Fräulein in der Lage war, in leicht fließender Konversation über den neuesten Star der Oper und die Feierlichkeiten zu Kaisers Geburtstag zu plaudern, ohne zu gelehrt zu wirken, dann war eine wichtige Etappe des Erziehungs- und Ausbildungswegs gemeistert.
Vor allem aber hatten Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen dem Ziel zu dienen, Mädchen in gesittete junge Damen zu verwandeln, die in den Augen zukünftiger Heiratskandidaten Wohlgefallen erregten. Eine solche Haltung setzte nach zeitgenössischer Vorstellung voraus, dass Mädchen grundsätzlich ihre geschlechtsspezifische Inferiorität akzeptieren lernten. Einen guten Einblick gibt der Ratgeber für „Die Frau Ihre Stellung und Aufgabe in Haus und Welt“, den die 1837 geborene Mathilde Lammers 1877 publizierte. In der Schrift der engagierten Lehrerin wird der Spagat deutlich, den eine Bürgerin zu bewältigen hatte, wenn Sie einerseits selbstbewusst in dem ihr zugewiesenen Lebensbereich handeln, andererseits „seine“ Richtlinienkompetenz akzeptieren wollte: ‚Ich will ihm eine Gehilfin schaffen, die um ihn sei!‘ So lautet das alte Bibelwort, auf dessen Grund sich alles Wirken des Weibes in dieser Welt aufbauen muss, wenn es von Bestand sein soll. Um ihn, vor ihm in helfender, dienender Liebe und Liebesgemeinschaft: wo könnte sich das besser, völliger, segensreicher erfüllen, als im Hause? Der Mann beherrscht die Welt, Gott hat ihn zum Herren über die Erde geschaffen, eben diese Herrschaft ist ein Teil seiner Gottesebenbildlichkeit. Er beherrscht die Welt des Gedankens und der Tat, die sichtbaren Dinge, die ihn in tausendjähriger Verschiedenheit, in unerschöpflicher Fülle umgeben, er erkennt die Gesetze, denen diese Dinge in ihren Wandlungen unterworfen sind, und lenkt sie dadurch nach seinem Willen (Lammers, 1877, 67). Und die Frau? Mathilde Lammers weiß: Nur eine Stätte ist für ihn da, wo er voll und ganz ausruhen, neue Kräfte sammeln, sich auf sich selbst besinnen und des Erworbenen ganz froh werden kann: das ist das Haus! […] Im Hause gehören Mann und Weib am unlöslichsten zueinander. […] Im Hause ist’s auch von jeher am deutlichsten offenbar geworden, dass das Weib nichts ist ohne den Mann und der Mann nichts ohne das Weib. Aber gerade, wo das Weib mit der Hingabe ihres ganzen Wesens, mit völliger Selbstentäußerung dient, da wird sie das eigentlich herrschende, tonangebende Element (ebd. 68).
Es galt mithin im Erziehungsprozess, beim jungen Mädchen die Bereitschaft zum Dienen zu fördern und mit hausfraulichem Selbstbewusstsein zu kombinieren. Um noch einmal Karl von Raumer zu zitieren: Mädchen müssen daran gewöhnt werden, in jedem Augenblick, wenn es nötig ist, von den Büchern oder vom Klavier aufzustehen, um etwa einem kleinern Kinde zu helfen, oder sonst den Eltern etwas zu besorgen (Raumer, 1853, 87). Auf den Punkt gebracht: sie sollen dienenlernen, damit sie hierdurch befähigt werden, nicht bloß mit Worten und mit der Zunge, sondern mit Tat und Wahrheit zu lieben (ebd. 88).
Konsequenterweise zählten zu den erwünschten weiblichen Tugenden Bescheidenheit und Nachgiebigkeit. Anschaulich geschildert wird ein geglückter Anpassungsprozess an das zeitgenössische Frauen ideal im vielgelesenen Roman von Emmy von Rhoden, „Der Trotzkopf“, erstmals publiziert 1885. Die Pensionsgeschichte verfolgt die Entwicklung der 16-jährigen Ilse vom trotzigen Wildfang und Naturkind zur lieblichen, sinnenden Jungfrau (Rhoden, 1892, 274). Ein Kind muss bitten können! Und ein Mädchen vor allem, erläutert eine Pensionatslehrerin. Lerne nachgeben mein Kind, lerne vor allem dich beherrschen! Tust du es nicht, so nimmt das Leben dich in seine harte Schule und bereitet dir viel Herzeleid und Kummer. Glaube mir, Trotz und Widerstand sind böses Unkraut in einem Mädchenherzen, und oftmals überwuchern sie die besten, heiligsten Gefühle! (ebd. 80).
Wie wohl junge Mädchen über die ihnen zugedachten Rollenfestlegungen dachten? Viele von ihnen mögen die ihnen gebotenen Leitbilder als selbstverständlich akzeptiert oder zumindest keine Alternativvorstellungen gekannt haben. Ich bedauerte und beklagte es täglichund stündlich, dass ich kein Junge sei; dass auch ein Mädchen ein Recht auf Entwickelung, auf Selbstständigkeit und Beteiligung und Glück haben könne, dieser Gedanke kam mir nie. Ich hielt mein Los für das gottgewollte Frauenschicksal und schalt mich innerlich selbst, dass ich mich damit nicht zufrieden geben konnte (Pappritz, 1908, 6), berichtet Anna Pappritz. Auch Franziska Tiburtius äußert nur leise Kritik am gängigen Erziehungsstil. Es war damals Grundsatz in der Erziehung, schreibt sie, dass junge Mädchen vor allen Dingen bescheiden sein, gern zurücktreten, nicht Ansprüche machen dürften; vielleicht tat meine gute Mutter in allerbester Meinung ein wenig zu viel nach dieser Richtung hin; es wurde uns immer gesagt, dass andere gescheiter, gewandter, äußerlich viel ansprechender seien als wir. Das ist für uns, die wir in eine Zeit hineinwuchsen, die uns aus der Häuslichkeit hinausdrängte, nicht ganz richtig gewesen; eine meiner Schwestern und ich haben später viel innere Kämpfe zu bestehen gehabt, um die innere Unabhängigkeit und das Selbstvertrauen zu erringen, das wir notwendig brauchten (Tiburtius, 1929, 45f.).
Zur Mädchenerziehung gehörte über den weiblichen Tugenderwerb hinaus das frühe Einüben hausfraulicher Fertigkeiten im Haushalt der Familie. In die ersten Jahre meines Lebens, in denen noch zwei Geschwister geboren wurden, fielen bereits frühe hauswirtschaftliche Erfahrungen, da ich der Mutter auf Schritt und Tritt folgte, und auch auf dem Taubenboden wie im Garten richtige Pflichten übernahm (Heyl, 1925, 2), schreibt Hedwig Heyl in ihren Jugenderinnerungen. Die Erziehung von mir und meiner etwas jüngeren Schwester ging Hand in Hand mit der des in diesem Hause beschäftigten Personals. Ordnung, Zeiteinteilung, Pünktlichkeit, Sorgfalt in den Kleinigkeiten der Erfüllung von Pflichten wurden verlangt und eisern durchgeführt – bis die Strenge sich dann milderte, als alle Beteiligten von selbst das Ehrgefühl hatten, es recht zu machen (ebd.).
Vor allem in finanziell engeren Verhältnissen ersetzte das praktische Tun den Haushaltungsunterricht etwa in einer Töchterschule. Das Gehalt meines Vaters – er war Kanzleirat – war klein. Die Mutter und ich, wir hielten getreulich Alles zusammen. Kaum zwölfjährig half ich schon in den Stunden, die mir die Schule freiließ, im Haushalt, in der Küche, bei der Wäsche, so die Novellenfigur Hedwig Dohms (Dohm, 1894, 15). Hausfrauliches Training war auch in bessergestellten Familien gefragt. Lily von Kretschmann (geb. 1865), später verh. Braun, erhielt ihren Schliff in hausfraulichen Tugenden bei einem Aufenthalt im Haushalt ihrer Tante. Es verging kein Tag, ohne dass ich gescholten worden wäre: wenn an ihrem behandschuhten Finger, mit dem sie über jede Leiste in meinem Zimmer fuhr, Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht richtig gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgfältig ausgereckt in der Schublade lagen, wenn ihre scharfen Augen einenFleck auf dem Kleide entdeckten, oder wenn ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich Strümpfe stopfen sollte. […] Als eine Art Selbstkasteiung sah ich es an, wenn ich nunmehr mit Feuereifer alle mir unangenehmen Arbeiten übernahm: ich stickte ‚altdeutsche‘ Deckchen, als ob ich es bezahlt bekäme, kämpfte stundenlang am Klavier mit meiner Talentlosigkeit, strickte unentwegt Strümpfe für Negerkinder, während die Tante nach dem Abendbrot spielte und sang (Braun, 1985, 101, 108). Wissenserwerb und die Schulung intellektueller Kompetenzen hatten selbstverständlich hinter dem Hausfrauentraining zurückzustehen.
Bildung darf bei Mädchen niemals in Wissenschaft ausarten, sonst hört sie auf, zarte weibliche Bildung zu sein. Das Mädchen kann und darf sich in nichts Wissenschaftliches mit jener hartnäckigen, männlichen Ausdauer vertiefen, dass sie darüber alles andere vergäße. Nach Männer Weise in der Wissenschaft gründlich zu sein, darnach könnte nur ein ganz unweibliches Mädchen streben, und nur vergebens streben, da ihr Kraft und Talent des Mannes mangelt (Raumer, 1853, 82).
Es galt folglich, den Mädchen Halbwissen zu vermitteln. Der Kenntnisstand sollte ausreichen, um die späteren hausfraulichen und repräsentativen Aufgaben zu übernehmen, zukünftigen Heiratskandidaten jedoch keinesfalls Angst vor dem „Blaustrumpf“ einflößen. Im Grunde ging es um die Vermittlung „kulturellen Kapitals“, darum, ein Mädchen zur Zierde ihres bürgerlichen Standes zu formen. Nicht ohne Ironie formulierte Meta Wellmer in ihrem Ratgeber für Erzieherinnen das berufsferne, fachwissenschaftlich niedrig und dennoch äußerst hochgesteckte Erziehungsziel der Mädchenbildung, das ehrgeizigen und entsprechend vermögenden Bürgereltern vorschwebte: Einst drei neuere Sprachen fließend und elegant sprechen, brillant Klavier spielen, mit Ausdruck singen, in der Literatur dreier Nationen zu Hause sein, geistreiche Briefe, Reisebeschreibungen und Tagebücher schreiben können, außerdem viel Bildendes in mehreren Sprachen gelesen haben […] Die Geschicklichkeit feiner Stickereien zu verfertigen und das angenehme Talent originelle Skizzen nach der Natur zu entwerfen, gehen so nebenher, als sich von selbst verstehende Beschäftigungen. […] Man muss eines Tages eine vielseitig unterrichtete, angenehme, pikante, graziöse junge Dame in die Welt und Gesellschaft einführen können, welche durch den Firnis ihrer Kenntnisse, Talente, Reize aller Art die Wahl eines unabhängigen reichen Mannes zu fesseln verstehe (Wellmer, 1877, 55 und 58).
Die Niederungen der Mädchenbildungspraxis waren freilich häufig ernüchternd. Dass die rudimentäre Bildung, die die öffentliche Volksschule vermittelte, einer Tochter aus dem Bürgertum nicht angemessen war, auch der gesellschaftliche Umgang nicht passend, lag auf der Hand. Wer es sich leisten konnte, engagierte für den Elementarunterricht daher Privatlehrer oder Erzieherinnen. Sie sollten das Fundament der Bildung legen und unterrichteten kleine Jungen und Mädchen mitunter noch gemeinsam. In den Erinnerungen der ehemaligen Zöglinge erhält der häusliche Schulbetrieb nicht selten schlechte Noten. Jetzt zitterte ich vor den Schulstunden, berichtet beispielsweise Franziska Tiburtius. Das Fräulein saß mit strenger Miene auf dem Sofa, ich ihr gegenüber; neben ihr ein sogenanntes ‚Kantel‘, ein Lineal mit vier scharfen Kanten und sowie eine falsche Antwort kam – Frl. O. s Erklärungen waren nicht immer durchsichtig – fuhr das Holz gegen meinen Oberarm, so dass mein Arm von der Schulter bis zum Ellenbogen in allenRegenborgenfarben prangte. Gescheiter bin ich dadurch nicht geworden (Tiburtius, 1929, 37). In Margarethe von Endes Elternhaus besuchte der Sohn eine öffentliche Schule. Für den Unterricht der Mädchen in den alltäglichen Grundkenntnissen war die Haushälterin zuständig: Stricken, Nähen, Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen und viel biblische Geschichte (Friz, 2009, 26). Die Mama vermittelte Kenntnisse in Haushaltsführung, Malerei, Klavierspiel und Literatur. Für das als notwendig erachtete Französisch wurde eine französische „Bonne“ eingestellt. Erweiterter Privatunterricht soll dann die Zwölfjährige darauf vorbereiten, die Endklasse der städtischen höheren Töchterschule absolvieren zu können.
Anschaulich schildert Lily Braun in ihren Erinnerungen den Ablauf eines glückenden gehobenen Privatunterrichts mit Hilfe von Gymnasiallehrern, die ins elterlich Haus kamen: ‚Doktor Hug Meyer‘, meldete der Diener und öffnete die Tür vor dem Erwarteten. Mein Vater stand auf. ‚Dein Erziehungsapparat‘, flüsterte er mir lächelnd zu. Ich war wenig neugierig. Sie waren bisher einander alle ähnlich gewesen: grauhaarige Männer mit krummen Rücken und schmutzigen Fingernägeln, ältliche, bebrillte Fräuleins mit blutleeren Lippen – wirklich: nur gleichmäßig funktionierende ‚Erziehungsapparate‘, aber keine Erzieher.[…] Täglich wiederholte sich dabei dieselbe Szene: mit linkischer Verbeugung und verlegenem Hüsteln, das sein gewaltiger Brustkasten Lügen strafte, trat er ein. ‚Sind Sie zufrieden mit Alix?‘ fragte Mama. ‚O sehr‘, antwortete er. Ihm freundlich zunickend, mir rasch die Stirne küssend, verabschiedete sie sich, und mit einem Gefühl der Erleichterung nahmen wir einander gegenüber Platz. Der Diener brachte den Kaffee, der, wie Papa gemeint hatte, eine Unterhaltung und damit ein näheres Bekanntwerden von Lehrer und Schülerin herbeiführen sollte. Aber es kam nie dazu. Dr. Meyer schluckte hastig den gebotnen braunen Trank herunter und zerbröckelte schweigsam den Kuchen zwischen den Fingern, während er meine Hefte durchsah. Erst durch den Lehrstoff, den er vortrug, taute er auf, und je mehr die Zeit vorrückte, desto heller leuchteten seine Augen, desto reicher strömten ihm alle Mittel eindrucksvoller Rede zu. War mein ganzer bisheriger Unterricht nichts als eine Anhäufung von Regeln, Versen, Namen, Zahlen und Daten gewesen,[…] so strömte jetzt mit ihm das Leben selbst mir zu, dessen Fülle ich in atemloser Aufmerksamkeit, in herzklopfender Erregung zu fassen und zu halten versuchte (Braun, 1985, 53f.).
Entschied sich die Familie doch für einen Schulbesuch außer Haus, dann galt einzig der Besuch privater Mädchenschulen als schicklich. Hier dilettierten nicht selten bürgerliche Fräuleins. Hedwig Heyl beispielsweise besuchte bis zum zwölften Lebensjahr in Bremen einen Schulzirkel, den Ottilie Hoffmann, die spätere Gründerin der Antialkoholbewegung in Deutschland, leitete. Ihr Mut, als dreiundzwanzigjähriges Mädchen aus bester Familie ohne Lyzeumsexamen einen Unterricht zuleiten, war damals ganz erstaunlich – aber wenn auch schulmäßig viele Lücken entstanden, so gab sie ihren sechs Schülerinnen so viel Freude durch ihren frischen Idealismus, durch ihre herzgewinnende Güte und durch ihre in England gesammelten Erfahrungen, dass ich innerlich bereichert mit den Freundinnen einige glückliche Jahre verlebte (Heyl, 1925, 3). Nicht alle Berichte aus den Mädchenschulen klingen ähnlich begeistert. Gemäß der Anschauung, die auch heute noch fortwirkt, dass der Zweck der weiblichen Erziehung nicht die Entwickelung der Intelligenz, sondern die des Gemüts sei, wurde Wissenswertes nur in den minimalsten Dosen verabreicht. Sehr viel Religion […] Auf Herzensbildung zieltenauch die Themata des deutschen Aufsatzes ab: ‚Gefühle beim Beginn des Frühlings, Empfindungen beim Untergang der Sonne, oder Betrachtungen in der Silvesternacht.‘ Die Pfannkuchen und den Punsch einzuflechten, wagten wir nicht (Dohm, 1912, 71).