Terrorismus und politische Gewalt - Sylvia Schraut - E-Book

Terrorismus und politische Gewalt E-Book

Sylvia Schraut

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Beschreibung

Das gesellschaftliche Phänomen politische Gewalt und mit ihm verbunden die Fragen von Sicherheit und Prävention beanspruchen in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. Seit dem Anschlag auf die »twin towers« in New York am 11. September 2001 finden die internationalen politischen Konflikte in Form von terroristischen Anschlägen mehr und mehr auch ihren Eingang in die öffentlichen Räume und Debatten europäischer demokratischer Gesellschaften. Doch politische Gewalt beschäftigt nicht nur die aktuelle Politik, sondern auch die Gesellschaftswissenschaften. Die Rolle der Geschichtswissenschaft ist es hierbei, die Geschichte eines Phänomens zu beleuchten, das keineswegs neu ist, sondern in Wellen die europäischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts begleitete. Vor diesem Hintergrund bietet das Lehrbuch eine Einführung in die Terrorismusgeschichte und die Geschichte der politischen Gewalt. Anhand historischer Fallbeispiele beleuchtet es die unterschiedlichen Facetten politischer Gewalt und staatlicher Gegenmaßnahmen und vermittelt die geschichtswissenschaftlichen Zugänge zum Thema.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Einführungen in die Geschichtswissenschaften. Neuere und Neueste Geschichte

Herausgegeben vonJulia Angster und Johannes Paulmann

Band 1

Sylvia Schraut

Terrorismus und politische Gewalt

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: USA / New York / WTC 11. September 2001. AKG1378330. © Jason Hook / akg-images.

Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.deEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-5162

ISBN 978-3-647-90120-6

Inhalt

Vorwort zur Reihe

I.Einführung: Die allgegenwärtige Präsenz politischer Gewalt

II.Zentrale Begriffe und Konzepte

1.Politische Gewalt in der historischen Forschung

2.Sicherheit als geschichtswissenschaftliches Thema

3.Terrorismus als geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld

III.Themen und Untersuchungsgegenstände

4.Moderne Staatlichkeit und politische Gewalt als oppositionelle Strategie

5.Frühformen des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Politische Attentate als Botschaftsträger

6.Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus

7.Die Delegitimierung staatlicher Ordnung durch oppositionelle Gewaltbereitschaft in der Zwischenkriegszeit 114

8.Antikoloniale politische Gewalt

9.Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

10.Rechtsextremismus und politische Gewalt

11.Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien

12.Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung

IV. Coda: Die Herausforderung moderner Staatlichkeit in der Gegenwart: asymmetrische politische Gewalt

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personen- und Organisationsregister

Vorwort zur Reihe

Die in dieser Reihe erscheinenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft behandeln zentrale Themen der europäischen Geschichte vom ausgehenden 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert in einer nationsübergreifenden Perspektive. Die Grundidee für die Reihe ist aus einer Erfahrung entstanden, die wir im Alltag der akademischen Lehre gemacht haben: Einführungsliteratur für Bachelor- oder Masterstudiengänge stellt in der Regel entweder Faktenwissen oder einen theoretischen Ansatz in den Mittelpunkt. Wir wünschten uns hier eine Verbindung zwischen diesen Ebenen, die wir in der akademischen Lehre ja regelmäßig leisten müssen. Die »Einführungen in die Geschichtswissenschaft« sollen daher beides miteinander verknüpfen: Die Bände bieten jeweils anhand spezifischer Gegenstände eine Einführung in die Geschichtswissenschaft, also in die Arbeitsweise, die Methodik und die Denkweisen des Fachs. Geschichtswissenschaft als universitäres Fach soll zum wissenschaftlichen Arbeiten befähigen, also dazu, selbst Fakten zu analysieren, sie zu deuten und darzustellen. Es geht darum, selbständig Erkenntnisinteressen zu formulieren, und hierfür ist ein Überblick über die Pluralität und den Wandel der Zugänge des Fachs, über die Theorieentwicklung und die jeweils angemessenen Methoden unabdingbar. Diese Arbeitsweise lässt sich jedoch am besten am konkreten Beispiel vermitteln. Die Reihe bietet daher eine problemorientierte Vermittlung von Inhalten und einen theoriegeleiteten Zugang zu wichtigen historischen Themen. Ihr Ziel ist eine Einführung in wissenschaftliche Zugänge und Methoden, in Forschungsstand und Forschungskontroversen, und damit in die Arbeitsweise und das Wesen von Geisteswissenschaft. Gedacht ist diese Reihe jedoch durchaus auch für Lehrende als Handreichung zur Vorbereitung von Seminaren oder einzelnen Sitzungen. Der Aufbau der Bände folgt daher jeweils der möglichen Struktur einer Seminarveranstaltung und bietet eine argumentative oder analytische Gliederung, die nach einer kurzen thematischen Einführung zunächst Kontroversen und Theorien der Forschung behandelt, Leitfragen entwickelt und diese dann an Beispielen in mehreren Kapiteln systematisch anwendet. Wir hoffen, damit einen sinnvollen Beitrag zu Lehre und Studium zu leisten.

Julia Angster und Johannes Paulmann

I.

Einführung: Die allgegenwärtige Präsenz politischer Gewalt

Das gesellschaftliche Phänomen politische Gewalt und mit ihm verbunden die Fragen von Sicherheit und Prävention beanspruchen in den letzten Jahren anwachsende Aufmerksamkeit. Seit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001 finden die internationalen politischen Konflikte in Form von terroristischen Anschlägen mehr und mehr auch ihren Eingang in die öffentlichen Räume und Debatten europäischer demokratischer Gesellschaften. Am 1. Februar 2017 beispielsweise berichtete die ARD von einer Razzia gegen Islamisten und der Verhaftung eines Tunesiers, der einen Anschlag in Deutschland geplant haben soll. Zu den ARD-Nachrichten des gleichen Tages zählte die Information, das Bundeskabinett habe Fußfesseln für potentielle Gefährder beschlossen, und ein Feature nahm sich der 15-jährigen Safira S. an. Sie hatte im Auftrag des »Islamistischen Staates« (IS) einen Polizisten mit einem Messer angegriffen und war nun zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. WDR, NDR und »Süddeutsche Zeitung« nutzten den Anlass, um Rechercheergebnisse über die Kommunikationsstrategien des IS zu präsentieren. Einen Tag später, am 2. Februar 2017, publizierte die ARD in ihrer Internet-Rubrik »#kurzerklärt« einen Bericht der WDR-Journalistin Sarah Walzer über die sogenannten Reichsbürger. »Sie bestreiten die Existenz der Bundesrepublik und zeichnen sich durch ein beträchtliches Gewaltpotential aus«, so die Autorin, »Die Reichsbürger [H. i. O.] beschäftigen zunehmend Polizei und Behörden. Zumeist werden sie als Spinner abgetan. Aber sind sie auch eine Gefahr für die Demokratie?«1 Im Jahr 2017 hat die Bundesanwaltschaft ca. 1.200 Terrorismus-Verfahren eingeleitet; ein Jahr zuvor waren es nur 250 gewesen.2

Politische Gewalt und ihre Auswirkungen auf öffentliche Sicherheit und demokratische Freiheitsrechte, so scheint es, sind auf den Straßen Europas, in Einkaufszentren und öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch in den Medien derzeit allgegenwärtig. Doch politische Gewalt beschäftigt nicht nur die aktuelle Politik, sondern auch die Gesellschaftswissenschaften. Die Rolle der Geschichtswissenschaft ist es hierbei, die Geschichte eines Phänomens zu beleuchten, das keineswegs neu ist, sondern in Wellen die europäischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts begleitete. Aufgabe dieses Bandes ist es, vergleichend die spezifischen Charakteristika politischer Gewalt in langer Zeitlinie herauszuarbeiten. Ziel ist es, die unterschiedlichen Facetten von politischer Gewalt und staatlichen Gegenmaßnahmen anhand historischer Fallbeispiele vertieft zu beleuchten und die geschichtswissenschaftlichen Zugänge zum Thema zu erläutern.

Der Aufbau des Buches

Eine Beschäftigung mit politischer Gewalt setzt zuvorderst die Klärung des Begriffes voraus: Auf den ersten Blick scheint dies unnötig. Die Begrifflichkeit ist in der medialen zeitgeschichtlichen Thematisierung allgegenwärtig und im politischen Sprachgebrauch fest verankert. Doch bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass schon in der Frage, was Gewalt eigentlich ist, die gängigen Definitionen beträchtlich voneinander abweichen. Die Analyse politisch motivierter Gewaltphänomene erfordert jedoch eine präzise Bestimmung und Eingrenzung des Themas, wenn historische Fallbeispiele zu einem Vergleich einladen und die Kernelemente der zugehörigen Gewaltphänomene charakterisiert werden sollen. Diesbezügliche Überlegungen und Definitionsvorschläge sind Gegenstand des ersten Kapitels. Ausgehend vom Instrumentarium der Begriffsgeschichte wird politische Gewalt auf politisch motivierte Gewalt von unten eingegrenzt, mithin auf eine Gewaltform, die sich gegen das staatliche Gewaltmonopol und gegen die Regelwerke und Normen der Mehrheitsgesellschaft richtet. Aber auch die Beschäftigung mit einem solchermaßen bereits eingegrenzten Gewaltbegriff macht rasch deutlich, dass eine Reihe weiterer Forschungsfelder mit der historischen Gewaltforschung verwoben sind.

Nur selten ist politische Gewalt ein klar von anderen Forschungsgebieten abzugrenzendes Themengebiet. Dies wird beispielsweise sichtbar, wenn die Schnittmengen zwischen der derzeit höchst aktuellen Sicherheitsforschung und der historischen Gewaltforschung untersucht werden. Das Schlagwort Sicherheit beschäftigt derzeit alle Gesellschaftswissenschaften. Doch die Rechts- und Politikwissenschaften oder die Soziologie arbeiten mit höchst unterschiedlichen Ansätzen in ihrer Analyse von gesellschaftlichen Sicherheitsproblemen. Als eigenständiges Thema scheint Sicherheit in der Geschichtswissenschaft eine eher randständige Position einzunehmen. Zwar wird die Herstellung von Sicherheit beispielsweise in der geschichtlichen Betrachtung der Staatsentwicklung im Hintergrund immer mit behandelt, doch ein selbständiger Forschungszweig »historische Sicherheitsforschung« mit eigenständigen methodischen Ansätzen oder theoretischen Annahmen hat sich bislang kaum entfalten können. Kapitel 2 beschäftigt sich mit den Anleihen, die die Geschichtswissenschaft in den einschlägig befassten Nachbardisziplinen vornimmt.

Das Erkenntnisinteresse in den Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen und in der Geschichtswissenschaft im Besonderen wird nicht selten durch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen stimuliert. Dies zeigt sich auch in der historischen Gewaltforschung. In ihr nimmt aktuell – nicht weiter verwunderlich – die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als einer spezifischen Ausprägung politischer Gewalt eine gewichtige Rolle ein. Doch auch im Falle der Charakterisierung von politischer Gewalt als Terrorismus können sich weder die einschlägig befassten Gesellschaftswissenschaften noch die internationale Politik oder die politische Wissenschaft auf einen Kern notwendiger Charakteristika einigen. Für die Historiker erschwerend kommt hinzu, dass im 19. Jahrhundert Phänomene, die wir heute als Terrorismus bezeichnen, anders benannt wurden, beispielsweise als Aufruhr oder »Propaganda der Tat«. Umgekehrt diente der Begriff Terror oder Terrorismus in erster Linie dazu, staatliche Gewaltherrschaft zu charakterisieren. In Kapitel 3 muss folglich erst einmal der Bedeutungsgehalt des Labels Terrorismus geklärt werden. Hierbei erweist sich ein spezifischer Zweig der Geschichtswissenschaft, die Begriffsgeschichte, als hilfreich. Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der historischen Terrorismusforschung macht deutlich: Terrorismus wird zeitlich als Phänomen der Moderne seit der Französischen Revolution eingeordnet und es sind insbesondere die symbolischen Funktionen der terroristischen Gewalt sowie ihr Charakter als Botschaftsträger, die herausgearbeitet werden.

Die folgenden Kapitel befassen sich mit Fallbeispielen und Untersuchungsgegenständen im Themenfeld der historischen politischen Gewaltforschung. Den Auftakt bildet mit Kapitel 4 das Spannungsverhältnis von Staats- und Herrschaftsverständnis, der staatlichen Aufgabe, Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten und dem demokratischen Recht auf Opposition oder gar Widerstand im historischen Längsschnitt. Nur vordergründig scheint die Sachlage zumindest in Demokratien eindeutig. Das staatliche Gewaltmonopol verlangt den Verzicht aller gesellschaftlichen Gruppen auf individuelle Gewaltanwendung auch und gerade in der politischen Sphäre. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Gewaltdefinition und Gewaltakzeptanz einem beträchtlichen zeitlichen Wandel unterliegen.

In einen Rahmen von Längsschnitten eingebettet sind Kapitel, die sich mit historischen Fallbeispielen beschäftigen. Am Anfang stehen mit Kapitel 5 Frühformen politischer Gewalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Attentat der französischen Girondisten Charlotte Corday auf den Jakobiner Jean Paul Marat 1793 oder der Mordanschlag des deutschen Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand auf den konservativen Literaten August von Kotzebue 1819 stehen an der Epochenwende zwischen alter feudaler Welt und bürgerlichem Zeitalter. Es handelt sich auf den ersten Blick um klassische, politisch motivierte Attentate. Die historische Analyse fördert jedoch Charakteristika zu Tage, die den Phänomenen politischer Gewalt der Moderne eigen sind: den symbolischen Charakter der Anschläge und die politische Botschaft, die die Akteure mit ihnen verbanden. Gewichtiger noch: die nachfolgenden Generationen politischer Gewaltakteure begriffen Corday und Sand als Urmutter und Urvater des eigenen Tuns.

Kapitel 6 hat den europäischen Anarchismus der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zum Thema. Spätestens jetzt gab sich politische Gewalt mit der »Propaganda der Tat« eine eigene theoretische Fundierung und Legitimationsmuster, die den Terrorismus als eigenständige politische Kampfform begründeten. Obwohl in seiner Epoche von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist das geschichtswissenschaftliche Wissen über die Gewaltphase des Anarchismus eigentlich recht gering. Mit Hilfe des historischen Vergleichs soll dieses Kapitel dennoch zu den strukturellen Merkmalen der anarchistischen Gewalt vordringen.

Im Zentrum von Kapitel 7 stehen politische Gewaltphänomene in der europäischen Zwischenkriegszeit. Wie in keiner anderen Phase der Neuzeit galt nicht nur in Deutschland politische Gewalt als, wenn nicht legitimes, so doch zumindest akzeptables Mittel politischer Auseinandersetzung. Die Bereitschaft zu politischer Gewalt wird als charakteristisches Merkmal einer Epoche begriffen, die sich in einer allumfassenden Modernisierungskrise befand. An den Exzessen politischer Gewalt in der Weimarer Republik lässt sich bestens das Demokratie gefährdende Potential gewaltbereiter Opposition verdeutlichen. Es kann letztlich dazu beitragen, eine Demokratie zu Fall zu bringen, wenn diese das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr behaupten und damit verbunden Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann. Als einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte der Stabilität einer Demokratie erweist sich damit der gesellschaftliche Konsens auf Gewaltverzicht.

In Kapitel 8 werden Formen des Terrorismus untersucht, die scheinbar von den Zentren Europas weg, in die europäische Peripherie oder in andere Kontinente führen. Es handelt sich um die gewaltbereiten Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts, die sich zum Ziel setzten, die fremden Herren aus ihren Kolonien zu vertreiben. Nur selten wird die Auflösung der europäischen Kolonialreiche unter dem Gesichtspunkt politische Gewalt und Terrorismus betrachtet. Doch es waren insbesondere terroristische Strategien, mit denen die Herrschaftspraktiken der Kolonialherren delegitimiert wurden. Ihre Kämpfe gewannen die Befreiungsgruppen nicht nur, indem sie in der Kolonie Angst und Schrecken verbreiteten, sondern auch oder gar vor allem in den Medien der kolonialen Mutterländer. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Zypern und in Algerien gegen die britische bzw. französische Fremdherrschaft dienen als Beispiele.

Im Zentrum des folgenden Kapitels steht der sozialrevolutionäre Terrorismus der 1970er Jahre. Er lässt sich in vielen westlichen Nachkriegsgesellschaften nachweisen. In Deutschland erlangte die Rote Armee Fraktion (RAF) in ihrer Hauptaktionszeit den Status eines zentrale gesellschaftliche und politische Diskussionen beherrschenden Phänomens. An den Mediendebatten der Epoche lässt sich veranschaulichen, wie sehr eine Demokratie um ihre rechtsstaatliche und freiheitliche, aber auch sichere Ausgestaltung ringt, wenn sie mit politischer Gewalt konfrontiert ist. Es sind vielfältige Überlegungen angestellt worden, um die Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre zu erklären. Dabei kommt dem Generationenansatz besondere Plausibilität zu.

Als historische Längsschnitte sind die Kapitel 10 bis 12 aufgebaut. In Kapitel 10 geht es um rechtsextreme politische Gewalt zwischen 1945 und 1985. Der Zugang zum Thema ist nicht leicht. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass schon der Begriff rechtsextrem näherer Erläuterungen bedarf. In vielen gängigen Definitionen fehlen Überlegungen zur vorhandenen oder vermuteten Gewaltbereitschaft rechtsextremer Gruppierungen. Der vermeintlich geringe Zusammenhang zwischen rechtsextremer Ideologie und politischer Gewalt prägte lange Zeit nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die politische Reaktion auf rechtsextreme Gewaltphänomene. Erst die aktuelle öffentliche Debatte um den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hat in Deutschland breit die Sensibilität dafür erhöht, dass auch rechtsextreme politische Gewalt Demokratie gefährdet.

Kapitel 11 und 12 greifen im zeitlich umfassenden Bogen auf Terrorismusphänomene zu. Im ersteren Kapitel steht die kommunikative Funktion politischer Gewalt zur Debatte. Wenn, wie zahlreiche Terrorismusdefinitionen betonen, diese Form der politischen Gewalt eigentlich nicht auf die faktischen Opfer der Anschläge zielt, sondern auf die Herstellung medialer Aufmerksamkeit, dann rücken die Medien ins Zentrum der Analyse. Sie lassen sich gleichermaßen als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie als selbständige Akteure in der medial geführten Debatte um Legitimität oder Verwerflichkeit von politischer Gewalt untersuchen.

Das folgende Längsschnittkapitel, Kapitel 12, befasst sich mit politischer Gewalt im Fokus der historischen Kategorie Geschlecht. Das Thema erschöpft sich nicht in der Frage, ob Männer oder Männlichkeit bzw. Frauen oder Weiblichkeit ein engeres oder distanzierteres Verhältnis zu Gewalt aufwiesen oder -weisen. Ausgehend von der Überlegung, dass in der historischen Entwicklung Geschlecht unter anderem auch über Nähe und Ferne zur politischen Sphäre und zu politischem Einfluss definiert wird, lässt sich zeigen, wie sehr mit der jeweiligen Debatte über Gewalt und Täter auch geschlechtsspezifische Normen verhandelt wurden und werden.

Die Geschichte politischer Gewalt ist mit der Kette der hier präsentierten thematischen Zugriffe und Fallbeispiele nicht abgeschlossen. Doch bis sich die Geschichtswissenschaft mit dem aktuellen islamistischen Terrorismus befassen kann, wird es noch einige Jahrzehnte dauern. Denn die historische Wissenschaft benötigt Quellen, nicht zuletzt staatliches Behördenschriftgut, das erst nach Jahrzehnten in Archive abgeliefert und zugänglich gemacht wird.3 Vielleicht wird sich dann jedoch zeigen, dass die neuen Ausprägungen politischer Gewalt mit Hilfe des historischen Zugriffsinstrumentariums in einer Kette historischer Vorläufer zu verorten und die mit Terrorismus verbundenen Konfliktlagen und Lösungswege in langer Zeitlinie zu interpretieren sind.

1Tagesschau. http://www.tagesschau.de/multimedia/kurzerklaert/kurzerklaert-reichsbuerger-101.html (3.2.2017).

2Vgl. Jansen, F., Islamismus: Der verkannte Ernst der Lage, in: Der Tagesspiegel, 16.02.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/terror-in-deutschland-islamismus-der-verkannteernst-der-lage/20971788.html (21.5.2018).

3Vgl. Kapitel 2.3.

II.

Zentrale Begriffe und Konzepte

1.Politische Gewalt in der historischen Forschung

»Gewalt ist einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften«, so der Soziologe Peter Imbusch im »Internationalen Handbuch der Gewaltforschung«.1 Mit der erneuten Zunahme gesellschaftlicher Gewaltphänomene in den 1960er Jahren nach der diesbezüglich relativ ruhigen Nachkriegsphase in der westlichen Welt setzte eine neue intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt ein, »ohne dass die Kontroversen um ihre angemessene Bestimmung und inhaltliche Differenzierung, ihre gesellschaftspolitische Einschätzung und moralische Bewertung in nennenswertem Umfang abgenommen hätten.«2

Politische Gewalt – Definitionsversuche

Gewaltphänomene lassen sich grundsätzlich mit Hilfe der üblichen W-Fragen analysieren – Wer, Was, Wie, Wem, Warum, Wozu und Weshalb. Differenzierungen beispielsweise nach physischer Gewalt, institutioneller Gewalt, struktureller Gewalt, kultureller bzw. symbolischer Gewalt und ritualisierten Formen von Gewalt sollen eingrenzen helfen, welche Gewaltform im Fokus des Interesses steht. Unterscheiden lässt sich ferner individuelle, kollektive und staatliche Gewalt. Dabei wird deutlich, dass die »Verwendungsweisen des Gewaltbegriffs im Zusammenhang mit dem politischen Gebilde Staat … jeweils außerordentlich unterschiedliche Typen und Formen der Gewalt« bezeichnen und vom legitimen staatlichen Gewaltmonopol über staatsterroristische Formen der Gewalt bis zum Krieg reichen.3 Schließlich kann quer zu den genannten Typisierungsversuchen eine Unterscheidung zwischen legitimer bzw. legaler und illegitimer bzw. illegaler Gewalt getroffen werden. Für gewaltsame Aktionen in der Sphäre des Politischen, auf der Ebene des Staates oder gegen diesen gerichtet hat sich zunehmend die Bezeichnung politische Gewalt eingebürgert. Doch »der Begriff der politischen Gewalt«, schreibt Birgit Enzmann in ihrer Einführung zum »Handbuch politische Gewalt«, »ist selbst ein Politikum« und man kann ergänzen: er ist keineswegs konsensfähig geklärt.4 Die Politikwissenschaftlerin startet wie viele andere Autoren mit ihrem definitorischen Überblick beim weitgefassten Gewaltbegriff Johann Galtungs. Der Friedens- und Konfliktforscher hat 1971 den Begriff der strukturellen Gewalt in die Debatte eingeführt. Gewalt liegt Galtung zufolge »dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung«, mithin bereits, wenn ihre Handlungsspielräume und Chancen durch gesellschaftliche Begrenzungen eingeschränkt werden.5 Während der 1970er und 1980er Jahre war der strukturelle Gewaltbegriff besonders einflussreich in der Analyse von gesellschaftlichen Benachteiligungen. Doch die Auslegung von sozialer Ungleichheit als Gewaltverhältnis liefert nicht zwingend eine Erklärung dafür, warum und ob strukturelle Gewalt zur Anwendung von physischer Gewalt bzw. Gegengewalt führt. Die politikwissenschaftliche Gewaltforschung im engeren Sinne bzw. Terrorismusforschung nutzt daher in ihren Analysen seit den 1990er Jahren oft einen weniger weit gefassten Gewaltbegriff. Häufig wird auf den Soziologen Heinrich Popitz verwiesen. Darum bemüht, interpretatorische Aspekte zur strukturellen Gewalt von Herrschaft und Gesellschaft möglichst auszuschließen, formulierte er 1986: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt«.6 Die Definition erlaubt, auf die körperliche Verletzung von Menschen ausgerichtete Aktionen begrifflich eindeutig von anderen Formen der Machtausübung zu unterscheiden. Aus historischer Perspektive birgt jedoch der allzu enge Zuschnitt von Gewaltdefinitionen auf physische Gewalt eine Reihe von Problemen. Die Geschichtsforschung zu politisch motivierter Gewalt benötigt einen weiteren Gewaltbegriff, wenn beispielsweise Gewalt gegen Sachen als Aktionsform in einschlägige Untersuchungen mit einfließen soll. Kritisch gegen einen zu engen Gewaltbegriff ist auch einzuwenden, dass die Genese gewaltbereiter Gruppierungen in der Regel nicht mit plötzlichen Gewaltaktionen gegen Menschen begann oder beginnt. Häufig ist ein Eskalationsweg von friedlichen Protestformen über die Anwendung von Gewalt gegen Sachen hin zur Gewalt gegen Menschen zu beobachten, wenn für die Ziele der Akteure scheinbar anderweitig kein Gehör gefunden wird bzw. sie anderweitig nicht durchsetzbar erscheinen.

Dass einerseits der strukturelle Gewaltbegriff Galtungs zu weit, die körperbetonte Gewaltdefinition von Popitz zu eng ist, hat auch die Gewaltkommission berücksichtigt, die 1987 von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Das Expertengremium aus Politik- und Sozialwissenschaften, Kriminologie, Jura und Psychologie hatte den Auftrag, die Ursachen der politisch motivierten Gewalt, von Gewalt im öffentlichen Raum und in der Familie zu untersuchen und Handlungskonzepte zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt zu entwickeln. Anlass der Bildung der Kommission war insbesondere die Beunruhigung der Regierung über »Gewalttätigkeiten unterschiedlichster Art im Zusammenhang mit Demonstrationen, Überfälle auf Büroräume, Brand-und Sprengstoffanschläge, Anschläge auf den Bahnverkehr und Versorgungseinrichtungen, Sitz- und Verkehrsblockaden, Gelände- und Hausbesetzungen, Massenkrawalle und Vandalismen verschiedenster Prägung.«7 Es ging mithin vorrangig um politisch motivierte Gewalt in innenpolitischen Auseinandersetzungen und diese Thematik bewegte die Kommissionsarbeit dann auch in besonderem Maße. In ihrer Suche nach einem konsensfähigen Gewaltbegriff hob die Expertenrunde den keineswegs wertfreien Charakter der Konnotation einer Aktion mit Gewalt hervor. »Gelingt es, ein Verhalten als Gewalt einzustufen, ist es negativ besetzt und abgewertet … Daneben ist das Bekenntnis zur oder gegen die Gewalt zu einem Indikator des (politischen) Standorts [H. i. O.] geworden und entscheidet über den Verbleib bzw. Ausgrenzung aus der jeweiligen (politischen) Gruppierung.«8 Sowohl auf staatlicher wie auf oppositioneller Seite sei das Bestreben erkennbar, einen möglichst weitgreifenden Gewaltbegriff anzuwenden. Um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit überhaupt erst zu ermöglichen, einigten sich die Kommissionsmitglieder auf einen restriktiven Gewaltbegriff. Er klammerte ausdrücklich strukturelle Gewalt aus und wurde aus der »Sicht des staatlichen Gewaltmonopols« bestimmt. »Dabei soll es primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen gehen.«9 Der Gewaltbegriff der Kommission war geschickt gewählt. Er lässt die grundsätzlichen Debatten über Macht, Herrschaft und Gewalt in Gesellschaft und Staat außen vor. Doch er erlaubt, alle Mischformen von politischer Gewalt anzusprechen, die sich gegen das staatliche Gewaltmonopol richten.

Birgit Enzmann hat in dem von ihr 2013 herausgegebenen »Handbuch politische Gewalt« den Begriff der Gewaltkommission der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Sie favorisiert den engen Gewaltbegriff von Popitz. Doch selbst der Gewaltbegriff, der in erster Linie auf physische Gewalt abzielt, bedarf weiterer Eingrenzungen, wenn geklärt werden soll, was unter politischer Gewalt zu verstehen ist. Birgit Enzmann rechnet zur politischen Gewalt: »(1) die direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen, die (2) zu politischen Zwecken stattfindet, d. h. darauf abzielt, von oder für die Gesellschaft getroffene Entscheidungen zu verhindern oder zu erzwingen oder die auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zielt und versucht bestehende Leitideen zu verteidigen oder durch neue zu ersetzen, die außerdem (3) im öffentlichen Raum, vor den Augen der Öffentlichkeit und an die Öffentlichkeit als Unterstützer, Publikum oder Schiedsrichter appellierend stattfindet.«10 Die Definition verbindet physische Gewalt mit politischem Zweck und öffentlicher Debatte. Sie lässt aber offen, ob politische Gewalt von Herrschaftsträgern oder Oppositionsgruppen, von breiten gesellschaftlichen Bewegungen oder extremistischen Außenseitern angewendet wird. Enzmann unterscheidet in der Analyse von politischer Gewalt weiter nach Tätern, Zielen, Opfern und Adressaten, Legalität und Legitimität und benennt als Erscheinungsformen Widerstand, Revolution, Extremismus, Terrorismus, Staatsterror, Krieg und Bürgerkrieg. Der Zugriff der Autorin auf das Thema politische Gewalt ist einerseits sehr eng, weil nur physische Gewalt berücksichtigt wird und alle Mischformen mit Gewalt gegen Sachen oder beispielsweise Beschaffungskriminalität ausgeschlossen werden. Wenn andererseits die Definition von politischer Gewalt derart weit gefasst wird, dass jegliche Form politisch motivierter physischer Schädigungsabsicht vom Attentat bis zum Weltkrieg Eingang findet, dann sind Zweifel anzumelden, ob überhaupt noch gemeinsame Charakteristika, gesellschaftliche Hintergründe und Reaktionen oder Bekämpfungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden können.

Für eine präzise Eingrenzung des Terminus politische Gewalt scheint die Begriffsbestimmung der Gewaltkommission daher wesentlich tragfähiger. Sie definierte auf der Basis ihres grundsätzlichen Verständnisses von Gewalt: »Als politisch motiviert [H. i. O.] ist … die Gewalt einzustufen, die von Bürgern zur Erzwingung oder Verhinderung von Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden, eingesetzt wird oder mittels der gegen Zustände und Entwicklungen protestiert wird, die solchen Entscheidungen angelastet werden.«11 Mit dieser Definition sind unter politischer Gewalt Aktionen zu verstehen, die

1.nicht im staatlichen Auftrag ausgeführt werden (Krieg und Staatsterror scheiden folglich aus),

2.von Einzelpersonen und Gruppierungen ohne Auftrag oder Legitimation der Mehrheitsgesellschaft ausgeübt werden,

3.sich gegen geltendes Recht und/oder geltende gesellschaftliche Normen richten und

4.das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen.

Die solchermaßen eingegrenzte Definition von politischer Gewalt erlaubt, Grenzziehungen zu historischen Prozessen vorzunehmen, in denen sich die gewaltbereite Protestbewegung einer Minderheit zur Bewegung einer breiten Bevölkerungspartei oder der Mehrheit entwickelt (Bürgerkrieg, Revolution) und solche gesellschaftlichen Gewaltphänomene anderen gesellschaftswissenschaftlichen bzw. historischen Untersuchungsfeldern zuzuweisen. Zwar klammerte das Expertengremium in der Beschreibung der Erscheinungsformen der politischen Gewalt Terrorismus aus, weil dieser im Arbeitsauftrag der Gewaltkommission nicht enthalten war, doch die Definition erlaubt ohne Probleme, alle Formen des Terrorismus zu subsumieren. Ehrhard Eppler hat in seiner Überblicksdarstellung »Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?« für eine solchermaßen definierte politische Gewalt den Begriff »privatisierte Gewalt« benutzt, die er als deutsche Übertragung des englischen violence verstanden wissen will. Er definiert diese Gewaltform »als eine verletzende, verletzenwollende und damit illegale Gewalt, die sich aber als irgendwie legitimierte, wenn auch nicht legale Gewalt ausgibt. Es geht um eine violence, die gerne power sein möchte, zumindest aber force [H. i. O.].«12 Dabei ist, so Eppler, privatisierte Gewalt von privater Gewalt deutlich zu unterscheiden. Es geht beispielsweise nicht um häusliche Gewalt oder sexuelle Gewalt gegen Frauen, sondern um die Brechung des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure aus politischen Gründen. Diese Form der Gewalt steht im Fokus der folgenden Kapitel.

Politische Gewalt im Fokus der Geschichtswissenschaft

Was hat die Geschichtswissenschaft zur Definition von Gewalt im Allgemeinen und von politischer Gewalt im Besonderen beizutragen? In erster Linie liefert sie Bausteine zur historischen Kontextualisierung des Gewaltbegriffs. Allein das Verständnis, was eigentlich unter Gewalt zu verstehen sei, wandelte sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts beständig. Aus historischer Perspektive liefern die »Geschichtlichen Grundbegriffe« einen detailreichen Überblick über den beobachtbaren Bedeutungswandel. Der Artikel »Macht, Gewalt«, verfasst von Karl Georg Faber, setzt der Konzeption des Werkes entsprechend in der Antike ein und konstatiert für die Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts ein »überaus breites Spektrum von Bedeutungen«.13 Der Autor beobachtet aber auch allmähliche sprachliche Kontraktionsprozesse, die zu einer »Verwendung von Gewalt im verfassungsrechtlichen Sinne nur noch mit entsprechenden Zusätzen – höchste Gewalt, Civil-Gewalt, Gewalt der Reichsstände, weltliche oder geistliche Gewalt u. a.« führen, während andererseits »Gewalt ohne Zusatz den Verdacht des Unrechtmäßigen oder des bloßen Zwanges mit sich führt [H. i. O.]«.14 Gewalt als physischer Zwang wird nur noch den staatlichen Organen zugesprochen und »außerhalb dieses Kreises diskriminiert«.15 Spätestens im Kontext der Französischen Revolution erhielten die Begriffe Macht und Gewalt jedoch zusätzliches normatives Beigepäck und es hing zunehmend von der politisch-philosophischen Grundhaltung der Autoren ab, ob und wie sie staatliche Macht definierten und wie sie staatliche und nichtstaatliche physische Gewalt deuteten. Es kennzeichnete den Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass er ein höchst ambivalentes Verhältnis zu Gewalt entwickelte. Einerseits Revolution bejahend, andererseits physische Gewalt kritisch betrachtend, wird letztere »nur als notwendiges Übel in Kauf genommen oder als Gegengewalt gegen die unrechtmäßige Gewaltausübung der politischen Reaktion begründet«.16 In der liberalen Argumentation des 19. Jahrhunderts finden sich die Legitimationsmuster, die sich im weiteren 19. und 20. Jahrhundert alle Protagonisten politischer Gewalt zu Eigen machen sollten. Marx brachte um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Staatsgewalt, oppositioneller Rhetorik und oppositioneller gegenstaatlicher politischer Gewalt präzise auf den Punkt: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«17

Insgesamt machen sowohl die politik- wie die geschichtswissenschaftlichen Debatten um den Terminus politische Gewalt deutlich, dass das Auftauchen dieses Politikphänomens eng mit der Ausbildung moderner Staatlichkeit und des staatlichen Gewaltmonopols verwoben ist. Eine vergleichende geschichtswissenschaftliche Analyse von politischer Gewalt kann daher ihren Anfang frühestens im Vorfeld der Französischen Revolution ansetzen. Formen politisch motivierter Gewalt hat es zweifellos auch in der Antike und im Mittelalter gegeben. Doch die politischen und gesellschaftlichen Determinanten sind zu unterschiedlich, um Entwicklungen in langer Zeitlinie vergleichend analysieren zu können. »Zu suchen ist nach Ansätzen mittlerer Reichweite [H. i. O.] …, die das neuartige Bedingungsgefüge von Gewaltsamkeit in den letzten zweihundert Jahren angemessen reflektieren.« Denn, so der Historiker Dirk Schumann, »der Eintritt der Massen in die Politik, auch im Zeichen neuer organisatorischer Möglichkeiten, und der weitreichende Funktionszuwachs der Staaten, zu dem neben wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben und den mit ihnen entstehenden Erwartungen der Aus- und Umbau des staatlichen Gewaltmonopols gehörte, setzten zumindest kollektiver Gewalt [und nicht nur dieser d. Vf.] ganz neue Rahmenbedingungen.«18

Welchen Beitrag leistet die Geschichtswissenschaft zur Erforschung politischer Gewaltphänomene in der Neuzeit? Ein Überblick über den fachspezifischen Forschungsstand zum Thema Gewalt fördert ein disparates Bild zu Tage. Mit den Formen von Gewalt, die außerhalb der oben getroffenen Definition von politischer Gewalt anzusiedeln sind, hat sich die Geschichtswissenschaft intensiv beschäftigt. Revolutionen, vor allem europäische, sind ein beliebtes historisches Forschungsthema. Insbesondere runde Jahrestage inspirieren die Geschichtsschreibung. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Französischen Revolution 1989 gehörten die Ereignisse, die die Epochenwende von der Frühen Neuzeit zum 19. Jahrhundert einleiteten, zu den beliebtesten Tagungs- und Publikationsthemen nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland.19 Ähnlich verhielt es sich mit dem 150-jährigen Jubiläum der gescheiterten Revolutionen 1848/1849. Hatte das Thema an seinem 50. Geburtstag kaum Aufmerksam erregt, so wurde es auch 1948 unter dem Eindruck von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegsproblemen marginalisiert. Dass der europäische Revolutionsversuch 1998 in Deutschland zu dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstand schlechthin avancierte, zeigt, wie sehr auch die Geschichtsforschung politischen Konjunkturen unterliegt. Es gab offensichtlich Nachholbedarf im Problemfeld Demokratiegeschichte, der nun endlich befriedigt werden sollte. Im Kontext der Revolutionsgeschichte spielt selbstverständlich auch politische Gewalt immer eine Rolle, aber sie besetzt höchstens einen Nebenschauplatz. Eigenständige Fragestellungen, etwa zu den Ursachen, dem Ausmaß und den Formen politischer Gewalt in Revolutionszeiten finden ihren Niederschlag eher in der historischen Protestforschung als in der Revolutionsgeschichte. Auch die Geschichte von Kriegen hat ihren eigenständigen Platz in der Geschichtsforschung. Wie im Falle der Revolutionsgeschichtsschreibung befördern runde Jahrestage nicht nur die Erinnerungspolitik und -kultur, sondern auch einschlägige Forschungsprojekte. So entfaltete sich 2014, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, eine breite historische Debatte um die politischen und gesellschaftlichen Ursachen und Ausgangsbedingungen des europäischen Krieges, um Kriegsalltag an der Front und in der Heimat, den Einfluss der Ereignisse auf Geschlechterrollen und Politikverständnis.20 Nicht zuletzt wird auch die Gewalterfahrung im Kontext des Krieges thematisiert, in der Regel aber in erster Linie verengt als Determinante antidemokratischen Denkens und Handelns in der Zwischenkriegszeit.21

Eine Reihe weiterer Forschungsfelder weist Berührungspunkte mit dem Thema politische Gewalt auf. Zu nennen sind hier die Forschungen zum Widerstand im Nationalsozialismus, zur Kriminalitätsgeschichte und die historische Protestforschung. Doch die Fragestellungen in den genannten Schwerpunkten gewichten den Aspekt politische Gewalt recht unterschiedlich und sie sind nur in begrenztem Umfang kompatibel mit den geschichtswissenschaftlichen Zugriffen auf politische Gewalt. In den letzten Jahrzehnten ist insbesondere das Feld des politischen Widerstandes im Nationalsozialismus breit beackert worden. Eine Reihe von Studien beschäftigt sich mit den Trägern und Formen des Widerstandes, den Repressionen des Systems und der politischen Strafjustiz.22 Das Themenfeld ist inzwischen höchst erfolgreich in die Erinnerungspolitik und -kultur eingeschrieben worden. Strenggenommen gehört auch die Gewalt, die von Gegnern des nationalsozialistischen Systems ausgeübt wurde, in den Forschungsbereich Widerstand. Doch sie findet in der Regel keine spezifische Aufmerksamkeit. Hier zeigt sich implizit die lange normative Traditionslinie, in der »Gewalt [H. i. O.] ohne Zusatz den Verdacht des Unrechtmäßigen oder des bloßen Zwanges mit sich führt«, wie Faber in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« ausführte, oder wie die Gewaltkommission der Bundesregierung erläuterte: »Gelingt es, ein Verhalten als Gewalt [H. i. O.]einzustufen, ist es negativ besetzt und abgewertet.«23 Da jedoch heute der Widerstand gegen den Nationalsozialismus zweifelsfrei positiv besetzt ist, bleibt der Themenbereich Gewalt in der Widerstandsforschung weitgehend außen vor. Eine ähnliche Fehlmeldung ergibt die Bestandsaufnahme bei der Überprüfung der Berührungspunkte zwischen Gewaltgeschichte und historischer Kriminalitätsforschung. Von kulturgeschichtlichen Ansätzen inspiriert, stehen in letzterer Fragen der gesellschaftlichen Normenfindung und Verbrechensdefinition, des vorgerichtlichen Aushandelns von Konflikten oder der Entwicklung von Gerichts- und Strafverfahren im Vordergrund. Es sind insgesamt viele spannende Fragestellungen, in denen aber Gewalt kaum und noch weniger politisch motivierte Gewalt eine Rolle spielen.24

Ein Forschungsbereich, der in der Auseinandersetzung mit gewaltsamen Aktionen größere Verbindungen zum Thema politische Gewalt aufweist, stellt die historische Protestforschung dar. Sie erlebte, nicht weiter verwunderlich, einen ersten Aufschwung im Gefolge der nordamerikanischen und europäischen 68-Bewegungen. Nicht selten ist die Untersuchung historischer Protestformen in die übergeordneten Zusammenhänge der Revolutionsgeschichte des 19. Jahrhunderts eingebettet. Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeit von Heinrich Volkmann über Protestformen im Vormärz, publiziert 1975, oder die Studie von Manfred Gailus aus dem Jahr 1990 über soziale Protestbewegungen in Deutschland 1847–1849.25 Doch Gailus konstatierte 15 Jahre später: »Historische Forschungen über Protest befinden sich hierzulande seit ca. eineinhalb Jahrzehnten in einem beklagenswerten Dämmerzustand. Oder, mehr fachwissenschaftlich gesprochen: historische Protestforschung bewegt sich am Rande der historiographischen Aufmerksamkeiten und Themenagenden, der dominanten Fragestellungen, Debatten und vorherrschenden Themenkonjunkturen. Sie fristet nach meinem Eindruck ein bedauerliches und zugleich kaum zu rechtfertigendes Schattendasein. Und dies angesichts einer global anschwellenden Welle von Rebellionen, Gewalt, Protest, von traditionellen (alten) und neuen sozialen Bewegungen [H. i. O.].«26 Gailus sucht nach den Ursachen der Marginalisierung der historischen Protestforschung und sieht sie in der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen und Diskursanalyse oder zur Geschichte der Geschichtsschreibung. Aber er fragt ergänzend: »Lag es vielleicht auch an methodischen und theoretischen Stagnationen der älteren Protestforschung selbst, für die Protest vorwiegend sozialer Protest hieß, Ausdruck von gesellschaftlichen Krisen und sozialen Ungleichheitsverhältnissen war und vorwiegend im 19. Jahrhundert stattfand [H. i. O.]?«27 Historische Protestforschung und historische politische Gewaltforschung haben zweifellos Schnittstellen. Proteste richten sich an die Öffentlichkeit und sie wollen »Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden«, verhindern oder erzwingen bzw. richten sich »gegen Zustände und Entwicklungen, … die solchen Entscheidungen angelastet werden«, so die zentralen Aspekte der Definition von politischer Gewalt der Gewaltkommission der Bundesregierung von 1990.28 Doch, wie Gailus in seinem Forschungsüberblick zur Protestgeschichte zu recht feststellt: »Gewalt ist eine häufige Begleiterscheinung von Protesterscheinungen, aber keine notwendige Bedingung von Protest. … Historische Gewaltforschung und Protestforschung haben wichtige gemeinsame Schnittmengen, sind aber nicht deckungsgleich. Gewaltlose Massenkundgebungen, Demonstrationen, Petitionsbewegungen, Boykottaktionen und zahlreiche neu erfundene Formen gewaltloser Aktion müssen wesentliche Bestandteile historischer Protestforschungen sein, zumal für das späte 19. und 20. Jahrhundert, und nicht nur in den pazifizierten, zivilisierten Demokratien des Westens.«29 Bei der Marginalisierung der Protestforschung, die Gailus 2005 konstatierte, ist es indes im letzten Jahrzehnt nicht geblieben. Inzwischen hat die Zeitgeschichte das Themenfeld Protest entdeckt. 1968er Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung seit den 1970er Jahren oder die Auseinandersetzung mit dem Nato-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren werden in zahlreichen neuen Publikationen aufgegriffen.30 Häufig geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen, um die Frage, welche Protestformen erlaubt, geduldet oder kriminalisiert werden, aber auch um die gesellschaftlichen und politischen Ausgangslagen von Protestbewegungen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. »Es interessiert, ob Protest ein Motor sozialen Wandels sein kann, inwieweit dies im Deutschland der letzten gut 60 Jahre der Fall war, oder ob es sich ganz im Gegenteil um ein Symptom eines bereits erfolgten Wandels handelt.«31 Direkt oder indirekt werden gewaltsame Aktionsformen zumeist auch behandelt oder zumindest mitgedacht. Im Vordergrund steht in diesem Forschungszweig politische Gewalt nach wie vor jedoch nicht.

Neben den breit erforschten klassischen Gewaltthemen Revolution und Krieg hat insgesamt die historische Forschung politische Gewalt als eigenständiges Thema lange Zeit vernachlässigt. Es war vor allem das Phänomen des erstarkenden Terrorismus, zuerst in den 1970er Jahren als sozialrevolutionäre Bewegung, dann insbesondere seit 9/11 als islamistische Strömung, das Impulse freigesetzt hat, sich auch historisch mit dem Phänomen Gewalt als solchem bzw. mit politischer Gewalt auseinanderzusetzen. Angesichts der zeitlichen Nähe zum sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre braucht es nicht verwundern, dass die neue Gewaltthematik in der Bundesrepublik vorderhand nicht von Historikern aufgegriffen wurde. Symptomatisch ist beispielsweise die Zusammensetzung der Autoren des von Manfred Funke 1977 für die Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Bandes »Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik«. Unter den 15 Autoren finden sich fünf Journalisten, zwei Juristen, drei Politologen, der Präsident des Verfassungsschutzes in Hamburg, Hans Josef Horchem, der Dozent für Kriminalistik und Kriminologie an der Polizei-Führungsakademie in Münster, Robert Krumpach, und der viel zitierte vormalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, schließlich ein Militärhistoriker sowie als einziger Zeithistoriker Walter Laqueur, der im Themenfeld ausgewiesen war und es in den folgenden Jahren fachhistorisch nahezu allein besetzte. Walter Laqueur fiel in seinem Überblick »Interpretationen des Terrorismus: Fakten, Fiktionen und politische Wissenschaft« die Rolle zu, das »äußerst kompliziert[e]« Problem des Terrorismus zu historisieren.32 Doch der Schwerpunkt seiner Analyse lag nicht auf dem historischen Phänomen Terrorismus, sondern auf den Terrorismusbildern der Belletristik. Auch in den 1980er Jahren besaßen nicht Historiker die Deutungsmacht über terroristisches Geschehen im Umkreis der RAF-Thematik oder bezogen auf weiter zurückliegende Beispiele für Terrorismus und politische Gewalt. Historische Fallbeispiele untersuchten seit den 1980er Jahren eine Reihe von Angehörigen anderer Disziplinen, die sich durch die aktuellen Ereignisse zur historischen Spurensuche provoziert fühlten. Zu den positiven Beispielen historisch angelegter Analysen durch Nichthistoriker zählt vor allem die Studie des Juristen Joachim Wagner »Missionare der Gewalt. Lebensläufe deutscher Terroristen im Kaiserreich« aus dem Jahr 1980, 1981 erweitert unter dem Titel »Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871« vorgelegt.33 Der Verfasser verfolgte drei Schwerpunkte: die gesellschaftlichen Ursachen des politischen Terrorismus, individuelle Ursachen, die der Autor anhand der Persönlichkeiten und Lebensläufe der politischen Gewalttäter herausfiltern wollte, und schließlich die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Gewaltakte. Wie der Leiter des Ressorts Recht und Zeitgeschichte beim Norddeutschen Rundfunk in seinem Vorwort erläutert, ging es ihm vor allem darum, über den historischen Vergleich aus der Geschichte für die gegenwärtige Terrorismusforschung sozialwissenschaftliche Einsichten zu gewinnen. Erkenntnisleitend war für ihn ein sozialwissenschaftlicher bzw. sozialgeschichtlicher Ansatz, der vor allem die ungleiche Verteilung des Zugangs zu politischer Macht und gesellschaftlichen Ressourcen sowie die Eskalation der gesellschaftlichen Konflikte über Aktion und Reaktion in den Mittelpunkt rückte. Ein weiterer Jurist, Josef Grässle-Münscher, seines Zeichens Verteidiger in Terrorismusverfahren, publizierte 1991 eine historisch angelegte Monografie über den »Staat und seine Feinde« im Kontext des Tatbestands der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung. Der Autor zog eine historische Linie vom einschlägigen Preußischen Edikt von 1798 bis zur RAF-Strafgesetzgebung. Weitere historische Verankerungsversuche lieferten am Rande Soziologen wie Peter Waldmann, der die jüdischen Zeloten in ihrem Kampf gegen die römische Fremdherrschaft genauso als historische Vorläufer deutete wie »die Denkfigur und Praxis des Tyrannenmordes« oder die russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts.34 Er interpretierte mithin jedwede nichtstaatliche politische Gewalt in der Geschichte als Terrorismusvorläufer. Auch Politologen, so beispielsweise Andreas Bock, verweisen auf die historischen Wurzeln von gegenwärtiger politischer Gewalt. Er benennt die Phase des staatlich verordneten terreur in der Französischen Revolution als diejenige Epoche, in der »Terrorismus als systematische Form brutaler, willkürlicher politischer Gewalt im öffentlichen Bewusstsein« verankert wurde.35 Weiter subsumiert er politische Theorien und Bewegungen in der Geschichte, die auf die Verbreitung von Angst und Schrecken als Mittel der Herrschaft oder des Systemumsturzes setzten, gleichermaßen den Tyrannenmord und den Anarchismus als historische Wurzeln des aktuellen Terrorismus. Deutlich wird insgesamt: Die Blickrichtung und das Erkenntnisinteresse der Nichthistoriker auf historische Phänomene politischer Gewalt gingen und gehen wohl noch immer grundsätzlich vom Gegenwartsphänomen Terrorismus aus.

Auch die wenigen Historiker, die in den 1980er Jahren das Thema politische Gewalt aufgriffen, waren dazu vom zeitgenössischen Terrorismus inspiriert. 1982 publizierten Wolfgang Mommsen und Gerhard Hirschfeld einen Tagungsband zum Thema »Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert«. Der Band beinhaltet Beiträge über den politischen Mord in der Neuzeit, gewaltsame Protestformen in (vor)revolutionären Zeiten, über anarchistische und nationale gewaltbereite Bewegungen, aber auch über die Gewaltexzesse im Faschismus. Die Beiträge des Bandes machen deutlich, dass politische Gewalt in der Moderne keinesfalls selten auftrat. Sie schwoll in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels und der Auflösung traditioneller Normen mehr oder weniger spontan an, konnte das Erscheinungsbild von Gegengewalt gegen andere gewaltbereite Gruppierungen oder gegen die Staatsmacht annehmen oder sich zu einer bewussten politischen Strategie ausformen, wenn der erhoffte politische Einfluss auf die Massen ausblieb. Letztlich ging es den Herausgebern wohl darum, den gesellschaftlichen Hintergrund von politischen Gewaltausbrüchen historisch auszuloten. Der Band liefert insgesamt eine breite Bestandsaufnahme des Forschungsstandes zu politischen Gewaltphänomenen in der Neuzeit, bleibt in der Begriffsbestimmung von politischer Gewalt allerdings noch sehr offen. Beispielsweise faschistische Gewalt unter Randgruppenphänomenen einzuordnen, erscheint problematisch, handelte es sich doch um Terror von Massenbewegungen, die schließlich den Staat übernahmen. Bemerkenswert ist das Resümee, das Mommsen in einem abschließenden Überblick zieht: Historische wie gegenwärtige gewaltbereite Protestbewegungen seien geprägt von einem schematischen Schwarz-Weiß-Denken. »Sie alle gehorchen einem Primat der Praxis« und »Sie alle hoffen, durch Gewalt Signale setzen zu können, die Veränderung bewirken werden, obschon sie selbst bei weitem nicht genug Rückhalt in der Bevölkerung besitzen, um ernstlich eine Politik der Rekonstruktion auf neuer Grundlage durchführen zu können.«36 Der Sammelband entfaltete in der Geschichtswissenschaft eine beachtliche Wirkungsgeschichte und besetzte für rund ein Jahrzehnt das historische Themenfeld politische Gewalt nahezu allein.

Zu den wenigen Historikern, die sich ebenfalls mit politisch motivierter Gewalt auseinandersetzten, zählt Dirk Blasius. Er legte 1983 eine Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland zwischen 1800 und 1980 vor. Ihn interessierte besonders das Wechselverhältnis zwischen politischer Gewalt und einer Justiz, die sich von politischen Einflüssen nicht freihalten kann oder gar zur politischen Justiz verkommt. »Indem der Verzahnung von politischer Justiz und politischer Kriminalität nachgegangen wird, kann Geschichte zur Gewinnung von Maßstäben beitragen: für die Aktionen und Selbstrechtfertigungen des politischen Terrorismus heute und für die Reaktionen eines Staates, dem der Vorwurf des Abgleitens von den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats gemacht wird«, schreibt Blasius in der Vorbemerkung.37 Es folgen ein systematisches Kapitel zum Wechselverhältnis von Rechtsstaat und politischer Gewalt und ein in vier Epochen gegliederter Längsschnitt, beginnend mit der Restaurationsphase nach der Französischen Revolution, über das Wilhelminische Kaiserreich und Weimar, endend mit dem Staatsterror des Nationalsozialismus. Ohne eine teleologische Linie hin zum NS-Unrechtsstaat zu ziehen, ist es doch das obrigkeitlich Antidemokratische der politisch agierenden Justiz, das der Autor unter die Lupe nimmt. »Erst im historischen Rückblick erschließt sich das Verantwortungslose jener Lässigkeit, mit der heute von links Begriffe wie Zwang, Repression und Widerstand in die Debatte geworfen werden. Die Geschichte zeigt aber auch, daß die Selbstgefährdung des Rechtsstaats immer größer gewesen ist als seine Gefährdung von außen [H. i. O.]«, so das Resümee von Blasius, das auf die einschlägigen Debatten in der Entstehungszeit des Buches über den juristischen Umgang mit der RAF verweist.38

Trotz dieser ersten historischen Studien über politische Gewalt blieb das Thema letztlich weiterhin randständig in der Geschichtswissenschaft. Erst das »Erschrecken über die Gewaltausbrüche im Golfkrieg, in den Bürgerkriegen in Afrika und Jugoslawien und nicht zuletzt auch über die fremdenfeindlichen Anschläge in Deutschland« habe dazu geführt, dass sich auch in der Geschichtswissenschaft Fortschrittsskepsis und Geschichtspessimismus breitmachten, so Dirk Schumann in einem Forschungsüberblick 1997.39 »Gewalt, die roheste Form des Umgangs von Menschen miteinander, wird damit erneut zu einem Forschungsgegenstand von besonderer Relevanz, denn sie scheint sich als eine wesentliche, weitgehend zivilisationsresistente Konstante des menschlichen Verhaltens und der Konfliktaustragung zu erweisen«, so der Autor, der wenige Jahre später eine profunde Studie zu politischer Gewalt in der Weimarer Republik vorlegte. Schumann befand zu Recht, dass es bislang keine eigenständige Disziplin Historische Gewaltforschung gäbe, »die versuchen würde, die theoretischen Modelle, methodischen Zugänge und empirischen Befunde der verschiedenen historischen Untersuchungsgebiete zu bündeln, in denen Formen und Hintergründe von Gewalt berührt werden«. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Ansätze, mit Hilfe derer sich historische Studien seit den 90er Jahren dem Phänomen der politischen Gewalt annäherten. Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke legten beispielsweise 1995 einen Sammelband über »Physische Gewalt« als »Kontinuität der Moderne« vor.40 Sie benannten einerseits das Erleiden von Gewalt, andererseits den Aufstieg des staatlichen Gewaltmonopols als Leitperspektiven. Kriegsgewalt, öffentliche Regulierung von Gewalt, Gewalt im Haushalt und Nachbarschaft bilden die Schwerpunkte des Bandes. Es wird mithin mit einem breit gefassten Gewaltbegriff gearbeitet. Staatliche, politische und private Gewalt werden behandelt und die Beiträge letztlich nur durch das Phänomen physische Gewalt zusammengehalten. Schumann selbst schlägt in dem bereits genannten Forschungsbericht vor, politische Gewalt als Grenzüberschreitung zu begreifen, zu der oppositionelle Kreise griffen, wenn der moderne Staat seine wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben in den Augen seiner Kritiker nicht adäquat erfülle. Seine 2001 veröffentlichte Dissertation über die alltägliche politische Gewalt in der Weimarer Republik lässt sich als veranschaulichende Erläuterung dieser Überlegung lesen.41

Mit dem Anwachsen des islamistischen Terrorismus um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und der allmählichen Hinwendung der Zeithistoriker zur Erforschung der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen erlangte die Geschichte der politischen Gewalt schließlich endgültig einen Platz in der Geschichtswissenschaft. Dem sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre und der inzwischen breit ausdifferenzierten historischen Erforschung dieses Phänomens ist weiter unten ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier ist vorderhand nur darauf hinzuweisen, dass sich die zeitgeschichtliche Schwerpunktsetzung auf Terrorismus als kommunikatives Ereignis neuerdings stimulierend auf eine historische Gewaltforschung in langer Zeitlinie auszuwirken scheint. So legten beispielsweise Ingrid Gilcher-Holtey und Heinz-Gerhard Haupt, beide engagiert in der historischen RAF-Forschung, zusammen mit dem Mittelalter-Historiker Neithard Bulst 2008 einen Sammelband zu Gewalt im politischen 'Raum vor, der sich mit Gewaltphänomenen seit dem Mittelalter beschäftigt und Gewalt als »Form der kommunikativen Auseinandersetzung über gesellschaftliche Probleme versteht«.42 Dabei beschäftigen sich die Autoren am Beispiel etwa von krisenbedingter Gewalt im mittelalterlichen Flandern, Teuerungsprotesten 1844 und 1866 in München oder der gewaltsamen Proteste um den Bau der Startbahn West am Flughafen Frankfurt mit der Frage, »welche Folgen die Diskussionen um Gewalt und Gewalteinsatz für die Konstruktion des politischen Raumes hatten«.43 Schließlich befeuerte die wachsende historische Auseinandersetzung mit der RAF und ihren Nachfolgeorganisationen auch die geschichtswissenschaftliche Wurzelsuche in Sachen Terrorismus. Dieses Forschungsfeld steht im Zentrum der folgenden Kapitel. Schon 2009 formulierte Martin Schulze Wessel in einem Themenheft von Geschichte und Gesellschaft, das der »historische[n] Terrorismusforschung« gewidmet ist, den Anspruch: »In der Tat sollte historische Terrorismusforschung … eine wichtige Rolle in der politischen Diskussion spielen.«44 Das Heft präsentiert in Fallstudien den Umgang von Herrschern bzw. von Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts mit der Herausforderung des Terrors. Es will damit zur Historisierung der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung beitragen und belegt mit seinem Ansatz, wie sehr Gegenwartsimpulse die einschlägige historische Gewaltforschung stimulieren.

Den Abschluss des Forschungsüberblicks soll ein Sammelband aus dem Jahr 2014, herausgegeben von José Brunner, Doraon Avraham und Marianne Zepp bilden. Die Herausgeber starteten einen neuerlichen Versuch, »Politische Gewalt in Deutschland« unter einer gemeinsamen Leitidee vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu untersuchen. Der Band versammelt Beiträge von der militärischen Praxis in der Zivilgesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreiches über Antisemitismus im Nationalsozialismus bis zur friedlichen Revolution 1989 und verbindet die historischen mit literaturwissenschaftlichen Beiträgen zu Autoren des 19. bis 21. Jahrhunderts. Wie die Herausgeber erläutern, geht es ihnen »nicht um den Nachweis eines vorgeblich universellen Charakters von Gewalterfahrung, auch nicht um die Erforschung allgemeiner Ursachen von Gewalt, weder um ein Erklärungsmuster für gewaltsame Eruptionen, noch um das Herausarbeiten von langfristigen Strategien zur Gewaltausübung oder -bekämpfung.«45 Ihr Ziel ist vielmehr »Zusammenhänge von Legitimationsstrategien und kulturellen Deutungsmustern herauszuarbeiten, die sich unterschiedlichen Methoden bedienen, in ihrer Zeit verortet sind und in die Gesellschaft zurückwirken.« Es geht darum, darauf hinzuweisen, dass Gewalt »immer in diskursive Konstruktionen und gesellschaftliche Interaktionen eingebettet ist und auch auf sie wirkt.« Jenseits der Frage, ob und wie plausibel die Sammelbandbeiträge diese Leitidee im Einzelnen umsetzen, ist festzuhalten, dass sie die geschichtswissenschaftlichen Ansätze der letzten zwanzig Jahre zur Erforschung politischer Gewalt miteinander zu verbinden suchen. Überlegungen zum grenzüberschreitenden Charakter von politischer Gewalt hinsichtlich der Delegitimation des staatlichen Gewaltmonopols können auf diese Weise mit Überlegungen zu politischer Gewalt als kommunikativer Strategie verbunden werden. Derzeit dürfte in einer solchen Kombination der spezifische Beitrag der Geschichtswissenschaft zur aktuellen Erforschung politischer Gewaltphänomene liegen.

1Imbusch, P., Der Gewaltbegriff, in: Heitmeyer, W. u. J. Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26–55, hier: S. 26.

2Ebd.

3Ebd., S. 47.

4Enzmann, B., Politische Gewalt. Formen – Hintergründe – Überwindbarkeit, in: Dies. (Hg.), Handbuch politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 44–66, hier: S. 44.

5Galtung, J., Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas, D. (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt a. M. 1971, S. 55–104, hier: S. 57.

6Popitz, H., Phänomene der Macht: Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986, S. 73.

7Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, hrsg. von Schwind, H-D., Bd. 1, Berlin/New York 1990, S. 28.

8Ebd., S. 35 f.

9Ebd., S. 38.

10Enzmann, Politische Gewalt. Formen – Hintergründe – Überwindbarkeit, S. 46.

11Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 52.

12Eppler, E., Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt, Frankfurt a. M. 2002, S. 11.

13Faber, K.-G., Macht, Gewalt, in: Brunner, O., W. Conze u. R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 817–935, hier: S. 882.

14Ebd., S. 884.

15Ebd.

16Ebd., S. 921.

17Marx, K., Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, Berlin 1956, S. 385, zitiert nach Faber, S. 921.

18Schumann, D., Gewalt als Grenzüberschreitung, in: AfS 37 (1997) S. 366–395, hier: S. 367 f.

19Vgl. den einführenden Überblick zur einschlägigen Geschichtsschreibung in: Schulin, E., Die Französische Revolution, München 20044, S. 21–58.

20Vgl. als Überblicke z. B. Epkenhans, M., Der Erste Weltkrieg: Jahrestagsgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn, in: VfZ 63 (2015), S. 135–165 und Neitzel, S., Der Erste Weltkrieg und kein Ende, in: HZ 301 (2015), S. 121–148.

21Siehe Kapitel 7.

22Vgl. u. a. Steinbach, P. u. J. Tuchel (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Berlin 2004 und Ueberschär, G. (Hg.), Handbuch zum Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa 1933/39 bis 1945, Berlin 2011.

23Faber, S. 884; Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 35.

24Vgl. einführend: Schwerhoff, G., Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a. M./New York 2011.

25Vgl. Volkmann, H., Die Krise von 1830. Form, Ursache und Funktion des sozialen Protests im deutschen Vormärz, Berlin 1975 und Gailus, M., Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847–1849, Göttingen 1990.

26Gailus, M., Was macht eigentlich die historische Protestforschung? In: Mitteilungsblatt des ISB 34 (2005), S. 127–154, hier: S. 127.

27Ebd., S. 129.

28Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 52.

29Gailus, S. 131.

30Als wenige Beispiele seien genannt: Frei, N., 1968: Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Balz, H. (Hg.), »All we ever wanted …«: Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012; Löhnig, M., M. Preisner u. Th. Schlemmer (Hg.), Ordnung und Protest: Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte von 1949 bis heute, Tübingen 2015.

31Löhnig, M., M. Preisner u. Th. Schlemmer (Hg.), Einführung, S. 1 f.

32Laqueur, W., Interpretationen des Terrorismus: Fakten, Fiktionen und politische Wissenschaft, in: Funke, M. (Hg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977, S. 37–82, hier: S. 37.

33Vgl. Wagner, J., Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871. Heidelberg 1981.

34Waldmann, P., Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 40.

35Bock, A., Terrorismus, Paderborn 2009, S. 25.

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