Eine Krone aus Feuer und Sternen - Audrey Coulthurst - E-Book

Eine Krone aus Feuer und Sternen E-Book

Audrey Coulthurst

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Beschreibung

Zwei mutige Heldinnen verweigern sich ihrer vorbestimmten Rolle

Freiheit? Für Prinzessin Denna ein Fremdwort. Von klein auf ist klar, dass sie den Prinzen von Mynaria heiraten wird, um den Frieden ihres Volks zu sichern, auch wenn sie in Mynaria ihre bei Todesstrafe verbotene Feuermagie verbergen muss. Die Schwester des Prinzen, Mara, kann über ihr Leben ebenso wenig verfügen wie Denna, doch Freiheit bedeutet ihr alles. Gegensätze ziehen sich an, und irgendwann geraten im Intrigennetz am Hof die Gefühle der zwei Prinzessinnen und Dennas Magie außer Kontrolle …

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Seitenzahl: 530

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DIE AUTORIN

Foto: © Evrim Icos Photography

Audrey Coulthurst studierte an der Portland State University Literarisches Schreiben und schreibt Jugendromane, in denen es manchmal um Magie und Pferde geht und darum, manchmal die Falschen zu küssen. »Eine Krone aus Feuer und Sternen« war ihr Debüt. Wenn sie sich nicht gerade neue Stoffe ausdenkt, malt sie, singt oder befindet sich auf dem Rücken eines Pferdes. Sie lebt in Santa Monica in Kalifornien.

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AUDREY COULTHURST

EINE KRONE

AUS FEUER

UND STERNEN

Aus dem amerikanischen Englisch

von Katja Hald

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1. Auflage 2018

Erstmals als cbt Taschenbuch September 2018

© 2016 by Audrey Coulthurst

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Of Fire and Stars« bei Balzer & Bray,

einem Imprint von HarperCollins Publishers L.L.C.

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Katja Hald

Lektorat: Kerstin Kubitz

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

Umschlagmotive © Shutterstock (Elina Leonova, Avesun, Lukas Gojda)

Karte © 2016 Jordan Saia

TP · Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21253-7V001

www.cbj-verlag.de

Für die Mitglieder der Austin Java Writing Company.

Ihr habt mir Feuer unter dem Hintern gemacht,

was dieses Buch überhaupt erst ermöglichte,

und werdet stets zu den hellsten Sternen meines Universums zählen.

Prolog

Dennaleia

Ich zählte sieben Winter, als meine Mutter mich dabei ertappte, wie ich mit bloßen Händen rot glühende Kohlen in der Feuerstelle aufschichtete.

Ganz Spire City war an diesem Abend durchgefroren bis auf die Knochen, und es herrschte eine Kälte, wie man sie nur in Havemont kannte, an Tagen, an denen die frühen Sonnenuntergänge die Nachmittage in nächtliches Dunkel tauchten und unerbittliche Schneegestöber den Himmel aufwühlten. Meine Schwester Alisendi und ich waren im Großen Adyton, dem heiligsten Tempel der vier Nördlichen Königreiche, und knieten klein und verloren in der hoch aufragenden Apsis, die dem Feuergott geweiht war. Die tanzenden Flammen der Feuerstelle erweckten die Darstellungen an den Wänden zum Leben: von den flackernden Schmiede- und Kochfeuern am Boden bis hinauf zu den Sonnenstrahlen an der Decke, die in einen dunklen, von Sternschnuppen übersäten Himmel übergingen. Wir waren dazu angehalten, uns nach dem Unterricht noch ein paar Minuten dem Gebet zu widmen, bis unsere Mutter, die Königin, kam, um uns abzuholen.

Anstatt zu beten, schnippten wir jedoch hölzerne Opfermünzen, so weit wir konnten, über den warmen Steinfußboden und kicherten, wenn die Tempelkatze den hüpfenden Holzplättchen hinterherjagte. Mit einem Mal setzte sich die Glut und aus der Feuerstelle purzelte in einem Funkenregen ein brennendes Holzscheit. Alisendi wich kreischend zurück. Ich hingegen rührte mich nicht vom Fleck und ein Kribbeln in den Fingerspitzen ließ mich nach dem Holzscheit greifen. Als ich es zurück ins Feuer schob, empfand ich die Flammen auf meiner Haut nur als sanftes Streicheln, obwohl die Enden meiner wollenen Ärmel anfingen zu glimmen.

»Schau mal, Ali«, rief ich und hob eine der Glutkohlen auf. In meiner kribbelnden Handfläche flammte das Kohlestück erneut auf, heller als das Feuer. Während ich zusah, wie es brannte, durchströmte mich ein erregendes Glücksgefühl. Ich hatte nicht gewusst, dass man Feuer in der Hand halten konnte, aber in diesem Moment beantwortete sich mir eine Frage, die ich nie in Worte hatte fassen können.

»Das darfst du nicht«, schimpfte Alisendi und schlug das Zeichen des Feuergottes vor ihrer Brust.

»Aber es ist wie in den Geschichten über die großen Zauberer«, sagte ich. »Vielleicht gibt es ja immer noch Menschen, die magische Kräfte besitzen. Vielleicht sind auch die anderen Geschichten wahr, die über Drachen und Feen. Oder die über Menschen, die die Gestalt von Tieren annehmen können.« Bei der Vorstellung, dass die Welt voll sein könnte von diesen unglaublichen Dingen, wurde mir schwindelig. Und die Ahnung, dass ich womöglich irgendwie dazugehörte, versetzte mich in helle Aufregung.

»Diese Geschichten hat man sich nur ausgedacht, damit wir schneller einschlafen«, sagte Alisendi. »Eigentlich sind wir schon zu alt für diesen Unsinn.«

Schmollend hielt ich ihr die Hand mit der Glut unter die Nase. »Dann ist das also ausgedacht?«

»Ich weiß es nicht.« Sie wich einen Schritt zurück. Ihre Unsicherheit kam mir merkwürdig vor. Alisendi würde eines Tages Königin von Havemont sein, und schon jetzt tat sie so, als gebe es nichts, was sie nicht konnte oder wusste. Von klein auf wollte ich sein wie meine perfekte ältere Schwester, konnte ihr aber nie das Wasser reichen. Für eine wahre Herrscherin war ich zu schüchtern, zu lebensfremd, zu impulsiv. Doch nun gab es endlich etwas, das meine Schwester nicht beherrschte.

»Schau doch! Es ist echt«, beharrte ich und streckte zum Beweis, dass mir die Flammen nichts anhaben konnten, beide Hände ins Feuer. Dann schob ich ein Holzscheit zur Seite, baute einen Turm aus glühenden Kohlen und zeichnete mit dem Finger das Wappen unseres Königreichs daneben in die Asche.

In diesem Moment kam meine Mutter.

Sie schrie, zerrte mich aus den Flammen und wischte die Glutstückchen von mir ab. Als sie unter dem Ruß jedoch nichts als unversehrte Haut fand, verwandelte sich ihre Panik in nackte Angst.

»Prinzessinnen spielen nicht mit Feuer«, schalt sie mich.

Die Tränen in ihren Augen machten mir solche Angst, dass ich versprach, es nie wieder zu tun – ein Versprechen, das ich nicht würde halten können, wie sich noch herausstellen sollte.

Später an diesem Abend erklärte mir meine Mutter dann, der Feuergott habe mich wohl mit einer besonderen Gabe gesegnet, weil die Menschen unseres Königreichs ihn am meisten verehrten. Vielleicht, so sagte sie, habe er meine Gebete im Großen Adyton mit magischen Fähigkeiten belohnt. Der Tempel liege so hoch in den Bergen, dass die Sechs Götter nicht einmal den Kopf zu neigen brauchten, um uns zu hören. Um meine Verlobung mit dem Prinzen von Mynaria zu lösen, war es zu diesem Zeitpunkt allerdings schon zu spät, obwohl die Menschen in seinem Reich Magie als Ketzerei ansahen. Also redete meine Mutter uns ein, meine Gabe, das Feuer zu beherrschen, würde – wie die meisten menschlichen Talente – von ganz allein verkümmern. Anstatt sie zu fördern, müsse man sie einfach nur ignorieren. Sie befahl Alisendi und mir, mit keiner Menschenseele darüber zu sprechen.

In den darauffolgenden Jahren bemühte ich mich redlich, der Anziehungskraft der Flammen zu widerstehen. Doch die Versuchung, dem aufregenden Kribbeln in meinen Händen und meinen Wangen nachzugeben, war sehr viel größer als die eines harmlosen Juckreizes. Und so machte ich, wenn ich zwischen meinen Unterrichtsstunden in Geschichte, Etikette und Politik allein war, immer wieder heimlich von meinen magischen Kräften Gebrauch, wobei ich so tat, als wären es nur gewöhnliche Zaubertricks. Mit zehn konnte ich ein Feuer aufflackern oder Funken über den Boden tanzen lassen. Aber noch waren meine Kräfte, so wie ich selbst, klein und schwach und daher leicht zu verstecken.

Mein Leben war damals nur auf das eine Ziel ausgerichtet, eines Tages meinem Verlobten zugeführt zu werden. Und so erschien mir mein kleines Geheimnis völlig unbedeutend. Ich glaubte, solange ich brav den Pflichten meiner Erziehung nachkam, könne nichts passieren.

Doch es gibt Dinge, gegen die kann auch jahrelanger Unterricht nichts ausrichten.

Die Anziehungskraft des Feuers.

Die Sehnsucht nach Freiheit.

Oder ein Mädchen auf einem roten Pferd.

1

Dennaleia

An dem Tag, an dem ich nach Mynaria kam, um meinen zukünftigen Gemahl kennenzulernen, lastete die Hitze des Sommers schwer auf dem Königreich. Meine Kutsche holperte über Pflastersteine auf die im Westen der Stadt gelegene Burg zu, und ich hätte nicht sagen können, was mir das Atmen mehr erschwerte, meine Nervosität oder das enge Korsett meines Kleides. Die Straßen waren gesäumt von jubelnden Bürgern, die bunte Stoffstücke schwenkten. Ihr Geschrei dröhnte mir noch in den Ohren, lange nachdem meine Zofe und mein Gefolge sich am Tor von mir getrennt hatten und meine einsame Kutsche im innersten Burghof zum Stehen kam.

»Mögen die Sechs mir beistehen«, sprach ich mir im Flüsterton Mut zu, während ein Diener die mit Samt ausgekleidete Tür öffnete.

Ich trat auf die hellen Steinplatten und wurde von einem Reiterspalier in vollem Harnisch begrüßt. Die Rüstungen der Pferde glänzten in der Sonne und an den Zügeln flatterten kunstvoll bestickte Seidenbänder. Über ihnen wehten farbenfrohe Banner an den Zinnen, pflaumenblaue für meine Heimat im Wechsel mit dunkelblauen für Mynaria. Hinter dem Torhaus ragte die Burg empor, ein wuchtiges Gebäude mit quadratischen, dem Himmel zustrebenden Türmen. Ohne die gewundenen Turmspitzen, die den Palast, in dem ich aufgewachsen war, krönten, sahen sie so kahl und fremd aus, dass mir vor Heimweh ein dicker Kloß im Hals schwoll.

Ich wollte gerade einen Schritt vortreten, als eine rotbraune Stute ihren Kopf zur Seite warf und mit den Hinterbeinen nach dem Pferd neben ihr ausschlug. Eine Wellenbewegung von gespitzten Ohren und unruhig scharrenden Hufen ging durch die Reihe. Auf der Stute saß mit einem strahlenden Willkommenslächeln der Prinz. Mein Magen flatterte vor Aufregung.

»Ruhig!«, raunte die Person auf dem Fuchs neben ihm.

Ich unterdrückte den Reflex, vor den Pferden zurückzuweichen, und setzte stattdessen ein selbstbewusstes Lächeln auf. Dann straffte ich die Schultern, um trotz meiner bescheidenen Körpergröße möglichst imponierend zu wirken. Der erste Eindruck, den sie von mir gewannen, sollte selbstsicher und würdevoll sein, nicht ängstlich und unterwürfig. Alisendi hätte an meiner Stelle schon längst die Burg erobert und den halben Hofstaat für sich eingenommen. Im Vergleich zu ihr war ich eine eher bescheidene Partie.

»Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Dennaleia von Havemont!«, verkündete ein Herold. Die Reiter saßen gleichzeitig ab und verbeugten sich. Ich antwortete mit einem Knicks. Dann übergab der Prinz seine Zügel dem Reiter des Fuchses und trat vor. Die Porträts, die ich zu Hause von ihm gesehen hatte, wurden ihm nicht gerecht. Jede einzelne Naht seines Wamses war seiner stattlichen Figur perfekt angepasst. Das blonde Haar, das gerade so lang war, dass es sich hinter den Ohren lockte, glänzte in der Sonne, und seine Augen leuchteten im Blau des wolkenlosen Himmels.

Ich wartete darauf, etwas zu fühlen, auf einen Funken, der sich beim Anblick seiner breiten Schultern und markanten Gesichtszüge in meiner Brust entzündete. Unsere Vermählung stand schon seit Jahren unwiderruflich fest, aber im tiefsten Innern hoffte ich dennoch, wir könnten uns ineinander verlieben.

Nichts geschah und meine Zuversicht geriet ins Wanken.

»Willkommen in Lyrra, der Residenz von Mynaria, Eure Hoheit«, sagte der Prinz und verbeugte sich erneut. »Ich bin Prinz Thandilimon, im Dienste der Krone und der Sechs.«

Ich knickste förmlich. Ein Mann in der Robe eines Hofmeisters trat neben ihn. Die beiden hatten dieselbe gerade Nase und dieselbe helle Haut. Das Haar des Hofmeisters war allerdings mehr silbergrau als blond. Er musste der Bruder des Königs sein.

»Lord Casmiel, Hofmeister der Krone«, stellte er sich mit einem breiten Lächeln vor. Er nahm meine Hand und küsste sie auf die altmodische Weise, so wie mein Vater es manchmal tat. Die vertraute Geste tröstete mich. Ich hatte meinen Knicks noch nicht beendet, da schnappte die Stute des Prinzen plötzlich nach dem Ärmel des Mädchens, das sie an den Zügeln hielt.

»Ganz ruhig!«, rief das Mädchen und stieß die Nase des Pferdes mit dem Ellbogen zur Seite. Die Stute legte die Ohren an, schlug mit den Hinterbeinen aus und traf den Fuchs mit einem kräftigen Tritt.

Chaos brach aus. Der große Fuchs scheute, wich vor den anderen Pferden zurück und kam über die Steinplatten direkt auf mich zugaloppiert. Unter den eisenbeschlagenen Hufen sprühten die Funken. Die Panik weckte meine magischen Kräfte und ich fürchtete wie nie zuvor in meinem Leben um meine Selbstkontrolle. Trotz meines Versuchs, dem Pferd auszuweichen, rammte es mich an der Schulter. Ich schlug der Länge nach auf den Rücken und es presste mir sämtliche Luft aus den Lungen.

»Fangt ihn!«, rief eine Stimme.

Stiefel trampelten an mir vorüber, Zügel baumelten in der Luft, und während ich am Boden lag und nach Luft rang, waren alle damit beschäftigt, ihre Pferde zu beruhigen oder das Durcheinander wieder in den Griff zu bekommen.

Jemand kniete sich neben mich und schob mir sanft die Hand unter die Rippen. Ich hob den Kopf und sah in ein graues Augenpaar mit langen Wimpern. Zu meiner Überraschung gehörte es dem Mädchen, das das Pferd gehalten hatte, welches mich umgerannt hatte. Auf seiner Nase waren ein paar feine Sommersprossen zu erkennen und das kastanienbraune Haar bildete einen starken Kontrast zu seiner dunkelblauen Livree.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Versucht Euch zu entspannen. Benutzt diesen Muskel hier, um Luft zu holen.«

Der Klang ihrer Stimme beruhigte mich. Langsam lösten sich meine verkrampften Bauchmuskeln, und ich holte ein paarmal stockend Luft, wobei mir jeder Atemzug leichter fiel als der vorherige. Vorsichtig half sie mir auf die Beine und hielt meine Hand, bis ich wieder sicher stand. Als sie mich losließ und davonging, spürte ich die unterdrückte Magie wie feine Nadelstiche in meinen Fingern. Meine Gabe hatte sich schon früher manchmal bemerkbar gemacht, wenn ich aufgewühlt oder ängstlich war, aber noch nie so stark wie in diesem Moment. Andererseits war ich auch noch nie in einer Situation gewesen, in der sich ein so wichtiges Ereignis wie das heutige so schnell in eine Katastrophe verwandelt hatte. Ich musste Ruhe bewahren.

Das Mädchen nahm einem erschöpften Diener, der den Fuchs auf Armeslänge von sich hielt, die Zügel aus der Hand. Das Pferd gähnte, als wäre es zu Tode gelangweilt.

Plötzlich stürmte der Prinz an mir vorbei und blieb unmittelbar vor dem Mädchen stehen.

»Bring dieses dreckige Merzvieh sofort von hier weg«, fuhr er sie an. Hinter seinem Rücken warfen sich seine Gefolgsleute ängstliche Blicke zu. Casmiel eilte zu ihnen und scheuchte sie zurück in die Reihe.

»Hättest du dir die Mühe gemacht, dein Pferd in die Schranken zu weisen, als es ausschlug, wäre das sicher nicht passiert«, gab das Mädchen zurück. Ihr belustigter Tonfall und der Mangel an Hochachtung erstaunten mich.

»Es ist mir egal, wessen Pferd was getan hat. Der Auftritt der Pferde bei Prinzessin Dennaleias Ankunft lag in deiner Verantwortung. Bei allen Sechs Göttern, da bittet man dich einmal um einen Gefallen und dann …«

»Ja, ja. Immer geht es nur um dich«, schnaubte sie. Sie legte ein Gebaren an den Tag, das besser zu ihrem Pferd gepasst hätte.

Das Gesicht des Prinzen lief rot an. »Du gehst ja wohl nicht davon aus, dass dein Pferd einen Ehrengast – ein künftiges Mitglied der königlichen Familie – über den Haufen rennen kann, ohne dass das Ganze ein Nachspiel hat.«

Ich legte die Hand auf die Stelle, an der mich das Mädchen berührt hatte. Sie war so schnell da gewesen, um mir zu helfen. Meine Mutter hatte immer gesagt, im Umgang mit Bediensteten bewirken freundliche Worte oft mehr als barsche. Als der Prinz den Mund öffnete, um sie erneut zurechtzuweisen, ging ich dazwischen.

»Lasst uns die Sache nicht unnötig aufbauschen«, sagte ich. »Es war nur ein kleiner Unfall.« Meine Stimme klang fest, dennoch spürte ich meine Magie in mir aufwallen. Erklären konnte ich mir das nicht. Ich schluckte schwer und sah auf den Saum meines Kleides hinunter. Ich musste mich wieder unter Kontrolle bekommen.

»Geht es Euch gut, Mylady?«, wollte Prinz Thandilimon wissen.

Doch bevor ich antworten konnte, brach die Magie unkontrolliert aus mir hervor, und eine Flamme schlug aus meinem Rocksaum.

»Eure Hoheit!«, schrie ein Diener und fiel vor meinen Füßen auf die Knie, bemüht, mit seinen behandschuhten Händen das Feuer auszuschlagen.

Ich sah ihm entsetzt zu, unfähig zu sprechen oder mich zu bewegen.

»Ich glaube, es ist aus, Eure Hoheit«, keuchte er, während er sich wieder erhob. Seine weißen Handschuhe waren schmutzig und übersät mit Brandspuren.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, log ich, obwohl ich natürlich die Gefühle, die seit meiner Ankunft in mir tobten, dafür verantwortlich machte. Aber das tat nichts zur Sache. Ich musste in jedem Fall dafür sorgen, dass niemand die Wahrheit auch nur erahnte.

»Es war ein trockener Sommer«, bemerkte Thandilimon. »Der Funkenschlag der Hufe muss das Kleid in Brand gesetzt haben.« Er kam näher und betrachtete besorgt den verkohlten Saum.

»Nun, dieser Empfang war durchaus bewegend«, sagte ich. »Gestattet Ihr, dass mir meine Zofe beim Umkleiden hilft?«

»Selbstverständlich«, sagte er; er schien sich plötzlich wieder an sein Benehmen zu erinnern. Mit einer schnellen Handbewegung bedeutete er dem Mädchen mit dem Pferd zu gehen.

Gemessen an den Umständen wirkte sie erstaunlich ruhig. Über die Schulter des Prinzen hinweg warf sie mir einen Blick zu, wobei ein kaum merkliches Lächeln über ihr Gesicht huschte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schlenderte über den Hof davon. Das Pferd folgte ihr friedlich.

»An Tagen wie diesen würde ich sie samt ihrem hässlichen Gaul am liebsten in den Süden verfrachten lassen, an einen Ort, der so weit entfernt ist, dass die Jahreszeiten entgegengesetzt auftreten«, brummte der Prinz, während die beiden vom Hof verschwanden. Er bot mir seinen Arm und ich nahm ihn. Unter seinem Jackenärmel lugten vier dünne Bänder hervor, die aus dem Schweifhaar der Pferde geflochten waren, die er zugeritten hatte. Wie alle Mynarianer trug auch er diese Armbänder als eine Art Abzeichen.

Nachdem Casmiel wieder Ordnung in das Begrüßungsspalier gebracht hatte, trat er neben den Prinzen. »Ich entschuldige mich für diesen verunglückten Empfang in unserem Königreich, Mylady. Gestattet uns, Euch in Euer neues Zuhause zu begleiten.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, entgegnete ich höflich, während wir die eigentliche Burg betraten. Den Durchgang zur gewölbten Eingangshalle, die aus demselben Sandstein erbaut war wie die Außenwände, säumten erloschene Wandleuchten in Form von Pferdeköpfen. Das polierte Messing glänzte in der Sonne.

»Verzeiht mir die Frage, Mylords, aber weshalb behaltet Ihr das Mädchen, dessen Pferd durchgegangen ist, in Euren Diensten, wenn es so unfähig ist?« Mein Vater hätte sie auf der Stelle entlassen.

Der Prinz seufzte, und ich hätte schwören können, dass auf Casmiels Gesicht ein flüchtiges Grinsen zu erkennen war.

»Mir bleibt keine Wahl«, sagte der Prinz. »Da Mara derzeit außerstande ist, andere Aufgaben zu erfüllen, lässt mein Vater sie die Pferde ausbilden. Sie macht das sehr gut, und zudem ist es die einzige sinnvolle Aufgabe, die sie bereit ist zu übernehmen.«

»Gehört sie zu Euren Gefolgsleuten?«, fragte ich voller Verwunderung.

»Ich muss mich entschuldigen. Man hätte sie Euch vorstellen müssen«, sagte Casmiel und warf Thandilimon einen vielsagenden Blick zu.

Der Prinz seufzte. »Mara ist meine ältere Schwester – Amaranthine, Prinzessin von Mynaria. Aber ich kann Euch versichern, sie zählt nicht zu den typischen Vertretern unseres Volkes oder der königlichen Familie.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Prinzessin Amaranthine hatte in meiner Erziehung so selten Erwähnung gefunden, dass ich davon ausgegangen war, man habe sie schon vermählt. Sie war achtzehn, zwei Jahre älter als ich, und in diesem Alter war man eigentlich verheiratet. Das meiste, was ich über die Mitglieder der königlichen Familie – einmal abgesehen von Prinz Thandilimon und König Aturnicus – gelernt hatte, betraf deren Verhältnis zum Hohen Rat, einer Gruppe von Repräsentanten, die bei den Regierungsgeschäften half. Doch selbst wenn Amaranthine weder verheiratet noch am politischen Geschehen beteiligt war, die Pferdeausbilderin zu spielen, ziemte sich für eine Prinzessin wohl am allerwenigsten. Ich war irritiert – und neugierig.

»Sollte sie nicht die Pflichten der Hausherrin wahrnehmen, wo Königin Mirianna doch gestorben ist?«, fragte ich.

»Mara ist in manchem nur schwer zu überzeugen …«, begann Casmiel.

»Stur wie ein Esel trifft es wohl eher«, unterbrach ihn Thandilimon. Casmiel warf ihm einen warnenden Blick zu, aber der Prinz redete weiter. »Sie hat keine Vorstellung davon, was es bedeutet, der Krone zu dienen. Wenn sie auch nur ein bisschen Verstand hätte, würde sie sich einen Gemahl wählen und es hinter sich bringen, bevor mein Vater für sie die Entscheidung trifft. Im Moment hat sie zumindest noch die Wahl.«

»Es ist schön, eine Wahl zu haben«, entgegnete ich leise. Seine Worte schmerzten. Er und ich hatten nie eine Wahl gehabt, und falls er mich deswegen hasste, wusste ich nicht, wie wir unsere Ehe überstehen sollten. Ich hoffte sehr, dass wir etwas Verbindendes finden würden, etwas, das über unsere Pflichten hinausging, Bücher vielleicht oder eine bestimmte Art von Musik oder etwas so Schlichtes wie die sauren Fruchtbonbons, die im Winter aus Sonnenborn geliefert wurden.

»In der Tat«, sagte er mit fester Stimme. »Immerhin wird unsere Verbindung Mara dazu zwingen, auch eine Entscheidung für sich selbst zu treffen. Ich habe nicht die Absicht, ihr weiterhin ihren Willen zu lassen, wenn ich erst einmal das Sagen habe.«

Nachdem wir eine Treppe hinaufgestiegen waren, gelangten wir zu den Gemächern, die man für mich vorbereitet hatte. Zwei Diener traten zur Seite und ließen uns ein. Wir standen in einem Empfangsraum mit offenem Kamin und großzügiger Sitzecke, von dem aus eine zweite Tür ins Schlafzimmer führte. Durch die breiten Fenster sah man weit über das Burggelände und die dahinterliegenden Felder, sodass ich mir einbildete, in der Ferne die hohen, wolkenumhüllten Berge meiner Heimat zu erkennen. Dabei wusste ich natürlich, dass sie eine halbe Mondreise entfernt im Nordosten lagen.

Neben einem Plüschsessel im Empfangsraum stand meine Zofe Auna und begrüßte mich mit einem Knicks. Dank ihrem vertrauten Gesicht fühlte ich mich gleich ein bisschen mehr zu Hause.

Ein Page hämmerte an die Tür und übermittelte dem Prinzen eine geflüsterte Nachricht.

»Ich muss mich entschuldigen. Die Geschäfte rufen«, sagte Thandilimon, nachdem der Page wieder davongeeilt war. »Casmiel wird Euch über das Burggelände führen und mich werdet Ihr bei den Begrüßungsfeierlichkeiten heute Abend wiedersehen. Morgen werdet Ihr dann bei einem Frühstück die Gelegenheit haben, in einer kleineren Runde einige der wichtigsten Berater meines Vaters kennenzulernen.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Eure Hoheit.« Ich knickste.

»Ganz meinerseits, Mylady.« Mit einer Verbeugung verließ er den Raum und die Diener schlossen leise die Tür hinter ihm.

Dafür, dass ich mich ein Leben lang auf dieses erste Treffen mit ihm vorbereitet hatte, war es viel zu kurz und chaotisch gewesen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte, und wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren.

Ich entschuldigte mich bei Casmiel, um mir von Auna in ein frisches Kleid ohne Brandspuren helfen zu lassen. Während des Umkleidens war ich mir sehr bewusst, dass er vor der Tür auf mich wartete. Die Anwesenheit Amaranthines hatte mich völlig unvorbereitet getroffen, und nun machte ich mir Sorgen, welche Lücken in meinem Wissen über Mynaria wohl noch klafften. Zugleich faszinierte mich die unkonventionelle Rolle der Prinzessin. Schon allein der Anstand verlangte es, dass ich sie aufsuchte und mich dafür bedankte, dass sie mir zu Hilfe geeilt war. Nach allem, was ich gehört hatte, gab es nur einen Ort, an dem sie sein konnte. Ich sah aus dem Fenster zu den am Hang gelegenen königlichen Stallungen. Dorthin würde Casmiel mich als Erstes begleiten müssen.

2

Mara

Ich kratzte den festsitzenden Dreck aus Flickers Vorderhuf und summte dabei ein unzüchtiges Kneipenlied vor mich hin. Nach der desaströsen Ankunft von Prinzessin Dennaleia war ich froh, wieder meinen gewohnten Aufgaben nachgehen zu können. Obwohl eigentlich die verdammte Stute meines Bruders schuld an allem war, störte es mich nicht weiter, für das Ganze verantwortlich gemacht zu werden. Es bedeutete nur, dass mein Vater und Thandi für eine ganze Weile auf meine Hilfe bei anderen Dingen verzichten würden. Und das wiederum bedeutete mehr Freiheit, was mir nur recht war. Gerade hatte ich das letzte bisschen Schmutz von Flickers Hufeisen geschabt, da tönte ein so greller Schrei durch die Ställe, dass mir fast das Herz stehen blieb. Flicker scheute, schlug aus und hätte, als er mit dem Huf auf dem Boden aufstampfte, um ein Haar meinen Fuß getroffen.

»Ganz ruhig, Junge«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Flanke. Sollte hierfür mal wieder einer der Stallburschen verantwortlich sein, der gerade einer Küchenmagd demonstrierte, wie unbequem ein Stelldichein im Heu war, würden die beiden sich meine Stiefel aus dem Hintern ziehen müssen. Mit finsterer Miene wischte ich mir die Hände am groben Stoff meiner Reithosen ab und marschierte aus der Box.

Am Ende des Gangs stand mit aschfahlem Gesicht Prinzessin Dennaleia und umklammerte mit einer Hand die andere. Na großartig. Egal was passiert war, als Sündenbock der Familie würde man mit Sicherheit wieder mir die Schuld daran geben, obwohl mein Onkel Cas direkt neben ihr stand.

»Was ist hier los?«, fragte ich.

»Es hat mich gebissen«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Dennaleia war einen halben Kopf kleiner als ich und zählte zu jenen zarten Geschöpfen, neben denen ich mir immer wie ein plumpes, dreckiges Trampeltier vorkam. Das gelbe Seidenkleid, das sie zuvor noch getragen hatte, hatte sie gegen einen Traum aus Rüschen in Lavendelblau getauscht. Sie hätte sehr viel besser auf eine Sahnetorte als hierher in meinen Stall gepasst.

»Bringen wir sie in die Sattelkammer«, forderte ich Cas auf. Jeder von uns nahm einen Arm der Prinzessin. Wir schoben sie aus dem Boxengang und setzten sie auf eine Truhe. Sie wimmerte ein bisschen, als ich die Bisswunde untersuchte, aber es war nur ein Kratzer, der sich wahrscheinlich bald in einen Bluterguss verwandeln würde. Ich hatte schon sehr viel schlimmere Verletzungen gesehen. Sie am eigenen Leib erfahren, um genau zu sein. In weniger als einer Woche würde die Wunde verheilt sein.

»Mara wird Euch verarzten«, versprach Cas. »Alles wird wieder gut.« Er reichte ihr ein Taschentuch, damit sie sich die Augen trocken tupfen konnte.

Seufzend nahm ich ein Reinigungsmittel und Mullbinden aus dem Verbandskasten. Unter dem Blut kam die weiche weiße Haut ihrer Hand zum Vorschein, deren Reinheit nur der Pferdebiss und ein verblasster Tintenfleck am Mittelfinger störten. Dann war sie also eine fleißige Schülerin. Kein Wunder, dass sie in den Ställen so fehl am Platz wirkte wie Spitze an einem Pferdeharnisch. Vorsichtig legte ich einen Kräuterwickel auf und verband die Wunde mit einem sauberen Streifen Baumwollstoff.

»Fertig«, sagte ich und hoffte, dass sie und Cas nun wieder verschwinden würden.

Sie sah zu Boden. Ihr braunes Haar war so dunkel, dass es das Licht schluckte.

»Es tut mir so leid, Eure Hoheit«, sagte die Prinzessin, den Kopf noch immer gesenkt. »Ich hätte nicht herkommen dürfen. Aber ich habe schon so viel über die Streitrösser von Mynaria und ihre Bedeutung für die Entstehung des Königreichs gelesen. Und die Stallungen sind eines der wenigen noch existierenden Beispiele für frühzeitliche Steinarchitektur …«

Meine Gedanken schweiften ab, kaum dass sie den Mund geöffnet hatte. Dieses Mädchen hatte dazu angesetzt, den Inhalt eines kompletten Geschichtsbuchs zum Besten zu geben, was mich nicht im Mindesten interessierte.

»Schon gut«, unterbrach ich sie. »Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Aber bei allen Sechs Göttern, sprecht mich nicht mit Eure Hoheit an. Ich heiße Mara.«

»Prinzessin Dennaleia von Havemont, im Dienste der Krone und der Sechs.« Sie benutzte ihre unverletzte Hand, um einen erstaunlich eleganten und tiefen Hofknicks zu machen.

Ich verdrehte die Augen. Von diesen Höflichkeitsfloskeln bekam ich Kopfschmerzen und außerdem kannte ich ihren Namen schon.

»Es war nicht ihre Schuld, dass sie gebissen wurde«, sagte Cas.

»Ach ja? Und wie ist dann ihre Hand in Shadows Maul geraten?« Ich starrte ihn böse an.

»Als ich Prinzessin Dennaleia herumführte, bat sie mich, ihr die Ställe zu zeigen. Ich dachte, Shadow sei ein sehr zahmes Tier.«

Ich seufzte. Wenn man sie ritt, war Shadow tatsächlich sehr folgsam. Aber jeder kannte ihre Neigung zum Beißen. Sie hatte diese Angewohnheit den Stallburschen zu verdanken, die sie immer aus der Hand mit Leckereien fütterten. Cas hätte das wissen müssen. Er verbrachte genug Zeit bei den Pferden.

»Ich war davon ausgegangen, dass man der Prinzessin Shadow für den Pferdetrieb und die Trauzeremonie geben würde«, fuhr er fort. »Deshalb wollte ich die beiden miteinander bekannt machen. Aber Dennaleia hat keine Erfahrung mit Pferden und da …«

»Wie zur Hölle der Sechs kann das sein?«, unterbrach ich ihn. Eine Adelige, die nicht reiten konnte, war in etwa so lächerlich wie ein Stallbursche, der keine Schubkarre schieben konnte.

Cas rieb sich die Schläfen. »Ich habe Havemont vor ungefähr zehn Jahren besucht. Der Weg hinauf nach Spire City kann kaum mit Ziegen passiert werden, geschweige denn mit Pferden. Um reiten zu lernen, hätte sie halb bis nach Mynaria reisen müssen. Auch die Kutsche, die sie hierherbrachte, konnte erst in einer Stadt im Vorgebirge mit ihrem Gefolge zusammentreffen. Vielleicht wäre es besser gewesen, noch etwas zu warten, aber für die Hochzeit muss sie den Umgang mit Pferden beizeiten lernen.«

Endlich hob das Mädchen den Blick. Ihre Augen waren von einem überraschend hellen Grün.

»Ich möchte so schnell wie möglich eine Grundausbildung erhalten.« Dafür, dass sie offenbar vom Pech verfolgt war, was Pferde anging, klang sie erstaunlich entschlossen.

»Ein ausgezeichneter Gedanke«, sagte Cas und lächelte ihr zu. Dann sah er mich scharf an.

Ich schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Das Letzte, was ich wollte, war eine blutige Anfängerin unterrichten, die auch noch unter der ständigen Beobachtung meines Vaters und Bruders stand.

»Warum gibst du sie nicht in die Obhut von Theeds. Er kann sie zusammen mit den Gefolgsleuten ausbilden«, sagte ich.

»Das ist unmöglich. Bis zur Vermählung sind es nur noch wenige Monde, und du weißt verdammt gut, dass sie in einer gemischten Klasse, in der alle deutlich fortgeschrittener sind als sie, nichts lernen wird. Zudem gibt es keine bessere Reitlehrerin als dich.«

Ich überhörte Cas’ Schmeicheleien, und auch der strenge Ton, den er normalerweise gegenüber aufmüpfigen Mitgliedern des Hohen Rats anschlug, konnte bei mir nichts bewirken. »Auf gar keinen Fall.«

»Reitstunden mit den Gefolgsleuten werden bestimmt ausreichen«, lenkte Dennaleia ein. Ganz offensichtlich war sie von der Vorstellung, reiten zu lernen, genauso begeistert wie ich von der Aussicht, mich die nächsten Wochen mit ihr abgeben zu müssen. »Ihr wisst sicher am besten, was in meinem Fall das Richtige ist …«

Ich ignorierte ihre diplomatischen Bemühungen und wandte mich direkt an Cas. »Kümmere du dich darum.«

Ich stampfte aus der Sattelkammer, aber vor der Tür packte Cas mich am Ärmel.

»Tut mir leid, Mara, aber du wirst nicht darum herumkommen«, sagte er leise.

Ich riss meinen Arm los.

»Dein Vater wird es mit großem Wohlgefallen sehen, wenn du der Prinzessin hilfst.«

»Ich habe nicht die Zeit, jede Mimose zu verarzten, die in Begleitung eines Idioten durch meinen Stall spaziert«, fauchte ich ihn an.

Meine Beleidigung perlte an Cas ab wie Wasser an gewachstem Leder. Mit ernster Miene sah er mich an. »Bis der Bund endgültig geschlossen ist, wirst du deine Nachmittage ohnehin anders verbringen müssen.«

Ich zuckte zusammen. Damit brach er unsere Abmachung. An Nachmittagen, an denen ich nicht mit den Pferden beschäftigt war, schlich ich mich oft aus der Burg. Manchmal brachte ich Cas von diesen Ausflügen wertvolle Informationen mit und im Gegenzug drückte er beide Augen zu und verriet mich nicht an meinen Vater.

»Es werden Menschen aus allen Nördlichen Königreichen anreisen, um Zeuge der Vermählung deines Bruders zu sein. Aber nicht jeder ist glücklich darüber«, sagte Cas. »Die Stadt wird bald nicht mehr so sicher sein, wie sie es einmal war.«

Offenbar wusste er, dass ich mich nicht immer in den besten Vierteln der Stadt aufhielt, und meine Quellen fanden bestimmt auch nicht ausnahmslos seine Zustimmung. Verflucht sollten sie sein. Er und seine Spione.

»Dennaleia das Reiten beizubringen, ist von größter Wichtigkeit«, fuhr er fort. »Sie muss so schnell wie möglich eine der Unseren werden. Ihr Volk glaubt vielleicht an dieselben Götter wie wir, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass es jahrelang zugelassen hat, dass die Zumorder Havemont als Zugang zu unserem Reich benutzen.«

»Damit habe ich nichts zu schaffen«, sagte ich.

»Nun schon. Gib mir bitte keinen Grund, deinen Vater darüber in Kenntnis zu setzen, was du so treibst.«

»Also gut«, willigte ich zornig ein. Er ließ mir keine Wahl. »Aber du sorgst dafür, dass sie nicht mehr hier auftaucht, bevor ich ihr nicht beigebracht habe, welches Ende vom Pferd Zähne hat.« Schäumend vor Wut stampfte ich zurück zu Flickers Box.

»Mara …«, rief Cas mir hinterher, aber da gab es nichts mehr zu besprechen. Mein ungehobeltes Benehmen hätte mir ein schlechtes Gewissen bereiten müssen. Schließlich brachte er sehr viel mehr Verständnis für mich auf als mein Vater oder mein Bruder. Von Zeit zu Zeit setzte er sich sogar für mich ein. Dennoch hatte er keine Vorstellung davon, was es für mich bedeutete, wenn man mir das bisschen Freiheit, das ich hatte, auch noch nahm. Nun, da mein Bruder sich mit seiner Prinzessin schmückte wie mit einem weiteren Armband, hätte der Druck auf mich, die Pflichten der Burgherrin zu übernehmen, eigentlich weniger werden müssen. Davon war ich zumindest ausgegangen.

Ich machte mich daran, Flickers letzten Huf zu reinigen. Ich entfernte einen neben der Strahlfurche eingeklemmten Kieselstein, bürstete den Huf und setzte ihn behutsam auf den Boden. Flicker drehte den Kopf, um mich zwischen zwei Portionen Heu treuherzig anzusehen.

»Tut mir leid, Junge. Du bist fertig.« Ich tätschelte seinen Hals. Selbst im schummrigen Licht des Stalls glänzte sein Sommerfell wie Kupfer. Normalerweise wäre ich noch ein wenig geblieben, aber die Sonne stand schon knapp über den Hügeln und übermalte den Himmel mit einem Hauch von Rosa. Bis zum Abend würde ich mich für Prinzessin Dennaleias Begrüßungsfeier in Kleider zwängen müssen, die ich seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Und mit meinen verfilzten Haaren würden meine Zofen ebenfalls alle Hände voll zu tun haben.

Ich verließ den Stall und nahm den am wenigsten frequentierten Weg von den Stallungen zur Burg. Unterwegs hatte ich das Gefühl, die Mauern des Burggartens zögen sich um mich zusammen. Die Vorstellung, dank Dennaleias dummer Reitstunden für den Rest des Sommers hier gefangen zu sein, weckte Fluchtgedanken in mir. Ich wollte mich unters Volk mischen, meinen Quellen wertvolle Informationen entlocken oder auf dem Kataphrakt-Platz mit den Marktverkäufern feilschen. Für die Straßenkünstler und Wirtshausmusikanten war ich eine Zuschauerin wie jede andere, der man eine Münze für einen Apfel oder einen Kanten Brot abluchsen konnte. Die Anonymität eröffnete mir Möglichkeiten, die mir mein Titel verwehrte. Sie erlaubte mir – wenn auch nur für kurze Zeit –, so zu tun, als könnte ich eines Tages als einfache Pferdeausbilderin in einer kleinen Stadt einer Beschäftigung nachgehen, die mir wirklich am Herzen lag.

Immerhin würde ich auf der Feier die Gelegenheit haben, meinen Kummer loszuwerden – und zwar am Boden eines Weinkrugs.

Einige Schattenlängen später betrachtete ich mit düsterer Miene die silbernen Pferde, die mir von den Enden meines Bestecks entgegenstarrten. Über meinen Kopf hinweg wurde munter geplaudert und der Tisch war übersät mit den Resten eines üppigen Sommermahls: in sich zusammengestürzte Berge von frischen Beeren, Lachen aus verlaufener Schlagsahne, Knochen von dem zarten, mit Honig glasierten Kalbfleisch, abgenagte Maiskolben und dazwischen überall verstreut Krumen von Haferbrot. Bei dem Gedanken an noch mehr Essen, insbesondere an die schwere, dunkle Schokoladentorte mit den gebackenen Baiserspitzen, die der Koch zu Ehren von Prinzessin Dennaleias gebirgiger Heimat kreiert hatte, verkrampfte sich mein Magen. Ich drehte an meinen Armbändern und zählte die Minuten, bis ich endlich verschwinden konnte – egal wohin.

Mein Vater hob sein Glas und schlug sechsmal klirrend die Gabel dagegen.

»Ich möchte den Sechs Göttern unseren Dank bekunden für die sichere Ankunft unseres Gastes, Prinzessin Dennaleia von Havemont, und für die Fülle des Mahls, das wir ihr zu Ehren genossen haben. Wir heißen sie in unserem Reich herzlich willkommen und sind glücklich, dass sie an unserer Seite reiten wird. Möge der Segen der Sechs mit der Krone und ihren Dienern sein.«

Der Saal hallte wider von gemurmelten Segenswünschen. Ich erhob ebenfalls mein Glas und beobachtete, während ich einen kleinen Schluck Wein nahm, die Prinzessin. Das Glas in der Hand, saß sie erhobenen Hauptes am Tisch. Offenbar hatten die Schrecken des Tages keinerlei Spuren hinterlassen. Das flackernde Licht einer Wandleuchte gab ihrer blassen Haut einen warmen Ton. Die langen, dunklen Locken fielen ihr offen über den Rücken. Auf dem weinroten Abendkleid, das ihre Schulterblätter frei ließ, wirkten sie fast schwarz. Für einen Moment dachte ich darüber nach, was wohl mit dem Saum eines solchen Kleides passieren würde, wenn ich sie die Ställe ausmisten ließ.

Ihre Unkenntnis, was Pferde anbelangte, hätte ja ganz amüsant sein können, wäre sie nicht inzwischen zu meiner Aufgabe geworden. Ich leerte meinen Becher und schenkte mir nach.

»Wie schmeckt Euch der Wein heute Abend?«, wollte der Mann neben mir wissen. Sein weißes Wams war ungewöhnlich geschnitten und am kleinen Finger der linken Hand trug er einen goldenen Ring. Er musste der Botschafter von Sonnenborn sein. Seit es ihm gelungen war, mehrere Nomadenstämme unter seinem Banner zu einigen, kam seine Position der eines Herrschers über ein Reich sehr nahe. Er war schon vor einem oder zwei Monden in Mynaria eingetroffen, aber ich hatte bisher noch nicht mit ihm gesprochen.

»Sehr gut«, erwiderte ich und nahm noch einen kräftigen Schluck. Er wusste nicht, dass man mir das Trinken in einer gewöhnlichen Bierschenke in der Stadt beigebracht hatte. Auch unter dem Einfluss von Alkohol lief ich nicht Gefahr, mich von seinem Charme einlullen zu lassen.

»Die neue Prinzessin ist wundervoll, nicht wahr?«

»Da habt Ihr recht.« Ich grinste. »Eine Prinzessin, wie ich es niemals sein werde.«

»Ihr wisst, dass das nicht zutrifft, Prinzessin Amaranthine«, entgegnete er freundlich, ohne zu wissen, wie sehr er mich damit ärgerte.

»Dieser schreckliche Name – muss das sein«, murmelte ich.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, ich nehme noch etwas Wein.« Ich hielt mein halb leeres Glas in die Höhe.

»Baron Endalan Kriantz von Sonnenborn, zu Euren Diensten«, sagte er und schenkte meinen Becher voll. »Mir ist zu Ohren gekommen, in Pferdefragen sollte man sich an Euch wenden.«

»Oh.« Ich setzte mich aufrecht hin. Zur Abwechslung wollte endlich mal jemand über ein kurzweiliges Thema mit mir sprechen.

»Ein Mann, mit dem man mich in den Ställen bekannt machte, hat Euch erwähnt. Er sagte, nur wenige wüssten so viel über die Blutlinien von Streitrössern wie Ihr.« Er schwenkte gemächlich sein Weinglas und sah zu, wie sich in der Flüssigkeit ein Wirbel bildete. »Verratet Ihr mir Eure Meinung zur Blutlinie der Flann-Pferde? Ich frage mich, ob sie sich wohl gut mit meinen Wüstenpferden kreuzen lassen.« Er lächelte, wobei seine Mundwinkel in einem kurz geschorenen schwarzen Bart verschwanden.

»Flann-Pferde sind sehr ausdauernd und insofern für ein Wüstenpferd eine gute Ergänzung. Aber sie sind von hohem Wuchs, und da Eure Pferde sehr viel kleiner sind als unsere, könnte man keine einheitliche Größe oder Statur garantieren. Ich würde eine Blutlinie mit etwas weniger Ausdauer, dafür aber einer verlässlicheren Größe wählen. Azura vielleicht?«

»Ich bin beeindruckt«, sagte er und nahm noch einen Schluck aus seinem Glas.

Bei seinem Lob wurde mir warm. »Wofür genau braucht Ihr die Pferde?«

»Da mein Volk das Nomadentum nach und nach aufgibt, müssen wir uns mehr auf die Verteidigung konzentrieren«, sagte er. »Unsere Wüstenzüchtungen sind schnell und sehr ausdauernd, aber nicht so robust wie Eure Schlachtrösser. Sehr gut geeignet, um den Feind zu jagen oder zu fliehen, aber schlecht, um die Stellung zu halten.«

»Wenn es Euch ums Kämpfen geht, solltet Ihr Eure Pferde auf jeden Fall klein halten«, riet ich ihm. »Es ist durchaus möglich, die Muskelmasse zu steigern, ohne dafür die Geschwindigkeit über kurze Distanzen zu opfern.«

»Das hatte ich gehofft, Eure Hoheit.«

»Ich kann diesen Eure-Hoheit-Unsinn nicht ausstehen. Spart Euch das für diejenigen, die Wert darauf legen.« Ich deutete mit dem Kinn ans Tischende, wo Dennaleia stumpfsinnig meinem idiotischen Bruder zulächelte.

»Dann nenne ich Euch …?«

»Mara«, sagte ich mit hocherhobenem Kopf und sah ihn dabei herausfordernd an.

»Wie Ihr wünscht, Mara.« Er lächelte. In seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Spott zu erkennen.

»Danke«, sagte ich und war gegen meinen Willen recht angetan von ihm. Offenbar hatten die Sonnenborner für einen weitgehend gesetzlosen Haufen von Stammesbrüdern erstaunlich gute Manieren.

»Habt Ihr Lust zu tanzen?«

»Warum nicht«, willigte ich zu meiner eigenen Überraschung ein. Normalerweise würde der Wein des gesamten Königreichs nicht genügen, um mich auf die Tanzfläche zu bekommen. Da ich die meisten meiner Tanzstunden geschwänzt hatte, besaß ich ungefähr so viel Anmut wie eine verkrüppelte Antilope.

Lord Kriantz erhob sich geschmeidig aus seinem Stuhl und bot mir seinen Arm. Ich stand auf und geriet auf meinen hohen Absätzen derart ins Schwanken, dass ich mich an einer Stuhllehne festhalten musste, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich fluchte leise und schwor mir, das nächste Mal auf flachen Schuhen zu bestehen. Es verblüffte mich immer wieder, wie Frauen den ganzen Tag in solchen teuflisch spitzen Tretern herumlaufen konnten, geschweige denn darin tanzen. Es war einfach lächerlich.

Begleitet von einem kleinen Kammerorchester, das in einer Ecke des Saals spielte, drehten sich in hypnotischen Mustern Röcke in allen Edelsteinfarben über das Parkett. Wir gesellten uns zu den Tanzenden und wirbelten durch die Menge. Der Baron führte, ich folgte unbeholfen. Wir stießen gegen ein tanzendes Männerpaar, das uns mit einem bösen Blick bedachte, was mir aber egal war. Entgegen all meinen Erwartungen genoss ich die Leichtigkeit, mit der Lord Kriantz sich mit mir im Kreis drehte. Außerdem konnte ich es vielleicht so deichseln, dass wir zum Ende des Musikstücks an der Tür wären und ich mich davonmachen konnte.

Lächelnd und außer Atem gelangten wir mit den letzten Tanzschritten in die Nähe des Ausgangs.

»Vielen Dank«, sagte ich in einem Tonfall, der eine zweite Runde auf dem Parkett ausschloss.

»Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Vielleicht zu einem gemeinsamen Ausritt?« Lord Kriantz verbeugte sich höflich und verschwand in der Menge.

Ich war schon fast aus der Tür, als das Orchester langsamer wurde und dazu ansetzte, eines meiner Lieblingsstücke zu spielen. Ein Raunen ging durch den Saal, als Prinzessin Dennaleia mit Cas an der Seite zu ihrem ersten Tanz des Abends schritt. Sie neigte den Kopf in meine Richtung, dann folgte ihr Blick der Geste ihres Arms, und während sie den Kopf hob, sah sie mich durch ihre langen Wimpern hindurch direkt an. Die Intensität dieses Blicks jagte mir einen Schauer über den Rücken. Falls ihre Hand von dem Pferdebiss noch schmerzte, ließ sich das an ihren anmutigen Bewegungen nicht erkennen. In meinen Ohren pochte das Blut. Dann fingen die beiden an, sich von mir weg über das Parkett zu drehen. Jedes Mal, wenn Dennaleia an einer der Wandleuchten vorbeischwebte, schienen die Flammen zu flackern und zu hüpfen. Wäre sie nicht ein solches Problem für mich gewesen, hätte ich sie wahrscheinlich anziehend gefunden.

Die Musik ging zu Ende und die Prinzessin verneigte sich unter tosendem Applaus vor Cas mit einem Knicks.

Das Ganze war zweifellos eine Zurschaustellung ihrer Tanzkünste gewesen. Cas war einer der besten Tänzer bei Hofe. Als Nächster bot er seiner Frau Ryka den Arm. Sie war Hauptmann der Wache, und mir war schleierhaft, was er an ihrem furchteinflößenden Auftreten und der strengen Uniform fand. Aber er war der Einzige, der sie zum Lachen brachte. Trotz der Wut auf meinen Onkel spürte ich wieder die tiefe Zuneigung, die ich für ihn hegte.

Die Musiker spielten eine fröhliche Bauernweise und vertrieben damit die tanzende Prinzessin aus meinem Kopf. Wenn ein einzelnes schönes Musikstück schon genügte, dass ich sie plötzlich attraktiv fand, war es höchste Zeit zu verschwinden. Ich huschte durch die Tür, kickte draußen die scheußlichen Schuhe hinter einen Busch und schlich zu meinen Gemächern. Für heute hatte ich entschieden genug von meiner Rolle als Prinzessin.

3

Dennaleia

An meinem zweiten Tag in Mynaria machte ich mich mit nur einem Ziel auf den Weg zum Frühstück: Ich wollte das Desaster des ersten Tages wiedergutmachen. Entlang der Ostseite eines hohen Balkons waren zum Schutz vor der Sonne transparente weiße Vorhänge aufgehängt, die im weichen Licht des Morgens schimmerten wie vorüberziehende Wolken. Jenseits der Arkaden breitete sich die Stadt Lyrra unter uns aus, ein Meer aus bunten Dächern, das sich den Hang hinunter in die Ebene ergoss. Sobald ich den Balkon betrat, kam Prinz Thandilimon auf mich zu, um mich zu begrüßen.

»Guten Morgen, Mylady«, sagte er. »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen?«

Hatte ich nicht. Meine Gedanken waren die ganze Nacht um die Missgeschicke des Vortages gekreist und die anhaltende Hitze hatte es nicht besser gemacht. Glücklicherweise erwartete Thandilimon keine Antwort von mir, bevor er weitersprach.

»Einige der zuverlässigsten Berater meines Vaters haben sich heute zu uns gesellt«, sagte er und zeigte auf eine Gruppe von Würdenträgern, die in ein Gespräch über das Bogenschießen vertieft waren.

König Aturnicus stand am Kopfende der Tafel und führte eine etwas ernsthaftere Diskussion mit einer dunkelhäutigen Frau. Sie fixierte mich mit einem Blick, der Glas zum Schmelzen gebracht hätte. Sofort erkannte ich in ihr Hilara, die Hohe Rätin für Auslandsbeziehungen. Meine Mutter hatte mich vor ihr gewarnt. Hilaras Votum für eine Allianz mit Zumorda hatte man zugunsten der Allianz mit Havemont verworfen und ihr Zorn darüber war offenkundig noch nicht abgeklungen. Ihre gertenschlanke Gestalt steckte in einem dunkelblauen Kleid, das fast ebenso durchsichtig war wie die Vorhänge, und obwohl sie recht jung aussah, ließ ihre lange Mitgliedschaft im Hohen Rat darauf schließen, dass sie mindestens das Alter meiner Mutter hatte.

Ich begegnete ihrem finsteren Blick mit einem freundlichen Lächeln, auch wenn mein Herz vor Angst schneller schlug und die Magie mir in den Fingerspitzen kribbelte. Seit ich Havemont verlassen hatte, schien meine magische Gabe sehr viel näher an der Oberfläche zu liegen. Sobald meine Gefühle auch nur ein bisschen in Aufruhr gerieten, machte sie sich sofort bemerkbar.

»Gehen wir hinüber und sprechen mit meinem Vater«, forderte der Prinz mich auf.

Zu meiner Erleichterung ließ der König Hilara stehen und kam uns entgegen, um uns zu begrüßen. Er hatte dasselbe helle Haar wie Thandilimon und Casmiel, seine Augen waren jedoch mehr grau als blau, wie Amaranthines. Das erinnerte mich daran, dass ich sie noch nicht gesehen hatte. Wo war sie?

»Es ist uns ein großes Vergnügen, Euch hier zu haben, Prinzessin«, sagte der König.

»Ich danke Euch, Eure Majestät«, entgegnete ich mit einem Knicks.

»Innerhalb der Familie muss es nicht ganz so förmlich sein«, meinte er fröhlich. »Ich verlasse mich darauf, dass Ihr meinen Sohn an die Zügel nehmt. Es ist lange her, dass dieser Ort die Hand einer Frau gespürt hat.«

Ich starrte ihn an, unschlüssig, welche Reaktion er von mir erwartete. Wie hatte er das gemeint? Immerhin waren viele der Hohen Räte Frauen. Hilfe suchend sah ich zu Thandilimon, doch der zuckte nur verlegen mit den Achseln.

»Setzen wir uns«, sagte der König und führte uns an den Tisch.

Es hatte noch keiner seinen Platz eingenommen, da schlugen die Vorhänge leichte Wellen, und mit gerötetem Gesicht rauschte Amaranthine auf den Balkon.

»Wie immer zu spät«, murmelte der Prinz, während er mich zu meinem Platz am Kopfende der Tafel zwischen dem König und Hilara geleitete.

Keiner schenkte Amaranthine weitere Beachtung, und ich war irritiert, dass niemand darauf bestand, dass sie sich für ihr Zuspätkommen entschuldigte. Immer wieder sah ich verstohlen zu ihr hinüber. Ihr grünes Kleid, das ihr genauso gut stand wie die Livree am Vortag, ließ ihr Haar leuchten wie Feuer.

Erst als Thandilimon mir gegenüber Platz nahm, riss ich mich endlich von ihr los. Er lächelte mir freundlich zu, und ich hoffte, das sei ein Zeichen dafür, dass wir den gestrigen Tag hinter uns gelassen hatten.

Die Diener flitzten um den Tisch und legten zusätzliches Besteck für den ersten Gang auf, eine Gabel, nicht größer als mein kleiner Finger. Ich betrachtete sie staunend und fragte mich, ob es wohl pochierte Fliegen oder irgendeine andere absurde Delikatesse geben würde. Stattdessen brachte man mir eine flache Schale mit Eisstückchen, auf denen in einer splitterigen Muschelschale etwas Graues lag, das aussah wie ein wabbeliges Stück alte Leber oder etwas, das eine der Burgkatzen gerade erbrochen hatte. Ich bemühte mich, nicht in Panik zu geraten.

»Casmiel berichtete mir, Ihr werdet Reitstunden von Mara erhalten, Eure Hoheit?«, sprach Hilara mich an.

Natürlich musste sie mich nach der einen Sache fragen, vor der ich mich noch mehr fürchtete als vor dem schrecklichen Ding auf meinem Teller.

»So ist es, Hohe Rätin.« Ich zwang mich zu einem wohlwollenden Lächeln. »Ich freue mich sehr darauf, mehr über die Schlachtrösser von Mynaria zu lernen.«

Das finstere Gesicht Amaranthines ließ vermuten, dass womöglich nicht ich es sein würde, die hier am Tisch als Erste etwas in Brand setzte.

Alle wandten sich der Speise auf ihrem Teller zu, und ein paar gaben noch etwas darüber, das nach Essig und Schalotten roch. Dann schluckten sie die Dinger direkt aus der Schale am Stück hinunter, samt Schleim und allem.

»Schmeckt wie ein perfekter Tag am Meer«, erklärte mir Hilara mit einem giftigen Lächeln, das wohl als Herausforderung zu verstehen war.

Ich setzte die Muschelschale an die Lippen und ließ das Ding die Kehle hinuntergleiten, so wie ich es bei den anderen gesehen hatte. In meinem Mund breitete sich der Geschmack von Meerwasser aus, salzig, kalt – und überraschend lecker. Lächelnd legte ich die leere Schale zurück auf den Teller.

»Recht schmackhaft«, bemerkte ich. »Wo bekommt man so etwas?«

»Das sind Königsbucht-Austern aus der Provinz Trindor«, klärte Thandilimon mich auf. »Normalerweise gibt es sie nur im Winter. Aber die Familie einer trindorischen Edelfrau, die derzeit zu Gast bei Hofe ist, hat die Austern als Geschenk an die Krone mitgeschickt. Es ist die einzige Sorte, die im Sommer geerntet wird, in sehr großer Tiefe, wo das Wasser besonders kalt ist. Man benutzt dazu spezielle Tauchausrüstungen, die …«

»Ich bezweifle, dass Prinzessin Dennaleia deine Begeisterung für Meeresforschung und Seefahrt teilt«, unterbrach ihn der König.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Prinz verlegen. »Aber ich wollte schon immer das Meer sehen.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich. Sicher hatte Thandilimon, genau wie ich, ausreichend Unterricht genossen, um zu wissen, wie groß die Welt in Wirklichkeit war – und wie wenig Zeit ihm neben seinen zukünftigen Pflichten als König bleiben würde, um sie zu entdecken. »Auch ich war noch nie am Meer. Aber ich habe das Glück, in einem Königreich aufgewachsen zu sein und nun in einem anderen zu leben. Ich kann es kaum erwarten, mehr von Mynaria zu sehen.«

»Oh, aber bevor wir Euch gestatten können, in die Stadt zu gehen, muss etwas gegen die Aufständischen unternommen werden.« Hilara lehnte sich selbstgefällig in ihrem Stuhl zurück.

»Die Aufständischen?« Ich hatte noch nie von ihnen gehört. Und auch dass es problematisch war, mich dem Volk von Mynaria zu präsentieren, war mir neu.

»Nichts, worüber man sich allzu viele Sorgen machen müsste«, beschwichtigte Casmiel. »Die Aufständischen sind eine schwer fassbare Gruppe von Ketzern. Sie sind mit der Allianz unzufrieden, da sie die Magienutzer daran hindern wird, das Große Adyton in Havemont zu besuchen.«

Ich stöhnte. Niemand hatte mir gegenüber je erwähnt, dass dies Teil der Abmachung unserer Allianz war. Die meisten Magienutzer kamen aus dem östlichen Königreich Zumorda. Sie glaubten nicht an die Sechs Götter, nur an die Macht der Magie, und hatten demzufolge keine eigenen Tempel. Das Große Adyton war jedoch ein Pilgerort ihres Mittsommerrituals. Die Zumorder und auch andere Magienutzer waren stets in friedlicher Absicht nach Havemont gekommen und auch wieder gegangen.

»Wenn sie Gebäude mit ihren Symbolen verunstalten oder diese gleich ganz niederbrennen, gibt das meiner Ansicht nach durchaus Anlass zur Sorge«, sagte Hilara.

»Was kann man von einer Bande Magie verehrender Verräter auch anderes erwarten«, brummte der König und wischte sich ein paar Kaviarkrümel aus dem Schnauzbart. »Bald werden wir beide Königreiche von ihnen säubern.«

Die Gabel in meiner Hand wurde so heiß, dass ich sie auf den Tisch fallen ließ. Ich war schockiert. Niemand hatte mir gesagt, dass die Magienutzer durch meine Vermählung nicht mehr nur in Mynaria geächtet wären, sondern auch in meiner Heimat. Sollte sich eine offizielle Verbannung durchsetzen, hätte das zweifellos einen ernsten Konflikt zur Folge.

»Natürlich ist unser erstes Anliegen die Sicherheit unserer Bürger«, sagte Casmiel. »Aber wir müssen mit Bedacht und in Übereinstimmung mit dem Gesetz vorgehen, sonst wird das Volk unsere Herrschaft anzweifeln. Es wäre unklug, die Zuneigung, die das Volk für Euch hegt, aufs Spiel zu setzen, Eure Majestät.«

»Ihr habt recht«, ließ sich der König von Casmiels Argumenten beschwichtigen.

»Aber wenn die Aufständischen für die Gewalt in der Stadt verantwortlich sind, sollten wir sie gleich jetzt zusammentreiben und bestrafen, bevor sie zu einem noch größeren Problem werden«, schaltete Thandilimon sich ein. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die Sicherheit des Königreichs gefährden.«

»Für die meisten der offenen Übergriffe sind die fundamentalistischen Magiegegner verantwortlich«, sagte Hauptmann Ryka. Ihr Ton machte deutlich, dass für sie nur die Fakten zählten.

»Wäre die Allianz mit Zumorda zustande gekommen, hätte der Aufruhr vermieden werden können«, sagte Hilara, die den Streit, den sie entfacht hatte, sichtlich genoss.

»Wir können uns unmöglich mit einem Reich verbünden, über das wir so gut wie nichts wissen. Den Ketzern, die es regieren, ist nicht zu trauen.« Der König fuchtelte mit seinem Messer in der Luft herum, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Es ist natürlich in jedem Fall das Beste, alles, was man nicht kennt, einfach anzugreifen«, meinte Amaranthine mit schneidendem Sarkasmus.

Verzweifelt umklammerte ich mit beiden Händen mein kühles Glas, um die Magie in Schach zu halten. Ich musste meine Wut und meine Angst um jeden Preis verbergen. Niemand hatte mich gewarnt, dass der König und der Hohe Rat Magienutzer nicht nur hassten, sondern sie, sobald die Allianz in Kraft getreten war, sogar verfolgen wollten. Ich musste unbedingt versuchen, die Wogen zu glätten, bis ich mehr in Erfahrung gebracht hatte.

»Vielleicht findet sich ja ein Weg, diese Aufständischen zu beruhigen und noch mehr Gewalt zu verhindern?«, schlug ich vor. »Nur wenige von ihnen schaffen es, einmal im Leben zum Großen Adyton zu pilgern. Vielleicht müsste man nur eine andere heilige Stätte für sie finden, eine, die näher an ihrer Heimat liegt.«

Casmiel nickte nachdenklich.

»Aber das sind Abtrünnige«, wandte Thandilimon ein. »Es darf nicht aussehen, als würde die Krone eine Gruppe von ketzerischen Magienutzern unterstützen.«

»Das versteht sich von selbst«, stimmte ich zu. »Es ist unumgänglich, eine Lösung zu finden, die beide Seiten zufriedenstellt und so auch die Gegenreaktionen der Fundamentalisten mindert. Vielleicht sollte man zunächst herausfinden, welche Ziele beide Gruppen genau verfolgen?«

»Ja«, sagte Thandilimon. »Sicher ist es kein Fehler, noch mehr Informationen einzuholen.«

Hilara stöhnte. Bestimmt ärgerte sie sich, dass an meiner Idee nichts auszusetzen war.

»Der Vorschlag von Prinzessin Dennaleia ist gut«, sagte Casmiel. »Allerdings war es bisher sehr schwierig, die Aufständischen aufzuspüren. Niemand ist scharf darauf, Informationen preiszugeben, die die Magie betreffen.«

Amaranthine warf Casmiel einen flehenden Blick zu. »Wenn ich meine Nachmittage zur freien Verfügung hätte, könnte ich helfen …«

»Du hast Reitunterricht zu geben«, schnitt der König ihr das Wort ab. »Und nun ist Schluss mit diesen jämmerlichen Versuchen, dich vor deinen Pflichten zu drücken.«

Amaranthine ließ sich so wütend in ihren Stuhl fallen, dass ich zusammenzuckte. Wir kannten uns kaum und schon hasste sie mich. Ich musste etwas dagegen tun. Wenn ich nicht einmal fähig war, eine andere Prinzessin für mich zu gewinnen, wäre es vermessen, mich einer Königinnenkrone für würdig zu erachten. Nach all dem Unterricht in Etikette, den ich genossen hatte, sollte ich eigentlich in der Lage sein, mit meinem Charme einem wolkenlosen Himmel Schnee zu entlocken.

»Eadric, welche Meinung habt Ihr zu diesem Thema?«, fragte der Prinz. »Da es hier um die richtige Anbetung der Sechs geht, sollte der Hohe Rat für Religion sich vielleicht auch einbringen.«

Alle wandten sich dem anderen Ende der Tafel zu, wo Eadric sich gerade dem Verzehr einer unendlich langen Nudel widmete, was ihm das Sprechen unmöglich machte. Sein Haar war fast weiß und verlieh ihm das würdige Aussehen eines verdienten älteren Höflings. Sein Blick allerdings wirkte müde und leer.

»Weist den Aufständischen den Weg zum Licht«, sagte er schließlich und zeichnete mit der Gabel, von der noch eine Nudel baumelte, gelangweilt das Symbol des Windgottes auf den Tisch.

Alle starrten ihn an. Nur der König war schon wieder dazu übergegangen, dem geräucherten Hühnerbein in seiner Hand das Fleisch vom Knochen zu lutschen. Nachdem ich von den Unruhen in der Stadt und den Änderungen in den Vereinbarungen der Allianz erst jetzt erfahren hatte, fragte ich mich, ob andere Informationen wohl ähnlich verwässert in Havemont angelangt waren.

Das Gespräch wurde wieder aufgenommen und ging zu allgemeineren Themen über. Aber die Sorge, was man mir wohl noch vorenthalten hatte, quälte mich weiterhin. Das Frühstücksmenü war beeindruckend – ein Gang malerischer und köstlicher als der andere –, aber ich konnte kaum etwas davon kosten. Schließlich erhoben wir uns von den Stühlen, um uns für den letzten Gang – ein an einen Edelstein erinnerndes Dessert mit Veilchengeschmack, serviert auf frischen Beeren und einer mit Schlagsahne durchzogenen Karamellcreme – neu zu platzieren. Amaranthine nutzte die Gelegenheit, um sich zu verdrücken, und gab der verbliebenen Frühstücksgesellschaft damit ein Thema, über das sie sich zwischen den Beratungen zu formellen Anlässen, an deren Planung sie hofften, mich zu beteiligen, echauffieren konnte. Als es zu Ende war, konnte ich nicht schnell genug in mein Zimmer kommen. Ich wollte etwas Sinnvolleres tun, als den Veranstaltungskalender der Edelleute von Lyrra zu füllen.

»Eure Hoheit.« Noch bevor ich nach einem Pagen rufen konnte, hatte Casmiel mich auf dem Gang eingeholt. »Darf ich Euch zu Euren Gemächern begleiten?«

»Es wäre mir eine Freude, Mylord.« Ich nahm seinen Arm.

»Ich möchte mich für Amaranthines Verhalten bezüglich Eures Reitunterrichts entschuldigen«, sagte Casmiel.

»Es ist verständlich«, entgegnete ich milde. »Sie ist so beschäftigt und ich halte sie nur ungern von ihren Pflichten ab. Vielleicht gibt es ja jemand anderen, der mich unterrichten könnte?« Diesen letzten Versuch, den Reitstunden zu entgehen, wollte ich auf jeden Fall noch unternehmen, insbesondere wenn ich mich dadurch in Amaranthines Gunst wieder etwas besserstellen konnte.

»Es gibt keine bessere Lehrerin als sie«, sagte Casmiel. »Glaubt mir. Sie ist vielleicht etwas ungehobelt, hat aber ein gutes Herz. Ihr müsst ihr eine Chance geben.«

»Natürlich. Ich bin sicher, sie ist sehr talentiert.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, obwohl Amaranthines Fähigkeiten als Reitlehrerin hier gar nicht zur Debatte standen. Das Problem war vielmehr, dass siemir keine Chance geben wollte. Es sah so aus, als wären meine Reitstunden wirklich das Letzte, wofür sie ihre Zeit opfern wollte.

»Sie ist die beste Reiterin innerhalb und außerhalb dieser Mauern. Und manchmal versorgt sie uns mit sehr nützlichen Informationen, auch wenn ihre Quellen, sagen wir mal, eher unkonventionell sind.«

»Ach ja?« Ich war neugierig, was er damit meinte.

Am Ende meines Flurs blieben wir stehen, noch außerhalb der Hörweite der Wachen, die vor meiner Tür patrouillierten.

»Ich würde Euch gerne noch für einen Moment sprechen«, hielt Casmiel mich zurück. »Ihr seid zwar erst angekommen, aber ich sehe in Euch schon jetzt all meine Hoffnungen erfüllt. Ihr seid eine gute Beobachterin und Zuhörerin. Ihr interessiert Euch für die Menschen und ihre Beziehungen, und Ihr versteht es, Leute mit gegenteiligen Ansichten zusammenzubringen. Das habt Ihr während der Diskussion um die Aufständischen heute Morgen bewiesen. Und gestern habt Ihr durch Euer beherztes Einschreiten sogar verhindert, dass Mara und Thandi sich an die Gurgel gingen – ein großes Kunststück.«

Sein Lob war Balsam für meine Seele. Seit meiner Ankunft schien ein Unglück auf das nächste zu folgen, und es war ermutigend, dass er trotz allem mehr in mir sah als nur diese Missgeschicke.

»Thandi hat viel von seinem Vater«, fuhr er fort. »Beide sind starke, charismatische Männer, die von Zeit zu Zeit ein wenig Mäßigung brauchen. Für sie ist es wichtig, zuverlässige Berater zu haben, die sie im Zaum halten. Für König Aturnicus bin ich ein solcher Berater, und ich hoffe, Ihr werdet es für Thandi sein.«

Ich nickte. Seine Augen bohrten sich so tief in mein Inneres, dass ich mich fast nackt fühlte. Casmiel besaß Amaranthines Stärke, war aber nicht so hart wie sie.

»Mein größter Wunsch ist es, dem Königreich mit Leib und Seele zu dienen«, sagte ich.

»Es freut mich, das zu hören«, sagte er. »Wenn Ihr zustimmt, will ich mir gerne die Zeit nehmen, um mit Euch jeden Tag nach der Reitstunde die politischen Angelegenheiten des Hohen Rats und des Reichs zu besprechen. Bei Euren ohnehin schon vollen Tagen wird das eine zusätzliche Belastung sein, aber ich kann sehen, dass Euch diese Themen wichtig sind. Ich wünsche mir sehr, Euch auf Eurem Weg zum Thron ein guter Freund und Mentor zu sein.«