Eine Liebe aus nichts - Barbara Honigmann - E-Book

Eine Liebe aus nichts E-Book

Barbara Honigmann

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Beschreibung

Unterwegs sein ohne anzukommen  "So ist unsere Liebe, weil wir immer getrennt voneinander lebten und wegen der wechselseitigen Forderungen, die nie erfüllt wurden, nur wie eine Liebe von weither geblieben, so als sei es nur ein Einsammeln von Begegnungen und gemeinsamen Erlebnissen gewesen und nie ein Zusammensein." Wie in einem Rondo, in traurigen und in komischen Variationen, kehrt in diesem Roman das Thema der Vergeblichkeit wieder. Erzählt wird die Geschichte von Vater und Tochter. Wie in ihrem preisgekrönten "Roman von einem Kinde" erklärt sich der "Zauber dieser verblüffend einfachen Prosa" (Marcel Reich-Ranicki) aus der Spannung zwischen ihrer Melancholie und den oft komischen Wandlungen des Lebens.

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Seitenzahl: 104

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Barbara Honigmann

Eine Liebe aus nichts

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© Barbara Honigmann 1991 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40378-8 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13716-4Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

So, wie er es in einem ...

Erst seit wenigen Monaten, ...

Als der Lastwagen vor meinem ...

Auf dem Stadtplan von Paris, ...

Manchmal ist es mir fast unmöglich ...

In den ersten Wochen in Paris ...

In meiner braunen Handtasche, ...

Hier klemmt mir der Briefträger die ...

In einer der Regennächte, als ...

Am Gare de l’Est war immer ...

So, wie er es in einem hinterlassenen Brief – nicht etwa einem Testament, nur einem Brief, ein paar Zeilen auf einem karierten Zettel – gewünscht hat, ist mein Vater auf dem jüdischen Friedhof von Weimar nach den Vorschriften begraben worden. Auf dem kleinen Friedhof, der ein Stück weit von der Stadt liegt, ist seit Jahrzehnten niemand mehr begraben worden, und man konnte sich über den Wunsch meines Vaters nur wundern, denn er hatte in seinem ganzen Leben überhaupt keine Verbindung zum Judentum und nicht mal einen hebräischen Namen. Der Kantor, den man aus einer anderen Stadt hatte kommen lassen müssen, ein Jude aus Saloniki, der meinen Vater gar nicht gekannt und nie gesehen hat, fügte deshalb an den entsprechenden Stellen des hebräischen Singsangs einfach den deutschen Namen und lächerlicherweise auch noch den Doktortitel ein, und er hat keine der endlosen Wiederholungen ausgelassen und nicht aufgehört, mit seinem sefardischen Akzent immer von neuem den Namen meines Vaters zu entstellen.

Es war schwer zu glauben, daß dort in dem Sarg mein Vater liegen sollte, ich dachte, ich müsse ihn noch einmal sehen, ich müsse jemanden bitten, den Sarg wieder zu öffnen, damit ich ihn noch einmal sehen könnte, aber ich wagte es nicht, weil ich Angst hatte, ihn tot zu sehen, so wie ich schon Angst gehabt hatte, ihn krank zu sehen, denn ich mußte mich ja fragen, warum ich nicht früher gekommen war, es nicht wenigstens versucht hatte, vielleicht wäre es möglich gewesen, die »Berechtigung zum Erhalt eines Visums« schon eher zu bekommen, aber ich hatte nicht einmal danach gefragt, aus Angst, vielleicht war aber auch etwas von Rache dabei, denn mein Vater hatte mich ja auch verlassen, hatte mich auch betrogen, und warum hatte er in seinem Brief Mord unterstrichen?

Nach dem Begräbnis bin ich noch einmal zum Schloß Belvedere hinaufgegangen, dort hat mein Vater mit seiner letzten Frau gewohnt. Sie war Direktorin des Schloßmuseums, das es in Wirklichkeit gar nicht gab, weil die Restaurierungsarbeiten im Belvedere nie aufgehört und eigentlich nie begonnen hatten. Ihre Wohnung war unter dem Dach, gleich neben dem Tischleindeckdich, einem Speiseaufzug, den Goethe für Karl August hatte installieren lassen, damit sie oben auf der Dachterrasse picknicken konnten. Aus dem Fenster sieht man über den Park von Belvedere, wo der Ginkgo Biloba steht, den auch Goethe importieren und pflanzen ließ und auf den er das so berühmte Gedicht schrieb. Der Baum sieht aber ganz unauffällig und mickrig aus, und mein Vater und ich haben uns bei unseren Spaziergängen durch den Park oft gefragt, ob es wirklich »dieses Baums Blatt« in dem berühmten Gedicht gewesen sein kann, doch so steht es ja überall geschrieben, und jedermann dort sagt es immerzu.

Ich wollte das Zimmer meines Vaters noch einmal sehen und mir ein Erinnerungsstück mitnehmen, aber es war schwer und trostlos, etwas herauszusuchen, seine Kleider lagen in dem Raum so verloren herum, wie sein Körper jetzt war, und auch all die anderen Gegenstände, die zu seinem Leben gehört hatten und eine Erinnerung daran trugen, erschienen mir nur wie abgefallene Stücke, die ihren Halt verloren und nun keinen Sinn mehr hatten; eine Weile werden sie noch hin und her geschoben, in die Hand genommen und dann doch wieder weggelegt. Das oder jenes nahm ich auf, sah es an, drehte und wendete es, ob nicht irgend etwas Lebendiges noch darin zu finden sei, das ich herauslocken könnte, wie ein kleines Kind, wenn es ein neues Ding findet und es schüttelt und ans Ohr hält und in den Mund nimmt und darauf beißt, weil es nicht weiß, woher seine Wirkung kommen wird, und noch alles von dem unbekannten Gegenstand erwartet. Aber ich begriff, daß die Erinnerung aus den Gegenständen herausgefallen war; jetzt würden sie weggeworfen werden oder weggeschenkt, und andere Leute können ihre Geschichte wieder neu hineinlegen, aber die Geschichte meines Vaters war darin zu Ende, in den Dingen hielt sie sich nicht mehr.

In einer Schublade fand ich ein kleines, in rotes Leder gebundenes Notizbuch, ein englischer Taschenkalender aus der Emigrationszeit, den nahm ich mir und außerdem die russische Armbanduhr, die er immer getragen hatte. Sie war ein Geschenk von Jefim Fraenkel, dem Germanisten aus Moskau, mit dem mein Vater in den ersten Jahren nach dem Krieg im Sowjetischen Nachrichtenbüro in der russischen Besatzungszone zusammengearbeitet hatte. Als das Sowjetische Nachrichtenbüro aufgelöst und Jefim Fraenkel nach Moskau zurückgekehrt war, wurde er ins Lager und in die Verbannung geschickt, aber das erfuhr mein Vater erst zwanzig Jahre später, als sie sich zum erstenmal wiedertrafen. Da besuchte Jefim Fraenkel ihn in Weimar, und bei dieser Gelegenheit hatte er ihm die Uhr geschenkt, und mein Vater hatte in der »Jugendmode« drei Paar Jeans für Fraenkels Söhne in Moskau gekauft.

Jetzt war die Uhr stehengeblieben und nicht mehr aufzuziehen, deshalb habe ich sie hier in Paris gleich zur Reparatur gebracht. Der Uhrmacher hat sie mir wieder hergerichtet, aber er machte abfällige Bemerkungen über die russischen Uhren; sie seien zwar solide, sagte er, aber im Inneren grob und ohne Kunstfertigkeit. Und dann hat er mich gefragt, ob ich von dort käme, und ich habe geantwortet, nein, nein, aber woher denn, daher käme ich nicht.

Erst seit wenigen Monaten, noch nicht mal einem Jahr bin ich in dieser Stadt, in Paris. Ich wohne im XIII.Bezirk in einem Souterrain, etwas Besseres habe ich nicht finden können. Von unten sehe ich auf die Straße hinauf, auf die Füße der Leute, die da laufen; am Anfang, als ich gerade angekommen war, liefen sie ohne Strümpfe und trugen Sandalen, denn draußen war es heiß, ein sehr heißer Sommer, aber drinnen, in meiner Wohnung, war es kalt und dunkel, weil das Fenster nur wenig über die Straße reicht und kaum Licht hereinläßt, und ich mußte mich warm anziehen, nicht, wie sonst, beim Hinausgehen, sondern wenn ich von draußen hereinkam. Ich saß in dem Zimmer wie in einer Sternwarte, um mich herum kreiste die Stadt, die ich nicht sehen konnte, und aus dem Fenster suchte ich wie mit einem Fernrohr die Straße vor mir ab nach dem, was nun anders werden sollte.

Jetzt habe ich wenigstens schon meine Möbel und Sachen aus Berlin. In den ersten Wochen gab es nur die kahlen Wände und ein Klappbett, das man mir geborgt hatte, und zum täglichen Leben ein Besteck, einen Teller, ein Handtuch, ein Glas und einen Hocker zum Sitzen. Wie im Gefängnis, dachte ich da, und nicht wie in der neuen Welt, und hatte nachts Alpträume von Kälte und Verbannung. Bald war ich mir schon gar nicht mehr so sicher, was ich denn nun hier anfangen will. Ja, ich hatte aus einem alten Leben in ein neues aufbrechen wollen, aus einer vertrauten Sprache in eine fremde, und vielleicht habe ich sogar so etwas wie eine Verwandlung erhofft.

Habe ich denn nicht mein ganzes Leben geseufzt, nach Paris! nach Paris! Und dann habe ich eines Tages in einem Zug gesessen, und der Zug ist irgendwo angekommen, und sie sagten, es sei Paris. Aus Lautsprechern schrie es mich an: Pariii Est! Pariii Est! Ich kam aus dem Osten, ja. Ich habe mich in dem Bahnhof, der sehr hell und sehr groß ist, umgesehen wie in einer neuen Wohnung, die man zum erstenmal betritt; man sieht die kahlen Wände an und fragt sich, was einen hier wohl erwartet und was man alles erleben wird, und ist ängstlich und neugierig zugleich und auch stolz, daß man sich in das Abenteuer gestürzt hat und daß es nun kein Zurück mehr gibt.

Aber schon, als ich aus dem Bahnhof in die Stadt hinaus wollte, war kein Weg da und keine Straße, nur eine lose Absperrung, eine Baustelle, Bagger, Kräne, lärmende Maschinen und eine riesige Baugrube; ich bin wieder in den Bahnhof hineingegangen und aus einem anderen Ausgang wieder hinaus, doch da standen auch nur wieder die Bagger, Kräne, lärmenden Maschinen und gähnte die riesige Baugrube, und ich bin noch durch hundert Eingänge und Ausgänge wieder herein- und wieder herausgehetzt, es war, als ob wirklich kein Zugang in diese Stadt hinein zu finden wäre. Plötzlich aber stand ich doch auf einem Platz, da fiel ein Boulevard direkt vom Bahnhof hinunter, ein Straßenfall, ein breiter Fluß mit bunten Schiffchen, und ich lief an seinen beiden Ufern hinauf und hinunter. Aber was nun? Eine kleine Verzweiflung hatte mich schon gepackt, eine Kopflosigkeit jedenfalls – wohin, wo entlang? Irgendwohin mußte ich ja nun, einmal angekommen, gehen, doch ich hatte ja noch nie daran gedacht, daß ich in eine richtige Stadt käme, mit großen Straßen, Avenuen, Bezirken, in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet, und müßte mich entscheiden, wo entlang, und es wäre nicht ein Ball von Träumen, der vor mir springt, und ich liefe ihm nach und holte ihn mir.

Aus meiner Höhle im Souterrain bin ich dann jeden Tag auf Streifzüge längs und quer durch die Stadt gegangen, über Straßen, Boulevards und Alleen und winzig kleine und riesengroße Plätze und durch schattige Parks, und habe mich in Kirchen und Cafés gesetzt, die am Wege waren, und habe die Linien der Metro abgefahren und ihre Gänge und Treppen und Tunnel kilometerlang durchlaufen, und manchmal bin ich auch in einen Vorortzug gestiegen und wieder hinaus aus der Stadt gefahren und in das flache Land hineingelaufen, mit einer Art Elan, der wie eine Wut war, als ob ich das Land überrennen und es mir unterwerfen könnte.

Und so hatte ich bald manches gesehen, was ich lieber nicht hätte sehen wollen, und fühlte mich überhaupt viel mehr wie ein Einwanderer nach Amerika vor hundert Jahren: Nun sitzt er auf Ellis Island, der verdammten Insel, hat sein ganzes Leben hinter sich abgebrochen und Amerika noch nicht mal mit einem Fuß betreten, aber er ahnt schon die grausamen Wahrheiten der neuen Welt und muß sich manchmal fragen, ob er nicht viel zuviel für viel zuwenig hergegeben hat. Ein Zurück in sein russisches, polnisches, ungarisches, litauisches oder sonst ein Dorf aber gibt es nicht mehr, ganz im Gegenteil, die Geschwister, Onkel, Tanten und Freunde wollen auch bald nachkommen, und dann soll er, der jetzt noch so erstarrt auf Ellis Island sitzt, doch etwas aufgebaut haben – ein neues Leben.

Manchmal bin ich mitten in der Stadt, in irgendeiner Straße, einfach in einen fremden Hauseingang hineingegangen und die Treppe hochgestiegen, als ob ich da wohnte und immer da hineinginge. Da waren breite Steintreppen und weiche Teppiche über den Stufen, so daß man ohne ein Geräusch von Schritten lief, und ich steckte die Nase auch noch aus dem Fenster nach hinten hinaus und sah einen heimlichen Garten, einen mit nicht zuviel Sonne und nicht zuviel Schatten, und plötzlich berührte mich ein ganz unbekannter Geruch, ein fremder, ohne Vergleich und ohne Erinnerung, als ob es vielleicht doch noch eine ganz andere Welt gäbe, in der nicht alles an alles erinnert.

Aber wenn ich so durch Straßen und Höfe ging und wollte nur einfach ein bißchen zuschauen, wie es so ist und was sie da machen, dann fühlte ich mich nicht gerade willkommen. Die Leute erschienen mir mißtrauisch, sie fragten gleich, ob ich jemanden suche, und wenn ich sagte, nein, niemanden, nichts, ich gehe nur so hier entlang, dann fanden sie das unpassend und überflüssig, und ich verschwand lieber wieder durch das nächste Tor.