Chronik meiner Straße - Barbara Honigmann - E-Book

Chronik meiner Straße E-Book

Barbara Honigmann

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Beschreibung

Barbara Honigmann lebt in Straßburg, weit weg vom berühmten Zentrum. Hier gibt es keine Parks, kein Europaparlament und keine Kathedrale. Was es gibt, ist Vielfalt: orthodoxe und weniger orthodoxe Juden, einen dreibeinigen Hund, eine ältere Dame, die nicht zurückschreckt vor der Bepflanzung fremder Balkone, einen dunkelhäutigen Priester in weißem Gewand und einen Splitternackten mit dem Po in der Sonne. Barbara Honigmann begegnet in ihrer Straße der ganzen Welt im Kleinen, erfährt von Tragödien, schließt Freundschaften, stellt sich den Enttäuschungen, aber auch Träumen ihrer Nachbarn. Ein Buch, wie es nur das Leben selbst schreibt.

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Hanser E-Book

Barbara

Honigmann

Chronik

meiner

Straße

Carl Hanser Verlag

ISBN978-3-446-24847-2

© Carl Hanser Verlag München 2015

2. E-Book-Version März 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Foto: Sabina Paries

Alle Rechte vorbehalten

Satz im Verlag

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Wenn wir sagen, daß wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.

Unsere Straße scheint also eine Straße des Anfangs und des Ankommens zu sein, bevor man nämlich in die besseren Viertel umzieht, die ruhiger sind und in deren Häusern nur zwei, drei Parteien wohnen, Häuser, die von kleinen oder größeren Gärten umgeben sind und in der Nähe von Parks liegen oder des Europa Parlaments, oder aus deren Fenster man einen Blick auf die Kathedrale hat oder auf die Ill, die ein Nebenfluß des Rheins ist und die Altstadt von Straßburg einschließt.

Von alldem hat unsere Straße gar nichts, Bäume oder Sträucher oder sonst etwas Grünes gibt es in unserer Straße nicht, keine Gärten, keine Parks in unmittelbarer Nähe, kein Europa Parlament, keine Kathedrale und keine Ill, dem Blick bietet sich nichts als die baumlose Straße und die gegenüberliegenden Häuser, von denen einige sehr häßliche Betonklötzer sind, schnell in eine Baulücke gesetzt; eine Freundin, die mit ihren Eltern hier auch am Anfang gewohnt hat, erinnert sich noch, daß sie als Kind in einer solchen Lücke Ball spielte.

Als wir einzogen, am Anfang, vor langer Zeit, sagten wir ja auch, das Haus ist häßlich, die Straße triste, die Gegend öde, nahe dem öden Neubauviertel, wir ziehen jetzt nur schnell ein, damit wir erst einmal einen Platz für uns und die Kinder und unsere Kisten und Kartons haben und unsere Koffer auspacken können, nach Wochen, in denen wir in provisorischen Unterkünften nur aus dem Koffer gelebt haben, und danach, bald, in den nächsten Monaten, werden wir in Ruhe eine neue Wohnung in einer anderen, schöneren Gegend suchen. Und haben nur das Nötigste ausgepackt, Küchengerätschaften und Kleider und Spielsachen und Bücher. Vieles andere ließen wir in den Kisten und Kartons liegen, wo es zum Teil immer noch liegt, denn wir sind hier nie ausgezogen und wohnen heute noch in der Straße, in der man eigentlich nur »am Anfang« wohnt.

Wahrscheinlich ist unsere Straße eine der östlichsten Straßen Frankreichs, denn sie liegt am östlichen Rand der Innenstadt, wo es nach Deutschland hinübergeht. In der Zeit, als Straßburg deutsch war, wurden gerade hier, in unserer Straße, die allerersten Sozialbauten der Stadt gebaut, ein Komplex aus hundertundeiner Wohnung im Stil der Gründerzeit, ein wohltätiger Bürgermeister hatte testamentarisch das Geld dafür gestiftet; nach ihm ist der Komplex Cité Spach benannt und wird heute von der SoCoLoPo, ja, so heißt dieser Verein, das ist natürlich eine Abkürzung, verwaltet, wie man auf einer dort angebrachten Plakette lesen kann. Nachdem die Fassaden vor zwanzig Jahren in hellem und dunklem Ocker restauriert und den Wohnungen Badezimmer eingebaut worden sind, erhielt das Ganze gleich die Weihe eines historischen Monuments, es steht seitdem unter Denkmalschutz und sieht natürlich viel schöner aus als die häßlichen neuen Betonklötzer und auch als unser Haus. Wenn ich jemandem den Weg zu uns beschreibe, sage ich immer, du findest es ganz leicht, unser Haus, denn es ist das zweithäßlichste Haus in der ganzen Straße, das häßlichste steht gegenüber und gehört der Telekom.

Der Zugang zu dem historischen Komplex der hundertundeins Wohnungen von unserer Straße sieht wie eine Einfahrt aus, ist aber in Wirklichkeit keine und deshalb unser bester Parkplatz, von uns »die falsche Einfahrt« genannt, gegenüber einem winzigen Restaurant, das sich irgendwie italienisch gibt und das wir »Tomate« nennen. Die »falsche Einfahrt« ist oft verstellt mit Sperrmüll, alten Kühlschränken, Matratzen, halben Wohnungseinrichtungen oder bloßem Müll, da sieht es dann dort fast nach Slum aus. Noch dazu stehen in der kleinen Straße, die den Komplex durchquert, Tag und Nacht Dealer herum, und zwar unmittelbar neben der Kinderkrippe; seit Jahrzehnten ist das schon so, die Kinderkrippe und die Drogenszene existieren friedlich nebeneinander, die Krippe hat in der Stadt sogar einen sehr guten Ruf, es scheint, auch die Dealer und die Mütter leben unter einer Art Denkmalschutz, in einer Entente, die noch nie gebrochen worden ist. Das chinesische Ehepaar allerdings, die Besitzer des Restaurants Fleur de lotus am anderen Ende des Durchgangs, wurde neulich ermordet in der Küche gefunden; der Bruder der Frau soll diese Tat mit den Küchenwerkzeugen, den gewetzten Messern und einer Fleischhacke, vollbracht haben, auf eine ganz grausliche Weise, es habe in der Küche wie in einem Schlachthaus ausgesehen, wurde erzählt. Ein paar Tage danach lagen Blumen und brannten Kerzen vor dem geschlossenen Restaurant Fleur de lotus.

Autos haben in unserer Straße aber nur einmal gebrannt, es ist noch kein richtiges Ghetto hier, sondern nur eine sehr gemischte Gegend. Allerdings hauchen oft uralte Autos, vorsintflutliche Modelle mit antiken Nummernschildern, ihr Leben in unserer Straße aus, als seien sie hier zum Sterben abgestellt, und erst nachdem sie vollständig Stück für Stück ausgeräumt worden sind, läßt die Gendarmerie die Wracks schließlich abschleppen.

Am nördlichen Ende der Straße ist eine ehemalige Kaserne vor einigen Jahren in eine European Business School umgewandelt worden, von uns Wiwifak genannt, wie die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Berlin-Karlshorst, wo ich als Kind wohnte, genannt wurde; sie befand sich auf der anderen Seite des durch S-Bahn-Gleise getrennten Berliner Bezirks, »hinter dem Bahnhof«, wohin wir von »vor dem Bahnhof« eigentlich nie einen Fuß setzten, so daß wir die Wiwifak nur vom Hörensagen kannten. Natürlich gibt es auch hier in Straßburg Stadtviertel, die ich noch nie betreten habe und deren Bewohner mir noch mehr als Ausländer vorkommen als die Leute von dem fremden Volk mit der noch nie gehörten Sprache, die im Nebenhaus wohnen.

Am südlichen Ende der Straße befindet sich die École internationale, und der Universitätscampus liegt auch nicht weitab. Von den beiden Nebenstraßen, die von unserer Straße abgehen, führt die eine zur Brasserie de l’observatoire und die andere zur Haltestelle der drei Straßenbahnlinien, die in die Innenstadt und die fernen äußeren Stadtteile führen, die wir nie betreten.

Viele Völker wohnen in unserer Straße, und man hört sie in vielerlei Sprachen sprechen. Abgesehen davon, daß die ganze Gegend mit der Zeit immer mehr zu einem jüdischen Viertel geworden ist, liebevoll das zweite Ghetto genannt, leben hier sehr viele Araber, Türken und Kurden, dazu Schwarze in allen Abstufungen von Schwarz, die oft in bunten langen Kleidern und hoch aufstehenden Kopfgebinden daherkommen, und manchmal sieht man auch einen schwarzen Priester im langen, schneeweißen Gewand mit einem goldenen Kreuz darüber durch unsere Straße eilen. Es gibt Pakistani, Inder und Sikhs mit Turbanen und Frauen in Saris, Asiaten, die vielleicht Chinesen oder Japaner oder Koreaner sind, das kann ich nicht erkennen, Portugiesen, Russen und andere Osteuropäer, Albaner, Rumänen, Bosnier. Aber sie drängen sich hier nicht wie in einer Großstadt, Paris etwa, sie laufen gemächlicher und in geringerer Anzahl, wir sind ja hier in der Provinz. Seit dem Kopftuchverbot vor einigen Jahren, haben alle Formen der Verschleierung noch zugenommen, man sieht steife Burkas und fließende Schleiergewänder, doppelte und dreifache Schichtungen in Schwarz oder Dunkelbraun oder das wie ein Zelt wirkende völlige Verhängnis, manchmal auch einfach ein festgezogenes Tuch zu knallengen Hosen und Stöckelschuhen, am meisten aber kopftuchtragende Frauen in dicken unförmigen schwarzen oder braunen Kleidermänteln, bei denen der einzige Farbfleck von dem Werbeprospekt kommt, den sie in der Hand halten und so aufmerksam studieren, als sei es eine heilige Schrift. Sie treten meist als Gruppe auf, die die ganze Breite des Trottoirs einnimmt und sich einem unausweichlich entgegenschiebt, so daß nichts anderes übrigbleibt, als auf die Fahrbahn auszuweichen; da gibt es kein Arrangement, wie wir uns nun den Bürgersteig aufteilen, bitte, danke, Verzeihung, es geht schon, gern geschehen, nein, nur Flucht ist möglich. Wenn ihnen allerdings ein Mann ihres eigenen Stammes entgegenkommt, habe ich beobachtet, öffnen sie die Phalanx, springen geradezu auseinander, weichen zu beiden Rändern des Trottoirs aus und lassen ihn, in einer gut eingeübten Choreographie, vorbeigehen, als nähme er die Parade ab. Natürlich muß er dafür auch entsprechend aufgeplustert daherkommen; ist es nur ein alter marokkanischer Arbeitsloser, muß auch er auf die Straße ausweichen wie ich. Nach irgendeinem Gesetz der Wahrscheinlichkeit kann es auch passieren, daß ich zehn Minuten am Fenster stehe und nur eine einzige Gruppe sehe, nur Schwarze oder nur Verschleierte oder irgendeine andere bestimmte ethnische Gruppe.

Und schließlich leben außer den vielen Völkern auch noch jene hier, die wir das »andere Frankreich« nennen, die nämlich unförmig und dick, ohne savoir vivre, ohne Chic und Charme, mit struppigem Haar und in Pantoffeln übers Trottoir schlurfen und im SoCoLoPo-Komplex aus hundertundeiner Wohnung mit den Schwarzen und Arabern wohnen.

Wie auch sonst in der Weltgeschichte haben sich die Völker in verschiedenen Wellen hier niedergelassen. Die Juden kamen schon mit den Römern den Rhein herauf und haben mit ihnen in der keltisch-germanischen Rheingegend gesiedelt, dann kamen die Franken und Alemannen, viel später Portugiesen, Araber und Berber aus Nordafrika und Schwarze aus den ehemaligen Kolonien, Türken und Kurden, meistens über Deutschland eingewandert, seit dem Mauerfall und den Jugoslawien-Kriegen Osteuropäer und als letzte und immer zahlreicher, durch ihr Aussehen leicht erkennbar, Asiaten, Inder und Pakistani, Chinesen, Japaner und Koreaner, und ganz zuletzt kamen und kommen immer noch Familien kaukasischer Völker. Nachdem das Elsaß von Ludwig XIV. zu Frankreich geschlagen und dann noch ein paarmal zwischen Frankreich und Deutschland hin- und hergeschoben wurde, aber nun seit ziemlich langer Zeit wieder zu Frankreich gehört, sind naturgemäß auch sozusagen richtige Franzosen eingezogen, solche, die man hier »Innerfranzosen« nennt und die diese Identität stolz vor sich her tragen; von früh bis spät beklagen sie sich darüber, wie exiliert sie sich hier fühlen, so als seien sie auf die Toteninsel verbannt, und blicken auf die eingeborenen Elsässer herab, deren Akzent, über den schließlich ganz Frankreich lacht, sie nicht verstehen zu können vorgeben und die sie dick und deutsch finden, was beides natürlich abwertend gemeint ist.

Es ruft, redet, spricht, brüllt und schreit in unserer Straße in unzähligen fremden Sprachen, von denen manche nie gehört und an nichts erinnernd klingen. Ein französisches Wort aber gibt es, das zwischen den fremden Worten regelmäßig immer wiederkehrt: merde!

Das ist der Charme unserer Straße – merde!

Eine Straße des Ankommens und Anfangens und des Hängenbleibens ist sie eben, unsere Straße. Wir wissen ja nicht genau, was die Leute meinen, wenn sie sagen, ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt. Wahrscheinlich meinen sie, tja, manche schaffen es und manche schaffen es eben nicht, aus dieser Straße herauszukommen und in bessere Gegenden zu ziehen. Unsere Straße gehört jedenfalls gar nicht zu einer besseren Gegend. Es gibt sogar Zeiten, in denen wir ihren völligen Absturz befürchten, aber es gibt auch Zeiten, in denen wir sie im Aufschwung erleben. In Wirklichkeit ist es wohl immer beides zugleich, sie schwingt sich nie zu wirklicher Höhe auf und stürzt dafür auch nie völlig in den Abgrund.

Die vielen Völker, die sich hier niedergelassen haben, vermischen sich wenig, ja, sie gehen sich buchstäblich aus dem Weg, laufen auf der Straße aneinander vorbei, nur bei dem neuen Kurden an der Ecke treffen sie sich manchmal; sobald auch nur ein bißchen Sonne scheint, stellt er in einer offensichtlichen Friedensmission Stühle und zwei Tische vor seinen kleinen Laden, und die Leute setzen sich, essen, trinken und reden miteinander. Das wirkt schon viel friedlicher, als wenn die jungen Leute aus dem SoCoLoPo-Komplex von hundertundeiner Wohnung vor der »falschen Einfahrt« herumstehen, ihre Bierflaschen auf den Autos abstellen oder diesen sogar Tritte geben oder aber mit den Einkaufswagen vom Supermarkt dazwischen herumturnen.

Der Kurde spricht schlecht und mit sehr hartem Akzent Französisch, aber er ist mit allen im Gespräch und strahlt Entspannung aus, die es hier braucht, um zwischen den vielen Völkern und dem »anderen Frankreich« zu vermitteln. Wenn es im Sommer richtig heiß wird, stellt er die Stühle auch noch auf der anderen Straßenseite auf, die nämlich am Nachmittag im Schatten liegt, und improvisiert eine »Terrasse« direkt vor der »falschen Einfahrt«. Er mißachtet dabei selbst das Sonntagsruhegebot, das noch aus der Zeit stammt, als das Elsaß deutsch war und Deutschland einen Kaiser hatte, und von späteren französischen Regierungen genausowenig angetastet wurde wie das Konkordat, das ansonsten heute weder in Frankreich noch in Deutschland mehr Gültigkeit hat. Manchmal sehe ich am Sonntag einen Polizeiwagen vor dem Laden des Kurden halten und die Polizisten hineinstürmen und denke, oh, der Arme, jetzt haben sie ihn dran, sie werden seinen Laden schließen, er muß Strafe zahlen. Aber nach wenigen Minuten sehe ich die Polizisten gutgelaunt, mit gefüllten Einkaufsbeuteln oder einem Döner in der Hand, wieder aus dem Laden kommen, um ihre Sonntagspatrouille fortzusetzen.

Vor einigen Jahren bedienten noch zwei kurdische Brüder in dem Laden, wahrscheinlich waren es sogar Zwillinge, jedenfalls glichen sie sich wie ein Ei dem anderen, und obwohl der eine einen Schnurrbart trug und der andere nicht, konnte ich sie doch nicht auseinanderhalten und mußte auf Zeichen und Andeutungen warten, um das eine oder andere Gesprächsthema wiederaufzunehmen. Zu einem Gespräch waren sie immer aufgelegt, wir erzählten uns dies und das aus unseren Leben und tauschten Beobachtungen und Betrachtungen zur Lage in der Straße, in der Stadt und in der Welt aus, aber ich wußte oft einfach nicht mehr, mit welchem von beiden ich welches Thema besprochen hatte, um daran anzuknüpfen. Welcher war der mit den Rückenproblemen, dem ich Yoga, und welcher der, dem ich die Sprachkurse an der Volkshochschule empfohlen hatte. Als sie einmal gerade beide im Geschäft waren, fragten sie mich, welchen Beruf mein Mann habe, und froh, daß sie mich nicht nach meinem eigenen Beruf fragten, sagte ich, er leite ein Archiv. Sie wußten aber nicht, was ein Archiv ist, und ich erklärte etwas von Geschichte und Dokumenten, die da aufgehoben werden, für die Zeit, in der die Dinge und Geschehnisse, die vorher vielleicht banal erschienen, ihre Wichtigkeit aus der Rückschau bekommen. Das fanden sie interessant, und als ich das nächste Mal bei ihnen einkaufte, kamen sie noch einmal darauf zurück und fragten, »vielleicht weiß Ihr Mann ja auch etwas von unserer Geschichte?« Ich sagte, mit der Türkei kenne er sich nicht so aus, allerdings sage er oft, er würde gerne einmal nach Istanbul fahren, worauf die beiden Brüder erwiderten, daß auch sie noch nie in Istanbul gewesen seien, sie kämen aus dem hinteren Süden der Türkei, aus Kurdistan, seien dort auch nur vier Jahre zur Schule gegangen und wüßten nicht viel, eigentlich überhaupt nichts von ihrer eigenen Geschichte, der kurdischen.

Ich hatte gerade ein Sechserpack Evian-Wasser gekauft, da fragten sie noch, Madame, sagen Sie mal, wieviel so etwas im Supermarkt kostet. Ich sagte, das weiß ich nicht, weil ich immer nur kaufe, was ich brauche, und dann nicht auf den Preis achte. Das konnten sie nicht glauben und insistierten, »vielleicht vierzig Cents die Flasche?« Ich zuckte die Achseln. »Fünfzig?« Ich beteuerte noch einmal, ich weiß es einfach nicht, wirklich nicht, keine Ahnung. »Wir geben Ihnen die Flaschen also für je vierzig Cents, zwei Euro vierzig der Pack«, sagten sie, »ist das in Ordnung?« Ich sagte, ja, in Ordnung, aber ich möchte nicht schuld daran sein, daß sie schlechte Geschäfte machten. »Aber nein, Madame!«

Und seitdem verkauften sie mir alles etwas billiger. Jedenfalls solange sie die »Geschäftsführer« in dem Laden waren, denn nun hat ihn schon seit langem ein Onkel, Cousin oder Schwager übernommen, ebender, der die Stühle und Tische aufs Trottoir stellt. Dieser Wechsel geschieht pünktlich in einem Vierjahresrhythmus, wie ich beobachtet habe, als hätten sie in jeweils vier Jahren das Maß aller Möglichkeiten unserer Straße ausgeschöpft, in der man nur am Anfang wohnt, bevor man etwas Besseres, in einer anderen Straße, in einer schöneren Gegend findet.

Am Anfang, in den ersten Wochen in Straßburg, sind wir oft hinausgelaufen, um die Stadt zu erkunden, die wir bis dahin nur von Goethe aus Dichtung und Wahrheit kannten, aber im Gegensatz zu ihm, der vor dem Münster geradezu in Tränen ausgebrochen sein soll, weil er in dessen Architektur »Deutsche Baukunst« zu entdecken meinte, erschien uns hier alles sehr französisch. Wir hatten einen großen Umzug hinter uns, waren aus Berlin gekommen, noch dazu aus dem Osten, und erfuhren hier zum erstenmal den Westen, den wir wiederum nur aus dem Fernsehen kannten, die Konsumwelt, die wir überhaupt nicht kannten. Wir standen wie Idioten vor den überquellenden Regalen der Supermärkte und befürchteten, wir würden nie lernen, mit dem neuen Westgeld umzugehen, ängstlich notierten wir alle Ausgaben in ein Ausgabenheft und rechneten und rechneten nach, bis Peter eines Tages das Heft wegwarf und erklärte, wir müssen nicht sparen, wir müssen verdienen. Im Osten, aus dem wir kamen, war es ja nicht das Geld, das den Dingen seinen Wert gab, zu kaufen gab es wenig, und wir lebten darüber hinaus in einer parallelen Welt, in der ganz andere Werte zählten, Vertrauen, Freundschaft, Poesie. Wir fragten uns, was sie an der Wiwifak in Karlshorst denn eigentlich gelehrt hatten, da es doch damals, dort, gar keine Wirtschaft gab, die diesen Namen wert gewesen wäre.