Eine Stadt aus Papier - Robert Mirco Tollkien - E-Book

Eine Stadt aus Papier E-Book

Robert Mirco Tollkien

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Beschreibung

In seiner finsteren Bleibe erscheint dem Junkie eine pyramidenförmige Kreatur. Im Herzen des neuen Computers existiert eine gänzlich andere Form von Leben. Ein Fremder spricht in einem Park gar prophetische Worte. Nach der Drogenorgie verändert sich die Welt des Durchschnittsmenschen. Ein Außenseiter ergreift die Flucht in den Mikrokosmos. Auf der Lichtung im Nadelwald verkündet eine wimmernde Pyramide Unheil. In den letzten Augenblicken zeigt der ehemals Mächtige Reue. Ein unbekanntes Virus verändert die Millionenstadt über Nacht. Zum späten Abend mischt sich der höhere Finanzbeamte einen ganz speziellen Cocktail. In der Zukunft kämpft der Ingenieur auf blasphemische Art gegen die Überbevölkerung. Im Keller der Villa schlummert die finstere Maschine. Die Rollerfahrt endet im Paralleluniversum. Das Schreiben von Kurzgeschichten hat in anderen Welten gravierende Folgen. Das Spiel mit Papierrollen greift ein in die Raumzeit. Nur wenige Meter Deckschicht trennen Idylle und Hölle. Fünfzehn fantastische Kurzgeschichten zwischen dieser Welt und jener dahinter.

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Eine Stadt aus Papier

Eine Stadt aus Papier; KurzgeschichtenÜbersicht der ErzählungenSpieler und PyramidenkreaturDas Ding im NadelwaldKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Die WiedergeburtDie Ranke der schwarzen PflanzeSie sind überall!Keine normale LiebeKapitel 1; Streamingdienste und VerblödungsfernsehenKapitel 2; Hand in Hand in LichtgeschwindigkeitKlausKapitel 1; die EckkneipeKapitel 2; Im WasserhausKapitel 3; Whiskey, Tavor, ValiumKapitel 4; der alte Mann mit der Bibel, die Polizisten und der TraumKapitel 5; der lebende Tote auf dem DesignerbettKapitel 6; das Futter der MaschineKapitel 7; die Kunst, sich selbst zu belügenDer EntzugDas VirusKapitel 1; über den DächernKapitel 2; im AutomatencasinoDiMiZoJa-RegenDie erste Welle der DigitalisierungPapierrolle und GedankenskateboardRollerfahrt zwischen die SterneMadonnenländchenKapitel 1; der Fremde im SchnellrestaurantKapitel 2; der Fund in der blauen TascheKapitel 3; die DienstreiseKapitel 4; das PumpenhausKapitel 5; das GemäldeKapitel 6; die StatueKapitel 7; der Wurm im ZylinderKapitel 8; die BerührungKapitel 9; der ChoralEine Stadt aus PapierKapitel 1; die Ängste des HeinrichsKapitel 2; Buchstaben und GalaxienImpressum

Eine Stadt aus Papier; Kurzgeschichten

Eine Stadt aus Papier

und weitere fantastische Kurzgeschichten

von Robert Mirco Tollkien

Koblenz am Rhein; 2022 

Das Buch ist in Liebe und Dankbarkeit meiner Frau, meiner Familie und den wenigen Menschen gewidmet, die ich tatsächlich Freunde nennen kann.

Cover; Lichtbild aus privater Quelle, Pixabay

Übersicht der Erzählungen

Spieler und Pyramidenkreatur

Dennis Welt besteht aus sadistischen Videospielen, Alkohol und billigen Chemodrogen. Wegen Provisionsbetruges wird er entlassen. In seiner abgedunkelten Bleibe erscheint ihm darauf die Pyramidenkreatur. Sie rät ihm, doch bitte an seine alte Arbeitsstätte zurückzukehren.

Das Ding im Nadelwald

Über Nacht erscheint auf der Lichtung im Nadelwald eine wimmernde Pyramide. Ihr Gesang verheißt die Erfüllung der geheimsten Träume. Tatsächlich aktiviert er die versteckten Ängste und fördert die finstersten Charakterzüge zu Tage. Unheil bringt das Gebilde somit über die Bewohner einer nahen Kleinstadt. Ein Junge jedoch kann sich ihrem blasphemischen Einfluss entziehen.     

Die Wiedergeburt

Im Herzen des Rechners schlummert der Überrest einer uralten Spezies. Mit fließender Energie kehrt das Leben zurück. Doch grausam und klar sind die Erinnerungen an den Sündenfall der Art.

Die Ranke der schwarzen Pflanze

Der Geruch von Kölnisch Wasser steigt in die Nase. Nach dem Sport schmerzt der Arm. Ein Arzt verabreicht teure Medizin. Im Park prophezeit ein Fremder gar Schreckliches. Dann fangen die Bewegungen unter der Haut an.

Sie sind überall!

Aus dem Feierabendbierchen nach der Frühschicht wird eine tage- und nächtelange Orgie mit Schnaps und harten Drogen. Seltsame Dinge erzählt ein Besucher dabei. Kurz nach dem Gelage beginnt das Grauen.

Keine normale Liebe

Unter den Mitmenschen ist Robin ein Außenseiter. Was der Allgemeinheit Freude bereitet, tut ihm weh. Als am anderen Ende der Republik ein kleines Mädchen verdurstet, verlässt Robin diese Welt, um im digitalen Mikrokosmos Erlösung zu finden. 

Klaus

Durch die Hilfe der geheimnisvollen Zutat Dionysos steigt Klaus Maderer vom ehemaligen Obdachlosen zum leuchtenden Stern der globalen Gastronomieszene auf. Doch der Erfolg ruht auf einem gar finsteren Fundament. Als Klaus lediglich noch ein zitterndes Wrack ist, stößt ein alter Freund im Keller von dessen Villa auf das Geheimnis des sagenhaften Erfolges. 

Der Entzug

Balancierend zwischen der realen Welt und jener dahinter taumelt der ehemals Mächtige durch den Park. Der Entzug der wundersamen Droge tötet ihn unter unbeschreiblichen Schmerzen. Er befindet sich auf der letzten Suche; der Suche nach Erlösung und Vergebung. 

Das Virus

Aus einem finsteren Labor entweicht das Virus. Es reagiert auf die Oberflächlichkeit der Menschen. Die Befallenen zersetzt es in ihre Atome. Kurz darauf tritt die depressive Taxifahrerin Secil in eine fremdartige Welt hinein.  

DiMiZoJa-Regen

Jens ist ein wohlhabender, jedoch zutiefst unglücklicher und gebrochener Mann. Jeden Abend schießt er sich vor dem Zubettgehen mit einem Cocktail aus Alkohol und Medikamenten aus dieser Welt. Dabei erscheint ihm eines Nachts die Pyramidenkreatur. Sie verwandelt sich in ein Sturmgewehr.

Die erste Welle der Digitalisierung

In der Zukunft lebt die Menschheit unter der Knute einer technokratischen Diktatur und ist eingeteilt in drei Klassen. Gewaltige Probleme machen eine zerstörte Umwelt und Überbevölkerung. Um der Sorgen Herr zu werden, setzt ein Wissenschaftler auf Befehl in einem Sperrgebiet eine blasphemische Maschine in Gang.  

Papierrolle und Gedankenskateboard

Auf einem fliegenden Skateboard surft der Namenlose durch eine bizarre Höhle voller Schriftrollen. Dessen Spiel mit dem Papier, dem Schlägel und der Stimmgabel verändert das Verhältnis der Raumzeit zunächst lediglich leicht. Doch er spielt weiter und dann rappelt es gar arg.

Rollerfahrt zwischen die Sterne

Seine geliebte Frau lebt in einem Paralleluniversum fort. Durch die Kunst der Geometrie und auf einem 50er-Motorroller gelangt der Wissenschaftler in diese gänzlich andere Welt. Seinen orientierungslosen Freund nimmt er direkt mit sich.

Madonnenländchen

Unter wundervolle Idylle liegt ein unheilvolles Labyrinth. Es ist dieses eine Welt der finsteren Götter, grellen Drogen und tiefsten menschlichen Abgründe. Sämtliche seiner Pfade führen in den Wahnsinn. Ein kleiner Kaufmann gerät durch Zufall hinein. 

Eine Stadt aus Papier

Um Ängste und Depressionen in die Knie zu zwingen, beginnt Heinrich mit dem Schreiben fantastischer Geschichten. Doch in einer weit, weit entlegenen Welt zieht das gravierende Folgen nach sich.

Spieler und Pyramidenkreatur

Wenn der mondgesichtige Dennis sein hinterhältiges, hämisches Grinsen aufsetzte, wussten die Kolleginnen und Kollegen in diesem Großraumbüro, dass er wieder einen Neuvertrag unter Dach und Fach und dadurch Provision auf sein Bankkonto gebracht hatte.

„Genau, Sie haben das ganz richtig verstanden, Frau Friede. Sie zahlen für alle Ihre Verträge, Internet, Telefon, Fernsehen und Mobilfunk nur noch 14,99 Euro! Und ich gebe Ihnen noch drei Freimonate obendrauf! So günstig sind Sie bei keinem anderen Anbieter als bei uns!“, sprudelte es aus ihm hervor.

Mit dem Headset auf dem runden Kopf ähnelte er einer Figur aus einem zweitklassigen Science-Fiction-Film oder einem überdrehten Comic.

Dilek, seine Sitznachbarin, stellte ihn sich im Cockpit eines Raumschiffes voller leerer Bierdosen und Pizzakartons vor, während im Unterdeck eine billige Alien-Imitation umherschlich, um die Besatzung, die selbstverständlich aus B-Schauspielern bestand, in zweitklassigen Splatterspezialeffekten zu dezimieren.

Natürlich würde die gute, alte Frau Friede in näherer Zukunft nicht 14,99 Euro für alle ihre Verträge bezahlen. Dieser Betrag käme als zusätzlich Gebühr für einen neuen Receiver hinzu. Die Freimonate auf die alten Produkte jedoch kaschierten diesen Zustand und bei der ersten wahren Rechnung wäre es für einen Widerruf längst zu spät. 

„Aber nein, gute Frau, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass Sie zu alt für dieses Gerät sind! Meine Großmutter ist vierundachtzig Jahre alt und hat auch eine 4K-Box. Sie nutzt dieses Gerät täglich. Es sorgt dafür, dass sie keine ihrer Schlagersendungen verpasst. Meine Oma kann ohne die 4K-Box schon gar nicht mehr leben!“, jubelte Dennis in das Mikro und seine schweißigen Hände rieben sich an den Oberschenkeln seiner verwaschenen Jeans.  

Tu dir bitte selbst einen Gefallen und schau in drei Monaten nicht auf deinen Kontoauszug, dachte Dilek in Richtung der gesichtslosen Kundin, die sie niemals kennenlernen täte. Dann nahm sie eine Wolke aus Männerschweiß und rauchiger Kleidung wahr. Dennis besaß eine Abneigung gegen das Duschengehen und sehr ähnlich verhielt es sich dann auch mit dem Waschen seiner Klamotten. Die werten Kolleginnen und Kollegen, sogar eine Teamleiterin dieses Call Centers hatten Dennis bereits mehrfach gesagt, dass sein Körper- und Kleidungsgeruch nicht angenehm sei, doch den interessierten diese Aussagen ganz entschieden nicht. Seine Reaktion darauf war stets Schweigen in Kombination mit diesem falschen, hinterhältigen Lächeln gewesen.

Obgleich jeder von seinen Betrügereien wusste, befand sich Dennis augenblicklich kilometerweit von der Entlassung entfernt, denn viel zu wichtig waren seine Verkaufszahlen für die Abteilung. In einer Einrichtung für telefonischen Kundenservice und Vertrieb heiligte der Zweck die Mittel mehr als anderswo. Wäre sein widerwärtiger dauerhafter Gestank nicht gewesen, hätten die Vorgesetzten ihm gar den runden Kopf mit den kurzen blonden Haaren darauf getätschelt.

Dennis arbeitete in einer permanenten Spätschicht, weil es so oder so kein soziales Leben gab, welches irgendwelche Erwartungen an ihn stellte. Seine Welt bestand lediglich aus dem stets abgedunkelten Apartment in einem grauen Vorort dieser Großstadt und dem Gamer-PC darin. Es war eine flimmernde Welt aus gewalttätigen Online-Videospielen und Menschen außerhalb der Arbeitsstätte kannte er nur durch kurze Kommunikationsstränge innerhalb der virtuellen Szenerien. Angereichert wurde dieses Leben durch den regelmäßigen Konsum billigen Amphetamins und reichlich Bier aus Plastikflaschen.

An diesem Abend verließ er pünktlich um 23:00 Uhr mit sieben Neuverträgen und vier Upgrades, die von Seiten der Kunden eher unfreiwillig als andersrum zustande gekommen waren, das Großraumbüro und fuhr auf dem Roller die sieben Kilometer nach Hause. Wenn er auf dem recht schmalen Gefährt hing, sah der außenstehende Betrachter erst, wie aufgedunsen und verquollen Dennis tatsächlich war. In der kalten Außenbeleuchtung einer herbstlichen Nacht warfen Moped und Fahrer unheilvoll wirkende Schatten auf den dunklen Asphalt der Fahrbahn, während die Geräusche des 50Kubik-Motors einer kreischenden Zwiebacksäge glichen.

Seine winzige Nische auf dieser weiten Erde roch nach ungewaschenen Socken, kaltem Tabakrauch, getrocknetem Schweiß und ranzigem Bier. Plakate gequälter menschlicher Gesichter hingen ungerahmt an den nikotingelben Tapeten; in unvorstellbaren Schmerzen verzogene Grimassen.

Mittelpunkt dieses finsteren Reiches war ein großer Schreibtisch mit zwei hochauflösenden 19-Zoll-Monitoren darauf. Dennis warf Rucksack und Helm achtlos zu Boden und nahm sofort davor Platz. Der Spiegel, ein Werbegeschenk der Firma Coca-Cola, mit der schmutzig gelben Droge lag stets neben der bunt leuchtenden Tastatur bereit. Gleich eines Schweines vor dem Futtertrog fiel Dennis darüber her, ballerte sich gierig eine breite Linie in den runden Kopf, wobei er schniefende Laute erzeugte. Dann stürzte er sich in die Welt der Spiele des Schattennetzes, kommunizierte via Headset mit anderen Menschen, die auf derselben dunklen Seite einer parallelen Welt aus Bits lebten und beinahe gar nichts anderes mehr kannten. Für sie stellte dieses Universum mehr Realität als die Welt jenseits davon dar. Sie waren hineingeraten, hatten sich dort heimisch gemacht, und nun führte kein Weg mehr hinaus. Gemeinsam oder gegeneinander schlachteten sie alles ab, was ihnen vor die Waffen kam; Männer, Frauen, Kinder, Greise. Grafik und Effekte besaßen für den Außenstehenden beinahe beängstigende Qualität.

Rasch entfaltete sich die geliebte Wirkung der geliebten Droge. Rasch wurde ein Bier geöffnet, dem schnell ein zweites und ein drittes folgte. Linie reihte sich an Linie, so dass bald feststand, Dennis täte auch diese Nacht keinen Schlaf bekommen. Es war bereits die dritte hintereinander.

Wie er da so hockte, kerzengerade in seinem Drehstuhl, kam es ihm gelegentlich vor, als bewegten sich Konturen unter den Displays der Monitore, welche die Oberflächen leicht verformten; angedeutete Pyramidenstücke in diversen Größen. Für einen Unbekannten wäre verstörend gewesen, dass Dennis sich nicht einmal darüber wunderte. Manchmal setzte er sich eine virtuelle Realitätsbrille auf, was ihm noch mehr das Aussehen einer überdrehten Comicfigur verlieh, als es das Headset auf der Arbeit tat.

Apropos Arbeit, liebe Leserinnen und Leser; dort fand er sich nach einer für ihn undefinierbaren Zeitspanne am nächsten Tag wieder zur Spätschicht ein, um die Kundinnen und Kunden dieses Telekommunikationsgiganten nach Strich und Faden zu betrügen. Beim Betreten des Servicecenters und dem Durchqueren des Foyers drehten sich Kollegen angewidert ab. Sein Körpergeruch wurde immer schlimmer.

Bevor er sich an seinen Arbeitsplatz setzen konnte, stand der langhaarige Abteilungsleiter plötzlich neben ihm und forderte, dass Dennis bitte mit ins Büro kommen solle.

Dort hingen Urkunden und Bilder an der Wand, die zumeist etwas mit erfolgreichen Sport- oder Vertriebsaktionen zu tun hatten. Auf einem gerahmten Foto stand die Fußballmannschaft dieses Call Centers auf einem Rasenplatz in der Abendsonne und reckte einen Pokal aus Pseudogold in den Himmel. Unter diesem Foto, Dennis konnte es von dem Platz, den der Abteilungsleiter ihm angeboten hatte, deutlich ausmachen, bewegten sich die diversen Pyramidenteile, standen im Begriff, durch die glänzende Oberfläche zu brechen.

Der Abteilungsleiter berichtete, die FRAUD-Abteilung in Erfurt habe entdeckt, dass Dennis bei Internet- und Telefonverträgen Rechtschreibfehler in die Namen der Kunden eingebaut oder deren Vor- und Nachnamen vertauscht habe, um unter einer weiteren Kundennummer einen Neuvertrag zu generieren, damit die volle Provision ausgeschüttet würde. Dieses sei jedoch ein schwerer Betrug, der von der Geschäftsführung mit fristloser Kündigung geahndet werde. Man habe die Angestellten mehrfach davor gewarnt, solche Aktionen zu tun. Es täte ihm leid, aber ihm bliebe keine andere Wahl, als ihn sofort zu entlassen. Warum habe er das nur getan?

Als Dennis auf dem Roller Richtung Vorstadt fuhr, wirkte die Welt jenseits des Helmvisiers seltsam eingefärbt. An einer Ecke meinte er, einen recht hoch in der Luft schwebenden Felsen zu sehen, aus dessen Oberseite geometrische Figuren wuchsen, während nach unten hin Tentakel bis fast auf den Erdboden fielen. Die Tentakel besaßen neben den üblichen Saugnäpfen kreisrunde Mäuler voller scharfer weißer Reißzähne und öffneten und schlossen sich in nahezu perfekter Synchronisation. Wundern tat Dennis sich darüber keinesfalls. Vielleicht war das alles nur Teil des großen Videospiels, von dem er seit jeher träumte; jenes gewaltige Videospiel, welches irgendwann die Realität einfach auffräße, um eine vollkommen neue zu generieren.

Daheim ballerte er sich Amphetamin hinter die Schleimhäute, bis ihm das Zeug mit bitter chemischem Geschmack gleich eines Wasserfalls die Kehle herunterlief. Die aufputschende Wirkung der Droge, für die immer mehr Stoff benötigt wurde, mischte sich mit dem plötzlichen Hass auf die Firma, für die er bis eben gerade noch als gefeierter Top-Verkäufer gearbeitet hatte.Wie soll ich nun mir die neusten Grafikkarten leisten? Wie soll ich mir nun das Pepp leisten? Zwischen vier und sieben Euro kostet das Gramm! Beim Arbeitslosengeld wird keine Provision eingerechnet! Die Schweine lassen einen verhungern! Der schwebende Felsen hat Tentakel! Sie werden das noch bitter bereuen!

Dann stürzte er sich der ungewissen Zukunft zum Trotz in die dunkle Welt seiner bevorzugten Videospiele. Seine Gereiztheit, sein Hass und seine Wut lagen heute besonders hoch, so dass er die virtuellen Gegenspieler langsam zu Tode folterte, was das pochende Gefühl unter der Schädeldecke ein klein wenig milderte. Während Dennis Frauen in Stücke schoss, Kinder mit Benzin überkippte und bei lebendigem Leibe anzündete und Männern mit einer Kettensäge die Glieder abtrennte, tropfte Speichel aus seinem offenstehenden Mund und auf seine fleckige, seit einem Monat durchgehend getragene Blue Jeans hinab. Gelegentlich entwichen ihm unidentifizierbare Laute.

Die Pyramidenkreatur stand plötzlich auf seinem Schreibtisch neben der leuchtenden Tastatur. Sie war vielleicht dreißig Zentimeter groß, aber dennoch konnten Details an ihr recht gut ausgemacht werden. Silberne Gelenkkugeln hielten die einzelnen schwarzen Pyramidenstücke zusammen. Selbstverständlich bestand auch das Haupt aus einer Pyramide. Deren Spitze schaute zu Dennis hinauf, den die ganze Sache hier wenig zu verwundern schien. Er fragte sich lediglich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die VR-Brille nicht auf seinem Gesicht saß, was für ein genialer, geiler, grafischer Effekt dieses sei. Am quadratischen Ende des Kopfstückes pulsierte eine rote Sichtleise bösartig vor sich hin, während in einem Schnabel weiter unten silberne Reißzähne blitzten. Für diese Kreatur war Dennis sofort Feuer und Flamme.

Die Sprache des Geschöpfes bestand aus Geräuschen, welche elektrischen Entladungen glichen, erzeugt von dem Stromabnehmer einer Lokomotive, der bei strömendem Regen eine triefend nasse Oberleitung berührte. Dennoch verstand Dennis jedes Wort.    

„Hallo, mein Junge! Ich denke, du bist nicht gerade begeistert über den Scheiß, der gerade auf deiner Arbeit abläuft“, zischte die Kreatur und die rote Sichtleiste flackerte bedrohlich.

„Hallo!“, antwortete Dennis. „Du bist aber ein geiler Effekt! Wer oder was bist denn du?“

„Mein Name ist nicht so wichtig. Vielleicht bin ich so eine Art Mischung aus deinem Gewissen und deinem Schutzengel. Du kannst mich daher gerne Geschu nennen. Geschu, eine Wortschöpfung aus Gewissen und Schutzengel. Sag ` mal Dennis, findest du es nicht eigentlich unerträglich, dass ein Konzern, der im Quartal mehrere Milliarden Euro Gewinn generiert, dich rausschmeißt, weil du dir ein paar hundert Euro nebenbei an Provision verdient hast?“

„Ja, Mann! Das ist schon scheiße! Verdammte Bastarde!“, murmelte Dennis nebenbei und löschte eine Familie mit einem Flammenwerfer aus.

Es war seltsam. Obgleich die recht realen Geräusche des Videospiels in voller Lautstärke via Kopfhörer an seine Ohren drangen, konnte er die Pyramidenkreatur laut und deutlich sprechen hören.

„Du musst es ihnen heimzahlen! Du musst in das Call Center zurückgehen und Rache üben! Mäh sie nieder, wo du sie kriegen kannst! Die Spätschicht ist noch lang! Jetzt in dem Moment, wo du hier sitzt, lästern sie über dich ab! Deine werten Kollegen sagen, dass du eine widerwärtige fette Sau bist! Sie lachen sich über dich kaputt und nennen dich einen Betrüger und Stinker! Dabei hast du mit deinem Vertrieb ihnen die Ärsche gerettet! Du musst es heute noch tun! Nimm Rache! Ich kann dir eine Adresse sagen, wo du Waffen bekommen kannst! Starke Waffen!“, raunte ihm die Pyramidenkreatur zu.

„Das hört sich echt nach einem geilen Spiel an, mein Freund! Aber ich bin hier noch beschäftigt. Wir können das später spielen!“ „Nein, Dennis, du wirst es jetzt tun! Siehst du das!“, befahl die Kreatur mehr, als dass sie fragte.

Über dem Schreibtisch mit der Computeranlage schwebte plötzlich der seltsame Felsen. Aus seiner Oberfläche wuchsen geometrische Figuren und eine Art Nadel, wohingegen aus der Unterseite Tentakel bis knapp über die Tischplatte hinabfielen. Obgleich Dennis auch diesen grafischen Spezialeffekt äußerst gelungen fand, überkam ihn im Gegensatz zu der Pyramidenkreatur eine heftige Attacke der Angst bei diesem Anblick.

„Das“, fuhr die Pyramidenkreatur fort, „ist der mächtige Boozohel! Er ist der große Meister! Er ist der Herr über Raum und Zeit! Durch ihn wurde ich das, was ich bin. Selbst die Strahlung eines Neutronensterns vermag mich nicht zu töten. Und der große Boozohel befiehlt dir umgehend, dieses Spiel zu spielen, Dennis! Tust du das nicht, wirst du Dinge erleben, deren Schrecklichkeit du dir nicht einmal ansatzweise vorstellen kannst! Dort wo die menschliche Vorstellungskraft von Grausamkeit endet, fängt jene Boozohels erst an!“

Dennis ließ das blinkende Joypad fallen. Es stürzte auf den gammeligen Teppichboden voller Bier- und Colaflecken hinab. Sein Blick hing nun fest an dem schwebenden Felsen, dessen Tentakel sich leicht in der Luft bewegten. Angst schnürte seine Kehle zu mit einer Intensität, dass seine glubschigen Augen noch ein Stück weit mehr hervortraten.

„Ja, Meister!“, stammelte er schließlich vor sich hin. „Ja, Meister, ich tue alles, was Sie wollen!“

„Dann geh jetzt zur Birkenstraße 22! Klingel bei Christmeyer! Dort wirst du alles erhalten, was dir nötig ist, das Spiel zu spielen und auch zu gewinnen! Geh zur Birkenstraße 22! Klingel bei Christmeyer! Birkenstraße 22! Christmeyer! Birkenstraße 22! Christmeyer!“, raunte die Pyramidenkreatur in seinen Schädel und tat das auch, nachdem sie längst verschwunden war.

Und Dennis zog seine olivfarbene Bomberjacke über, verließ sein Apartment, machte sich auf den Weg.

Weit entfernt lag die Birkenstraße nicht, so dass er zu Fuß ging. Die Straßen des Stadtteils lagen im fahlen weißen Lichte der Laternen, was Dennis helle Haut noch ungesunder und käsiger aussehen ließ, als sie es ohnehin schon war. Dennis Augen waren weit aufgerissen, der Mund stand offen und bildete ein großes O. Der Heimatstadtteil hatte auf irgendeine Art und Weise Veränderungen erfahren. Auf den Gehsteigen oder auch mitten auf der Straße loderten Scheiterhaufen, auf denen sich in den orange-gelben Flammen menschliche Körper windeten. Ihre Schmerzensschreie drangen in Dennis Segelohren und der Geruch von verbranntem Fleische stieg in seine Stupsnase, während der heiße Schein der folternden Feuer sich in seinen kalten blauen Augen spiegelte.

Diese neuen Spiele sind echt die Wucht! Der Stadtteil wird kombiniert mit der Welt der Fantasie! Und kommst du aus der Vorstadt und spielst dieses Spiel, dann läufst du durch eben diese Vorstadt und siehst dabei diese Scheiterhaufen brennen. Dazu die Soundeffekte und besonders die Effekte mit dem Geruch; die neue virtuelle Realität wird immer besser! Es lohnt sich wirklich, sein Geld in das beste Equipment zu investieren!

Ein Grinsen breitete sich auf dem Mondgesicht mit den kurzen Stoppelhaaren aus, während sein Blick eine Frau streifte, die auf einem der Scheiterhaufen ihr Leben aushauchte. Das Feuer hatte ihr das Fleisch vom Körper gebrannt und die Knochen begannen durchzuschimmern. Dennis spürte eine beinahe sexuelle Lust und Erregung.

Birkenstraße! Christmeyer! Birkenstraße! Christmeyer! Birkenstraße! Christmeyer! Birkenstraße! Christmeyer!

Andreas Christmeyer lebte in einem ganz ordinären Mehrparteienhaus, wie man es in den Trabanten einer jeden Großstadt fand. Er war normalgroß und sein Gesicht besaß die Merkmale eines absoluten Durchschnittsmenschen. Lief einem diese Person beim Spaziergang durch den Park über den Weg, hatte man sie keine zwei Minuten später wieder vergessen.

„Hallo! Du musst Dennis sein! Ich habe schon auf dich gewartet, seit die Planck-Zeit abgelaufen ist. Die Pyramidenkreatur hat mich bereits informiert, dass du eine heilige Mission zu erfüllen hast. Hier! Nimm das dafür!“, sprach Andreas Christmeyer heiser, als habe er Rohrreiniger getrunken.

In seinen Armen hielt Dennis plötzlich ein Sturmgewehr und ein passgenauer Helm bedeckte nicht minder plötzlich seinen Kopf. Ihm zu Füßen stand eine Kiste voller blitzender messingfarbener Patronen, geölter Magazine und grüner Handgranaten.

„Ich gebe dir auch ein Auto, damit du gut zum Call Center kommst. Mit dem Zeug Roller- oder Busfahren käme nicht so gut“, fuhr Christmeyer fort und warf einen Autoschlüssel auf die geöffnete Kiste.

Dann tat es einen Schnitt, eine langsame Überblendung und Dennis saß hinter dem Steuer eines in die Jahre gekommenen silbernen Opels. Die Uhr inmitten des schwach leuchtenden Armaturenbrettes zeigte 20:12 Uhr an. Es würden also noch genug ehemalige Kollegen und Kolleginnen der Spätschicht im Call Center ihrer Arbeit nachgehen. Der Helm saß auf seinem Kopf, die Magazine waren mit Geschossen gefüllt und Sturmgewehr und Handgranaten lagen auf der Rückbank bereit. Ein seltsames Lied tönte aus den Lautsprechern der Audioanlage. Zu Klängen von Technobeats, welche sich anhörten, als seien sie frisch in den frühen 1990er-Jahren komponiert wurden, sang ein Mann mit dumpfer Stimme: „Der Hofi muss in Sonderschul! Du bist ein Idiot! Du bist ein Idiot! Der Hofi muss in die Sonderschul! Du bist ein Idiot! Du bist ein Idiot!“

Dennis sang leise mit.

Um genau 20:23 Uhr ballerte er das elektronische Sicherheitsschloss der Tür zum Call Center in Trümmer. Dennis trat ein.

Er schoss auf alles und jeden. Die Schüsse des hochmodernen Sturmgewehrs klangen sehr laut und äußerst realistisch. Das Blut und die Eingeweide, die aus den Austrittswunden der schwerkalibrigen Geschosse spritzen und auf den weißtapezierten Wänden kleben blieben, sahen absolut echt aus, was auch für die Schreie der Getroffenen und den Geruch von Angst und Kordit galt. Seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen fielen nach rechts und nach links, fielen auf die Tische und Computertastaturen, rutschten mit dem Ausdruck des Todes auf ihren Gesichtern von gepolsterten Bürodrehstühlen herunter. Einmal bekam Dennis eine Ladung Blut auf das Gesicht. Es fühlte sich feucht und warm an.

Diese Spiele werden immer besser vom Realitätsgrad her! Das Blut fühlt sich an wie echt! Dazu der Geruch! Ich hätte dieses Spiel viel eher spielen sollen!

Dennis fühlte extreme sexuelle Erregung ihn erfüllen. Er verspürte Kicks, die ihn all das Konsumieren von Amphetaminen niemals bereitet hatte.

In eines der Großraumbüros warf er direkt zwei Handgranaten. Er sah, dass Gliedmaßen von Körpern gerissen wurden und lachte höhnisch. Sein rundes Gesicht unter dem hochmodernen Helm wurde von einer Schicht trockenen Blutes und schwarzem Pulverstaub bedeckt. Längst hatte für Dennis die Zeit sämtliche Bedeutung verloren.

Irgendwann, so kam es ihm jedenfalls vor, lebte nichts mehr in diesem Kundenservicecenter. Schwer atmend von den Anstrengungen und doch von einem gewaltigen Glücksgefühl beseelt, schlenderte Dennis in Richtung Ausgang. Der Lauf des Sturmgewehrs strahlte noch immer eine solche Hitze ab, dass man Speck auf ihm hätte braten können.

Draußen wimmelte es von Streifen- und Rettungswagen. Blaulichter rotierten in der Nacht, warfen kontraststarke Schattenspiele in diese hinein. Uniformierte und maskierte Gestalten hockten in Deckung. Allesamt richteten sie Waffen auf ihn.

Okay, Freund der Nacht! Dann musst du dir eben noch den Weg freischießen und die Bullen umlegen! Aber ich denke, wenn diese Aufgabe erledigt ist, hast du das Level geschafft!

Dennis hob sein Sturmgewehr und in dem Moment blitzten tausend grellweiße Blitze in der Nacht auf, spürte er monströse Schmerzen in seinem dicken Leib. Es war dies ein pochendes Brennen, welches sich rasch im gesamten Körper ausbreitete.

Die haben mich getroffen! Da warst du wohl zu schnell! Game over! Aber wie geil die das mit den Schmerzen gemacht haben! Wirklich ein Wahnsinn diese…

Dann wurde alles um ihn herum schwarz, schwärzer, am schwärzesten und Dennis spürte, dass er zu fallen begann; direkt in Richtung des Kernes der Erde.

Das Ding im Nadelwald

Eine Erzählung in drei Akten

Kapitel 1

Aus der Mittelgebirge Zeitung/MZ (online – Ausgabe);

Verdächtiger im Mordfall Anton Wenzel gesteht

Nach wirrer Aussage wurde Sven R. in Psychiatrie eingewiesen

Der Verdächtige im Mordfall Anton Wenzel (MZ berichtete) hat gestanden, den Pädagogen aus Seelsdorf gezielt aufgelauert und ermordet zu haben. Dabei verriet der achtundzwanzigjährige Zerspanungsmechaniker Sven R. laut Aussagen der Kriminalpolizei Details, welche nur der Täter habe wissen können. Die genannten Gründe für das viehische Verbrechen ließen die Beamten allerdings an der geistigen Gesundheit Rs. zweifeln.

„Der Täter erklärte, dass er immer ein anständiger Kerl gewesen sei, der sich niemals etwas zuschulden haben kommen lassen. Das stimmt insofern, als dass bis zum Tage des Mordes an Herrn Wenzel nicht eine Kleinigkeit gegen R. vorlag. Der junge Mann ist niemals polizeilich auffällig geworden. Er berichtet weiterhin, dass plötzlich etwas in seinem Kopf die Kontrolle übernommen und er Erscheinungen gesehen habe. Eine grauenhafte Pyramidenkreatur und ein weiteres Wesen namens Boozohel, das hinter einer grünlichen Wolke versteckt gewesen sei, hätten ihn zum Mord an Anton Wenzel bewegt, ja, ihn förmlich dazu gezwungen. Er habe sich nicht wehren können und bittet nun darum, dass der Staat ihn lebenslang wegsperre, da diese Kreaturen jederzeit ihn wieder heimsuchen könnten. Er fürchte sich unbeschreiblich vor diesen zwei Geschöpfen. Daraufhin wurde Sven R. in eine forensische Anstalt eingewiesen, deren Ärzte nun klären sollen, ob er tatsächlich unter einer schweren psychischen Störung leidet oder ob seine Aussage nur eine Art Taktik ist, um zum Beispiel Schuldunfähigkeit zu erlangen“, erklärte Polizeisprecher Markus Harting gegenüber der MZ.

Der Mordfall Wenzel hatte bundesweit wegen seiner entsetzlichen Brutalität für Aufsehen gesorgt. Der in Seelsdorf beliebte Lehrer für Deutsch und Sport war vor knapp drei Wochen auf einem Spaziergang im Wald von Sven R. aufgelauert und stundenlang gequält worden. Endlich starb er an den Folterungen seines Peinigers.

Ich ließ mein Smartphone und damit auch den Artikel über das schlimmste Verbrechen sinken, welches sich jemals in einem fünfzig Kilometer Radius um mein Heimatstädtchen ereignet hatte. Darauf rückte die dreizehnjährige Laura, die sich genau in meinem Alter befand, leider wieder ein Stückchen von mir fort. Zuvor konnte ich beim gemeinsamen Lesen ihren Körper nah an dem meinigen spüren, was wahrlich schön gewesen war. Ich mochte Laura irgendwie total und glaubte eigentlich, dass auch sie mich mochte. Warum schaffte ich es nicht, ihr diese Tatsache näherzubringen?

„Und? Ist krass, was der Typ da gefaselt hat, nicht?“, fragte der vierzehnjährige Martin, der mir gerade per WhatsApp den Link zu diesem Artikel zugesendet hatte.

Mein guter Freund stand vor der Bank, auf der Laura und ich saßen, und schaute uns fragend aus blauen Augen heraus an. Seine rötlichen Haare leuchteten in den goldenen Strahlen der Sonne, die von einem wolkenlosen königsblauen Firmament fielen. Sie tauchten den Platz vor der kleinen Kirche in ein zauberhaftes Licht, welches es in dieser Form nur in einer bestimmten Phase des Jahres zu sehen gab. Ein kleiner, grauer Springbrunnen plätscherte müde vor sich hin und auf der angrenzenden Straße schien das träge Leben nun gänzlich zum Stillstand gekommen zu sein.

Es war Hochsommer und beginnender Nachmittag in Eisendorf, dem winzigen Stadtteil der 16.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Seelsdorf in den dichten Wäldern des Mittelgebirges, wo ich seit meiner Geburt lebte.

Martin nahm einen Schluck von seiner Cola, die aus Ahmets Kiosk auf der anderen Straßenseite stammte. Kleine Schweißperlen standen auf seinem rundlichen Gesicht voller bräunlicher Sommersprossen. Auch Laura und ich tranken von unseren Softdrinks.

„Was muss in manchen Leuten vorgehen? Ob die den als Kind misshandelt haben, dass der Kerl zu so etwas fähig ist?“, kam es mir über die Lippen und ich blinzelte gegen die Sonne an.

Die Temperaturen wurden allmählich wahrhaft drückend.

„Vielleicht hat der sich auch Drogen eingeworfen. Harte Drogen, meine ich. Da kann ein Mensch schon vollkommen durchdrehen. Meine große Cousine wohnt doch in Bonn. Die hat einen Kumpel, der kommt aus richtig reichem Haus. Sein Vater ist Anwalt und die Mutter Ärztin und er selber, Jan heißt er, studiert Jura. Der ist im letzten August auf der Nature gewesen, das ist so eine Techno-Party. Da hat der mit seinen Freunden drei Tage voll auf Droge und Alkohol durchgefeiert. Als er von der Party zurückgekommen ist, hat er sich eine Gaspistole geschnappt und eine Tankstelle überfallen. Einfach so. Der musste nicht mal arbeiten, um sein Studium zu bezahlen. Das haben alles die Eltern bezahlt. Er war durch die Drogen einfach so kaputt im Kopf, dass er diese Tankstelle überfallen hat. Jetzt kommt er vor Gericht und hat sich sein Leben ruiniert“, erzählte Laura.

Wir nickten zustimmend.

Keiner von uns kannte den Täter Sven persönlich. Es hieß, dass ein Freund von Martins größerem Bruder einmal etwas mit Sven unternommen habe. Der soll ein ganz lieber Kerl gewesen sein. Jemand, der sich gerne in die Natur aufhält, um dort spazieren zu gehen und die Vögel zu beobachten.

Anders verhielt es sich bei dem Opfer. Herr Wenzel unterrichtete am hiesigen Gymnasium, vielmehr, er hatte dort unterrichtet. Einige meiner Freunde und Bekannten besuchten diese Schule und sie alle sagten übereinstimmend, dass er ein fairer, witziger Lehrer gewesen sei, bei dem das Lernen noch Spaß gemacht habe.

Obgleich die Medien über die Art und Weise der Pein wenig Informationen preisgaben und sich auf grausige Ansätze beschränkten, kochte die Gerüchteküche dahingehend auf großer Flamme. Von einem auf einer Gaskartusche montierten Schweißbrenner war die Rede, von glühenden Nadeln im Genitalbereich, das Abziehen der Haut mit einer Zange, die es für 14,99 Euro im Obi als Angebot des Tages gegeben habe, von heftigen Bissspuren am ganzen Körper.

Tatsächlich wissen tat es natürlich niemand, aber gerade das Gerede in Kombination mit den schemenhaften Andeutungen der Medien machten die ganze Geschichte noch viel unheimlicher, als sie es ohnehin schon war.     

„Habt ihr diesen Namen schon mal gehört; Boozohel, meine ich?“, erkundigte ich mich und beobachtete Laura dabei, wie sie einen Fächer aus ihrer kleinen schwarzen Handtasche zog und umgehend begann, sich damit Luft zuzuwedeln.

Die Cola in der Plastikflasche besaß nach gerade einmal fünfzehn Minuten bereits Badewannentemperatur. Mein Mund verzog sich leicht, da ich von ihr probierte.

„Vielleicht ist das ein Kerl aus einem Horrorfilm oder irgendeine Gestalt aus einem Videospiel“, tat Laura ihre Meinung zu diesem Thema kund.

„Ne, ne!“, konterte Martin direkt. „Ich kenne all diese Filme und natürlich all die Spiele. Da gibt es keinen Boozohel. Es sei denn, das ist irgend so eine Nummer aus dem Darknet. Aber mein Bruder meint, dass sein Kumpel ihm gesagt hat, dieser Sven habe nicht viel mit Zocken zu tun gehabt.“

Die Hitze nahm mit fortschreitender Stunde immer weiter zu.

Laura schlug vor, einen Spaziergang in den Wald zu machen. Dort sei es immerhin kühler, der Wald wirke an Tagen wie diesen gleich einer biologischen Klimaanlage und zudem könne man mal wieder unserem Lieblingsplatz einen Besuch abstatten.

Eine wahrhaft gute Idee, der sowohl Martin als auch ich zustimmten.

Der Lieblingsplatz lag auf einer Lichtung in einem Stückchen Nadelwald, welches wiederum ein winzig kleines Teilstück jenes Waldes darstellte, in dem das Städtchen Seelsdorf lag. Bereits mit acht Jahren waren von uns dort Buden gebaut, imaginäre Aliens und ganze Verbrechersyndikate abgewehrt worden. Unsere Eltern hatten ihre Kinder stets gehenlassen. Denn wer konnte damals wissen, was für Bestien hinter den Gesichtern der scheinbar aufrechten Bürger von Seelsdorf schlummerten; jedenfalls hinter einem von diesen.

Wir drei, die kleine Bande alter Freunde, die sich von den Tagen des Sandkastens an kannten, und die sich in all der Zeit, ich betone es ausdrücklich, in all der Zeit, nicht einmal gestritten hatten. Bei Kindern, okay, nun galten wir ja offiziell als Teenager, konnte eine solche Tatsache bereits als ein kleines Wunder angesehen werden oder etwa nicht, liebe Leserinnen und Leser?

Leider lag der Zugang zum schattenspendenden Wald einen guten Kilometer entfernt. Der Weg führte uns über den heißen Asphalt der Bürgersteige und über einen in der prallen Sonne liegenden Feldweg. Der Schweiß bedeckte nun sämtliche Stellen des Körpers, mein weißes T–Shirt klebte mir auf der Haut, als sei ich ein Rockstar, der sich auf einem Festival im Rahmen des Nachmittags-Gigs gehörig auf der Bühne austobte.

Martin schnaufte leise vor sich hin und das Gesicht unter seinen kupferfarbenen Haaren leuchtete tomatenrot. Aus irgendwelchen Gründen litt er stets am meisten von uns unter der Hitze und war komischerweise auch derjenige, der bei sinkenden Temperaturen sogleich zu frieren anfing.

Laura, deren helle Haut in einem krassen Gegensatz zu ihren pechschwarzen Haaren stand, machte dieser Brutalo-Sommer am wenigsten aus. Vielleicht war sie von Natur aus zäher als Martin und meine Wenigkeit oder sie ließ sich den körperlichen Stress einfach nicht anmerken, schluckte ihn tapfer herunter. Die Glut der Sonne zauberte einen märchenhaften Glanz auf ihr Haar und ließ den Kontrast noch stärker an den Tag treten; jenen Kontrast, den ich vor zwei, drei Monaten zum ersten Mal bemerkt hatte, und seither auf eine gewisse Art und Weise ziemlich aufregend fand. Dasselbe galt für ihre Augen, die für mich vor nicht allzu langer Zeit nur zwei ganz normale haselnussbraune Augen gewesen waren, nun allerdings etwas Märchenhaftes besaßen.

Der Pfad führte uns endlich in den Wald und die Glut des Tages schien sofort hinter einer unsichtbaren Barriere zurückzubleiben. 

Der Schein der Sonne, der es durch die dichten Baumkronen bis auf den erdigen Boden schaffte, warf ein zauberhaftes Spiel goldenen Lichts auf den Weg.

Der Empfang meines Smartphones reichte aus für Spotify, so dass ich Pink Floyds Meisterwerk The Dark Side of the Moon auf den digitalen Plattenteller legte. Die Vorliebe für eine solch kunstvolle Musik hatten wir alle drei von unseren Eltern geerbt und diese wiederum von den ihrigen. Es ging in die dritte Generation und höchstwahrscheinlich würden diese Klänge eines fernen Tages an unsere Kinder weitergegeben werden.

Eine gutmütig wirkende alte Dame mit einem sandfarbenen Chihuahua an der Leine, der irgendwie fies und hinterhältig aussah, kreuzte unseren Weg, bevor die Laubbäume hinter uns lagen und sich der dichte, wesentlich finstere Nadelwald auftat. David Gilmour und Richard Wright begannen über das Gebilde der Zeit zu singen.

Schon vor dem Betreten der eigentlichen Lichtung sahen wir, dass genau in ihrer Mitte ein großes schwarzes Gebilde in Form einer Pyramide stand, welches ganz klar nicht an diesen Ort gehörte.

„Was soll denn diese Sauerei!“, schimpfte Martin los. „Jetzt verklappen diese Schweine ihren Dreck schon hier im Wald, anstatt auf den Sperrmüll zu warten. Der Olle hat das wahrscheinlich angeschleppt und dann hat die Alte ihm gesagt: >>Der Krempel passt doch gar nicht in unser tolles Wohnzimmer, Heinz! Wie konntest du nur!<< Und dann musste der gute, alte Heinz das Teil schnell wieder wegschaffen, weil es sonst Kloppe gesetzt hätte und weil er nicht wusste wohin, hat er es eben in den Wald geschmissen! Voll asi, Mann!“

Es war die Mischung aus Parodie eines fiktiven Ehepaars und wahren Ärgers, die Laura und mich zum Lachen brachte. Meiner Meinung nach besaß Martin durchaus das Talent, Schauspieler zu werden.

Jedoch konnte bereits beim Näherkommen erkannt werden, dass hier wohl niemand seine Wohnzimmerdekoration verbotenerweise entsorgt hatte.

Ein leises synthetisches Wimmern ging von der Pyramide aus, drang in genauen Intervallen an meine Ohren, denen jeweils nicht minder präzise Phasen der Stille folgten.

„Hört ihr das auch?“, fragte ich.

„Ja. Seltsam!“, kommentierte Martin und Laura brachte es treffend auf den Punkt: „Es ist unheimlich!“  

Obgleich sich etwas in mir regte, mir mitteilte, dass es besser wäre, direkt wieder kehrtzumachen, hielt ich weiter auf diese Pyramide zu. Selbiges galt für meine Freunde.

Das Objekt war größer, als es aus der Ferne wirkte. Die Spitze der perfekt geformten geometrischen Figur reichte bis an meinen Brustkorb heran. Es besaß eine quadratische Grundfläche und eine solch tiefschwarze Färbung, dass das Sonnenlicht, welches auf die Lichtung fiel, komplett von dem Gebilde absorbiert wurde.

Wir umkreisten es, wie Grundschulkinder die Stühle im Verlauf des Spiels Die Reise nach Jerusalem umkreisten. Das Pulsieren des künstlichen Wimmerns besaß eine beinahe hypnotische Wirkung und mir kam es plötzlich vor, als verbürge sich eine tiefergehende Botschaft hinter diesen Tönen. Keiner der Unsrigen konnte seinen Blick von den vier schwarzen Dreiecken lassen, die die Seitenflächen bildeten.

Martin berührte es, indem er seine flache rechte Hand auf die Pyramide legte.   

„Das ist Metall und es vibriert ganz leicht. Da drin muss irgendein Motor oder so laufen. Wahrscheinlich macht der auch dieses Geräusch“, berichtete er.

Nun berührte auch Laura die Pyramide. Wir hatten unser Umkreisen eingestellt und ein Jeder stand nun vor einer Seite des Gebildes.

„Diese Vibrieren erfasst den ganzen Körper bis ins Innere. Jedenfalls fühlt es sich so an. Was mag das wohl sein und warum ist es hier auf unserem Lieblingsplatz?“, sprach sie in einem beinahe andächtigen Tonfall.

„Ich weiß es nicht. Hinter diesen Tönen scheint eine Stimme zu sprechen. Vielleicht. Aber irgendwie ist es wunderschön“, kam es leise über meine Lippen.

Nun legte auch ich Hand an, was nicht bewusst geschah. Es war eher, als führe eine unsichtbare Kraft sämtliche meiner Bewegungen und Teile meiner Gedanken. Jetzt existierte nur noch die schwarze vor natürlicher Schönheit strotzende Pyramide in meinem Blickfeld und diese wundervollen Töne, welche sie in einem perfektionierten Spiel der Zeit von sich gab. Ich vergaß alles um mich herum; meine Familie, meine Freunde, die Schule, das Wetter, einfach alles! Es gab nur noch diese zauberhafte und makellose geometrische Figur.

Dann begann die Vorführung oder was immer es auch sein mochte.

Das schwarze Dreieck erfüllte goldenes Licht und in diesem Licht sehe ich mich im Trikot des FC Barcelona zusammen mit meinen Mannschaftskameraden den Henkelpott der Champions League in einen sternenklaren Nachthimmel recken. Ich renne in der Dämmerung im knallbunten Scheinwerferlicht über eine gewaltige Bühne und singe etwas mit >>Oh, Carolyn