Eine Stunde Sanduhr - Peter Ahnefeld - E-Book

Eine Stunde Sanduhr E-Book

Peter Ahnefeld

4,8

Beschreibung

Ein Mann steht im dunklen Wald und schaut mit einem Nachtsichtgerät einem Pärchen beim Sex im Auto zu. Er kennt die Frau, hat sie oft beobachtet, ohne zu wissen, wer sie ist. Als er sich zurückzieht, ahnt er nicht, dass die beiden sich streiten und trennen werden und die Frau dort in ihrem Auto von einem Maskierten überfallen und vergewaltigt werden wird. Drei Jahre später wird er die Frau wiedertreffen. Maria, die frühere Musterstudentin und nun niedergelassene Ärztin, hat vor sieben Jahren entgegen aller Mahnungen den Mann geheiratet, von dem sie gleich beim ersten Rendezvous schwanger geworden war. Und sie ist auch wieder schwanger geworden in der Zeit damals, in der Zeit, als sie öfter im Wald war. Sie weiß nur nicht, von wem - und sie will es auch nicht wissen, denn sie will unter allen Umständen ihre Ehe erhalten, will, dass ihre Kinder in dieser Familie glücklich sind. Aber dies erweist sich für Maria als zunehmend schwieriger und belastet sie, sowohl mental als auch körperlich. Dann wird ihr ein Mann als sehr guter Physiotherapeut empfohlen ... Es ist die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach dem richtigen Weg, für sich, ihre Kinder, ihre Familie - und es ist die Geschichte vom Preis, den man manchmal dafür zu zahlen hat.

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Impressum

Peter Ahnefeld

Eine Stunde Sanduhr

Roman

ISBN 978-3-86394-634-0 (E-Book)

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern

Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Nimm die Decke lieber nicht weg, du wirst das Bild nicht mehr los.

Prolog

Sie stand am Fluss.

Es hatte den Anschein, als ob der Streifen schmaler geworden war.

Irgendwann würde das Wasser durch die Tür kommen.

Ich war lange nicht hier

Das ist wohl wahr

Wie geht es dir

Gut   mir geht es immer gut   Wie geht es dir

Schlecht und ich werde das Gefühl nicht los   dass es mir immer schlechter geht

Was ist schlecht

Was ist gut

Frieden   Gesundheit   ein Dach über dem Kopf   satt zu essen   Freunde

Es sind große Worte

Es sind große Dinge   Hast du das alles nicht

Doch   schon

Hast du jetzt nicht noch mehr   einen Mann   ein Kind

Doch   auch

Ist   dein   Kind   gut

Ja   gut

Ist dein Mann gut

Es kam Wind auf. Die alten Balken ächzten und stöhnten.

So kann man die Frage nicht stellen

Dann stelle sie anders

Ist mein Mann so   wie ich ihn mir vorstelle   ihn mir wünsche

Sind deine Wünsche gut

Es ist kalt hier

Du frierst schon lange

Bin ich einen falschen Weg gegangen

Ein weiser Mann sagte einmal   dass wir im Leben etwas brauchen   das uns den Weg weist   damit wir nicht in die Irre laufen   Diesem sollen wir folgen   und so auf dem rechten Weg bleiben

Bin ich nicht gefolgt   Bin ich nicht auf dem Weg geblieben   wieder und immer wieder    

Habe ich überhaupt einmal den Versuch gemacht   auch nur einen kleinen Seitenweg zu nehmen   nur ein Stückchen abzukürzen   geschweige vorauszugehen

Und als es bergauf ging   steil bergauf

Da war kein Weg mehr   nur Sumpf und Morast   dazwischen ein Pfad   gewunden  mit Löchern   in die man immer wieder gerutscht ist  

Du hättest eine Straße bauen müssen

Ich habe es versucht   habe begonnen   die Löcher zuzuschütten   aber sie schienen grundlos und taten sich immer wieder auf

Du hättest mehr hineinschütten müssen

Ja

Wie im Film

1. Kapitel

Wie im Film.

Rüdiger Dressel spuckte kurz aus. Der Gedanke gefiel ihm so gut, dass er ihn halblaut wiederholte: Tatsächlich, wie im Film. Ein Mann steht im dunklen Wald und wartet auf seine Geliebte.

Er ließ das Wort nachklingen, lauschte ihm hinterher. Geliebte. War das der treffende Ausdruck? Darüber hatte er, so seltsam ihm das jetzt auch erschien, noch nie nachgedacht. Was war sie denn nun eigentlich? Ob sie in einem Film seine Geliebte wäre? Wieder spuckte er aus. Unsinn. So was gab es in keinem Film, und außerdem ..., es war ja auch keiner.

Kein Film. Geliebte. Nun, wenn man ...

Das Scheinwerferlicht eines sich nähernden Autos riss ihn aus seinen Gedanken. Verärgert, weil ihm das Blinken hinten auf der Hauptstraße nicht aufgefallen war, schob er sich etwas weiter in das Gebüsch, obwohl die Wahrscheinlichkeit bemerkt zu werden aus seiner Sicht gegen Null tendierte.

Bemerken. Er verzog das Gesicht. Sicher, den Mond musste er berücksichtigen, allein schon wegen des Schattens. Aber ansonsten ..., bei den Bäumen und dem Licht, viel zu fahl, nein, keine Gefahr, eigentlich nicht, er durfte sich nur nicht zu dumm anstellen, keinen Fehler machen. Und die Scheinwerfer ..., er schaute dem Auto entgegen und schüttelte leicht den Kopf, die konnten ihn nicht streifen, an dieser Stelle nicht. Er spuckte aus. Guter Platz hier, gut gewählt.

Das Auto kam zügig näher, aber als es vorne an der Waldkante seine Geschwindigkeit nicht drosselte, war ihm klar, dass es vorbeifahren würde.

Geliebte. Erneut wunderte er sich, dass ihm diese Überlegung noch nie gekommen war. Ob sie den anderen liebte? Behutsam, um seine Kleidung nicht zu sehr in Unordnung zu bringen, griff er in die Brusttasche, holte eine Zigarettenpackung hervor und strich bedächtig mit der Fingerkuppe über die geschlossene Reihe.

Geliebte.

Ohne hinzusehen zog er eine Zigarette aus der Reihe und drehte sie zwischen den Fingern hin und her, hin und her, merkte, wie sie flacher wurde, immer flacher, wie sie zerbröselte zwischen seinen Fingern. Hin und her.

Im Film.

Bedächtig drückte er den Zigarettenstumpf in die Reihe zurück, schob die Packung an ihren Platz in der Jacke und holte aus einer der Beintaschen eine kleine metallene Schachtel hervor. Sie enthielt vier unförmige zigarettenähnliche, kurze Stumpen. Nur noch vier. Erstaunt spitzte er die Lippen, nickte. Hatte er lange nicht mehr probiert, tatsächlich, schon ewig nicht mehr. Vier. Er würde sich einteilen müssen. Sollten schließlich noch eine Weile reichen. Nur noch vier. Übertrieben sorgfältig wählte er eine aus, ging langsam in die Hocke, drehte den Körper etwas von der Straße weg und steckte sie sich an. Immer noch knieend sog er den Rauch tief in die Nase.

Ab und zu mochte er ihn, diesen Duft, diesen Geschmack, sicher, nur ab und zu, da passte er schon auf, aber er mochte ihn, doch.

Dann stand er wieder auf – das Rauchen in der hohlen Hand war ihm schon zu sehr zur Gewohnheit geworden, als dass er befürchten musste, dass die Glut von irgendwoher gesehen werden könnte.

Er rauchte nur, wenn er im Wald war. Zu Hause müsste er dazu nach hinten, in die kalte Veranda. Nein, das tat er sich schon seit drei Jahren nicht mehr an. Er war viel zu sehr Gelegenheitsraucher, um sich dieser Strapaze und dem ewigen Streit um den Qualm beständig auszusetzen. Hier draußen brauchte er niemanden fragen.

Sie würde es bestimmt auch nicht akzeptieren. Nein, kaum. Er hatte sie noch nie mit einer Zigarette gesehen, was ja eigentlich auch normal war, schließlich war sie eine Ärztin. Obwohl doch ..., er wiegte leicht mit dem Kopf, man sagt sicher nicht umsonst, dass gerade unter den Ärzten am meisten geraucht wird. Er spuckte aus und überlegte, wo er diesen Spruch wohl herhatte.

Nicht akzeptieren. Na ja, der andere rauchte aber auch. Der andere. Egal, sie jedenfalls nicht, wahrscheinlich nicht. Sie. Geliebte. Seine.

Er schluckte. Schlucken half, einmal, zweimal, manchmal auch dreimal. Geliebte. Sie war die Geliebte des anderen, daran gab es nichts zu deuteln. Er merkte, dass ihm dieser Gedanke mit einem Mal nicht gefiel, überhaupt nicht gefiel. Auch darüber hatte er eigentlich noch nie nachgedacht, jedenfalls nicht so richtig. Er war nun mal da, der andere. Na und? Warum, zum Teufel, stieß er sich eigentlich ausgerechnet in diesem Moment daran? Woher kamen die Gedanken? Er spuckte aus. Was war heute bloß los?

Plötzlich hatte er das Gefühl zu frieren, obwohl er sich eingedenk der vor ihm liegenden anderthalb Stunden warm und dem Novemberwetter gemäß angezogen hatte.

Na ja, November. Bis gestern hatte es geregnet. Jeden Tag. Wenigstens heute ...

Unwillkürlich begann er, auf der Stelle zu marschieren, hob abwechselnd langsam ein Bein so weit, bis das Knie sich beugte, und bewegte dazu im Takt die Arme. Ein probates Mittel, das er sich als Soldat angewöhnt hatte. Aber das Ziehen an der Zigarette passte nicht in den Rhythmus der Bewegungen. Er entschied sich für das Rauchen, zog den Kopf, so gut es ging, schützend zwischen die Schultern und blickte die Straße entlang.

Die alten, riesigen Bäume der Allee bildeten einen langen Tunnel, einen Tunnel, der immer enger wurde und sich schließlich weiter oben an der Hauptstraße in einem kleinen dunklen Kreis verlor. Die Lichter der Fahrzeuge dort hinten sahen aus wie die Lichter eines Karussells – sie tauchten in der Ferne aus einer Kurve auf, glänzten eine Weile auf der Geraden und waren einen Augenblick später im Wald verschwunden.

So langsam könnte wieder einer blinken. Er merkte, dass er ungeduldig zu werden begann. Vielleicht täuschte ihn auch sein Zeitgefühl, aber es musste schon längst über die Zeit sein. Zum wiederholten Male schob er den Ärmel der Jacke hoch, obwohl ihm klar war, dass es sinnlos sein würde. Er spuckte aus. Wie zu erwarten. Die Ziffernblattbeleuchtung funktionierte, aber das kleine Anzeigefeld war leer, grau und leer. Er hatte dies bemerkt, kaum dass er hier Stellung bezogen hatte, diesem Umstand aber keine allzu große Bedeutung beigemessen. Die beiden würden ihm schon die Uhrzeit anzeigen. Bisher waren sie immer pünktlich gewesen, der rote Kombi stets zuerst, sie in ihrem schwarzen fünf, zehn Minuten später, nie zu spät, nie später als 18 Uhr.

Sie werden es doch wohl nicht ausfallen lassen – gerade heute. Er konnte die plötzlich aufkommende Enttäuschung förmlich schmecken. Und wenn doch? Wenn sie nun feiern sind, beide? Oder nur einer? Tag der Narren. Irgendwo hatte er es gelesen. Narrentag. Mit Maske bitte. Er lachte, lautlos, einmal, noch einmal, schob den Rollkragen etwas höher. Mit Maske. Ein bisschen Spaß muss sein. Eben. Er spuckte aus. Spaß schon, aber feiern? Hastig machte er ein paar Züge. Feiern. Quatsch. Wer feiert denn hier, in dieser Gegend? An einem Mittwoch. Fasching mitten in der Woche, egal, ob 11.11. oder nicht. Hör auf, dir solchen Unsinn einzureden.

Er überschlug die vergangenen Wochen. Das fünfte Mal war es nun, dass er hier wartete, das fünfte Mal, seitdem die beiden den Platz gewechselt hatten. Und nie hatte es ein Problem gegeben, nie, sie hatten sich strikt an immer dieselbe Ankunfts- und Abfahrtszeit gehalten. Er biss sich auf die Oberlippe und überdachte seinen Zeitplan, obwohl es daran kaum etwas zu überdenken gab. Sein Zeitpuffer war knapp, äußerst knapp. Er hatte es sonst schon meist nur geradeso geschafft, manchmal auf die letzte Minute – es durfte nichts dazwischenkommen. Nein, durfte nicht. Er musste wissen, wie spät es war, unbedingt.

Zum ersten Mal bereute er sein Prinzip, das Handy nicht mit in das Revier zu nehmen. Ein Prinzip, das er vor Monaten zu Hause durchgedrückt hatte und welches er bis zum heutigen Tag für völlig plausibel hielt. Für völlig. Und so nach und nach schien es sich seine Frau endlich auch ganz abzugewöhnen, ihn an das Handy zu erinnern. Endlich. Wurde auch Zeit.

Er drückte mit der Fußspitze die Kippe in den Boden, spuckte aus. Ja, wurde es. Zu oft hatte es Streit gegeben, Streit, wenn sie sich in solche aus seiner Sicht nur ihn betreffenden Angelegenheiten einmischte, Streit, der eigentlich keiner sein konnte und der doch einer war, der scheinbar aus dem Nichts erwuchs und dann urplötzlich auswucherte in ein Hauen und Stechen und an dessen Ende nicht selten Beleidigungen und Türenknallen stand. Immer und immer wieder.

Er schloss unwillkürlich die Augen, als er daran dachte. Sie hatte es nicht verstehen wollen, jedes Mal die gleiche Leier: Nimm doch das Handy mit. Wenn dir was passiert.

Was sollte ihm denn passieren? Sollte er vom Hochsitz fallen? Er hasste diesen Apparat, auch wenn ihm manchmal die Notwendigkeit klar war, manchmal. Aber die Jagd fiel nun mal nicht in den Bereich dieser Notwendigkeiten ...

Plötzlich war die Unruhe wieder da, ähnlich wie vor einer halben Stunde, diese Unruhe im Bauch, dieses innere Zittern, das den Atem immer tiefer werden ließ. Er hatte vorhin nicht darauf geachtet, wohl auch nicht achten wollen, und nun war es wieder da, dieses Ziehen. Er schlug sich, immer schneller werdend, mit der Hand gegen den Oberschenkel, spuckte aus. Irgendetwas stimmte heute nicht.

Man müsste doch glattweg …

Langsam griff er in die Beintasche, zögerte. Komm, lass es lieber, übertreib nicht, das ist richtig böses Zeug, du weißt das ...

Er zog die Hand zurück, strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Oberlippe.

Böses Zeug. Ja, schon - aber eine ... Eine noch? Er spuckte aus. Na los, Rüdiger, nur heute, ausnahmsweise. Er nickte. Ausnahmsweise. Langsam holte er wieder die kleine Blechdose hervor. Noch drei. Eine dicker als die andere. Na gut, weil Fasching war und irgendwas sowieso nicht stimmte.

Er inhalierte tief den süßlichen Rauch und begann die Autos auf der Hauptstraße zu zählen, bis er gewahr wurde, dass er sich verzählt, eigentlich sogar das Zählen ganz vergessen hatte, dass seine Gedanken abgeschweift waren.

Die verdammte Zeit, er musste los, obwohl ..., eigentlich war es bestimmt sowieso schon zu spät. Er überschlug die gerauchten Zigaretten und addierte die wahrscheinlichen Zwischenräume hinzu, mit dem Ergebnis, dass er wohl schon gut eine Dreiviertelstunde hier stand.  Er konnte sich also drehen und wenden, wie er wollte – entweder er fuhr jetzt los oder er würde nicht mehr pünktlich kommen, nein, mit Sicherheit nicht.

Er versuchte, sich auszumalen, wie seine Frau reagieren würde. Klar, wütend, wegen der anderen. Er winkte vor sich hin. Lass ab, Rüdiger, lass ab, so dramatisch     Eben.

Er spuckte aus. Sie würde ihrem Kurs schon übermittelt bekommen, dass sie heute nicht könne, schließlich war doch heutzutage jeder irgendwie erreichbar. Er grinste. Na, fast jeder. Und außerdem könnte sie ja auch mal krank sein, Migräne oder so etwas. Genau. Aber sauer, nun ja, sauer würde sie wohl sein, mächtig sauer.

Er nickte. Gut, sicher auch zu Recht. Versprochen ist versprochen und schließlich hasste er Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit genauso wie sie.

Genauso wie sie. Das klang gut. Er horchte auf. Ja, das hatten sie gemeinsam, und sonst? Was war es eigentlich noch, was ihnen geblieben war, gemeinsam geblieben war? Er hatte in den vergangenen Wochen und Monaten oft darüber nachgedacht, meist nach einem Streit, einer Meinungsverschiedenheit, und er hatte es oft denken müssen, immer und immer wieder gerieten sie aneinander.

Ihm fielen die Worte seiner Frau ein: Ich weiß nicht, Rüdiger, aber an irgendeiner Stelle ist der Wurm drin.

Der Satz ging ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf. An irgendeiner Stelle. Als ob das ginge. Ein Wurm an einer Stelle, einer einzigen. Das müsste bei ihnen schon ein Lindwurm sein, aber es war doch wohl eher eine ganze Würmerarmee, an vielen Stellen, an allen. Zu wenig war nicht angefressen, einfach zu wenig. Er stieß tief die Luft aus und spuckte im hohen Bogen über die Straße. Wenn Julia nicht wäre ... Wieder atmete er tief aus. Ich weiß ja nicht. Er biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Die Erkenntnis, dass er solche Gedanken immer häufiger hatte, stieß ihm nicht zum ersten Mal bitter auf.

Dann zuckte er mit den Schultern. Es würde also heute Abend auch mal so gehen müssen, schließlich war er noch nie zu spät gekommen.

   Er fing erneut an, die Autos zu zählen, das siebzehnte blinkte, kam schnell näher, so schnell, dass er es kaum schaffte die Zigarette auszudrücken, dann war deutlich das Abtouren des Motors zu vernehmen, die Stopplichter erhellten die mächtigen Stämme der Kastanien, das Fahrzeug blieb mit eingeschaltetem Fernlicht auf der Straße stehen.

Er spuckte leise aus. Wieso hält der heute dort an? Wieso fährt der nicht in die Einfahrt? Wieder dieses Zittern im Bauch.

Irgendetwas stimmte heute nicht.

Während er die Konturen des Wagens mit den Augen fixierte, zog er sich langsam die Handschuhe an, machte den Rollkragen des Pullovers so hoch, wie es ging, und stülpte die Kapuze über. Obwohl er es mit Widerwillen tat, musste er unwillkürlich lächeln.

Professionell. Er war sich sicher, dass nun kaum noch irgendwo eine helle Stelle sein würde. Im Moment jedoch traute er sich nicht, auch nur einen Schritt aus dem Gebüsch und dem Schatten der Bäume hervorzutreten. Der Wagen stand immer noch mit laufendem Motor an derselben Stelle.

Irgendetwas stimmte heute nicht.

Er bückte sich langsam, nahm vorsichtig das Nachtsichtgerät aus dem Rucksack, richtete es auf das Auto und wusste im selben Augenblick, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte, dass irgendetwas anders war, anders als sonst – in dem Auto saß eine Frau.

Er merkte, wie sein Körper sich spannte. Sie war da.

Die Frau im Auto hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und saß völlig regungslos.

Er drehte am Stellrad des Gerätes. Sie ist schön. Selbst in diesem unwirklichen Licht ist sie schön, traumhaft schön. Nicht von dieser Welt, Rüdiger, sie nicht.

Er presste die Augen an den Gummi. Wie wahr, eine wirklich schöne Frau.

Ja, das war sie, genauso kannte er sie und er kannte sie ziemlich gut, zumindest ihren Körper, und in dieser Sekunde bedauerte er, dass sie dies nicht wusste. Er konnte sich genau an den Tag erinnern, an dem er sie kennengelernt hatte.

   An jenem Nachmittag war er, wie eigentlich damals jeden Freitag, in seinem neuen Jagdrevier, eigentlich nur, um abzuschalten, hatte sich gerade auf dem am Wochenende zuvor aufgestellten Hochsitz niedergelassen und stolz mit dem Feldstecher über die Äcker geblickt. Ja, stolz war er gewesen, damals, jedes Mal wieder, wenn er draußen war, in seinem Revier.

Ein Traum war in Erfüllung gegangen – er schaute auf sein eigenes Revier, saß tatsächlich auf seinem eigenen Hochsitz und ließ den Blick über die Äcker schweifen, über die Kieskuhle, über das kleine Birkenwäldchen, das hinten, an der Straße, den Abschluss seines Reiches bildete.

In den ersten Wochen hatte er es ein wenig bedauert, dass das Bruch vorn am Fluss nicht mehr dazugehörte, aber diese Gedanken waren doch schnell verflogen und mit der Zeit war ihm das Beobachten der Niederung so sehr zur Gewohnheit geworden, dass er manchmal sogar, besonders am Nachmittag, das Gewehr zu Hause ließ, wie eben auch an jenem Freitag. Er hatte sich ein gutes Fernglas zugelegt und blickte über die Wiesen flussaufwärts.

   Dann sah er sie.

Zuerst nur den hellen, sich bewegenden Punkt in der Ferne, der aber schnell näher kam, und dann erkannte er eine Frau, eine Frau, und da war er sich auch heute noch völlig sicher, von der er sofort annahm, es sei ein Engel. Er wusste auch noch, dass er unwillkürlich einen Pfiff ausgestoßen hatte.

Die Frau hatte ihre lockigen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der lustig hin- und herpendelte. Ihre Brüste, die sich unter ihrer Jacke deutlich abhoben, bebten leicht im Takt der Schritte. Sie hatte die Arme etwas angewinkelt, und wenn er auch nie ein überaus begeisterter Sportanhänger gewesen war, so erkannte er doch, dass der Laufstil der Frau in nichts dem der schwitzenden Hobbyläuferinnen entsprach, die ihm manchmal im Ort begegneten. Sie lief, als wenn sie schwebte, ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Ihr Körper wirkte wie aus einem Guss, alle Bewegungen waren aufeinander abgestimmt.

Sie erschien ihm wie von einem anderen Stern.

Von nun an saß er jeden Freitag auf der Kanzel. Sie kam am nächsten und an dem darauf auch und so blieb es eine Weile, bis es Sommer wurde. Er konnte sich auf sie verlassen, sie kam pünktlich, von weit hinten, tauchte mit einem Male auf, lief bis vor das verschlossene Tor der stillgelegten Kieskuhle, drehte dort um, lief, ohne eine Pause gemacht zu haben, denselben Weg zurück und verschwand wieder im Nichts.

   Er wusste bis heute nicht, woher sie damals gekommen und wohin sie zurückgelaufen war, und es interessierte ihn auch nicht, hatte ihn nie interessiert, und es war ihm auch nie in den Sinn gekommen, ihr zu folgen, herauszubekommen, wer sie eigentlich war.

   Dort in seiner Welt wollte er sie so haben, wie sie am ersten Tag erschienen war, und nur dort wollte er auch mit ihr zu tun haben, in dieser Welt gehörte sie schon bald einfach dazu, hatte sie ihren festen Platz. Für ihn waren sie auf diese Art und Weise ein Paar geworden. Er hatte sich einen Plan gemacht, wie er sie noch besser kennenlernen könnte. Mal betrachtete er nur ihre Oberschenkel, mal nur ihre Brüste, mal den Po, das Gesicht, den Kopf von hinten.

Er kannte sie, immer besser, und er begann, von ihr zu träumen.

Meist waren sie beide allein auf einer Insel, verschollen nach einem Schiffsunglück, er lebte mit ihr in einer Höhle, musste sich um sie kümmern, mit ihr, wegen der Kälte eng aneinandergerückt, auf einer selbstgebauten kleinen Liege schlafen, konnte ihr zuschauen, wenn sie sich umzog, sich wusch.

Und nie hatte er sie berührt, nie, nicht einmal der Gedanke war ihm gekommen, nicht einmal im Traum.

Er hatte sich in sie verliebt, mehr und mehr, und ihm war bald bewusst geworden, wie glücklich er mit dieser Liebe zu ihrem Abbild war, zu diesem Abbild, das stets gleich blieb, stets ihm gehörte und das Traum und Wirklichkeit zugleich war.

Die schöne Läuferin war ein Teil seines Lebens geworden.

Hin und wieder hatte er sich die Frage gestellt, wieso sie das Risiko einging, in dieser Einöde allein zu laufen, und sich dann mit dem Gedanken beruhigt, dass sie ja nun ihn habe, ihn, der immer da sein und  aufpassen würde, für immer und ewig.

   Die Frau im Auto schaute aufmerksam in den Rückspiegel und legte die Hände auf das Lenkrad.

Er setzte das schwere Glas ab.

Auf der Hauptstraße blinkte ein Auto. Die Frau wartete, bis das Fernlicht einige Male aufgeblitzt war, dann fuhr sie langsam in den Waldweg. Der andere Wagen folgte ihr.

Er wusste nicht genau, ob er sich freuen sollte, dass sie  überhaupt da waren, oder eher ärgern, dass die Reihenfolge der Autos heute anders war als sonst. Wenn sich die Frau wegen des Wetters nicht bis zur üblichen Stelle wagen würde, wären alle seine Vorbereitungen umsonst gewesen.

Er nahm den Rucksack auf den Rücken und ging, indem er einen kleinen Bogen beschrieb, mit zügigen und doch vorsichtigen Schritten den präparierten Weg entlang.

Er wusste, dass hier keine Wurzel aus dem Boden ragte, kein Ast lag, der beim Drauftreten zerbrechen könnte. War schon bei den Malen davor alles sorgfältig geplant gewesen, so waren die Vorbereitungen in dieser Woche an Akribie kaum noch zu übertreffen. Er kannte den Weg im Schlaf, war ihn an den Abenden zuvor im Dunkeln immer wieder gegangen, manchmal zehnmal, hin und zurück, hin und zurück.

Es durfte nichts dazwischenkommen, gar nichts, nein, durfte es nicht.

   Zu groß war einfach die Überraschung gewesen, zu tief saß immer noch der Schreck des plötzlichen Aufeinandertreffens, neulich, da, in der Klinik.

Um ein Haar hätte er alles aus den Händen fallen lassen, als sie unvermittelt vor ihm stand, zusammen mit dem Oberarzt. Die beiden duzten sich. Ob ihr Vater Fortschritte mache, hatte sie ihn, den Therapeuten, ihn, Dressel, gefragt und was er von weiteren physiotherapeutischen Maßnahmen hielte. Ihr Vater. Er behandelte ihren Vater. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, sich auf die Frage zu konzentrieren, und trotzdem war die Antwort wohl nicht zur Zufriedenheit der beiden ausgefallen, denn sie hatten sich nur wortlos angesehen und mit einer kurzen, Richtung Krankenbett gerichteten Bemerkung, dass sie noch einmal zurückkommen würden, den Raum verlassen.

Seinen Patienten hatte er damals nicht lange bitten brauchen – Herr Schmedemann platzte bald vor Stolz über seine Tochter und vor Begierde, diesen Stolz herauszulassen.

Sie hieß also Maria, war Allgemeinmedizinerin mit eigener Praxis und Herr Schmedemann war auch schon Opa.

Maria. Ihr Nachname war ihm schon auf dem Flur entfallen. Egal. Maria.

   Er hatte sich damals beeilt, seine Behandlungen so schnell wie möglich zu beenden, Termindruck vorgetäuscht und die Klinik fast fluchtartig verlassen. Noch im Auto war ihm klar geworden, dass etwas Schlimmes, ja Katastrophales geschehen war – sie hatte ihn gesehen, nun kannte sie ihn auch.

Vor seinen Augen hatte sich ein unheilvolles Bild aufgebaut: Ihr Blick durch das Seitenfenster, völlig überraschend und unvorhersehbar – mitten in sein Gesicht, in sein Gesicht und nicht in irgendein Gesicht, irgendein Gesicht, das dort zwar nicht hingehörte, aber ihr unbekannt war, sondern in sein Gesicht, und sie würde wissen, wer er war und sie würde auch wissen – beim Aufkommen dieses Gedankens war ihm heiß geworden – dass er wusste, wer sie war. Er würde sie aus ihrer Anonymität reißen, aus der Welt, die sie da lebte.

Plötzlich war ihm klar geworden, was er eigentlich tat, dort im Wald, dass er sich mit hineingedrängelt hatte in ihre Welt, mit hinein in den Raum, in dem sie sich mit dem anderen befand und in dem sie sich beide allein wähnten und der ihr sicherlich etwas bedeutete, viel bedeutete, zu viel vielleicht, als dass sie ihn sich von ihm, Dressel, kaputtmachen lassen wollte.

Zwei Tage hatte er gebraucht, um mit sich klarzukommen. Zwei Tage, in denen er alles und jeden verfluchte, insbesondere den Mann, der da bei ihr im Auto lag. Nicht dafür, dass er dort lag, sondern dafür, und nur er konnte sich das ausgedacht haben, dass sie ihren Platz gewechselt hatten, weg von der freien, einigermaßen einsehbaren Stelle am Waldrand, hin zu einer mitten im Wald, zu einer, die ihn zwang, sich ihnen immer mehr zu nähern, fast auf Blickkontakt heranzugehen, denn das beste Fernglas nutzte nichts, wenn ständig ein Baum, ein Ast, ein Zweig im Sichtfeld war.

   Er tastete beim Gehen mit einer Hand nach dem Rollkragen, zog ihn etwas herunter und spuckte wütend aus.

Und zu einer Stelle, die ihn vor allem zwang, etwas dafür zu tun, dass er, wenn man ihn dann schon sah, wenigstens nicht erkannt werden würde. Was hatte er sich nicht alles besorgt und dann ausprobiert. Modenschau. Egal, Hauptsache, es nutzte auch was.

Nicht erkannt. Er schob den Kragen wieder hoch und schüttelte leicht den Kopf. Mann, Mann, wenn das nicht immer dunkler geworden wäre mit der Zeit …

Und trotzdem – sicher ist sicher. Er nickte. Genauso. Aber dichter heran musste er, unbedingt. In der vergangenen Woche war er fast umsonst hier gewesen. Nichts hatte er gesehen, trotz des Lichts im Auto, fast nichts außer schwankenden Ästen und Autoteilen und Bruchstücken von Körpern. Ständig hatte der Wind das Unterholz hin- und herschwanken lassen. Nein, das musste er sich nicht noch mal antun, ganz und gar nicht. Und so hatte er beschlossen, das Beste aus der Sache zu machen und den Nachteil des schlechten Sichtfeldes mit dem Vorteil des Unbemerkt-Näher-Herankommens auszugleichen. Ein vollständiges Bild von ihr, einen vollständigen Anblick ihres Körpers: sie und ganz aus der Nähe - dass er da nicht schon längst drauf gekommen war.

Heute wollte er so dicht wie nur irgend möglich herankommen, heute wollte er endlich einmal Einzelheiten sehen, Details. Seine Ausrüstung sollte sich gelohnt haben.

Nach ein paar Minuten blieb er stehen und blickte kurz durch das Gerät. Na bitte, wer sagt es denn. Keine Panik, Rüdiger.

Ihr Wagen stand an der alten Stelle, seiner diesmal dahinter.

Sie halten nun mal auf Tradition. Er legte den Rucksack ab, ging vorsichtig, sich nun von Baum zu Baum schiebend, noch einige Schritte näher und setzte das Gerät an. Gleich darauf ließ er es enttäuscht wieder sinken.

Die beiden saßen bekleidet im Wagen und unterhielten sich.

Es war klar, dass heute irgendetwas schief gehen würde, völlig klar. Eigentlich müssten sie sich längst küssen. Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass die beiden mit sich beschäftigt waren, dann schlich er noch etwas weiter nach vorn, kletterte über ein paar Stufen vorsichtig auf einen vorbereiteten, etwas erhöhten Sitz zwischen zwei Bäumen und hob wieder das Glas. Er war nun so dicht, dass der Blickwinkel es ihm gestattete, ihren Unterkörper zu sehen.

Im Wagen schienen sie sich jetzt zu streiten, der Mann hob immer wieder fast beschwörend die Hände und redete ununterbrochen auf die Frau ein. Sie versuchte wohl, ihn zu beruhigen, streichelte sein Gesicht.

Dressel merkte, dass er schmale Augen bekam. Warum streichelt sie ihn, warum streichelt sie sein Gesicht, warum streichelt sie ihn überhaupt, sie hat ihn noch nie gestreichelt, jedenfalls nicht im Gesicht.

Er holte tief Luft. Was war bloß los? Es hatte ihn doch noch nie gestört, nicht so richtig zumindest. Er war doch heilfroh gewesen, damals, als sie plötzlich wieder da war, als er sie wiedergefunden hatte, wenn auch woanders und nicht allein.

Reiß dich zusammen, Rüdiger. Er legte das Nachtsichtgerät auf die Knie und schloss für einen Augenblick die Augen. Reiß dich zusammen. Es hat dich nicht zu stören und es stört dich auch nicht, klar. Er nickte. Oder willst du noch ein paar von den Nächten? Ja? Willst du sie wieder suchen, im Traum und in den Wiesen und im Wald? Jeden Tag?

Er schob eine Hand in den Mund, biss sich drauf. Wieder suchen? Nein, nein. Nicht noch mal.

   Sie war weg gewesen, einfach weg, war nicht mehr gekommen. Mitten im Sommer. Er hatte dort gesessen, auf seinem Hochsitz, gesessen wie immer, Freitagnachmittag und den nächsten auch und noch einen, aber der Weg war leer geblieben, sie war nicht mehr aufgetaucht, da hinten, am Horizont.

Es waren katastrophale Tage gefolgt, und Nächte, er musste sich krankschreiben lassen, wegen Überarbeitung, mehr hatte der Arzt nicht feststellen können. Er schüttelte sich. Großer Gott, was für eine Zeit. Er war in die Kirche gegangen, hatte gebetet. Er, der das letzte Mal zu seiner Konfirmation eine Kirche von innen gesehen hatte. Hatte gebetet, um Hilfe ersucht. Hatte gefleht, die Frau wiedersehen zu dürfen, wiedersehen, bitte, egal, unter welchen Umständen, nur wiederhaben wollte er sie. Bitte.

An dem Mittwochabend Anfang September war es mehr ein vages Gefühl gewesen, später hatte er es Eingebung genannt, das ihn veranlasst hatte, dem roten Wagen zu folgen, der dort vor ihm auf die alte, gepflasterte Straße abgebogen war, die zum Wald und dann ein paar Kilometer später hinunter zu den Wiesen und zum Fluss führte. In den Wald war er ihm nicht gefolgt, aber es war für ihn ein Leichtes gewesen, zu Fuß einen Bogen über den Acker zu schlagen, sich in seiner grünen Kleidung unauffällig im Wald zu bewegen, den roten Punkt zu suchen.

Und er hatte Erfolg gehabt. Der Mann war nicht weiter in den Wald gefahren, der Wagen stand auf einer kleinen Wiese, direkt an der Waldkante, neben einem anderen Auto, einem schwarzen, und der Mann ging auf der Wiese mit ihr spazieren. Mit ihr.

Er hatte sie wiedergefunden. Wie benommen war er gewesen, in jenem Augenblick, benommen von dem Anblick, von ihr.

Sie war wieder da. Jeden Mittwoch da. Mittwoch statt Freitag.

Sehr schnell hatte er sich damals mit den neuen Gegebenheiten arrangiert. Sie hatte jemanden, jemanden, mit dem sie heimlich schlief, im Auto schlief. Nun, es war ihre Sache, ihr Leben, so, wie es auch vorher ihr Leben gewesen war. Es änderte nichts an seiner Einstellung zu ihr, er wollte sie nur wiederhaben, als existierenden Teil seines Lebens wissen und als Teil seiner Träume.

Und in beiden, in seinem Leben und in seinen Träumen, nahm ihre Beziehung nun eine neue Qualität an. Denn er konnte sie beobachten, von der anderen Seite der Wiese aus, zwar mehr schlecht als recht, dafür war es einfach zu weit, aber er konnte zusehen, wenn sie sich auszog, wenn sie auf ihm saß, wenn sie sich bewegte, ohne etwas anzuhaben. Das, was zuvor nur ein Traumbild gewesen war, die Frau, die sich in der Höhle den Pulli über den Kopf zog, das begann sich nun zu erfüllen, wurde plötzlich Wirklichkeit.

Manchmal hatte er darüber nachgedacht, warum es ihn eigentlich nicht interessierte, dass die beiden dort miteinander schliefen und wie sie es machten, aber es war ihm keine plausible Antwort darauf eingefallen. Der Sex dort im Auto war eine Nebenerscheinung, die er hinnehmen musste, wenn er sie sehen wollte, und das wollte er, wollte nur sie, sie und ihren Körper.

Er hatte noch genau vor Augen, wie sich ihre Brüste beim Laufen bewegt hatten, bewegt in den Linsen seines guten und teuren Fernglases, aber sie waren verhüllt gewesen, zwar immer weniger, je wärmer es wurde, aber verhüllt, und nun war die Gelegenheit da, sie ohne diese Hüllen zu sehen. Es war eben nur zu weit weg, um mehr zu erkennen als die Konturen, die Körper, die Bewegungen. Er hatte schon die Anschaffung eines noch besseren, aber leider auch sehr teuren Fernglases beschlossen, sich dann jedoch angesichts der immer eher einbrechenden Dunkelheit für den Kauf eines Nachtsichtgerätes entschieden, da waren die beiden plötzlich umgezogen, von der Wiese in den Wald, mitten hinein.

   Er spürte, dass ihm kalt wurde. Oder fror er vor Aufregung. So dicht hatte er sich noch nie herangetraut. Noch einmal schätzte er das Risiko ein. Falls sie ihn bemerken sollten, könnte er sich sofort zurückziehen. Der Mann würde ihm kaum folgen, und wenn doch, dann sicherlich nicht allzu weit - es war aussichtslos, ihn, der hier fast blind laufen konnte, im dunklen Wald einzuholen. Aber sie würden nicht wiederkommen, würden sich eine andere Stelle suchen, und er wusste gar nicht, wie er damit umgehen sollte, zu sehr hatte er sich an diesen Spaß des Zuguckens gewöhnt, zu sehr an die beiden, zu sehr an sie. Sie wollte er endlich einmal von Dichtem sehen, nicht immer nur von Weitem, wollte sie in seiner Nähe spüren, so nah wie nur möglich, ihren Körper, ihre Brüste, ihr Gesicht, ihre Augen. Wollte das, was er viele Wochen immer nur verhüllt oder vage aus der Entfernung betrachten und einschätzen gekonnt hatte, endlich einmal deutlicher sehen. Sie, so wie sie war.

   Im Auto ging das kleine Licht an.

Na endlich, wird ja auch Zeit. Dressel packte das Nachtsichtgerät vorsichtig ein und griff zum Fernglas. Wenn sie jetzt wie immer die Sitze zurückmachen, hat sich das Warten doch gelohnt.

Die Frau setzte sich mit den Knien auf den Beifahrersitz, drehte die Rückenlehne herunter und breitete die Decke, die der Mann ihr reichte, langsam und sorgfältig über den Sitz. Dann zog sie ihre Jacke aus, legte sie zusammengefaltet über die Lehnen der hinteren Sitze, streifte sich das Shirt über den Kopf und steckte sich die Haare zusammen.

Mein Gott, lässt die sich Zeit heute, ging es Dressel durch den Kopf. Dann überlegte er, ob sie den BH, den sie trug, schon mal umgehabt hatte. Ganz schön groß. Er meinte wohl, ihn zu kennen, aber sicher war er sich da nicht. Grünlich und in dem Format. Nun, vielleicht kam er noch drauf, sie würde ihn ja noch eine Weile umhaben. Er kannte das Zeremoniell mittlerweile. Den BH würde sie erst später, wenn sie auf ihm saß, nach immer demselben Muster ganz langsam ablegen, nein, herunterstreifen, vorne, Stück für Stück, mit ihren Händen, immer ein bisschen weiter, bis nur noch die Hände dort lagen, auf ihren Brüsten. Und dann würde sie die Hände ...  Das schien für die beiden eine Art  Ritual zu sein. Auf diesen Augenblick freute er sich jedenfalls am meisten.

Er stellte das Glas etwas schärfer.

Der Mann saß nackt auf dem Fahrersitz und sah ihr beim Ausziehen zu. Sie legte sich auf den zurückgeklappten Rücksitz, hob den Unterkörper und zwängte sich die Jeans über die Hüften. Dann verschwand der untere Teil ihres Körpers aus Dressels Blickfeld und als sie sich wieder in die ursprüngliche Position brachte, trug sie dort nur noch einen schmalen, weißen Slip. Dressels Augen verengten sich. Jetzt würde der Mann ihr den Slip mit dem Mund herunterziehen. Er hatte den Gedanken noch gar nicht ganz zu Ende gebracht, da schob die Frau den weißen Streifen über ihre Schenkel und streifte ihn mit einer kurzen Fußbewegung ganz ab. Dann öffnete sie mit einer schnellen Bewegung den BH und warf ihn auf die Rückbank.

Dressel schluckte, atmete tief aus und schaukelte unbewusst mit dem Oberkörper. Was war heute bloß los? Er sah, wie sie in ihrer Handtasche kramte. Doch nicht jetzt schon?

Die Frau öffnete die Tür und warf etwas hinaus.

Trotz der Situation musste Dressel lächeln. Wenn er nicht in der Woche die Kondomhülle und das benutzte Kondom einsammeln würde, würden hier schon so einige liegen. Dass die irgendjemand finden und sich seinen Reim drauf machen könnte, kam den beiden wohl nicht in den Sinn, aber da er keine Lust hatte, seinen Platz mit jemanden zu teilen, hatte er sich aus Gründen der Vernunft diese nicht gerade angenehme Pflicht auferlegt. Vermissen würden sie die ja wohl kaum.

Er beugte sich vorsichtig etwas nach vorn.

Im Auto diskutierten sie schon wieder. Da sie sich zu dem Mann hingewendet hatte, konnte er nur ihren Rücken sehen. Dann schob sich ihr Arm nach vorne.

Jetzt streift sie ihm das Kondom über, die machen tatsächlich heute gleich Ernst.

Im selben Augenblick erlosch im Auto das Licht.

Das gibt’s doch nicht. Dressel lehnte sich zurück, griff vorsichtig in seine Brusttasche und zog eine kleine Flasche hervor. Der Kognak brannte auf der Zunge, er schüttelte sich. Noch nie, noch nie haben die beiden das Licht ausgemacht, noch nie. Der Tag ist wirklich ... Er nahm noch einen Schluck und zog vorsichtig wieder das Nachtsichtgerät aus der Tasche. Er mochte dieses Gerät nicht, das grün-gelbe, unnatürliche Licht stieß ihn ab, machte ihn irgendwie unsicher. Sie sah darin aus wie ein Phantom und bewegte sich auch so, er wollte sie so nicht sehen, aber jetzt war es die einzige Möglichkeit. Aber gedacht, nein, gedacht war es nicht so.

Der Mann kniete vor dem Sitz zwischen ihren gespreizten Beinen.

Dressel bog seinen Oberkörper, soweit es ging, zu beiden Seiten, aber es nutzte nichts, die Frau hatte ihre Füße auf das Armaturenbrett gesetzt und ihr angewinkeltes Bein verdeckte sowohl die halbe Fensterscheibe als auch die Unterkörper der beiden.

Dressel ließ das Glas etwas höher gleiten. Sie lag wie unbeteiligt da, hatte die Arme über dem Kopf verschränkt, schien zur Decke zu sehen. Der Mann hatte seine Hände auf ihre Brüste gelegt und presste sie so, dass die Spitzen sich zwischen seinen gespreizten Fingern hindurchschoben, spielte mit ihnen, umhüllte sie, gab sie frei, streichelte und presste sie abwechselnd, drückte sie zur Seite, nach oben, immer wieder, ohne Unterlass.

Dressel sah, wie die Arme des Mannes sich dabei im Takt seines Körpers bewegten und merkte plötzlich, dass die wie unbeteiligt daliegende Frau begann, ihn unruhig zu machen, unruhig auf eine Art und Weise, die er nicht fassen, nicht bestimmen konnte. Sie lag einfach nur da.

Er schluckte, einmal, zweimal und bemühte sich, nicht auszuspucken.

Und dann drehte sie den Kopf, drehte ihn in seine Richtung, sah zu ihm hinüber, schien ihn anzublicken. Ruckartig ließ er den Knopf des Gerätes los, hielt die Luft an und starrte in den finsteren Schlund des überdimensionalen Glases. Finsternis. Auch gegenüber. Nein, sie konnte nichts gesehen haben.

   Als das Licht wieder anging, saß der Mann auf dem Fahrersitz und war damit beschäftigt, das Kondom zu entfernen. Die Tür klappte leise.

Der würde jetzt eine rauchen. Dressel zog kurz die Nase hoch. Normalerweise jedenfalls. Die Frau lag immer noch mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Rücken und sah an die Decke.

Dressel reckte den Kopf vor, soweit es ging. Jetzt, endlich. Deutlich konnte er das dichte braune Dreieck zwischen ihren zusammengepressten Schenkeln erkennen.

Er griff zum Fernglas, merkte, wie sein Hals trocken wurde. Endlich. Dann drehte er so lange an der Schärfe, bis das eine Glas völlig von jener braunen Fläche ausgefüllt war. Herrlich, murmelte er, Wahnsinn. Langsam ließ er das Glas den Körper hochwandern, bis seine Augen nur noch Brüste sahen. Ist das eine Frau! Er setzte das Glas ab, lehnte sich in eine bequemere Stellung zurück und zog vorsichtig die kleine Flasche hervor. Dass sie das Rauchen nicht störte, das ist doch …

Sie hatte sich wieder zu ihm gedreht und verdeckte ihn ein wenig mit ihrem Körper. Dressel nahm noch einen kleinen Schluck. Nun ja, hatte so jeder eben seins. Er jedenfalls war zufrieden, mehr als zufrieden. Und darauf … Ausnahmsweise und weil heute Fasching war. Mit geschlossenen Augen trank er die Flasche leer und steckte sie sorgfältig wieder ein. Er hatte sie gesehen, alles von ihr gesehen, von dichtem gesehen. Das hatte ihm in ihrer Zusammengehörigkeit noch gefehlt. Ja, genau das.

Im Auto wurde wieder diskutiert.

Irgendwie komisch, dachte Dressel, während er sich behutsam von seinem Sitz schob und gebückt Schritt für Schritt rückwärts ging, erst streiten sie, dann schlafen sie miteinander, dann streiten sie wieder. Na ja, streiten, mehr wohl reden, aber immerzu … Er schob den Kragen nach unten, spuckte aus. Sonst hatten sie doch nie so viel zu erzählen. Komisch.

Noch einmal, in sicherer Entfernung, hob er das Glas. Durch die Lücke zwischen zwei Bäumen sah er, dass die Frau etwas hochhielt, damit hin- und herwedelte, gar nicht wieder aufhörte. Er drehte an der Schärfe, aber es wurde nicht mehr deutlicher, er war zu weit weg. Sieht aus wie ihr BH. Seltsam. Vorsichtig packte er das Fernglas ein.

Da war es wieder, dieses Gefühl von vorhin, dieses Ziehen im Bauch.

Er schulterte den Rucksack. Alles, aber auch alles war heute anders, seltsam, wirklich seltsam, und gestritten, nein, gestritten hatten sich die beiden noch nie, jedenfalls nicht in seinem Beisein. Aber so schlimm wird es dann wohl nicht sein, schließlich haben sie auch ..., na ja. Obwohl ..., er wiegte mit dem Kopf, spuckte vor sich hin, der Kerl hat echt sauer ausgesehen.

Da er sich nicht sicher war, ob der Mann die Autos wieder wenden oder heute doch eher rückwärts hinausfahren würde, ging er etwas schneller, um nicht in die Lichtkegel zu geraten.

2. Kapitel

Sie lag auf der Seite, die Knie eng an den Körper gezogen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Das nicht, bitte, nicht so ... O mein Gott, bitte. Sie schüttelte sich, kroch noch enger in sich zusammen, presste ihre Fäuste auf die Wangen und genoss den Schmerz. Lasst mich doch bloß zufrieden, alle zufrieden.

Nicht so, bitte.

Nach einer Weile merkte sie, dass sie zitterte. Kälte, Enttäuschung, Wut? Sie setzte sich auf. Warum so, warum nur so? Langsam, ganz langsam drehte sie den Kopf und blickte nach hinten, obwohl sie wusste, genug wusste, dass dort nichts zu sehen sein würde.

Dunkelheit.

Sie massierte abwechselnd ihre Schläfen, die Wangen, die Augen, merkte die Feuchtigkeit der Tränen. Das kann doch jetzt nicht wahr sein, das kann doch alles nicht wahr sein. Der ist weg, Maria, wirklich weg. Sie lauschte dem Wort nach. Weg. Schüttelte den Kopf, zog die Nase hoch. Aber ..., aber er kann dich doch nicht …, nicht einfach hier sitzenlassen, nicht einfach losfahren.

Sie rückte auf den Fahrersitz, schaltete das Licht an und schaute gebannt in den gespenstisch anmutenden Wald. Schaute sich fest. Langsam, ganz langsam begann sich ihr Oberkörper zu bewegen, vor, zurück, vor, zurück.

Die Gedanken kamen wie von selbst, behutsam und ruhig. Was machst du hier?

Sie zog sich dicht an das Lenkrad, legte das Kinn gegen das kühle Leder, merkte, wie ihre Augen größer wurden. Welch fremde Welt.

Und du bist sicher   dass das   was du tust richtig ist Vielleicht nicht richtig   aber   vernünftig

Großer Gott, Maria, was machst du hier eigentlich, sag, was? Was treibt dich hierher?

Ihr war, als ob sie plötzlich klar denken konnte. Nichts, Maria, nichts hast du hier zu suchen und du weißt es, weißt es eigentlich ganz genau. Hier gehörst du nicht hin.

Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß wie befreit die Luft aus.

Nein, hier hast du wirklich nichts zu suchen, nichts, gar nichts.

Sie lauschte dem Klang der Worte nach. Nichts zu suchen? Oh doch. Deutlich war da die Stimme, überdeutlich, da irgendwo. Nichts zu suchen? Du schummelst, schummelst sogar mächtig, denn du hattest hier etwas zu suchen und wohl auch zu finden und du hast es gefunden, ziemlich oft sogar, mach dir nichts vor, du weißt, dass es so ist.

So ist? Nein, sie schüttelte heftig den Kopf, so war. Du hast gesucht und du hast gefunden – jetzt jedenfalls nicht mehr. Es ist vorbei.

Aber warum nur so? Wieder spürte sie, wie sich ein Tränenschleier über ihre Augen legte. Warum so?

Der Wind ließ am Ende des Lichtes fahle Gestalten durch den Wald huschen, die größer wurden, sich aufbäumten, ineinanderflossen, verschwanden, sich neu fanden. Der grelle Horizont belebte sich, wurde nach und nach lebendig, die Welt da draußen begann vertraut zu werden. Die weißen Schleier wurden zu Schatten, zu alten Bekannten, die herübersahen, ihr zunickten, winkten. Schatten.

Es ist vorbei, Maria, und du hast es so gewollt.

Ja, sie hatte es so gewollt.

Sie atmete noch einmal tief aus und startete. Als sie den Rückwärtsgang einlegte und nach hinten schaute, sah sie die Wasserlachen auf dem Weg schimmern. Das konnte ja was werden. Sie und Rückwärtsfahren. Nach kurzer Überlegung entschied sie sich, das Auto zu drehen. Vorsichtig ließ sie die Kupplung kommen und schlug die Lenkung ein. Gehorsam schob sich das Heck des Wagens langsam zwischen die Bäume.

Sie hielt die Luft an und biss sich auf die Zunge. Ein Stück noch. Als der Wagen quer zum Weg stand, atmete sie erleichtert aus, legte den Vorwärtsgang ein und gab Gas. Zuviel Gas. Das Auto rollte zügig an, sie riss die Lenkung herum, soweit es ging, aber es nutzte nichts, der Wagen rutschte über den Weg auf die andere Seite. Sie zuckte mit den Schultern, legte wieder den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Der Motor heulte auf, aber der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Sie wechselte den Gang und trat nun kräftig auf das Gaspedal, mit dem Ergebnis, dass der Motor einen Höllenlärm machte und das Auto trotzdem nicht losfuhr.

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich festgefahren hatte. Festgefahren am späten Abend und mitten im Wald.

Sie merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Nicht, dass sie unbedingt Angst verspürt hätte, wegen der Dunkelheit oder wegen des Waldes – dazu war sie einfach schon zu oft allein am Fluss und in den Wiesen gewesen, schon als Kind und auch im Dunkeln, aber ihr wurde immer deutlicher bewusst, in welcher Situation sie sich befand.

Irgendjemand musste sie hier rausziehen. Irgendjemand. Aber wer?

Trotz der Situation musste sie laut auflachen, als sie sich vorstellte, wie sie die Lage einem Abschleppunternehmen erklären müsste: Ja.Ja doch. Ich habe mich festgefahren. Eben gerade. Wo? Na im Wald.

Sie stieß tief die Luft aus. Im Wald. Irgendetwas musste geschehen.

Das Frösteln wurde nun immer stärker, bei jeder Bewegung spürte sie ein leicht unangenehmes Gefühl an der Brust. Der feste Stoff des T-Shirts rieb sich an ihren Brustwarzen. Sie schüttelte sich. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie keinen BH trug. Der lag immer noch hinten, auf der Hutablage, dort, wo ihn Frank vorhin in seiner Wut hingeschleudert hatte. Sie war zu stolz gewesen, in seinem Beisein über die Sitze zu kriechen.

Als sie ihn an einem Träger zu sich zog,  lächelte sie unwillkürlich. Nein, Dessous konnte man dazu wohl tatsächlich nicht mehr sagen, jedenfalls aus ihrer beider Sicht nicht. Dabei war er doch schick, soviel Spitze, türkis, mit einem Verschluss vorn, ein bisschen groß vielleicht, na ja, bisschen war wohl etwas untertrieben, aber sie hatte es für einen guten Einfall gehalten, an so einem letzten Abend es auch hier, bei der Größe, anders zu machen, auch diesbezüglich einen Schlusspunkt zu setzen.

Statt die Brüste, wie meist üblich und von ihm sehr gern gesehen, langsam nach und nach zu entblößen, sollten sie nun nach und nach bedeckt werden, völlig bedeckt, sozusagen als Abschluss, und niemanden mehr wollte sie ihre beiden Prachtexemplare, wie er sie genannt hatte, so, genau so zeigen, wie er sie immer zu Beginn zu sehen bekommen hatte,  kaum gehalten von dem bisschen Stoff, der mehr zeigte als verbarg. So sollte es sein. Sollte.

Sie nickte. Warum auch nicht. Er war doch sonst immer ganz versessen darauf gewesen, mit dem BH, vor allem beim Abnehmen, irgendetwas Besonderes zu veranstalten, einfach nur weg hatte ja nie gereicht, vor allem ihre Hände sollten doch ständig eine Art Ersatz-BH darstellen. Warum also konnte nicht auch das Umlegen etwas Außergewöhnliches sein? Sie war fast stolz gewesen auf ihre Idee, die Idee eines neuen, größeren BHs.

Und zu groß? Nun, ihre Brüste waren ja auch nicht unbedingt klein.

Sie zog das Shirt über den Kopf, ihr Blick fiel auf die Scheibe neben sich, verharrte einen Augenblick. Nein, klein waren die nicht. Die Silhouette ihrer Brust schimmerte matt vor dem dunklen Hintergrund, deutlich trat die Wölbung hervor, senkte sich leicht, wurde spitzer. Fasziniert schaute sie auf die Kontur - so, genau so sah die Brust einer Frau aus, schön, vollendet, geheimnisvoll, in der Nähe und doch nicht greifbar.

Spieglein, Spieglein … wer ist die …, nein, wer hat die schönsten …

Sie schmunzelte, beobachtete ihre Bewegungen und genoss es in dem Augenblick, genoss es zutiefst, eine Frau zu sein, fand immer mehr Gefallen an dem Bild dort im dunklen Wald, wendete und drehte sich, drückte das Rückgrat durch, schob den Oberkörper nach vorn und legte ihre Hände unter die Hügel, gleichsam, als ob sie diese wiegen wollte, schob ihre Finger sanft über die Spitzen, wechselte die Hände, empfand ein geheimnisvolles Vibrieren und sah ihr Lächeln – es war angenehm, ja, es war angenehm, dieses Berühren, so, aber auch nur so, wenn man nicht musste, sondern wollte, wirklich streicheln und es auch zeigen wollte, sich, dem anderen. Wollte.

Sie holte tief Luft. Keine Frage: Ihre Brüste waren schön und wohl proportioniert. Zufrieden schaukelte sie ein-, zweimal mit dem Oberkörper, nickte. Das war schon alles so, wie es sein sollte.

Dann hielt sie sich den glänzenden Streifen vor den Körper und versuchte mit jeder Hand ein Körbchen zu umfassen, doch es gelang ihr nicht. Nun, seine Hände waren schließlich auch größer, die hätten genau herumgepasst. Ja, hätten sie. Hier, hier drin sollte sich symbolisch das Ende demonstrieren. Nun ja, sollte.

Sie stülpte sich die grünlichen Halbkugeln erst über die eine, dann, nach einem Blick in den Fensterspiegel, über die andere Brust, ließ sie wieder fallen, drückte sie erneut gegen ihren Körper, schaute auf ihr Bild, dort, im Dunkeln. Geschlossen, zu, aus, nichts zu sehen mehr, kein Blick, auf nichts, vorbei.

Sie klickte den Verschluss ein und  zog sich schmunzelnd ihr grünes Shirt über. Wirklich top. Drüber und drunter, Ton in Ton. Echt schick.

Dann griff sie zum Handy. Alles Überlegen war sinnlos. Nein, sie kam wohl kaum drum herum, Frank anzurufen. Er würde doch bestimmt ...

   Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen.

In rasender Schnelligkeit tauchten Gedanken im Kopf auf, Blitze, die sich aber alle an einer Stelle bündeln zu schienen – Friedrich.

So, genau so hatte sie es sich immer ausgemalt, genau so würde es sein, wenn einmal …  Was macht der Junge ohne dich?

Sie sah auf das große, fahl blinkende Messer.

Großer Gott, was macht Friedrich bloß ohne dich?

Es waren dieselben Gedanken wie damals, als das Flugzeug beim Landeanflug immer und immer wieder durchgesackt war. Friedrich. O Gott, Friedrich.

Der Mann zeigte auf den Beifahrersitz.

   Rüber! Sitz ... runter!

   Die Stimme klang dumpf und unwirklich.

Das Messer. Sie schüttelte sich, starrte auf die Maske, ihre Hände verkrampften – Friedrich, Friedrich, Friedrich.

Ich mach alles, alles, was Sie wollen. Bitte. Ich mach alles, wirklich – ich habe ein kleines Kind. Verstehen Sie? Ein Kind! Bitte, ich mach alles, alles.

   Ausziehen!

   Friedrich. Sie riss sich das Shirt über den Kopf. Der Reißverschluss der Jeans klemmte. Sie stieß die Luft durch die Zähne. Friedrich.

   Keine Panik. Dann … tue ... nichts.

   Sie beugte sich zurück, hellwach. Beobachtete seine Hände. Friedrich.

Der Mann knipste das Licht an, legte das Messer auf das Armaturenbrett und zog seine Handschuhe aus. Dann tastete er mit der einen Hand über ihren Körper, schob mit der anderen ihre Beine auseinander und kniete sich dazwischen.

Sie hörte, wie er seine Hose öffnete und presste die Zähne aufeinander.

Friedrich. Bloß nicht wehren.

Unwillkürlich dachte sie an den Schmerz, diesen unsagbaren Schmerz, den sie empfunden hatte, heute Morgen, als sie nicht wollte, keine Lust hatte, aber doch musste. Musste. Plötzlich wusste sie, dass sie Angst hatte, Angst vor noch größeren Schmerzen. Hoffentlich macht der Körper mit. Sie drückte die Beine weit auseinander und wunderte sich, wie nüchtern sie plötzlich ihre Lage betrachtete.

Ich habe Kondome hier. Wir sollten vielleicht … Soll ich Ihnen …?

Die große Hand auf dem Mund. Friedrich. Nur nicht wehren. Er drang langsam in sie ein, ganz langsam, immer wieder zurückziehend, hatte Mühe.

Sie biss sich auf den Knöchel, spürte ihre Zähne. Na los doch …, Gott, hoffentlich … Dann war es geschafft. Während er sich behutsam, ohne einen Ton von sich zu geben, in ihr bewegte, strichen seine Hände unablässig über ihren Körper, trafen sich immer wieder an ihren Brüsten, drückten sie in alle Richtungen, pressten sie zusammen, manchmal so fest, dass sie unwillkürlich die Luft anhielt.

Sie starrte an die Decke und nahm jede Bewegung, jede Berührung wahr. Es piekte an der äußeren Seite der rechten Brust. Sie versuchte, sich auf den leichten Schmerz zu konzentrieren. Immer, wenn seine linke Hand bei ihrer Wanderung über den Körper sich auf die rechte Brust legte und diese drückte, verspürte sie außen diesen seltsamen Schmerz, der nur vom kleinen Finger erzeugt werden konnte. Je stärker er die Brust presste, desto tiefer bohrte sich der Finger in die Haut.

Der hat was an der Hand, am Finger, am kleinen - der hat ein Dupuytren. Den erkenn ich wieder. Irgendwie erschien ihr der Gedanke daran beruhigend.

Sie drehte, um nicht auf die dunkle Gestalt starren zu müssen, den Kopf zur Seite und wartete darauf, dass er fertig werden würde.

Er blieb bis zum Schluss bei seinen gleichmäßigen Bewegungen, dann erhöhte sich für einige Sekunden der Druck auf ihre Brust bis fast ins Unerträgliche und gleich darauf wurden seine Bewegungen langsamer, immer langsamer.

Ihre Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Nicht einmal sein Atem ist heftiger geworden. Mit einem Mal war die Angst wieder da, diese wahnsinnige Angst. Nichts tun. Hat er gesagt. Ja, gesagt hat er es. Na und. Der wollte dich zur Ruhe bringen, nur zur Ruhe. O Gott, Friedrich.

Der Mann verharrte bewegungslos in ihr, seine Hände streichelten sacht über ihren Körper.

Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, drehte sie langsam den Kopf und sah die Gestalt an, die da zwischen ihren gespreizten Beinen kniete. Sie merkte, wie ihre Augen immer größer wurden und ein wunderbarer Gedanke Besitz von ihr ergriff: Das ist alles gar nicht wahr, das ist ein Traum, du träumst.

Sie spürte die wohltuende Wärme, die begann, ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Oberkörper zu umgeben.

Ein Traum.

Er löste sich mit einem schmatzenden Laut von ihr, der Reißverschluss sirrte leise.

Sie faltete die Hände und legte sie auf den Bauch. Friedrich.

Er nahm das Messer und kletterte auf den Fahrersitz. Dann legte er wieder eine Hand vor den Mund.

   Anziehen. ... schieb.

   Sie hatte Mühe, es zu verstehen. Es klang verzerrt, unheimlich.

Er drückte von außen die Tür ran.

In der Hast fand sie den Slip nicht und ließ auch den BH weg. Schnell, schnell. Friedrich.

Mit einem Ruck war das Auto wieder auf dem Weg. Sie legte den Rückwärtsgang ein. Im schummrigen Lichtkegel der Rückfahrscheinwerfer sah sie ihn stehen, schwarz mit hellen Punkten im Gesicht. Er winkte mit beiden Händen rückwärts.

Wenn du jetzt Gas gibst, fährst du ihn über, fährst du ihn tot. Kurz blitzte der Gedanke auf – dann war da ein anderer: Raus hier, nur raus, der hilft dir.

Sie starrte wie gebannt auf die winkenden Arme und ließ die Kupplung kommen, zu schnell kommen. Der Wagen fuhr zügig vier, fünf Meter zurück, ein Baum kam bedrohlich nahe und als sie abrupt bremste, war hinter ihr niemand mehr zu sehen. Sie merkte, dass ihr, nun erst, der Schweiß ausbrach. Hektisch ruckte sie den Vorwärtsgang hinein und stöhnte gequält auf, als der Motor aufheulte und sie begriff, dass das Auto erneut feststeckte.

Es klopfte an der Fahrerscheibe und als sie den Kopf drehte, musste sie fest auf die Zähne beißen.

Wie im Film, ja, wie im Film. Sie spürte das Würgen im Hals. Kein Film.

Das schwarze Gesicht war unmittelbar vor ihr – so dicht war es nicht einmal vorhin vor ihren Augen gewesen. Ihr war, als begriff sie eigentlich erst jetzt richtig, in welcher Situation sie sich befand: eine Frau mitten im dunklen Wald, zusammen mit einer finsteren Gestalt, chancenlos.

Ihr Körper begann zu zittern, sie drehte den Kopf langsam nach vorn und schielte zu ihm.

Er deutete mit der Hand vorwärts und verschwand. Mechanisch ließ sie die Kupplung los und gab Gas. Der Wagen schoss nach vorn, sie trat auf die Bremse, ohne zu kuppeln, und plötzlich war es still, völlig still.

Sie legte sich zurück, bis sie die Kopfstütze spürte, schloss die Augen und atmete tief durch, einmal, zweimal, dreimal.

Und du bist sicher   dass das   was du tust   richtig ist Vielleicht nicht richtig   aber   vernünftig

Ich mag nicht mehr, ich mag einfach nicht mehr. Lasst mich doch alle bloß zufrieden. Ich mag nicht mehr.

Ihre Schultern sackten nach unten und als es wieder klopfte, drehte sie den Kopf langsam zur Seite und sah das schwarze Gesicht an. Und das schwarze Gesicht sah sie an, regungslos, und als zwischen den Gesichtern eine Hand erschien, die Bewegung des Runterkurbelns nachahmend, drückte sie, ohne die Kopfstellung zu verändern, auf den Knopf.

Ein leises Summen, dann wieder Stille. Eine Wolke feucht-kalter Luft schlug ihr entgegen, es roch nach Schlamm und nach Holz.

Sie spürte, wie die Augen sich trafen.

Lass mich doch einfach bloß zufrieden. Hatte sie das jetzt gesagt oder gedacht?

Sie sah, wie sich eine Hand halb vor das Gesicht schob, den Mund bedeckte.

   Rückwärts ... langsam ... klar.

   Sie starrte auf die Augen, die als Flecken vom Gesicht übriggeblieben waren.

   Klar?

Und du bist sicher   dass das   was du tust   richtig ist Vielleicht nicht richtig  aber vernünftig

   Sie sah in die Augen. Lass mich doch einfach bloß zufrieden, hörst du, einfach bloß zufrieden. Ich hab doch alles gemacht. Alles, was du wolltest. Lass mich in Ruhe, einfach in Ruhe. Hau ab!

Sie sah die Hand kommen, keine schwarze Hand, eine helle, sich vor dem dunklen Hintergrund deutlich abzeichnende Hand.

Die Berührung traf zuerst ihre Schläfe, zog dann langsam, ganz langsam, sachte über die Wangenknochen, über die Wange, zum Unterkiefer, setze kurz aus und begann von vorn.

Vor ihren Augen begannen sich bunte Kreise zu drehen, immer schneller, immer größer. Gequält stöhnte sie auf, dann schüttelte sich ihr Körper in einem tiefen Schluchzen.

Sie spürte das heftige Schütteln an der Schulter.

   Rüberrücken!

   Sie riss die Augen auf. Was?

   Rüber!

   Sie griff nach seiner Hand. Bitte, bitte, nicht! Für einen Augenblick verlor sie die Beherrschung. Nein, nein, nein, bitte, nicht noch mal, bitte! Nein, nein! Ich ...

Er zog seine Hand zurück, stieß ihr mit der anderen gegen die Schulter.

   Rüber! Ich ...

   Sie zuckte zusammen, wach. Was war das?

Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass die Stimme diesmal menschlich geklungen hatte. Er hatte wohl vergessen, die Hand vor den Mund zu nehmen.

Eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Ein Mensch. Ein Monster. Ein menschliches Monster. O mein Gott. Mach, Maria, los, mach.

Langsam bekam sie sich wieder in die Gewalt. Sie rückte auf den Beifahrersitz, drückte sich in die äußerste Ecke, drehte sich zu ihm und wartete.

Er brauchte mehrere Versuche, um das Auto rückwärts zum Ausgang zu steuern. Wieder und wieder kam er beim Umfahren der Pfützen vom Weg ab. Schließlich fuhr er mitten hindurch. Kurz vor der Straße stoppte er, zog die Handbremse, schaute kurz zu ihr hinüber und stieg aus.

Hastig rutschte sie hinter das Lenkrad und legte den Gang ein. Die Straße. Sie blickte nach vorn.

Die dunkle Gestalt stand regungslos an einen Baum gelehnt mitten im Scheinwerferlicht.

3. Kapitel

Maria gab Gas.

„I can get now satisfaction“. Sie riss die Anlage auf.

Rechts die Autobahn, der Blinker tickte.

Die Tachometernadel kletterte, 160, 170, 180.

Die Lautsprecher vibrierten. Die Musik übertönte das Motorengeräusch.

Ganz langsam begann die Welt sich aufzulösen, die Lichtkegel vor ihr verschoben sich zu einer Wand, zu einer milchigen Masse.

Das Gaspedal war am Anschlag, weiter ging es nicht. Ende.

Sie raste in die Unendlichkeit, in das Nichts. Spürte ihr Lächeln. Schneller. Merkte, wie der Brustkorb sich senkte. Schneller. Die weiße Nacht vor ihr zerlegte sich nach und nach in Blitze, zerschmolz zu Feuerbällen, die allmählich immer größer wurden.

Sie schloss für einen Augenblick die Augen und genoss die wohltuende Verlorenheit, die sich ganz langsam ausbreitete. Vorbei. Ja, vorbei. Schneller.

Mach die Augen auf, du musst die Augen aufmachen.

   Die Autobahn schien nur noch aus Rundumleuchten zu bestehen.

Sie konnte sich später nicht erklären, wie sie es geschafft hatte, an den Leuchten vorbeizukommen, sie waren plötzlich links neben ihr gewesen und  eigentlich konnte sie sich an gar nichts mehr erinnern, nur an das Dröhnen, dieses Dröhnen hinter ihr, das geklungen hatte wie der langgezogene Ton eines Schiffshornes.

Sie fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, immer weiter, fuhr, bis die großen Scheinwerfer aus dem Rückspiegel verschwunden waren, dann bog sie ab.

Ein Parkplatz.

Das wütende Dröhnen. Sie verzog die Lippen. Die können dir nichts, dafür sind die zu langsam, viel zu langsam, nein, die haben keine Chance.

Ihr Mund verselbstständigte sich. Keine Chance.

Sie drehte die Lehne ein wenig zurück, beugte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. In ihren Beinen begann es zu zucken.

Keine Chance.

Und irgendwo war dann die Welt zu Ende. Leer. Ein großes, leeres, schwarzes Loch.

Und die Welt war warm und die Welt war bunt, geteilt in Kreise, Würfel, Ringe.

Sie hörte den Laut. Seufzen, Stöhnen. Sie?

Die Augen sahen nichts. Schemen. Schatten.

Schatten?

Abrupt setzte sie sich auf und schaltete das Fernlicht ein. Einige Bänke, ein übervoller Mülleimer am Rand des Lichtkegels, das Grau  des Toilettenhäuschens.

Sonst nichts. Nichts.

Keine Schatten.

Nur sie, Maria, 32 Jahre, niedergelassene Ärztin, verheiratet, ein Kind.

Ihr Kopf begann sich zu verselbstständigen, nickte langsam, in gleichmäßigen, ruhigen Bewegungen. Ihre Gedanken folgten dem Auf und Ab: Du hast es geschafft, Maria. Ja, jetzt hast du es geschafft. Nun bist du da, wo du hingehörst.

Sie horchte ihren Gedanken nach. Da, wo du hingehörst.

Du bist gewarnt worden, zu Recht gewarnt worden. Irgendwann geht es schief, dein Leben, irgendwann bekommst du die Strafe dafür. Du machst solange, bis das Fass überläuft.

Hatte sie das? Sie dachte an das Wochenende, an den gestrigen Abend, an den festen Entschluss, sich heute nicht mehr von ihrem Vorsatz abbringen zu lassen. Der Neuanfang war doch schon beschlossene Sache, das Fass längst voll, voll genug, es sollte nicht überlaufen, nein, sollte es nicht. Sie wollte doch ... Ob es zu voll gewesen war?

Sie drehte den Sitz ganz nach unten und legte sich zurück.

Das Zucken in den Beinen wurde immer stärker.

Ja, es war voll, zu voll, übervoll.

Sie hatte überzogen, überzogen auf allen Gebieten, und das war die Strafe dafür.

Sie spürte das Würgen im Hals, die Unruhe der Beine übertrug sich auf die Arme.

Das war die Strafe, ja, die Strafe.

Sie hörte das Wort kommen: Geißel, Geißel - die Geißel Gottes.

Sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Die Geißel Gottes, ja, das war es gewesen und sie hatte es nicht anders verdient.

Nur mit Mühe gelang es ihr noch, die Tür aufzustoßen. Immer und immer wieder erbrach sie sich.

Als der Körper sich endlich beruhigt hatte, fuhr sie ein paar Meter weiter und stieg aus.

Es war sternenklar und kalt. Sie holte eine Flasche Wasser aus dem Kofferraum und spülte sich den Mund aus.

Dann gewahrte sie die Stille, die Größe, den Raum um sich herum.

Schau dich um   schau dich genau um   da ist es Glaubst du   dass ich das gesucht habe

Langsam stieg sie wieder ein.

Gesucht, gesucht, ich habe das alles nicht gesucht, das nicht, ich ..., sie merkte, wie ihre Gedanken stotterten, ... als wenn ich hier hinwollte, hier, ich ..., der Hals schloss sich immer mehr, ... und auch nicht ..., ... als wenn ich in den Wald wollte, wollte ich nicht, nein, nie, ich wollte ..., ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie merkte, dass sie sich auf die Lippen biss, … ich wollte ..., sie nickte und spürte, wie ihre Schultern herabsackten, die Gedanken wegglitten, weit wegglitten, ... wollte doch nur …

Nicht richtig, aber vernünftig

1. Teil

1. Kapitel

Der Fluss lag knapp zwei Kilometer entfernt.

Er war vom Dorf aus nicht zu sehen, man schaute über ihn hinweg auf die andere Seite, zu den wenigen Häusern, die dort drüber standen und in der Weite der Landschaft genauso verloren wirkten wie hier die Häuser von Birkau.

Das Dorf war oben, denn der Fluss lag unten und so wurde hier seit jeher die Gegend von ihren Bewohnern nur unterschieden zwischen oben und unten. „Oben“, das war der Acker und das Dorf, „unten“, das waren die Wiesen und das Bruch und der Fluss.

Manchmal, und meist nur zum Einkaufen oder in die Kneipe, musste man auch „hoch“, also in den kleinen  Ort, der drei Kilometer entfernt lag und ein richtiges Dorf war und mit einer Kirche, einer Gaststätte und eben einem Einkaufsladen aus weit mehr bestand als Birkau mit seinen genau fünf Häusern.

Früher gab es für die Menschen hier eigentlich immer nur den Weg nach „oben“ oder nach „unten“ und erst mit der Zeit kam mehr und mehr eine andere Richtung in ihr Leben, dann hieß es, man musste weg, und „weg“ bedeutete in die Stadt, in die Stadt, deren Silhouette in der dem Fluss entgegengesetzten Himmelsrichtung den Horizont bildete. Es war ein plattes Land und die drei gewaltigen Kirchtürme, die diesen Horizont in regelmäßigen Abständen unterbrachen, ragten nebeneinander wie mahnende Finger in den Himmel.

Der Fluss bildete die Mitte einer Senke, die den Namen „Tal“ erhalten hatte. So jedenfalls stand es in den Büchern und auf den Landkarten.

Hier unten im Tal war er breit, für die hiesigen Verhältnisse sogar sehr breit, bisher hatte es der Überlieferung nach noch niemand geschafft, einen Stein auf die andere Seite zu werfen. Und das wollte in dieser Gegend schon etwas bedeuten für die Breite eines Flusses, den man landläufig eigentlich nur „den Strom“ nannte.