Eine vorbildliche Tochter - Federico Axat - E-Book

Eine vorbildliche Tochter E-Book

Federico Axat

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Beschreibung

Eine Schülerin verschwindet. Selbstmord, sagt die Polizei. Bullshit, sagen ihre Freunde. Camila Jones, prominente TV-Journalistin, macht sich auf die Suche nach der Wahrheit.

Die prominente Investigativjournalistin Camila Jones genießt ihren vorzeitigen Ruhestand. Auf der spärlich besiedelten Insel vor der Küste von North Carolina kehrt endlich die Ruhe in ihr Leben ein, die sie sich gewünscht hat. Eines Mittags aber steht ein Reporter der Lokalzeitung vor ihrer Haustür und bittet sie um Hilfe. In einer Kleinstadt auf dem Festland ist vor einigen Monaten die 14-jährige Sophia verschwunden. Selbstmord, vermutete die Polizei damals. Doch ihre Leiche wurde nie gefunden. Camilas Instinkt ist geweckt: Kann es sein, dass das Mädchen noch lebt?

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MOBI

Seitenzahl: 605

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt:

Die prominente Investigativjournalistin Camila Jones genießt ihren vorzeitigen Ruhestand. Auf der spärlich besiedelten Insel vor der Küste von North Carolina kehrt endlich die Ruhe in ihr Leben ein, die sie sich gewünscht hat. Eines Mittags aber steht ein Reporter der Lokalzeitung vor ihrer Haustür und bittet sie, sich eines Kriminalfalls anzunehmen. In einer Kleinstadt auf dem Festland ist vor einigen Monaten die vierzehnjährige Sophia verschwunden. Von der Brücke gesprungen, vermutete die Polizei damals. Doch nun wurde ein Mitschüler tot im Wald aufgefunden. Der Mitschüler, mit dem Sophia kurz vor ihrem Verschwinden einen heftigen Streit hatte. Die bisherigen Ermittlungen führen ins Nichts. Doch der Reporter hat Beweise, dass Sophia keinesfalls Selbstmord beging. Als Camila widerwillig aufs Festland fährt, will ihr eine Frage nicht aus dem Kopf gehen: Was, wenn Sophia noch lebt und ihre Finger im Spiel hat?

Autor:

Federico Axat wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Ingenieur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen übersetzt und stoßen bei Leser*innen und Kritiker*innen auf große Anerkennung. Die New York Times feierte ihn als »einen der besten Thrillerautoren der Welt«. Federico Axat verbrachte einige Jahre in den USA, heute lebt und arbeitet er in Buenos Aires.

Übersetzer:

Matthias Strobel, geboren 1967, übersetzt aus dem Spanischen und Englischen, u. a. Alfredo Bryce Echenique, José María Arguedas und Guillermo Arriaga. 2014 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis Offenburg ausgezeichnet (Förderpreis), 2017 gehörte er zu den Finalist*innen des Internationalen Literaturpreises. Er lebt in Berlin.

Federico Axat

Eine vorbildliche Tochter

Psychothriller

Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »La hija ejemplar« bei Ediciones Destino, Barcelona.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutschsprachige Erstausgabe Juli 2025

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2022 Federico Axat

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe im btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: SemperSmile | München

unter Verwendung eines Motivs von © Trevillion/Natasza Fiedotjew

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MSP · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-30933-6V004

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Sole

When the night has no end And the day yet to begin As the room spins around I need your love

U2, »Hawkmoon 269«

Erster Teil

1

In einem anderen Leben hatte Camila Jones zwei Emmys für ihre investigativen Fernsehbeiträge gewonnen, und nun war sie nicht einmal imstande, ein Rote-Bete-Pflänzchen zu ziehen.

Sie betrachtete eine Weile die verkümmerten Blätter und die kaum fünf Zentimeter langen Stängel. Dann holte sie ihr iPhone aus der Schürzentasche und machte ein Foto. »Das sieht übel aus«, schrieb sie auf WhatsApp an Marshall, der sich auf der Insel um die Gärten kümmerte. Der Mann, der in den letzten Jahren das geworden war, was einem Freund am nächsten kam, antwortete mit einem Smiley: »Ich hab’s Ihnen ja gesagt.«

Camila ließ ihren Blick von der Anhöhe erst nach Westen über den Atlantik schweifen und dann über die Kanäle und Sümpfe, die dieses Stück Land mit dem hochtrabenden Namen vom restlichen North Carolina trennten. Es stimmte, dass Marshall sie gewarnt hatte: »Sie können sich noch so viel gute Erde kommen lassen, Ms. Jones, hier vermischt sich die Meeresluft mit der Landluft, und das ist nicht gut.« Marshall pflegte die Gärten der Häuser schon seit über zwanzig Jahren und wusste, wovon er sprach. Wehmütig erzählte er immer von diesen besseren Zeiten, als sich rund dreißig wohlhabende Familien auf der Insel niedergelassen hatten in der Hoffnung, sie würde sich zu einer exklusiven Gegend entwickeln, was aber nie geschah.

Das Haus, das Camila sich nach ihrem Rückzug aus dem Journalismus gekauft hatte, war ein Sinnbild dieser verheißungsvollen Vergangenheit. Das Glashaus, wie die Ortsansässigen es nannten, stand auf dem höchsten Punkt der Insel und war ein modernes zweistöckiges Gebäude mit einem atemberaubenden Ausblick. Die reinste Verschwendung für eine alleinstehende Frau und ihren Hund.

Während Camila kopfschüttelnd dastand, sah Bobby von der anderen Seite des Gartens zu ihr herüber. Der Beagle, der mit hündischem Bedauern den Umzug von einer luxuriösen Wohnung in New York in … das hier hatte erdulden müssen, hatte ein Faible dafür entwickelt, alle botanischen Katastrophen seiner Herrin genauestens zur Kenntnis zu nehmen. Bobby war ein alter Hund – und Bewegung war noch sie sein Ding gewesen –, was ihn aber nicht daran hinderte, jedes Mal aufzutauchen, wenn sich die Gelegenheit ergab, und sie darauf hinzuweisen, dass früher alles besser war.

Camila war gerade zweiundfünfzig geworden, und auch sie vermisste gelegentlich ihr altes Leben.

»Na, Bobby? Du hast Hunger, oder?«

Sie gingen die Anhöhe hinunter und dann den Kanal entlang, der das Grundstück begrenzte. Marshall hatte einmal gesagt, er habe seit Jahren keinen Alligator mehr gesehen, doch Bobby blieb manchmal stehen und starrte aufs Wasser, als lauere unter der Oberfläche eines dieser Reptilien. Diesmal beschränkte er sich darauf, sorglos neben seinem Frauchen herzutrotten.

Gut gelaunt stieg Camila die Stufen zur hinteren Veranda hinauf. Auf der Insel gab es gute Tage und schlechte Tage, und dieser Tag schien einer der guten zu werden trotz der missratenen Rote-Bete-Pflanze. In der Küche stand Camila eine Weile da und überlegte, ob sie Frühstück machen oder in den Keller gehen sollte, um den härtesten Teil ihrer täglichen Routine zu absolvieren. Manchmal erledigte sie es gleich, dann wieder quälte sie sich den ganzen Tag mit dem Gedanken, dass es irgendwann sein musste.

Nie, nicht einmal in ihren dunkelsten Momenten, hätte Camila gedacht, dass es ihr so schwerfallen würde. Als sie die Entscheidung getroffen hatte, ihren Job zu kündigen und aus New York wegzuziehen, war sie überzeugt gewesen, dass es so am besten war. Sie würde ihre Fähigkeit, tief ins Leben anderer Leute einzutauchen, auf ihr eigenes Leben anwenden. Sie glaubte, genügend Erfahrungen gesammelt zu haben, um sich selbst zum Objekt ihrer Nachforschungen zu machen, doch sie hatte unterschätzt, welche Schwierigkeiten dies mit sich brachte. Jahrelang hatte sie sich eingeredet, sie habe nur deshalb keinen Blick auf sich selbst geworfen, weil die Zeit dafür fehlte. Sie hatte es tatsächlich geglaubt.

Als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, hatte sie zu Richard Ambrose, ihrem Produzenten und guten Freund, gesagt, sie brauche eine Auszeit. Eine unbefristete Auszeit. Richard war nicht überrascht gewesen, schließlich hatte er ihr einige Male beigestanden bei ihren Panikattacken und die Folgen abgefedert, die sich daraus ergaben. Er war es auch gewesen, der ihr sein Haus auf Queen Island angeboten hatte, damit sie in Ruhe nachdenken konnte. Zu seiner großen Überraschung hatte Camila ihm vorgeschlagen, das Haus zu kaufen und alles hinter sich zu lassen. »Alex wird bald studieren, der Zeitpunkt ist also perfekt.«

Für Richard bedeutete es eine Erleichterung, sich von dem Haus zu trennen. Nach seinen Erfolgen als Produzent hatte er es aus einer Laune heraus gekauft. Schlimmer wog der Verlust seiner Ankerfrau von Das Gewicht der Wahrheit, der wichtigsten Investigativsendung landesweit.

Camila war in das Glashaus gezogen und hatte in den ersten Monaten nur eines getan: lesen. Lesen, Filme schauen, Gemüse ziehen, sogar ein bisschen selbst schreiben. Das hatte sie sich verdient. In den vergangenen Jahren hatte sie praktisch durchgearbeitet. Als sie sich schließlich ihren eigenen Geistern hatte stellen wollen, waren die Attacken zurückgekehrt, so stark wie nie zuvor. Vielleicht war sie es zu überstürzt angegangen, hatte sie überlegt. Kurzerhand hatte sie die Zeitungsausschnitte und wenigen Habseligkeiten, die sie noch aus ihrer Jugend aufbewahrte, im Keller verstaut, und schon war es etwas besser geworden.

Sie hatte noch drei weitere Anläufe mit dem gleichen Ergebnis unternommen und war schließlich zu dem Schluss gelangt, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war, in ihrer Vergangenheit herumzuwühlen.

Zu Alex hatte sie gesagt, sie habe sich vom Fernsehen verabschiedet, um alte Projekte wieder aufzunehmen, doch sie hatte ihm nie gestanden, dass sie selbst im Mittelpunkt stehen sollte. Ihr Sohn studierte Jura an der Universität von Boston, und einmal die Woche skypten sie. Wenn sie nach diesen Gesprächen das Display zuklappte, brach sie manchmal in Tränen aus. Es lag nicht daran, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte – was hätte das für einen Sinn? –, sondern daran, dass er so weit weg war und sie ihn nicht jeden Tag umarmen konnte. Camila war stolz auf ihren Sohn, den sie großgezogen hatte mit dem schlechten Gewissen, nie genug Zeit für ihn gehabt zu haben. Jetzt hatte sie alle Zeit der Welt und war allein.

Bobby sah sie an. Camila hatte sich gehen lassen. Manchmal hatte die Einsamkeit diese Nebenwirkung.

Hör mal, du hast doch mich! Und soweit ich mich erinnern kann, wolltest du mir eine Portion Royal Canin geben.

Camila stellte Bobby das Fressen hin und ging dann in Richtung Kellertür. Es war schon merkwürdig, wie das Universum tickte. Sobald sie diese Tür öffnen wollte, zog irgendetwas draußen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Auch jetzt wieder, als sie gerade noch den Mann bemerkte, der mit einem Stapel Aktenordner in den Händen den Vorgarten durchquerte. Er war um die dreißig und hatte lange Haare. Camila kannte ihn nicht.

Es klingelte, und Camila überlegte ernsthaft, ihm nicht zu öffnen. Sie mochte keine Besuche, schon gar keine unerwarteten.

Missmutig machte sie die Tür auf. Der junge Mann spürte offenbar, dass sie schlecht gelaunt war, denn sein Gesicht fiel in sich zusammen, und die Worte stürzten ihm regelrecht aus dem Mund.

»Guten Tag, Ms. Jones, ich bin Tim Doherty, Journalist und Direktor des Hawkmoon Overfly, der Zeitung von …«

»Ich kenne das Lokalblatt.«

Ein nervöses Lächeln zuckte um seinen Mund.

»Ich muss mit Ihnen über das Verschwinden von Sophia Holmes sprechen. Ich muss …«

»Woher wissen Sie, wo ich wohne?«

Der Journalist wollte antworten, als er bemerkte, dass einer der drei Aktenordner gleich herunterfallen würde. Schnell stellte er sich auf sein linkes Bein und schob mit dem rechten Knie den Aktenordner an seinen Platz zurück. Camila betrachtete das Manöver mit einem gewissen Mitgefühl.

»Wir von der Zeitung haben gute Quellen«, antwortete Tim schließlich. »Wir wussten vom ersten Tag an, dass Sie hier wohnen. Wir haben es nur nie gestreut.«

Camila nickte nur.

Tim holte Luft.

»Ich finde, Sie sollten sich mit dem Fall Sophia Holmes beschäftigen«, sagte er mit einem feierlichen Ernst, der einstudiert wirkte. Dann tippte er mit dem Kinn auf den obersten Aktenordner. »Niemand hat so ausführlich dazu recherchiert wie ich, Ms. Jones.«

Camila warf einen kurzen Blick auf den Ordner. Die Ausschnitte waren unterschiedlich groß, also handelte es sich vermutlich um Zeitungsartikel, Notizblätter, Fotos und Kopien mit relevanten Informationen. Camila gehörte zur alten Schule, daher erregte ein solcher Aktenordner automatisch ihr Interesse. Sie fragte sich, ob Doherty dies geahnt und sie deshalb mitgeschleppt hatte. Er hätte sie auch gut im Auto lassen können.

»Ich werde mich an keiner Recherche beteiligen«, sagte sie schließlich. »Tut mir leid, dass Sie den Weg hierher ganz umsonst gemacht haben.«

Tim seufzte.

»Sind Sie in dem Fall auf dem neuesten Stand?«

Tatsächlich wusste Camila nur wenig darüber. Sie hatte absichtlich kaum etwas dazu gelesen, weil sie sich nur zu bewusst war, dass der Fall Sophia Holmes alle Zutaten enthielt, um sie zu packen. Sie wusste, dass Sophia mit einigen Freunden ins Kino gegangen war und ihnen kurz vor Beginn des Films gesagt hatte, sie habe noch etwas zu erledigen, und dann nicht wieder zurückgekehrt war. Später war sie in der Nähe der Catenary-Brücke gesehen worden, und die Polizei hatte Fetzen ihres Kleids am Flussufer entdeckt, was die These untermauerte, sie habe Selbstmord begangen. Allerdings hielten alle, die Sophia kannten – ein vierzehnjähriges Mädchen, dem es an nichts mangelte –, dies für absolut undenkbar.

»Ich weiß das, was alle wissen …«, sagte Camila und versuchte, sich an den Namen ihres Gegenübers zu erinnern. »Hören Sie, Tim, ich bin nicht interessiert, nicht an diesem Fall und auch an sonst keinem. Deswegen bin ich überhaupt hierhergezogen. Das verstehen Sie doch sicherlich?«

»Natürlich.«

»Dann würde ich Sie jetzt bitten zu gehen.«

Tim sah sie entgeistert an.

»Vor fünf Tagen ist etwas passiert«, sagte er verzweifelt. »Wir haben es noch nicht veröffentlicht. Caroline Holmes, die Mutter von Sophia, hat an ihrer Haustür eine Nachricht entdeckt. Nachbarn haben diese Nachricht auch gesehen, waren aber nicht nah genug dran, um sie zu lesen. Kurz darauf ist die Mutter vom Balkon gestürzt. Sie liegt im Koma.«

Das sah nun wirklich nach einem Selbstmordversuch aus, dachte Camila.

»Das wusste ich nicht. Sehr traurig.« Camila sah ihn streng an.

Tim rückte die Ordner zurecht, die erneut herunterzufallen drohten.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie belästigt habe, Ms. Jones. Darf ich Ihnen meine Nummer hinterlassen, für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen?«

»Das ist nicht nötig. Wenn ich mit Ihnen sprechen will, weiß ich, wo ich Sie finde.«

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Ms. Jones.«

»Gleichfalls. Vorsicht mit den Stufen.«

Camila schloss die Tür. Auf dem Weg in die Küche zog sie ihr Handy aus der Schürze und stellte eine kurze Nachforschung zu Tim Doherty an. Sie ergab, dass es sich bei dem Mann eben wirklich um Tim Doherty handelte. Eine Notiz erregte ihre Aufmerksamkeit: »Mutter und Tochter sterben bei einem seltsamen Unfall.« Sie hob den Blick und sah Tim nach, der ging, als balancierte er auf einem lockeren Seil. Camila wusste schon, was passieren würde, noch bevor Tim mit dem rechten Fuß an der Rasensprengerdüse hängen blieb und hinstürzte.

2

Camila Jones bat Tim Doherty nicht aus Mitleid herein, obwohl sie durchaus Mitleid empfand, als er, rot wie eine Tomate, eilig aufstand und die auf dem Rasen verstreuten Ordner einsammelte. Und auch nicht wegen ihrer schnellen Recherche im Internet kurz zuvor. Sicherlich spielte beides eine Rolle, aber der eigentliche Grund war ein anderer: Camila vertraute ihrem Instinkt. Ihr Spürsinn hatte sie während ihrer erfolgreichen Karriere nie getäuscht – im Gegensatz zu ihrem Privatleben, aber das war eine andere Frage –, und was sie bei diesem jungen Journalisten gespürt hatte, war ein aufrichtiges Angebot. Das Gewicht der Wahrheit hatte mit seinen spektakulärsten Fällen über zehn Millionen Zuschauer erreicht. Warum also sollte sie jetzt mit einem unbekannten Lokalblatt zusammenarbeiten? Es war lächerlich und verlockend zugleich.

Kaum hatten sie das Haus betreten, wurde Tim von Bobby überschwänglich begrüßt. Dem Hund war jeder Unbekannte recht, Hauptsache, er konnte in alten Zeiten schwelgen, als er, umringt von Dutzenden Fremden, im Boston Common herumgetollt war.

»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht den Knöchel verstaucht haben?«

Tim schüttelte energisch den Kopf. Er hinkte nicht beim Gehen. Zumindest noch nicht.

»Setzen Sie sich. Ich hole Eis.«

»Das ist wirklich nicht nötig. Vielen Dank.«

Tim legte die Ordner auf dem Couchtisch ab, neben ein Buch, in dem ein Lesezeichen steckte, bei etwa der Hälfte. Es war ein Roman von Bioy Casares mit spanischem Titel: La invención de Morel. Er setzte sich in einen Sessel, und Camila nahm auf dem Sofa gegenüber Platz.

»Wenn ich mir dieses Leben ausgesucht habe«, sagte sie und machte eine ausladende Geste mit dem Arm, »dann deshalb, weil ich meine Privatsphäre überaus schätze.«

»War mir klar.«

»Und trotzdem sind Sie hergekommen.«

»Weil ich wirklich glaube, dass Sie mich anhören sollten.«

»Und ich bin bereit. Das habe ich wohl inzwischen mehr als deutlich gemacht.«

Tim setzte sich aufrecht hin.

»Es ist bald ein Jahr her, dass Sophia Holmes verschwunden ist«, begann Tim. »Die Polizei hat den Fall noch nicht zu den Akten gelegt, weil es nicht genügend Beweise gibt, doch ist man dort überzeugt, dass Sophia im Lake Gordon ertrunken ist. Aber wenn sie den Fall bis jetzt nicht gelöst haben, werden sie es nie tun. Das wissen Sie selbst am besten.«

Camila zuckte mit den Schultern.

»Wenn Sie das sagen.«

»Da ist also der Fall Sophia Holmes«, fuhr Tim fort und machte eine Geste, als hielte er in seiner linken Hand eine unsichtbare Kugel. »Und da sind Sie, Ms. Jones.« Nun schien er auch in seiner rechten Hand eine unsichtbare Kugel zu halten. Tim wog beide Kugeln in den Händen und hielt sie sich vor die Augen. Vermittelte, sie seien real. »Für mich ist die Sache klar. Ich weiß nicht, warum Sie beschlossen haben, hier zu leben, aber ich sehe jetzt einen besonderen Sinn darin.«

Camila nickte bekümmert.

»Sie kennen bestimmt die Statistiken darüber, wie viele Kinder täglich ausreißen«, sagte Camila. »Ich hätte mir jeden Ort dieses Landes aussuchen können und hätte keinen Deut daran geändert.«

»Der Fall von Sophia ist etwas Besonderes«, sagte Tim kopfschüttelnd. »Zu viele Fragezeichen. Ein toter Jugendlicher. Die Mutter im Koma. Jemand irgendwo da draußen weiß etwas. Man braucht nur den Faden zu finden, an dem man ziehen muss, um das Knäuel aufzulösen, davon bin ich überzeugt. Und damit dies geschieht, gehört der Fall wieder in die Schlagzeilen. Wenn Sie ihn aufgreifen, wäre das wie ein Elektroschock.«

»Sie sind ziemlich jung für einen Zeitungschef.«

Tim schien der Themenwechsel aus der Fassung zu bringen.

»Es ist nicht mein Verdienst, Ms. Jones, das kann ich Ihnen versichern. Der vorherige Chef ist in Rente gegangen, und wie so oft wollte keiner die Verantwortung übernehmen.«

»Sie sind bescheiden.«

»Und Sie sind eine Meisterin in der Kunst des Themenwechsels.«

Camila lächelte.

»Bin ich das? Dabei geht es doch gerade darum, mich davon zu überzeugen, dass ich mit Ihrer Zeitung zusammenarbeite.«

Tim schien ihre Bemerkung zu kränken. In seinen Augen lag eine Traurigkeit, die nun deutlicher zum Vorschein trat. Oder täuschte sich Camila und ließ sich nur von dem beeinflussen, was sie gerade über ihn gelesen hatte?

»Ich würde nie auf die Idee kommen, dass Sie sich dazu herablassen können, für den Overfly zu arbeiten. So dumm bin ich nicht. Ich bin hier, weil Sophia Sie braucht, egal, ob sie noch lebt oder schon tot ist. Und ich weiß über den Fall wirklich alles.«

Tim beugte sich vor und legte seine Hand auf den Ordner, als wollte er vor Gericht einen Schwur ablegen.

Sie sah ihn so neugierig wie erstaunt an. Tim Doherty hatte etwas durch und durch Naives, und gleichzeitig war er äußerst selbstsicher.

»Ich weiß nicht, warum Sie alles aufgegeben haben, ich weiß nur, dass Integrität und Engagement nie wirklich verloren gehen. Zumindest ist dies meine Überzeugung. Sophia braucht jemanden, der ihren Fall vorantreibt. Was wollen Sie denn überhaupt hier, Ms. Jones?«

Tims Gesicht verriet, dass ihm bewusst war, wie dreist er vorging. Trotzdem wich er nicht zurück.

Camila erhob sich. Eine angespannte Stille trat ein, was vermutlich Absicht war. Tim dachte sicher schon, sein Besuch sei damit zu Ende.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Camila.

Tim sah sie perplex an.

»Ja, gern.«

Camila ging in die Küche, kehrte einige Minuten später mit einem Tablett zurück und stellte es auf den Couchtisch. Tim beobachtete sie neugierig. Neben dem Kaffee stand eine Thermosflasche, und neben dieser Thermosflasche ein hölzernes Gefäß in Form einer Birne. Darin war etwas, das aussah wie Dung, und etwas ragte daraus hervor wie eine zehn Zentimeter lange Antenne: ein Trinkhalm aus Metall.

»Das ist ein Mate.« Camila hatte diese Situation schon zigmal erlebt. »In Argentinien trinken das praktisch alle, und wie Sie vermutlich wissen, bin ich dort aufgewachsen. Und das hier ist eine Bombilla.«

Tim stand die Verblüffung nach wie vor ins Gesicht geschrieben. Camila machte mit der Bombilla kleine kreisende Bewegungen und schlug mit dem Mategefäß leicht auf den Tisch. Dann nahm sie die Thermosflasche und schenkte ein Rinnsal heißes Wasser ein.

»Es darf auf keinen Fall kochen«, erläuterte sie und füllte das merkwürdige Gefäß bis zum Rand.

»Was ist da drin?«

»Yerba mate. Diese Pflanze wächst nur in Südamerika. Die Blätter werden gemahlen, und das ist auch das, was Sie hier sehen. Das Getränk schmeckt bitter.«

Camila sog am Trinkhalm und erzeugte ein schlürfendes Geräusch. Dann füllte sie den Mate wieder mit Wasser auf und reichte ihn Tim.

»Mal probieren?«

Camila liebte die entsetzten Gesichter, wenn sie jemandem zum ersten Mal einen Mate anbot. Bevor Tim sich irgendeine Ausrede überlegen konnte, erklärte sie, dass es in Argentinien normal sei, den Mate zu teilen, ja, dass es sogar als unhöflich galt, ihn abzulehnen. Sie verstehe aber, wie merkwürdig dieser Brauch einem Ausländer vorkommen müsse.

Für Tim war dieser Brauch offenbar wie von einem anderen Stern, denn er sah Camila weiterhin argwöhnisch an, als glaubte er, man wolle ihn auf die Probe stellen. Er nahm Zuflucht zu seiner dampfenden Tasse Kaffee und genoss ihn als das, was es war: ein köstliches Getränk. Wer um alles in der Welt wollte gemahlene Blätter trinken, die auch noch bitter schmeckten?

»Bevor ich mir anhöre, was Sie zu sagen haben, Tim, sollten Sie wissen, dass ich nicht vorhabe, meine Meinung zu ändern«, erklärte Camila. »Ich werde Ihnen nur sagen, was ich über den Fall denke, und vielleicht kann ich Ihnen irgendeinen nützlichen Hinweis geben, aber das ist dann alles, ja?«

Tim war einverstanden. Was blieb ihm sonst übrig?

»Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn Sie mich erst mal angehört haben.«

»Das kann ich praktisch ausschließen«, entgegnete Camila. »Und jetzt erzählen Sie mir endlich, was mit der Mutter des Mädchens passiert ist.«

Tim beugte sich vor und nahm einen der Ordner. Er stellte fest, dass es nicht der war, den er brauchte, und griff sich den nächsten. Bobby, der die beiden aus der Ferne beobachtet hatte, fand Tims Bewegungen interessant und schnüffelte an dessen Fingern. Camila bemerkte, dass er einen dicken Silberring trug.

»Eine Nachbarin hat sie auf der Terrasse entdeckt. Sie war vom Balkon ihres Schlafzimmers gestürzt.«

Tim machte eine Pause und zog ein großformatiges Foto aus dem Ordner. Camila warf kurz einen Blick auf den Körper, der verrenkt auf dem roten Keramikboden lag.

»Das muss ich nicht sehen.«

Er steckte das Foto sofort wieder zurück.

»Am Tag des … Unfalls ging Caroline Holmes nicht wie üblich joggen, sondern blieb zu Hause. Philip Holmes, ihr Mann, sagte später aus, er habe sich am Vorabend mit seiner Frau gestritten, und womöglich habe sie sich deshalb anders verhalten als sonst. Caroline hatte mit Vince Naroditsky gesprochen und ein Interview vereinbart, womit Phil ganz und gar nicht einverstanden war.«

Beim Namen Naroditsky runzelte Camila die Stirn. Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen – was gut für das Universum war –, aber allein die Erinnerung an ihn verursachte ihr Brechreiz. Vor langer, langer Zeit, in einer sehr, sehr fernen Galaxie waren Vince und sie Freunde gewesen. Oder etwas Ähnliches. Es war schwierig, eine Freundschaft aufzubauen, wenn einer der Beteiligten ein Ego so groß wie der Felsen von Gibraltar hatte. Camila und Naroditsky waren Kollegen. Sie waren nie beim selben Sender angestellt gewesen, aber die Welt war klein, und so hatten sie doch gelegentlich miteinander zu tun gehabt. Menschen wie Naroditsky waren der Grund, warum Camila sich aus ihrem Beruf zurückgezogen hatte.

»Da haben Sie doch jemanden, der den Fall von Sophia vorantreiben will«, sagte Camila.

Tim hörte die Ironie sofort heraus.

»Darf ich Ihnen einen Auszug der Aussage vorlesen, die Naroditskys Sekretärin gemacht hat?«

Tim schlug einen Ordner auf und zog ihn zu sich heran. Er blätterte um.

»Karin Moldow hat ausgesagt – und ich zitiere wörtlich –, dass ›Caroline Holmes mir die ganze Wahrheit sagen wollte, einschließlich der Dinge, die sie bislang verschwiegen hatte. Sie habe zwar viele Gründe, einen Rückzieher zu machen, aber sie werde es nicht tun‹.«

Tim klappte den Ordner wieder zu.

»Ich habe einen Halbbruder«, erklärte Tim. »Er heißt John, ist zwölf Jahre älter als ich und lebt jetzt in Colorado. Phil Holmes war zu Schulzeiten sein bester Freund. Inzwischen haben sie den Kontakt etwas verloren, schon allein wegen der Entfernung. Ich kenne also Phil Holmes und habe mehrmals mit ihm gesprochen. Man könnte sagen, dass er mir vertraut. Phil ist überzeugt, dass seine Frau nichts hatte, was sie in dem Interview mit Naroditsky hätte enthüllen können, sondern einfach nur den Fall irgendwie am Leben erhalten wollte.«

»Und was glauben Sie?«

Tim zögerte.

»Ich glaube Phil insoweit, dass er nicht wusste, was Caroline sagen wollte. Aber Caroline ist eine intelligente Frau, daher bin ich sicher, dass sie in diesem Exklusivinterview sehr wohl etwas Wichtiges enthüllen wollte. Sie scheint mir nicht der Typ zu sein, solche Erwartungen einfach so zu schüren.«

»Dann lassen Sie sich gesagt sein«, erwiderte Camila, »dass ich schon unzählige Angehörige von Opfern erlebt habe, die alles dafür getan hätten, um ihre Geschichten wieder ins Rampenlicht zu rücken. Das ist sogar, zumindest für mich, einer der schmerzlichsten Aspekte meines Jobs.«

»Haben Sie sich deshalb zurückgezogen?«, fragte Tim.

»Es gibt nicht den einen Grund. Fahren Sie fort.«

Camila bereitete sich noch einen Mate zu.

»Keiner weiß, ob Caroline in diesem Interview etwas enthüllen wollte oder nicht«, sagte Tim, »auch die Polizei nicht. Eines jedoch wissen wir mit Sicherheit: An dem Morgen, als Caroline vom Balkon stürzte, ist etwas Merkwürdiges passiert. Caroline fand diese Nachricht an ihrer Haustür und war danach sehr aufgeregt. Dafür gibt es mehrere Zeugen, darunter eine Nachbarin, die sie ziemlich gut kennt.«

»Und keiner hat diese Nachricht gelesen, sagen Sie?«

»Richtig. Alle haben sie nur aus der Ferne gesehen. Übrigens war sie mit einem Nagel befestigt, ein nicht ganz unwichtiges Detail.«

Camila dachte kurz nach. Die neuesten Entwicklungen in dem Fall kannte sie zwar nicht, doch wusste sie sehr wohl von der Verbindung zu dem Mord an Dylan Garrett, der mit einem Hammer erschlagen worden war. Garrett war der typische Schulrowdy gewesen, und Sophia und ihre Freunde hatten in der Vergangenheit immer wieder Probleme mit ihm gehabt. Manche Leute verstiegen sich sogar zu der abstrusen Theorie, dass es sich bei dem Mord an Garrett um einen sorgfältig ausgeheckten Racheplan von Sophia handelte.

»Dass ein Nagel benutzt wurde, ist kein Zufall«, sagte Tim.

Camila spürte diesen typischen Drang, der sich bei ihr immer dann einstellte, wenn sie versuchte, Puzzleteile einzufügen, die nicht passen wollten.

»Wurde dieses Detail veröffentlicht?«

Tim schüttelte den Kopf.

»Aber es wird bald durchsickern.«

Erstaunt stellte Camila fest, dass sie eine Vertrautheit zu diesem Tim Doherty entwickelt hatte, als würde sie ihn von irgendwoher kennen.

»Glauben Sie, dass Sophia noch am Leben ist?«, fragte sie ihn aufs Gesicht zu.

Der Journalist seufzte.

»Ich sage Ihnen erst einmal, was ich nicht glaube.« Er machte eine Pause. »Ich glaube nicht, dass Sophia von der Catenary-Brücke gesprungen ist. Das heißt aber nicht, dass ich mich auf die Seite der Verschwörungstheoretiker geschlagen habe. Sophia läuft von zu Hause weg, versteckt sich monatelang weiß Gott wo und erschlägt dann Dylan Garrett mit einem Hammer? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.« Tim rieb sich am Kinn, was er seit seiner Ankunft bereits mehrmals getan hatte.

»Ich stimme Ihnen zu, dass mir das völlig an den Haaren herbeigezogen scheint. Außerdem meine ich, gelesen zu haben, dass die Polizei den Mörder von Garrett längst gefasst hat.«

»So ist es. Das Einzige, was die Polizei gut gemacht hat.«

Tim legte eine Hand auf die Ordner, als fänden sich dort die Antworten.

»Alles, was ich recherchiert habe, ist hier drin. Die Nachricht an Carolines Haustür zeigt, dass wir etwas übersehen haben. Caroline wollte ein Interview geben, und plötzlich erhält sie diese Nachricht, gerät in helle Aufregung, und Stunden später stürzt sie vom Balkon und überlebt wie durch ein Wunder. Für die Polizei war es nur ein schlichter Haushaltsunfall.«

»Man fällt nicht einfach so vom eigenen Balkon. Entweder man springt, oder man wird gestoßen.«

»Was soll ich sagen, Ms. Jones? Die Frau lebt. Die Polizei wird kaum groß ermitteln, wo sie doch eine Person haben, die aufklären kann, was passiert ist, sobald sie erwacht.«

»Wie geht es Caroline Jones?«

»Sie ist in einem kritischen Zustand.«

Camila dachte kurz nach. Sie ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah durch eines der großen Fenster.

»Ich würde Ihnen gern etwas zeigen«, sagte er.

Beunruhigt sah Camila, wie Tim erneut den Ordner aufschlug.

»Keine Angst«, beruhigte er sie, »nichts schwer Verdauliches.«

Tim suchte drei Fotos heraus und legte sie auf den Tisch. Sie zeigten ein großes, geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Camila betrachtete sie, wusste aber nicht, worauf sie achten sollte.

»Diese Bilder wurden bei den Holmes gemacht und sind Teil der Ermittlungen«, erklärte Tim. »Bisher hat ihnen niemand wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Die Polizei hat sich auf den Garten und den Balkon konzentriert.«

Camila betrachtete erneut die Fotos. Ihr fiel nichts Außergewöhnliches auf. Tim deutete auf einen Gegenstand auf dem kleinen runden Tisch neben dem Sofa.

»Eine Fernbedienung«, sagte Camila.

»Und auf der Sofalehne liegt eine Decke«, erklärte Tim. »Caroline mixt sich abends gern einen Drink, kuschelt sich in diese Decke und sieht eine Serie auf Netflix. So auch am Vortag. Sie hat sich die ersten Folgen von The Sinner angeschaut.«

Camila schwieg. Sie wusste genau, worauf Tim hinauswollte, trotzdem sprach er es laut aus.

»Wer wählt die ersten Folgen einer Mystery-Serie, wenn er sich am nächsten Tag das Leben nehmen will?«

Jetzt schwiegen sie beide.

»Die Nachricht an der Tür hat Caroline Holmes’ Pläne durcheinandergewirbelt«, sagte Tim.

»Woher wissen Sie, dass Caroline am Vorabend diese Serie geschaut hat?«

Tim rieb sich erneut am Kinn.

»Wie gesagt, ich habe einen guten Draht zu Philip Holmes. Ich habe ihn gebeten, den Netflix-Verlauf zu prüfen. Anfangs wollte er nicht, hat es dann aber doch getan.«

Camila dachte nach.

»Sie haben recht, an dem Fall ist so einiges merkwürdig«, sagte Camila schließlich. »Die Argumente, die für einen Selbstmord sprechen, sind eher schwach. Das Kleid kann genauso gut jemand in den Fluss geworfen haben, damit die Polizei es findet. Die Nachricht, die die Mutter erhalten hat, und das, was danach passiert ist, muss irgendwie mit Sophias Verschwinden zusammenhängen. Aber das wissen Sie ja. Ich kann nur eines sagen: Wenn Naroditsky sich dieses Falls angenommen hat, dann bestimmt nicht, um die Wahrheit herauszufinden.«

»Das hatte ich schon befürchtet«, sagte Tim.

Der Journalist seufzte.

»Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, Ms. Jones. Bevor Sie eine Entscheidung treffen.«

»Meine Entscheidung ist bereits getroffen.«

»Ich möchte es Ihnen trotzdem sagen. Ich weiß mit Sicherheit, dass Sophia nicht von der Catenary-Brücke gesprungen ist, um sich das Leben zu nehmen. Ich weiß es, weil ich sie an diesem Tag selbst gesehen habe.«

3

Camila Jones besuchte Eduardo Olguín deshalb so gern, weil der alte Mann sie nie nach ihrer Arbeit beim Fernsehen fragte. Offenbar wusste Ed nicht einmal davon. Oder er tat so, als ob er es nicht wüsste.

Camila war nicht Jennifer Lopez, die Leute stürzten sich nicht sofort auf sie, wenn sie einen Fuß vor die Haustür setzte. Sie hatte zwar ein markantes Gesicht, das eine gewisse Neugier weckte, aber in der Vergangenheit war es nie zu Situationen gekommen, die aus dem Ruder gelaufen waren. An einem guten Tag konnte sie mithilfe einer Sonnenbrille problemlos unerkannt bleiben und im Meer der Anonymität schwimmen wie ein Fisch im Wasser. Sie wurde höchstens ein- oder zweimal angesprochen, was eine verträgliche Dosis Berühmtheit war. Außerdem waren es meist freundliche Begegnungen, sie musste nur einige Fragen beantworten – in letzter Zeit immer die gleichen –, das war’s.

»Warum haben Sie sich zurückgezogen? Sind Sie mit jemandem liiert? Kehren Sie irgendwann zu Das Gewicht der Wahrheit zurück?«

Feindselige Reaktionen gab es kaum. Einmal war eine Frau in einem Restaurant an sie herangetreten und hatte gefragt, ob es stimme, dass sie Krebs habe. Als Camila sich geweigert hatte, die Frage zu beantworten, war es mit der Freundlichkeit der Frau schlagartig vorbei gewesen, und sie hatte auf einer Erklärung bestanden mit dem Argument, Camila sei schließlich eine öffentliche Person, und die Zuschauer hätten ein Anrecht darauf, es zu erfahren. Die Situation war eskaliert und in gegenseitiges Geschrei ausgeartet, was Camila zu der Entdeckung verholfen hatte, dass sie nur schlecht damit umgehen konnte, wenn jemand dreist ihre Privatsphäre verletzte.

Bei Ed hingegen musste sie nicht auf der Hut sein. Für ihn war Camila eine Landsfrau wie jede andere, die ab und zu seinen Laden aufsuchte, um Matetee und Dulce de Leche zu kaufen. Ed lebte seit fast vierzig Jahren in den USA. Er war mit fünfundzwanzig aus Argentinien geflüchtet und nie wieder zurückgekehrt. Schwierige Zeiten damals, sagte er mit traurigem Blick manchmal zu Camila. »Du warst noch zu klein, aber deine Eltern haben es bestimmt miterlebt.«

Camila hatte den Laden Sabores Argentinos auf Facebook entdeckt. Ein Enkel von Ed gab dort regelmäßig bekannt, wenn neue Produkte eintrafen. Als Camila erwogen hatte, mit ihrem Hund auf eine winzige Insel zu ziehen, hatte sie nur wenig bedenken müssen. Doch eine Frage hatte sie beunruhigt: wie sie weiterhin an die argentinischen Produkte herankommen konnte, die ihre Assistentin ihr immer in einem exklusiven Geschäft in New York besorgt hatte. Ed war ihre Rettung gewesen.

Camila genoss die dreißig Kilometer lange Fahrt nach Leland, einem kleinen Örtchen in Brunswick County westlich von Wilmington. Wenn Ed ihr Mercedes Cabriolet vor dem Laden halten sah, leuchteten seine Augen. Vielleicht freute er sich über jeden Argentinier, der ihn aufsuchte, aber Camila wollte gern glauben, dass sie eine besondere Verbindung hatten. »Willkommen am Arsch der Welt«, sagte der alte Mann immer und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen.

Ed hatte ihr gegenüber einmal angedeutet, dass er nicht nach Argentinien zurückkehrte, weil ihm der Mut dazu fehlte, und Camila hatte dafür größtes Verständnis.

»Camila, meine Liebe!«, sagte er diesmal.

Ed hinkte ein wenig, hüpfte aber trotzdem irgendwie vor Freude.

»Wie geht’s meinem Lieblingsporteño?«, begrüßte sie ihn in einem Spanisch, das längst nicht mehr perfekt war.

Sharon, die Frau, die ihm im Laden half, hatte sich schon seit geraumer Zeit an den Singsang ihrer Unterhaltungen gewöhnt, von denen sie kaum eine Handvoll Wörter verstand.

Wie immer bat Ed Camila ins Hinterzimmer. Dort stapelten sich zwar die Kisten, aber es gab auch eine kleine Küche. Der alte Mann setzte den Wasserkessel auf und bereitete den Mate vor. Bevor er die Teeblätter einfüllte, zeigte er ihr stolz das Päckchen.

»Neue Marke?«

»Die beste«, sagte er, der jetzt mit dem Rücken zu ihr stand und das Päckchen sanft schüttelte, damit genau die richtige Menge Blätter ins Gefäß rieselte. »Hühnchen bereit und Henne gerupft.«

Ed benutzte gern seine argentinischen Redewendungen.

Während das Wasser sich erhitzte, setzte er sich. Sie saßen am Eck eines Tisches, auf dem sich alle möglichen Dinge stapelten.

»Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte Ed. »Hier sieht’s aus wie in einer Räuberhöhle. Heute kam eine Lieferung, und Sharon hatte den ganzen Vormittag über Kunden und musste außerdem Bestellungen bearbeiten. Ich selbst kann nicht mehr so gut mitanpacken wie früher.«

»Wieder mal der Rücken?«

»Ja. Ich habe bessere und schlechtere Tage. Heute ist eher ein schlechterer.«

Als das Wasser heiß genug war, goss Ed es in das Mategefäß und reichte es Camila. Sie ließ den Mate ein bisschen ziehen, während sie über dies und das plauderten, und sog dann an dem Trinkhalm. Sie schmeckte dem bitteren Gebräu nach und nickte dann zustimmend. Das Wasser in dem Kessel, mit dem Ed seine Besucher bewirtete, reichte für acht Runden, also dauerte das Gespräch rund eine halbe Stunde. Der Mate war ein fabelhaftes Metronom.

»Darf ich Sie was fragen, Ed?«, sagte Camila, als sie ihm den Mate zurückgab.

Sie sagte es so ernst, dass Ed eine Augenbraue hob.

»Bitte.«

»Warum sind Sie nie zurückgekehrt?«

»Ah, Sie wollen es heute wissen!« Die Frage schien ihn jedoch nicht zu stören. »Na gut, aber dann werde ich Sie anschließend das Gleiche fragen.«

Sie lächelte.

»Also, mal überlegen«, sagte Ed. »Vielleicht bin ich nicht zurückgekehrt, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich mich womöglich geirrt habe. Manchmal träume ich … vom Stadtviertel Flores, von der Plaza im Block um die Ecke, wo wir immer Fußball gespielt haben, von kleinen Details wie dem Pfiff des Messerschärfers, der jeden Sonntag vorbeikam, oder vom Geruch nach Choripán. Noch so ein Beispiel, ich habe nie wieder eine Chorizo im Brot gegessen … weil sie nicht besser sein durfte als das Choripán in meiner Erinnerung.«

Camila fiel ein, dass auch sie nie wieder diese große Wurst zwischen zwei Brothälften gegessen hatte.

»Warum fragen Sie mich das? Überlegen Sie, ob Sie zurückkehren wollen?«

Camila verzog das Gesicht.

»Nein, überhaupt nicht. Das hier ist jetzt meine Heimat. Alex hat gerade sein Studium angefangen.«

Ed nickte.

»Warum dann?«, fragte er.

»Weiß nicht. War nur so ein Gedanke, als ich hergefahren bin. Belügen Menschen wie wir, die ihr Land zwangsweise verlassen müssen, sich nicht selbst? Um nicht zu leiden?«

Ed starrte sie an.

»Sie haben mir nie gesagt, dass Sie ihr Land zwangsweise verlassen mussten.«

»Na ja, zwangsweise ist ein großes Wort. Aber das erzähle ich Ihnen ein andermal.«

Er nickte.

Camila reichte ihm den Mate, und Ed füllte ihn wieder auf.

»Ich sage Ihnen jetzt mal was«, erklärte Ed, hielt den Kessel schräg und befeuchtete die Teeblätter mit einem Rinnsal Wasser. »Als ich hierherkam, las ich gerade Herz der Finsternis. Ich musste Hals über Kopf aufbrechen, mit nur dem Nötigsten. Also habe ich schnell ein paar Sachen in einen kleinen Koffer gepackt, darunter auch ein paar Bücher, und eines davon war der Roman von Conrad. Ich habe ihn nie zu Ende gelesen. Er steht immer noch bei mir im Bücherregal, mit einem Eselsohr genau dort, wo ich war. Damals hat man noch keine Lesezeichen benutzt.«

»Und Sie haben das Buch wirklich nie zu Ende gelesen?«, fragte Camila verwundert.

»Nein. Fragen Sie mich nicht, warum. Manchmal habe ich es mir vorgenommen, aber es wurde nichts draus. Das Eselsohr ist immer noch an der gleichen Stelle wie seit all den Jahrzehnten. Sie haben also vermutlich recht: Das Exil hinterlässt eine Narbe.«

»Die verhindert, dass wir zurückschauen«, vollendete Camila.

Ed nickte, während er ein letztes Mal an seinem Mate zog.

Die Unterhaltung plätscherte noch eine Weile so dahin, aber beide sorgten dafür, dass es bei Small Talk blieb. Bevor sie das Hinterzimmer verließen, kramte Ed zwischen den Kisten und überreichte Camila ein kleines rechteckiges Päckchen.

»Das ist ein frischer Alfajor von Havanna. Siebzig Prozent Kakao. Schenke ich Ihnen.«

Camilas Gesicht hellte sich auf, als sie den gefüllten Doppelkeks sah.

»Der muss köstlich sein.«

»Der ist köstlich. Wussten Sie schon, dass man diese Alfajores jetzt überall kaufen kann?«

»Nein. Früher musste man ans Meer fahren, um eine Schachtel zu ergattern, und die hat ein Vermögen gekostet.«

»Sehen Sie? Der alte Ed ist immer auf dem neuesten Stand.«

Sie gingen nach vorne in den Laden, und Sharon übergab ihr, was sie bestellt hatte. Matetee für vier oder fünf Wochen.

Zum Abschied umarmte Camila Ed. Auf hoffentlich bald, sagte der Mann, und löste sich dann hastig von ihr. Als er wieder ins Hinterzimmer ging, zog er sein linkes Bein nach. Mit einer gewissen Besorgnis starrte Camila noch eine ganze Weile die geschlossene Tür an.

Sharon wartete schon hinter der Theke. Camila zog ihre Kreditkarte durch das Lesegerät, und während sie auf die Bestätigung wartete, fiel ihr Blick auf einige Lokalzeitungen. Zerstreut nahm sie eine zur Hand. Unten links war ein Foto von Sophia Holmes mit der Bildunterschrift: »Engel oder Teufel. Was erfuhr ihre Mutter vor dem tragischen Unfall?«

Camila betrachtete das Foto von Sophia. Als sie den Blick wieder hob, stellte sie fest, dass Sharon sie beobachtete. Offenbar wusste sie ganz genau, wer da vor ihr stand.

4

Camila war immer eine Nachteule gewesen. Während der Uni hatte sie entdeckt, dass sich ihr Verstand nach Mitternacht schärfte. Etwas Magisches geschah, wenn die Eulen schrien, die Fledermäuse mit den Flügeln flatterten und die Grillen zirpten. Schon als kleines Mädchen, als sie noch bei ihrer Großmutter wohnte, hatte sie sich schlafend gestellt und war spät in der Nacht aufgestanden und durchs Haus geschlichen. Damals lebte ein orangeroter Kater namens Coso bei ihnen. Tagsüber war er träge und lieb, aber nachts verwandelte er sich in ein mit allen Wassern gewaschenes Biest, das nur eines im Sinn hatte: auf die Dächer zu klettern und mit anderen Katern zu kämpfen. Von diesen Gefechten kehrte er mit geknickten Barthaaren und zerzaustem Fell zurück, und Camila wartete meist beim geöffneten Fenster auf ihn. Wenn es warm war, schlich sie sich sogar in den hinteren Garten, setzte sich auf einen Plastikstuhl und wartete auf Coso, in der einen Hand eine Taschenlampe, in der anderen ein oder zwei Kekse. Wenn Coso schließlich kam, schwankend, als wäre er betrunken, die Lider auf Halbmast, begleitete sie ihren Katzenfreund zu seinem Weidenkorb und betrachtete ihn, bis er eingeschlafen war und von neuen Schlachten hoch über den Dächern träumte.

Auf Queen Island hatte Camila ihren nächtlichen Rhythmus wieder aufgenommen. Nachdem sie zwanzig Jahre lang in einer Wohnung mit Rund-um-die-Uhr-Überwachung und einer Warnanlage der neuesten Generation gelebt hatte, war sie sich anfangs nicht sicher gewesen, ob sie es allein aushalten würde. Alex gehörte zu den Leuten, die glaubten, dass es ihr nicht gut bekommen würde. Er hatte sie angefleht, ihre Entscheidung, sich so sehr von allen abzusondern, noch einmal gründlich zu überdenken. Camila konnte ihrem Sohn schlecht vorwerfen, dass er sich Sorgen machte, schließlich war Alex in einem Betonblock aufgewachsen, der hundert Prozent Schutz bot, und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass man sich an etwas anderes gewöhnen konnte. Für sie war es wie eine Rückkehr zu ihren Wurzeln.

Einen Tag nach Tim Dohertys Besuch saß Camila abends auf der Veranda und las die Zeitung, die sie bei Ed im Laden gekauft hatte. Bobby, der nur widerstrebend mit ihr nach draußen gekommen war, hob jedes Mal den Kopf, wenn er den Schrei eines Seetauchers hörte, und sah Camila so genervt wie flehend an. Nun hast du doch ein so großes und so gemütliches Haus – warum sitzt du dann hier draußen in dieser Wolke aus Insekten?

Wenn Camila ein Buch las, dann meist im Licht einer kleinen batteriebetriebenen Lampe, die man einfach irgendwo hinhängen konnte. Für das Lesen der Zeitung aber hatte sie das Deckenlicht angemacht und damit jede Menge Insekten angezogen. Camila wedelte sie weg, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Neben der Zeitung lag der Ordner, den Tim Doherty dagelassen hatte, obwohl Camila sich nicht hatte erweichen lassen. Der Journalist hatte sie gebeten – oder vielmehr angefleht –, einen Blick darauf zu werfen.

Die erste Seite des Ordners fasste zusammen, was in den Stunden vor Caroline Holmes’ Sturz geschehen war, mit Bleistift, ohne größere Details. Neben einer Zeile stand eine Notiz: »Wo ist die Nachricht, die Caroline an der Tür entdeckt hat?«

Sie begann, die Dokumente zu lesen. Die Wolke aus Insekten wurde immer dichter, und die Grillen veranstalteten einen höllischen Lärm.

Ihr Handgelenk vibrierte, auf dem Display ihrer Uhr war eine Nachricht von Alex: »Reden?«

Camila lächelte. Sie hatte gelernt, keine Helikoptermutter zu sein, aber dieser Lernerfolg war noch relativ neu. Als Alex mit seinen Freunden auszugehen begann, rief sie ihn vor lauter Sorge meist irgendwann an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Es gibt kein besseres Rezept, einen Jugendlichen gegen sich aufzubringen, als ihn mehrmals täglich anzurufen, um zu fragen, was er gerade mache. Es war eine unfehlbare Methode. Camila hatte sich so sehr in ihre Angst hineingesteigert, dass sie sie nicht mehr hatte kontrollieren können. Es liege wohl an dem Horror, mit dem sie es bei ihren Recherchen täglich zu tun habe, hatte er daraufhin gemeint, und vielleicht hatte er recht. Sie solle ihm einfach vertrauen. Und Camila vertraute ihm. Trotzdem malte sie sich ständig die schlimmsten Szenarien aus.

Mit der Zeit hatte sie es geschafft, diese apokalyptischen Gedanken im Zaum zu halten. Inzwischen freute sie sich einfach, wenn Alex ihr vorschlug, mal wieder zu telefonieren.

Sie ging ins Wohnzimmer und rief ihn an. Alex war in seinem Zimmer auf dem Campus der UMass. Er hatte seine Lesebrille auf.

»Hallo, Mama.«

Alex hielt das Handy näher ans Gesicht. Er hatte die gleichen mandelbraunen Augen wie sie, sonst war er ganz der Vater. Er schien etwas zu suchen.

»Hier ist er«, sagte Camila und kam damit der Bitte ihres Sohns zuvor. Sie hob ihr Handy in die Höhe und neigte es so, dass Bobby zu sehen war.

»Hallo, mein kleiner Freund!«

Der Beagle wedelte mäßig begeistert mit dem Schwanz.

»Hast du die Alarmanlage eingeschaltet, Mama?«

»Ja. Ich bin seit vier Uhr nachmittags in diesem Haus eingesperrt.«

»Sehr witzig. Was machst du gerade?«

»Ich lese ein bisschen. Und du?«

»Ich versuche zu lernen«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Langweiliges Zeug.«

Camila nickte. Alex studierte Jura, wie sein Vater. Er war im ersten Jahr, und die Dinge liefen nicht ganz glatt.

»Ich will dich nicht nerven, aber du weißt ja, was ich denke. Du musst die Antworten in dir selbst suchen.«

»Ja, das ist mir klar. Ich habe sie nur noch nicht gefunden. Und du?«

»Ich? Was?«

Alex deutete ein Lächeln an.

»Was hast du auf dieser Insel zu suchen, Mama?«

Diese Frage hatte er längst unzählige Male gestellt. Alex scherzte gerne, er müsse nur hartnäckig bleiben und sie irgendwann kalt erwischen, dann würde er die Wahrheit schon noch herausfinden. Sie antwortete stets das Gleiche, sie habe es satt, sich ständig an vorderster Front mit alten, nicht gelösten Fällen zu beschäftigen. Es war immerhin die halbe Wahrheit.

»Ich habe hier jede Menge zu tun. Meine Pflanzen …«

Jetzt grinste Alex.

»Das ist jetzt wirklich witzig.«

»Ich lerne kochen.«

»Und das ist sehr witzig«, sagte Alex belustigt. »Hör mal, Bobby sieht aus wie ein Kriegsgefangener.«

»Er will einfach nicht aufgeben.« Camila bückte sich, hob Bobby hoch und hielt ihn vor die Kamera. Er wirkte tatsächlich wie ein Kriegsgefangener.

»Es wird immer schlimmer«, sagte er. »Jetzt sieht er schon aus, als würde er gleich die tödliche Spritze erhalten.«

Camila setzte Bobby ab. Als sie sich wieder dem Display zuwandte, wirkte Alex verändert.

»Manchmal fragen mich meine Freunde, warum du weggezogen bist, und dann weiß ich nicht, was ich ihnen antworten soll.« Alex sah zur Decke, als müsste er seine Gedanken ordnen. »Dabei ist es gar nicht so wichtig, was ich meinen Freunden oder sonst wem sagen soll, vielmehr bin ich derjenige, der es nicht wirklich versteht. Du magst deinen Job, bist erfolgreich …«

Camila seufzte.

»Ich musste es einfach tun, Alex. Das habe ich gemeint, als ich eben sagte, du musst die Antwort in dir selbst suchen. Mag sein, dass es die anderen nicht verstehen, aber es zählt allein, dass man selbst es versteht.«

Alex beließ es dabei. Sie sagten sich mit Blicken, was zu sagen war. Camila überlegte, ob sie ihn nach Cassie fragen sollte, die Frau, mit der Alex seit einigen Monaten zusammen war – und von der Camila vermeintlich nichts wusste, sah man einmal von ihren ausführlichen Recherchen auf Facebook ab –, doch auch hier galt die Prämisse, möglichst wenige Fragen zu stellen. Camila biss sich auf die Lippe und nahm sich vor, ihn beim nächsten Mal dazu zu bringen, es von sich aus zu erzählen.

Sie redeten noch ein bisschen und verabschiedeten sich dann. Wie immer, wenn sie ihr Notebook zuklappte, fühlte Camila eine Leere in sich. Es waren schreckliche Momente, in denen sie sich vorstellte, sie hätte keinen Sohn.

Eine halbe Stunde später kehrte sie auf die Veranda zurück, jetzt mit einem heißen Kaffee und Tim Dohertys Ordner in der Hand. Bobby sah sie entsetzt an und kam diesmal nicht mit.

5

Am nächsten Morgen rief Camila Tim um neun Uhr an.

»Tim, hier ist Camila Jones.«

Eine Pause.

»Ms. Jones! Wie schön, von Ihnen zu hören!«

»Ich habe einen Großteil Ihrer Recherchen gelesen«, sagte sie ohne Umschweife. »Das war sehr gute Arbeit. Vielleicht war meine Antwort etwas überstürzt.«

Im Hintergrund hörte sie Straßenlärm und dann das Geräusch einer sich schließenden Tür.

»Kommt mein Anruf ungelegen?«, fragte Camila.

»Nein, gar nicht. Ich komme gerade in die Redaktion und bin einfach nur überrascht.«

»Verstehe. Gestern war ich noch wild entschlossen, mich rauszuhalten, und heute rufe ich an und sage genau das Gegenteil. Glauben Sie mir, das kommt normalerweise nicht vor.«

»Ich finde es großartig, dass Sie einsteigen wollen.«

Bevor Tim weitersprechen konnte, sagte Camila schnell:

»Ich habe meine Art zu arbeiten, und die ist nicht verhandelbar. Ja, ich werde mich an dem Fall beteiligen, aber erst muss ich richtig eintauchen. Dann werde ich entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Vorher werde ich mit meinem Produzenten reden und ihm sagen, dass ich an dem Fall der verschwundenen Sophia interessiert bin. Er wird begeistert sein, aber ich werde ihm nichts versprechen. In der Zwischenzeit arbeiten wir beide zusammen, und das bedeutet, dass wir alles, was Sie veröffentlichen, absprechen. Ich werde mir Ihre Meinung anhören, weil Sie wesentlich besser in dem Fall drin sind und außerdem Hawkmoon und seine Eigenheiten besser kennen, aber am Ende behalte ich das letzte Wort. Haben Sie damit ein Problem?«

Keine Antwort. Eine Tür ging auf und wieder zu, dann hörte man, wie ein Schlüsselbund auf den Boden fiel. Camila stellte sich vor, wie Tim sich bückte, um ihn aufzuheben.

»Ich dachte eigentlich, wir wären … mehr ein Team«, sagte er.

»Wir sind ein Team, aber ich treffe die letzte Entscheidung, wenn wir uns nicht einigen können, was, wie ich schon mal ankündige, auf jeden Fall irgendwann passieren wird.«

Selbst am Telefon konnte Camila Tims Unbehagen spüren.

»Sehen Sie, Tim, Sie müssen mir nicht gleich eine Antwort geben. Denken Sie in Ruhe darüber nach.«

»Das ist es nicht. Glauben Sie wirklich, dass Ihr Produzent interessiert sein wird?«

Davon war Camila überzeugt. Richard hatte immer wieder versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen.

»Mir geht es im Moment vor allem darum, dass wir die Story, falls nötig, landesweit platzieren können.«

»Sicher, verstehe.«

»Treffen wir uns doch morgen und legen fest, was wir als Nächstes unternehmen werden.«

Tim schwieg.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja, tut mir leid, aber morgen ist kein so guter Tag dafür«, sagte Tim mit einer Stimme, aus der seine anfängliche Begeisterung fast gänzlich gewichen war. »Vielleicht übermorgen? Mittagessen im Molly’s?«

»Das ist mir ein bisschen zu öffentlich«, erklärte Camila. »Kann ich nicht einfach in der Redaktion des Overfly vorbeikommen?«

»Natürlich.«

»Sehr schön! Dann sehen wir uns dort. Um zehn.«

»Okay.« Tim zögerte. »Darf ich Sie was fragen, Ms. Jones?«

»Nur zu.«

»Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?«

Camila wollte ihre berufliche Zusammenarbeit nicht mit einer Lüge beginnen, aber das, was sie antwortete, war so kryptisch, dass es fast wie eine Lüge war.

»Ich habe an dem Fall etwas entdeckt, was mich persönlich betrifft.«

Tim schwieg erneut. Vermutlich überlegte er, ob er fragen sollte, was sie damit meinte. Er entschied sich dagegen.

Als sie aufgelegt hatten, sah Camila aus dem Fenster. Marshall mähte in seinem blauen Overall und mit einem Strohhut auf dem Kopf den Rasen. Er winkte zum Gruß, Camila winkte zurück. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Noch war ihr nicht vollständig bewusst, was sie getan hatte. Das Gespräch mit Doherty hatte etwas in ihr ausgelöst. Sie drückte die Zwei auf ihrem Handy und wählte damit direkt die Nummer von Richard Ambrose.

»Camila?«

»Hallo, Richard.«

»Habe ich heute Geburtstag?«

»Haha, sehr witzig.«

Richard Ambrose war sechsundsechzig Jahre alt. Er hatte zwei Seelen in seiner Brust: Die eine war maßvoll und vernünftig, die andere temperamentgeladen, impulsiv. Dass sie sich irgendwie miteinander arrangierten, war sein Erfolgsgeheimnis. Ein Motto von ihm lautete: »Neunzig Prozent Hirn, zehn Prozent Wagemut und Dummheit.« Richard schwamm in den multimedialen Gewässern wie in seinem natürlichen Element. Er hatte ihr viel beigebracht.

»Ich will wieder loslegen, Richard. Hast du von dem Fall Sophia Holmes gehört?«

Richard schwieg. Eine unmerkliche Veränderung war in ihm vorgegangen, die Camila trotz der fast tausend Kilometer Entfernung nicht entging.

»Was ist los, Richard?«

»Den Fall kenne ich gut«, sagte er nur.

Camila hielt das Handy etwas von sich weg, um zu überprüfen, ob die Leitung noch stand.

»Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?«

Richard schnaubte.

»Camila, ich bin überglücklich, dass du wieder loslegen willst, und sei es für ein zehnminütiges Special. Aber es gibt da etwas, das du wissen musst.«

»Ich höre.«

»Zunächst einmal muss ich dich um Verschwiegenheit bitten. Wenn das durchsickert, kostet mich das den Kopf. Wir verhandeln gerade mit Vince Naroditsky über eine Zusammenarbeit bei Das Gewicht der Wahrheit.«

Camila spürte einen Stich in der Brust und setzte sich instinktiv auf den Stuhl, der neben ihr stand. Sie atmete tief durch.

»Camila, alles okay?«

Nein, es war nicht alles okay. Sie sammelte all ihre Kräfte und stand wieder auf. Mit dem Telefon in der Hand trat sie hinaus auf die Veranda. Der Stich in der Brust ließ nicht nach. Camila sah zum Himmel.

Richard fragte noch einmal, ob alles okay sei, diesmal dringlicher.

»Ja, alles okay«, sagte sie schließlich an eine der Holzsäulen gelehnt.

Marshall hatte den Rasenmäher ausgestellt und sah zu ihr herüber. Sie hob den Daumen.

»Bist du sicher? Entschuldige, dass ich es dir noch nicht erzählt hatte. Es ist alles ganz frisch.«

»Naroditsky?«, sagte Camila, die aus ihrem Erstaunen nicht herauskam.

»Tut mir leid, Camila. Wir müssen das Ruder herumreißen, und dafür brauchen wir einen bekannten Ankermann. Ohne dich war das Schiff am Sinken.«

»Das verstehe ich. Aber … Naroditsky? Du kennst Vince besser als jeder andere.«

»Es ist nicht allein meine Entscheidung, Camila. Die Verhandlungen sind weit fortgeschritten, fast schon beendet.«

»Lass mich raten. Der Fall von Sophia Holmes steht ganz oben auf der Agenda.«

»So ist es«, sagte Richard. »Er ist unser Flaggschiff. Naroditsky versichert, er wird einschlagen wie eine Bombe. Und die Verantwortlichen haben es ihm abgekauft.«

Camila schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Bist du noch dran, Camila?«

»Ja.«

»Tut mir leid. Hättest du mich früher angerufen … Vielleicht finden wir einen Weg, um …«

»Du weißt, dass das nicht geht, Richard. Vince und ich können nicht beim selben Sender arbeiten. Wir können ja nicht mal in derselben Stadt wohnen.«

»Tut mir wirklich sehr leid.«

Sie verabredeten, in ein paar Tagen noch einmal zu telefonieren und eine Lösung zu suchen, dann beendeten sie das Gespräch.

Camila ging ins Haus und suchte nach Bobby, aber der Hund war nirgends zu sehen.

»Der Fall wird einschlagen wie eine Bombe …«, murmelte sie, als sie die Küche betrat.

Eines war jedenfalls klar: Sie würde ihre Entscheidung nicht von Vince Naroditsky abhängig machen. Diesen Fehler würde sie kein zweites Mal begehen.

Entschlossen öffnete sie die Tür zum Keller und blieb vor der dunklen Höhle stehen. Sie holte tief Luft und schloss die Augen.

Die ersten Schritte setzte sie langsam und klammerte sich dabei fest ans Geländer. Je mehr sie an Selbstsicherheit gewann, desto schneller ging sie, bis sie schließlich den Absatz erreichte, an dem die Treppe eine Neunziggradkurve nach rechts machte.

So weit ganz gut, beglückwünschte sie sich selbst.

Auf dem zweiten Abschnitt der Treppe spürte sie wieder einen Stich in der Brust. Diesmal war er nicht einfach lästig wie während des Gesprächs mit Richard, sondern äußerst schmerzhaft, als hätte ein Pfeil sie auf Höhe des Brustbeins durchbohrt. Sie krümmte sich und musste einen Schrei unterdrücken. Für Camila war es das Vorzimmer des Todes.

Leise begann sie zu zählen: »Eins, zwei, drei …«

6

Fünf Monate und vierzehn Tage vor dem Verschwinden

Sophia stritt sich auf dem Heimweg von der Schule mit Janice. Alles hatte anfangen, als Janice sie gebeten hatte, sie zum verlassenen Autokino zu begleiten. Sie wollte sich dort mit Dylan Garrett treffen, einem Jungen aus der elften Klasse, in den sie verliebt war.

Sophia, die ihre Meinung über Garrett schon unzählige Male geäußert hatte, fing wieder damit an: Er sei eingebildet, er wäre schon längst von der Schule geflogen, wenn sein Vater nicht über so gute Beziehungen verfügen würde, er gehe allen auf die Nerven, nur um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Typ sei ein wandelndes Klischee. Und dabei sehe er nicht mal gut aus!

Janice schien das egal zu sein, sie stellte ihrer Freundin ein Ultimatum.

»Kommst du nun mit oder nicht?«

»Natürlich nicht!«

Alle in der Schule wussten, was im verlassenen Autokino abging. Die älteren Schüler trafen sich dort, um Musik zu hören, zu trinken und zu rauchen. Wenn ein Junge und ein Mädchen mehr Privatsphäre brauchten, mussten sie nur mit dem Auto hinter die Mauer fahren, die früher als Leinwand gedient hatte. Die Polizei ließ sich in diesem Teil des Waldes nie blicken.

»Ich gehe trotzdem hin«, sagte Janice.

Sophia konnte sich nicht erinnern, sich jemals so hilflos gefühlt zu haben. Sie war vierzehn, und Janice war noch nie mit einem Jungen zusammen gewesen, nicht mal mit einem in ihrem Alter. Sie war gerade in einer rebellischen Phase und wollte tun und lassen, was sie wollte, ohne darüber nachzudenken, ob sie eine Dummheit beging oder nicht. Sich mit Dylan Garrett in dem verlassenen Autokino zu treffen, war die größte Dummheit, die man sich vorstellen konnte. Wieso sah Janice das nicht ein?

»Und was machst du, wenn Dylan dich in sein Auto einlädt?«

»Man muss nicht immer alles planen, Sophia. Vielleicht steige ich ein, vielleicht nicht.«

»Spinnst du? Du darfst da nicht hin. Und du weißt, dass ich recht habe.«

»Klar, du hast ja immer recht!«

An der Kreuzung blieben sie stehen. Hier war die Abzweigung hinein in den Wald.

»Da gehe ich nicht mit«, sagte Sophia.

»Na gut.« Janice machte auf dem Absatz kehrt und stapfte los.

Sophia wollte ihr schon hinterherlaufen und sie an den Schultern packen, sie so lange schütteln, bis sie wieder zur Vernunft kam. Sie tat es nicht, weil sie wusste, dass es nichts bringen würde. In dem Moment drehte Janice sich noch einmal um und schrie, sogar wütender als eben, sie habe es satt, dass Sophia dauernd so tue, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Außerdem sehe Dylan sehr wohl gut aus!

Das tat weh.

Als Sophia nach Hause kam, war sie immer noch wütend, aber auch besorgt. Sie stellte ihren Rucksack auf einen Sessel und suchte ihre Mutter. In ihrem Arbeitszimmer war sie nicht, dort war es dunkel, und auch der Computer war ausgeschaltet. Sophia fiel ein, dass ihre Mutter an diesem Mittwoch ins Büro gehen wollte. Normalerweise arbeitete sie von zu Hause aus, doch manchmal traf sie ihre Kollegen und aß mit ihnen zu Mittag.

Sie ging in ihr Zimmer, das wie ein bunter Musterkatalog für ihre vielfältigen Interessen war. Es gab ein Regal mit Büchern über alle möglichen Themen – darunter viele über Naturwissenschaften –, einen Globus, ein Poster von Taylor Swift – neben Stephen Hawking ihr absolutes Idol –, ein Profimikrofon mit dazugehörigem Verstärker, ein Teleskop und jede Menge vollgeschriebene Hefte. Wenn etwas sie interessierte, stürzte sich Sophia regelrecht darauf.

Sie warf sich aufs Bett und sah aus dem Fenster. Ihr Zimmer war das einzige, das im Erdgeschoss lag. Von dort aus konnte sie einen Teil der Clayton Street und der Nachbarhäuser überblicken.

Janice’ Vorwurf hallte noch in ihr nach. Sie hasste es, wenn jemand behauptete, sie hätte die Wahrheit für sich gepachtet. Schon von klein auf hatte sie damit zu kämpfen, seit ihre Eltern bemerkt hatten, dass sie überdurchschnittlich intelligent war.

Bereits mit drei Jahren redete Sophia praktisch wie eine Erwachsene, mit vier konnte sie lesen, und auch ihre analytischen Fähigkeiten waren außergewöhnlich. Als sie in die Schule kam, war sie ihren Mitschülern haushoch überlegen. In der zweiten Woche bestellte Ms. Coleman die Eltern zu sich ein, weil sie verblüfft und alarmiert war, vor allem alarmiert. Sie erzählte ihnen, was passiert war. Am Vortag hatte sie den Kindern die Grundlagen der Addition erklärt, und Sophia hatte bereits alles gewusst. Um sie zu beschäftigen, bat Ms. Coleman sie, alle Zahlen von eins bis hundert miteinander zu addieren, und dachte, so könne sie den Unterricht in Ruhe fortsetzen. Sophia sah sie nur fünf Sekunden an und gab dann mit triumphierendem Blick die Antwort: »Fünftausendfünfzig.« Ms. Coleman musste zugeben, dass sie selbst das Ergebnis gar nicht wusste, und fragte Sophia, wie sie die Lösung so schnell gefunden hatte. Caroline, die einen Abschluss in Business Administration hatte und gut mit Zahlen umgehen konnte – allerdings bei Weitem nicht so gut wie Sophia –, ahnte bereits, wie ihre Tochter es so schnell hatte ausrechnen können. Dass Sophia hundert Zahlen tatsächlich in fünf Sekunden addiert hatte, war natürlich unmöglich. Stattdessen hatte sie, wie Ms. Coleman fasziniert erklärte, jeweils die erste und die letzte Zahl addiert! »Die Summe der jeweils ersten und letzten Zahl ergibt immer 101. Also 1 + 100, 2 + 99, 3 + 98 und so weiter. Es kommt immer 101 heraus! Also musste Sophia nur 101 mal 50 rechnen, schon hatte sie das Ergebnis.« Nebenbei war damit noch etwas anderes klar geworden: Sophia hatte sich das Multiplizieren selbst beigebracht.