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Ein Löwenjunges fällt in der Kinder- und Tiertagesstätte unangenehm auf und durchläuft diverse Maßnahmen, um seine Menschwerdung voranzutreiben. Einer jungen Frau wächst seit ihrer Kindheit eine Sonnenblume im Ohr, doch sie weigert sich, die Triebe abzuschneiden. Als sie schwanger wird, verkomplizieren sich die Dinge. Eine Mutter, die ihren Sohn ganz bewusst ohne Vater aufzieht, wittert überall Verachtung. In einem wissenschaftlichen Vortrag wird ein Programm vorgestellt, bei dem überforderte Mütter ihre Kinder tauschen und so zu einer zeitgemäßen Form der Liebe finden können. Katharina Bendixen erzählt von Eltern und ihren Kindern, von Konflikten und Überlastung, von den Ansprüchen an Mutterschaft und von ihren Widersprüchen. Dafür findet sie unterschiedlichste literarische Zugänge: Klassische Short Storys stehen neben magisch-surrealen Erzählungen, experimentelle Formen wie Therapieberichte, fiktive Prüfungsaufgaben oder das absurde Protokoll einer Eltern-Chatgruppe spielen mit den Textsorten, die Eltern im Alltag umgeben, und fühlen einer so gestressten wie saturierten Gesellschaft auf den Zahn. »Bissig, stilsicher und unterhaltsam zeigt Katharina Bendixen die Absurditäten moderner Mutterschaft, die uns ausnahmslos alle betreffen.« Slata Roschal »Klug, rätselhaft und verspielt erzählt Katharina Bendixen vom Chaos, von der Ratlosigkeit, aber auch vom großen Glück heutiger Elternschaft.« Florian Wacker
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Katharina Bendixen, geboren 1981 in Leipzig, schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zuletzt erschien Taras Augen (Mixtvision 2022). Für ihre Texte erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, 2022 war sie Dresdner Stadtschreiberin. Die in diesem Buch enthaltene Erzählung »Meine Zeit mit Rosa« stand auf der Shortlist für den W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2024. Gemeinsam mit Kolleg:innen gründete sie 2020 die Initiative other writers need to concentrate, die sich mit den komplexen Verbindungen von Autor:innenschaft und Elternschaft beschäftigt. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49a
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www.edition-nautilus.de
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Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2025
Erstausgabe März 2025
Umschlaggestaltung: Maja Bechert
www.majabechert.de
Satz: Corinna Theis-Hammad
www.cth-buchdesign.de
Fotografie der Autorin auf Seite 2: © Gert Mothes
1. Auflage
ePub ISBN 978-3-96054-383-1
Diese Geschichte kennen wir schon.
Darüber müssen wir kein Buch lesen.
KatiNaumann, Die kleine Schnecke Monika Häuschen
Folge 61: Warum klopfen Klopfkäfer?
Die meisten Leser lesen nicht gerne kleine Texte, weil sie wenig Zeit haben. Sie gehen lieber in einem großen Roman spazieren, ohne sich zu verändern. Die kleinen Texte hingegen gehen in ihren Körpern spazieren, und das finden sie eher anstrengend.
YokoTawada, Ein Gast
Anne träumt: Wie jeden Nachmittag fährt sie durch den Park. Matsch spritzt gegen ihre Waden, das Wasser saugt sich in die Strumpfhose. Sie will schneller treten, aber der Anhänger ist schwer. Es ist heute ungewöhnlich still darin, vielleicht ist im Kindergarten wieder etwas vorgefallen. Seit Oskar auf der Welt ist, beißt Jannis die anderen Kinder. Sie hatte keine Zeit, um mit Jannis’ Erzieherin zu reden, und eigentlich will sie diese Geschichten auch nicht jeden Tag hören.
Vor der Postfiliale lehnt Anne das Rad an einen Metallbügel.
»Passt du auf Oskar auf?«, sagt sie über die Schulter. »Ich bin gleich wieder da.«
Jannis schaut sie nicht an, nickt aber. An der Glastür dreht Anne sich noch einmal um.
»Es geht ganz schnell«, ruft sie Jannis zu. »Nicht aussteigen, okay?«
Aber die Frau, die vor ihr an der Reihe ist, muss erst ihren Ausweis finden, und dann muss der Mitarbeiter das Paket finden. Anne macht einen Schritt zurück, einen Schritt nach vorn, stellt sich auf die Zehenspitzen. Von hier aus sind weder Fahrrad noch Anhänger zu erkennen.
Anne knallt den Abholschein regelrecht auf die Theke, und als sie endlich wieder draußen ist, lässt sie die Büchersendung beinahe fallen. Ihr Fahrrad ist noch da, der Anhänger aber ist weg, und mit ihm sind auch Jannis und Oskar verschwunden. Anne schaut nach links und nach rechts, rennt zur nächsten Straßenecke, schreit zwei Grundschüler an, die eine andere Sprache zu sprechen scheinen – zumindest verstehen sie Annes Worte nicht.
Als Anne wieder vor der Postfiliale steht, spürt sie die Aufregung langsam schwinden. Wen vermisse ich eigentlich, fragt sie sich, Oskar? Oder Otto? Jannis? Janko? Jonathan? Während sie dann durch den Berufsverkehr radelt, verblassen auch die Gesichter der beiden. Das Fahrrad lässt sich jetzt viel leichter treten, und Anne ist schnell im Hof. Sie steigt in die zweite Etage und betritt eine Ein-Raum-Wohnung, die sie nicht kennt und die doch ihr gehört. Sie stopft die nasse Strumpfhose in die Waschmaschine und kocht einen Tee. Schlägt ein Buch auf, isst ein Brot. Ruft ihre Mutter an, telefoniert mit einer Freundin. Erst sehr spät am Abend, als sie im Bett liegt und nicht einschlafen kann, wacht sie auf.
Rosa Freytag war knapp zwei Jahre alt, als sie sich draußen im Hof einen Sonnenblumenkern ins Ohr steckte. Sie erzählte davon ohne den Anflug eines Zweifels, und ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass sie sich daran tatsächlich zu erinnern glaubte. Rosa sagte, ihre Eltern hätten auf einer Bank gesessen und sich offenbar nichts dabei gedacht, als sie zum Vogelhäuschen ging, und im nächsten Moment war der Kern schon in ihrem Ohr verschwunden. Rosas Mutter sprang auf und drückte Rosas Kopf auf die Seite, der Kern fiel nicht heraus. Die Eltern schnappten sich die Tochter und rannten hoch in die Wohnung, aber dort kam es ihnen plötzlich übertrieben vor, den Notarzt zu rufen. Also beschlossen sie, bis zum nächsten Morgen zu warten, und was sollte über Nacht schon passieren?
»Vielleicht achten wir darauf, dass sie auf der linken Seite schläft«, sagte der Vater. »Nicht, dass der Kern weiter reinrutscht.«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte die Mutter. »Sie schläft nie auf der linken Seite. Willst du sie festbinden?«
Natürlich banden sie Rosa nicht fest, und am nächsten Morgen standen Rosa und ihr Vater noch vor Beginn der Sprechzeit an der Kinderarztpraxis. Rosa wurde als erste Patientin ins Behandlungszimmer gerufen. Der Arzt schaute so lange in Rosas Ohr, dass selbst die Schwester die Stirn zu runzeln begann.
»Ich sehe nichts«, sagte er schließlich. »Sind Sie ganz sicher, dass der Kern nicht runtergefallen ist?«
»Meine Frau hat es gesehen«, sagte Rosas Vater.
»Vielleicht gehen Sie mit ihrer Tochter am Wochenende ins Schwimmbad«, sagte der Arzt. »Das ist besser als jede Ohrspülung.«
»Und wenn das nicht hilft?«
»Falls dieser Kern wirklich in Rosas Ohr steckt, rutscht er im Schwimmbad garantiert heraus«, sagte der Arzt. »Aber wenn Ihnen das lieber ist, stelle ich Ihnen einen Überweisungsschein aus.«
Rosas Vater merkte, dass weder der Arzt noch die Schwester ihm glaubten. Immerhin nannte die Schwester ihm einen Spezialisten, und auf dem Weg ins Büro wählte der Vater die Nummer der Praxis vergeblich. Auch in der Mittagspause erreichte er dort niemanden. Am Abend pinnte er die Überweisung an den Kühlschrank, wo sie im Laufe der nächsten Wochen hinter anderen Zetteln verschwand, und nach und nach geriet die ganze Sache in Vergessenheit, zumal Rosa keinerlei Symptome zeigte, sondern das ruhige Kind blieb, das sie von Geburt an gewesen war.
Die erste Sonnenblume wuchs Rosa kurz vor ihrem dritten Geburtstag aus dem Ohr. Natürlich war es erst einmal keine Blume, sondern nur ein grüner Stängel mit zwei kleinen Blättern. Die Überweisung fand sich noch am Kühlschrank, und die Eltern bugsierten Rosa in den Autositz und fuhren zum Spezialisten, der den Trieb abzwickte und ins Labor schickte.
Eine halbe Woche später rief er ins Telefon: »Sofort operieren!«
»Was ist es überhaupt?«, fragte Rosas Mutter.
»Was wohl? Eine Sonnenblume!« Der Arzt klang ungeduldig. »Sie haben Glück, in der kommenden Woche ist noch ein OP-Termin frei. Morgen Vormittag sehe ich die kleine Maus zum Blutabnehmen, ein paar Formulare müssten Sie bitte auch noch unterschreiben. In diesem Alter ist Vollnarkose angebracht, danach kann es zu Übelkeit und Erbrechen kommen. Das passiert aber eher selten.«
Am Wochenende bekam Rosa jedoch Fieber, sodass die Operation abgesagt werden musste, und bevor sie einen neuen Termin vereinbaren konnten, wurde Rosas Mutter von einem seltsamen Gefühl beschlichen. Rosas Eltern konsultierten einen zweiten Spezialisten, der empfahl, den Stängel vor Rosas zwölftem Geburtstag nur regelmäßig zu stutzen und sich keine übermäßigen Sorgen zu machen. Manchmal gelang das Rosas Eltern sogar, aber über das zweite Kind, das sie sich eigentlich gewünscht hatten, sprachen sie immer seltener.
In den folgenden Jahren verschnitten sie die Pflanze jeden Morgen, und Rosa ließ das mit absolutem Gleichmut über sich ergehen. Auch in der Schule erwies sie sich als unauffälliges Kind. Erst als sie in der dritten Klasse war, fragte sie eines Morgens ihre Eltern: »Warum schneidet ihr die Pflanze immer ab?«
»Wir wollen nicht, dass sie wächst«, sagte Rosas Vater.
»Aha«, sagte Rosa mit der Leichtigkeit, mit der Kinder fast alles hinnehmen. Beim Abendessen erklärte sie allerdings, dass weder Sara noch Karoline einen Trieb im Ohr hatten. In der gesamten Klasse hatte überhaupt niemand eine Pflanze im Ohr, und Richard hatte der Vertrauenslehrerin Bescheid gegeben.
Liebe Eltern, stand auf dem Zettel in Rosas Postmappe. Rosa ist ein wunderbares Mädchen mit vielen Ressourcen, über die ich gern mit Ihnen ins Gespräch kommen würde.
Die Vertrauenslehrerin fragte Rosas Eltern, ob sie viel arbeiten müssten, ob Rosa manchmal schlecht träume und ob sie Geschwister habe. Erst ganz am Ende kam sie auf den Trieb zu sprechen, sie fragte: »Um was für eine Pflanze handelt es sich eigentlich?«
»Vermutlich eine Sonnenblume«, sagte Rosas Vater.
»Vermutlich?« Die Vertrauenslehrerin machte ein erstauntes Gesicht. »Sie haben die Pflanze bisher nicht wachsen lassen?«
Rosas Eltern schüttelten den Kopf.
»Eine Sonnenblume ist doch toll! Mag Rosa Sonnenblumen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Rosas Mutter vorsichtig. »Ich glaube, sie mag alle Blumen.«
»Und was wünscht sie sich selbst? Würde sie die Blume nicht gern einmal sehen?«
Auf dem Heimweg waren Rosas Eltern ungewöhnlich schweigsam, und kaum dass sie zu Hause waren, gerieten sie in Streit. Rosas Vater warf Rosas Mutter vor, dass sie damals gezögert hatte, draußen im Hof, vor acht Jahren, als Rosa sich den Sonnenblumenkern ins Ohr gesteckt hatte, und Rosas Mutter entgegnete, dass Rosas Vater mit dem Anruf beim Spezialisten auch nicht sonderlich entschlossen gewesen war. Es ging hin und her, und Rosa hörte jedes Wort. So erfuhr sie, seit wann der Trieb in ihrem linken Ohr sie begleitete, dass ihr verschiedene Möglichkeiten offenstanden und dass eine dieser Möglichkeiten darin bestand, den Trieb nicht mehr abzuschneiden – eine Vorstellung, die ihr gefiel.
Die Pflanze wuchs erstaunlich schnell. Nachdem sie Rosas Ohr verlassen hatte, streckte sie sich nach oben, Richtung Sonne, und nach wenigen Wochen öffnete sich zwei Handbreit über Rosas Kopf die erste Blüte. Eine Zeitlang steckten sich auch Rosas Freundinnen Blumen ins Haar. Aber natürlich welkten diese Blumen sehr schnell, während Rosas Blume wochenlang blühte, und natürlich machten sich Rosas Klassenkameraden bald über sie lustig. Rosa ließ sich davon nicht stören. Sie unternahm auch nichts, als im Herbst eine zweite Pflanze aus ihrem linken Ohr wuchs und sich im Frühjahr darauf auch in ihrem rechten Ohr ein Trieb zeigte. Die Stängel wurden immer dicker, und sie hörte dadurch nicht mehr so gut. Aber sie bat die anderen einfach, ihre Worte zu wiederholen, und wenn ihre Kopfschmerzen zu stark wurden, blieb sie für ein paar Tage im Bett, und an dieser Stelle der Erzählung konnte ich nicht anders, als Rosas Mut zu bewundern.
Rosa hielt erstaunlich lange durch. Erst vor dem Wechsel zur weiterführenden Schule schnitt sie die Blumen ab, und sie wunderte sich über den heftigen Schmerz und das helle, fast weiße Blut. Rosas Eltern kannten ihre Tochter inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie Rosas Entscheidung besser nicht kommentierten. Nur einmal brachten sie die Operation noch ins Spiel, und Rosa zeigte sich durchaus aufgeschlossen. Aber der Spezialist von damals hatte seine Praxis an einen jüngeren Kollegen übergeben, und der verwies sie an eine Privatklinik im Norden, deren Kosten die Möglichkeiten von Rosas Eltern überstiegen. Rosa trug die Haare jetzt lang. Sie hatte eine spezielle Technik entwickelt, die Stängel allein zu stutzen, und dabei ärgerte sie sich jedes Mal über ihren Starrsinn. Nur weil sie es hatte besser wissen wollen als ihre Eltern, musste sie jetzt drei Triebe verschneiden statt nur einen, oder waren daran vielleicht ihre Eltern schuld, die jahrelang nichts gegen die Triebe unternommen hatten? Die noch dazu von ihr verlangten, auch am Wochenende spätestens um 22 Uhr zu Hause zu sein? Die sich ständig stritten und trotzdem nicht scheiden ließen und die sich, als sie endlich aufhörten zu streiten, doch noch scheiden ließen? Obwohl Rosa sich in der zwölften Klasse ins Ohr schnitt und fast zwei Monate lang in der Schule fehlte, legte sie ihr Abitur mit Auszeichnung ab. Zum Studium ging sie in die Stadt, in der sich die Privatklinik befand. Sie sagte, damit habe sie keinen festen Plan verfolgt. Es sei ihr einzig darum gegangen, alle Möglichkeiten zu haben.
Ich lernte Rosa Freytag kennen, als sie sich zum zweiten Mal in der Klinik vorstellte. Sie stand kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und während ich ihre Akte ins Sprechzimmer brachte, überflog ich das Protokoll ihres ersten Besuchs. Vorstellig wegen geplanter OP, las ich. Mglw. interessiert, allerdings angespannte fin. Situation.
Auch diesmal kam sie wegen der Operation, und fast alles an Rosas Bericht kannte ich aus anderen Fällen – die Entschlossenheit, mit der sie als Kleinkind nach dem Sonnenblumenkern gegriffen hatte, die Rebellion in der Grundschule, die Anpassung in der Vorpubertät, natürlich die Unwissenheit der verschiedenen Ärzte. Selbst das unprofessionelle Verhalten von Rosas Vertrauenslehrerin war kein Einzelfall, und im Studium hatte Rosa dann noch den obligatorischen Freund, der nach wenigen Wochen hinter ihr Geheimnis kam und sich daran nicht im Geringsten störte, woraufhin sich in Rosa die Überzeugung breitmachte, dass er sie nur wegen etwas liebte, was sie selbst als Makel empfand. Ungewöhnlich war, dass bei Rosa alles zusammenkam, und noch ungewöhnlicher war, auf welche Weise Rosa ihre Geschichte erzählte. Der Arzt war äußerst irritiert davon, dass Rosa weniger über ihre Kopfschmerzen und ihre Schwerhörigkeit klagte als vielmehr darüber, dass sie sich ständig fragte, wie viele Blüten die drei Triebe inzwischen wohl entwickeln würden. Dieser Gedanke war wie ein Zwang. Der Arzt hatte Mühe, sich an den Leitfaden zu halten, und ich wäre ihm beinahe zu Hilfe gekommen. Aber ich kannte eine andere Schwester, die sich in ein solches Gespräch eingemischt hatte und die am nächsten Tag in die Gewächshäuser versetzt worden war, und dort zu arbeiten war ein Knochenjob.
»Natürlich sagt Ihre Mutter, dass Sie sich den Sonnenblumenkern selbst ins Ohr gesteckt haben«, sagte der Arzt. »Aber was wissen wir schon mit Sicherheit, abgesehen davon, dass die Sonne im Osten aufgeht und dass Menschen dazu in der Lage sind, einander zu töten?«
»Sie meinen, dass meine Mutter mir den Kern ins Ohr gesteckt hat?«, fragte Rosa. »Warum sollte sie so etwas tun?«
»Ich habe nur gesagt, dass Sie Ihre Erinnerungen als relativ betrachten sollten, oder können Sie noch mit Sicherheit sagen, wie groß die Pflanzen waren, die damals aus ihren Ohren gewachsen sind?« Er fuhr mit den Händen über seinen Schreibtisch. »Dieser Tisch ist selten hässlich, finden Sie nicht? Wenn alles gut geht, werden nächste Woche endlich die neuen Möbel geliefert. Warum sind Sie eigentlich hier, wenn Sie die Blumen gar nicht loswerden wollen?«
»Ich möchte sie loswerden«, sagte Rosa und setzte nach kurzem Zögern hinzu: »Ich würde sie nach der Operation nur gern einpflanzen.«
»Ob das möglich ist, kann ich Ihnen erst nach der MRT sagen«, sagte der Arzt. »Die Schwester gibt Ihnen einen Termin.«
Bevor sie in die Röhre geschoben wurde, ließ Rosa sich ein Beruhigungsmittel geben, und für die Kopfhörer wünschte sie sich klassische Musik. Während das Gerät sie durchleuchtete, betrachtete ich das Muster auf Rosas Kleid. Ein Fünfeck lag auf ihrer Scham, auf ihrem Bauch verteilten sich Dreiecke und Vierecke. Wahrscheinlich würde der Arzt sie erst im Entlassungsgespräch darauf hinweisen, dass eine Schwangerschaft in ihrem Fall mit erheblichen Risiken verbunden war. Als mein Blick auf den Monitor fiel, zuckte ich zusammen. Rosa war zu jung dafür, dass die Wurzeln sich nicht nur in ihrem Schädel ausgebreitet hatten, sondern sich auch schon den Weg an der Wirbelsäule entlang in Rosas Brustkorb bahnten. Die einzige Option würde darin bestehen, das Wurzelknäuel hinter dem linken Ohr zu entfernen und darauf zu hoffen, dass die restlichen Wurzeln austrockneten – was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war.
Dass ein Teil der Wurzeln möglicherweise zurückbleiben würde, schien Rosa fast zu freuen, und ich wunderte mich nicht, als der Arzt einhakte. Sein Vorschlag erstaunte mich aber doch.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum Sie eigentlich hier sind«, sagte der Arzt. »Aber für den Fall, dass Sie die Blumen wirklich loswerden wollen, könnte ich Ihnen noch etwas anderes anbieten. Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach Ihrem Studium? Irgendeine Stelle in Aussicht?«
Rosa schüttelte den Kopf.
»Sie könnten nach Ihrem Abschluss wiederkommen und die Blumen unter medizinischer Aufsicht wachsen lassen. Manchmal gehen sie dabei ein, danach wären Sie das Problem für immer los.«
»Als ich sie in der Grundschule habe wachsen lassen, sind sie nicht verwelkt.«
»Im Erwachsenenalter stellt sich das manchmal anders dar«, sagte der Arzt. »Allerdings kann ich für den Erfolg nicht garantieren.«
Rosa nickte. »Ich verstehe.«
»Und ich möchte ehrlich sein: Wenn unser Versuch scheitert, ist eine Komplettoperation definitiv nicht mehr möglich. Dann werden sich die Wurzeln in Ihrem ganzen Körper verteilt haben, und wir können die Wurzelmasse nur noch reduzieren.«
»Ich überlege es mir«, sagte Rosa.
Sie meldete sich erst vier Wochen später zurück, und das auch nur, um mitzuteilen, dass ihr ein Promotionsstipendium angeboten worden war. Dadurch hatte sie keine Zeit für die Behandlung, und mit Erstaunen registrierte ich die Erleichterung, die mich überfiel. Aber dann stand Rosa eines Morgens doch mit einer kleinen Reisetasche in der Hand vor der Klinik: Sie hatte das Stipendium um ein halbes Jahr verschoben. Ich gab ihr das Zimmer mit Blick auf den Bodden, der nicht sonderlich schön war, aber eine Weite versprach, die Rosa sicher guttun würde, und nahm ihre Essensbestellung auf.
Es kam schlimmer als alles, was ich in meinen acht Klinikjahren erlebt hatte. Rosas Sonnenblumen wuchsen so schnell, dass ich sie schon nach wenigen Tagen abstützen musste, und manche Blüten wurden größer als die Teller, auf denen ich das Mittagessen brachte. Gern hätte ich Rosa mehr Schmerzmittel ausgehändigt, als der Arzt guthieß, gern hätte ich ihr gesagt, dass sie durchhalten müsse, bis die Blumen endlich welkten, und dabei hätte ich verschwiegen, dass keinerlei Belege für den Erfolg dieser Behandlung existierten, weil sie zum ersten Mal durchgeführt wurde und der Arzt sie wahrscheinlich nur vorgeschlagen hatte, um ein Paper zu publizieren oder um Rosa etwas zu beweisen. Aber Rosa verlangte weder nach Medikamenten noch nach Zuspruch. Nur als ihre Eltern zu Besuch kamen, bat sie mich um ein Beruhigungsmittel, was ich ihr ohne weitere Rücksprache gab. Ihre Eltern liefen den Gang entlang wie zwei Menschen, die nicht aufgehört hatten, einander zu lieben, und zum Ende der Besuchszeit musste ich sie mehrmals bitten zu gehen.
Ich bezog gerade Rosas Bett, als der Arzt ihr erklärte, dass die Behandlung gescheitert sei und er operieren müsse, weil die Wurzeln sonst Rosas Organe beschädigen könnten. Rosa presste die Lippen aufeinander, oder war das ihre Art zu lächeln? Nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte, fragte ich: »Warum hängen Sie so an den Sonnenblumen?«
Rosa wandte mir den Blick zu, und ich merkte, dass ich die falsche Frage gestellt hatte. Ohne den Blick von mir zu nehmen, begann Rosa wieder mit ihrer Geschichte. Sie wählte dieselben Worte wie bei ihrem Eingangsgespräch, und mit jeder Formulierung, die mir bekannt vorkam, wurde mir kälter.
»Mein Freund hatte zwei Wirbel im Haar«, sagte sie zuletzt. »Das ist selten, oder?«
»Sie dürfen nicht glauben, dass Sonnenblumen die einzigen Pflanzen sind, die in uns wachsen«, sagte ich. »Sie sind nur besonders auffällig.«
»Welche Pflanze wächst in Ihnen?«
»Ich will es nicht wissen«, sagte ich sanft. »Ich bin nicht so mutig wie Sie.«
Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob es wirklich der Mut war, der Rosa und mich unterschied. Aber bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, betrat der Anästhesist das Zimmer und händigte Rosa die Formulare aus.
Rosas Blumen wurden von den Schwestern aus den Gewächshäusern verschnitten, aber ich war dabei, als ihre Schädeldecke aufgeklappt wurde. Normalerweise assistierte ich nicht bei Operationen, aber eine Kollegin hatte mir angeboten zu tauschen, und ich betrachtete das Wurzelknäuel hinter Rosas linkem Ohr. Die Wurzeln waren blass und glatt und wunderschön, und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass mir gleich die Frage einfallen würde, die ich Rosa hätte stellen müssen. Dann wurden meine Gedanken von dem feinen Sirren unterbrochen, mit dem die winzige Säge die erste Wurzel durchtrennte.
Die Operation dauerte fünf Stunden, und zwischendurch war Rosa zweimal klinisch tot. Nachdem der Arzt den Schädel wieder verschlossen hatte, machte er an der Wirbelsäule und im Brustkorb weiter, aber es gab für ihn nicht viel zu tun. Die Wurzelknäuel waren überall, die meisten waren schon mit Rosas Organen verwachsen. Was zu Boden fiel, passte in meine hohle Hand. Als ich allein war, sammelte ich alles ein, säuberte es und verstaute es in einer sterilen Tüte, dann schob ich Rosa in den Aufwachraum. Die Tüte mit den Wurzeln legte ich auf ihren Nachttisch. Ich legte auch drei Sonnenblumenkerne hinein, die ich in ihrem Zimmer gefunden hatte. Kurz war ich versucht, einen Kern wieder herauszunehmen und einzustecken – einen einzigen nur. Aber ich wollte nicht in den Gewächshäusern enden, und wofür brauchte ich überhaupt den Samen einer Pflanze, die in jedem zweiten Garten wuchs?
Rosa blieb noch vierzehn Tage in der Klinik, und auf ihren Wunsch hin schickte ich ihre Eltern zweimal weg. Danach ging sie auf eigenes Risiko, eine Rehabilitationsmaßnahme lehnte sie ab. Ich nahm ihr das Versprechen ab, dass sie zumindest die Nachuntersuchungen absolvierte, aber im Grunde wusste ich schon, dass ich sie nicht wiedersehen würde. Kurz darauf kündigte ich meine Stelle, und am städtischen Krankenhaus, an das ich wechselte, waren die Fälle anderer, wenn auch nicht weniger schwerer Natur. Es war mir nicht unrecht, dass ich mir für die Patienten hier nicht so viel Zeit nehmen konnte, und wenn die anderen Schwestern mich fragten, was ich von der Frau in Zimmer 3 hielte oder ob mir der Mann in Zimmer 5 auch so lästig sei, zuckte ich nur mit den Schultern. Ein paar Mal ging ich mit einem Pfleger aus, und einmal war ich kurz davor, ihm von Rosa zu erzählen. Aber im selben Moment versuchte er mich zu küssen, und ich küsste ihn erst zurück und drehte den Kopf dann doch noch weg. Danach gab ich mir noch mehr Mühe, Rosa zu vergessen, und irgendwann wurde es tatsächlich besser. Nur in den Nachtdiensten, wenn es auf der Station ganz still war und ich allein im Schwesternzimmer saß, ertappte ich mich dabei, wie ich die Fachzeitschriften nach neuen Studien aus der Privatklinik durchsuchte.
Ein einziges Mal hörte ich noch von Rosa Freytag, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es sich wirklich um sie handelte. Beim Treffen meines Ausbildungsjahrgangs erzählte eine Mitschülerin von einer schweren Entbindung: Der Körper der Gebärenden war fast vollständig von Wurzeln durchwuchert, und um das Kind zu retten, blieb dem Arzt nichts anderes übrig, als die Wurzeln mit einem schnellen Schnitt zu durchtrennen und damit das Leben der Gebärenden zu opfern. Wie das so üblich war, zog sich das Treffen bis weit in die Nacht, und ich betrat meine Wohnung später als sonst. Sehr leise zog ich meinen Mantel und die Schuhe aus, ging sehr leise ins Bad und öffnete die Schlafzimmertür sehr leise, so als würde außer meinen Pflanzen und mir noch jemand hier leben, als wäre hier jemand, den ich keinesfalls wecken dürfte.
»Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel.« Die Bäuerin hat Mühe, das Hundegebell zu übertönen. »Diesen Krach macht er zum Glück nur morgens. Leider schließt Ihre Wohnung an den Zwinger an.« Sie zeigt auf die rote Tür hinter uns. »Hoffentlich haben Sie einen festen Schlaf.«
Ich sehe, dass Daniel nach einer passenden Antwort sucht.
»Da kann man nichts machen«, sagt er schließlich. »Wir sind hier eben auf dem Land.« Und er nimmt der Bäuerin den Schlüssel für die Ferienwohnung aus der Hand.
Sie nickt uns zu, dann öffnet sie den Riegel des Hundezwingers. Im Innern geht sie in die Hocke. Bellend stürzt der riesige weiße Hund auf sie zu. Für einen Moment sieht es so aus, als wollte er sich in ihr Gesicht verbeißen. Aber dann verstummt er, bleibt stehen und schiebt seine Schnauze in ihre Hand.
Schlagartig werden die Tritte hörbar, mit denen Noah die Autotür von innen bearbeitet. Ich öffne die Tür und hebe ihn heraus, obwohl er dafür eigentlich zu schwer geworden ist. Stumm schaut er sich auf dem Bauernhof um. Vermutlich macht Daniel sich noch Hoffnungen, dass dieser Urlaub normal verläuft. Dass Noah die Alpakas füttert, dass er im Sandkasten Kuchen bäckt, vielleicht sogar mit anderen Kindern. Ich hoffe auf so etwas nicht mehr. Ich versuche nur noch, zumindest Matilda ein paar schöne Momente zu bereiten. Sie ist so ruhig, dass wir uns um sie wahrscheinlich noch mehr sorgen sollten. Auch jetzt sitzt sie stumm in der Babyschale und schaut ins Leere.
Ich gebe Noah an Daniel weiter, um die Schale aus dem Auto zu bugsieren und in die Ferienwohnung zu tragen. Die Räume sind so freundlich wie auf der Website, nur dass keine fröhliche Familie auf den Küchenstühlen sitzt. Von drinnen höre ich, wie Daniel Noah davon überzeugen will, seinen Kinderkoffer selbst ins Haus zu bringen.
»Mache ich aber nicht!«
»Dann bleibt er eben im Auto.«
»Nein, du trägst ihn!« Noahs Stimme überschlägt sich.
»Los, trag ihn! Trag ihn sofort!«
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