Einer hätte gereicht - Nadja Schlüter - E-Book

Einer hätte gereicht E-Book

Nadja Schlüter

4,7

Beschreibung

Geschwister können uns sehr vertraut sein oder sehr fremd. Wir können sie lieben oder hassen. Aber immer ist die Verbindung von Geschwistern eine besondere – einzigartig, oft eigenartig. In zehn Erzählungen lotet Nadja Schlüter aus, was es heißt, sich auf diese ganz eigene Art nah zu sein. Da ist die kauzige Frau, die ihren Bruder bisher gar nicht kannte und jetzt zu sehr mag. Ein junger Mann, der daran verzweifelt, dass er seinen Bruder viel zu gut kennt. Da sind die zwei Fremden im Zug, die spontan ein Geschwisterpaar spielen, um einen aufdringlichen Betrunkenen abzuwehren. Und wie wäre es eigentlich, wenn wir uns in der Zukunft den Bruder oder die Schwester selbst aussuchen könnten, statt sie einfach als Blutsverwandte vorgesetzt zu bekommen?

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Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Lektorat: Adrian Witschi

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-170-6

www.voland-quist.de

Nadja Schlüter (*1986) lebt als Autorin und Journalistin in München und schreibt vor allem für jetzt, das junge Magazin der Süddeutschen Zeitung. »Einer hätte gereicht« ist ihr Prosadebüt.

Inhalt

Die SchweizAch, du bist’sMatchDie SchwacheDas andere KindImproZwei JahreHätte, hätteZahnräderEiner hätte gereicht

Die Schweiz

Sechs Uhr. »Ich sag dir mal was«, sagt Philipp und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Bourbon ins Glas und Zuckersirup, ein paar Tropfen Bitter und drei Eiswürfel. Ich sehe Philipp an, während ich rühre, er sieht mir zu und trommelt dabei mit den Fingern seiner linken Hand auf dem Tresen rum. »Du machst mich nervös«, sage ich. Philipp greift mit der rechten Hand seine linke, als gäbe es keine andere Möglichkeit mit dem Trommeln aufzuhören. Mir fällt auf, dass seine Geheimratsecken in den letzten Wochen gewachsen sind. Ich reibe die Innenseite einer Zitronenschale am Glasrand ab und schiebe Philipp das Glas hin. »Da«, sage ich. »Macht 9,50 Euro.« »Schreib’s an«, sagt Philipp und trinkt. Dann presst er die Lippen zusammen und schluckt übertrieben deutlich. »Bisschen bitter geworden«, sagt er. Ich mache einen Strich auf seinem Deckel.

Acht Uhr. »Ich bin so sauer«, sagt Jo und dann sagt er nichts mehr. Ich kippe Gin, Wermut und Campari ins Glas, dann drei Eiswürfel. »Echt«, sagt Jo, »stinksauer.« Er faltet die Hände auf dem Tresen, als wolle er beten. »Das verstehst du, oder?« »Ehrlich gesagt: nein«, sage ich und lege eine Orangenzeste auf die Eiswürfel. Ich schiebe Jo das Glas hin. »Da«, sage ich, »macht 9,50 Euro.« »Kann ich noch mal anschreiben lassen?«, fragt Jo. »Jaja«, sage ich und mache einen Strich auf seinem Deckel, der neben Philipps unterm Tresen liegt. Elf zu vier für Philipp. Jo zahlt wenigstens ab und zu, Philipp muss ich zwingen. Das mache ich etwa alle fünfzehn Drinks und dann sagt er so was wie: »Für deinen Bruder könntest du ruhig mal eine Ausnahme machen.« Und ich so was wie: »142,50 Euro sind mir etwa 132,50 Euro zu viel für eine Ausnahme.« Und dann gibt er mir einen Hunderter, sagt so was wie: »Den Rest kannst du behalten«, und grinst.

Jo trinkt einen Schluck, dann rümpft er die Nase. »Bisschen bitter geworden, oder?«, sagt er. Ich nehme ein Glas in die Hand, um es zu polieren.

Zehn Uhr. »Hallo mein Mäuschen«, sagt Nils. »Gib mir doch bitte ein Bier.« Ich sage nichts, dabei könnte ich ja zumindest zurückgrüßen, wäre ja nicht verfänglich. Ich nehme ein Bier aus der Kühlschublade, öffne es und stelle es vor Nils auf den Tresen. »Danke«, sagt er und schiebt mir einen Fünfer rüber. Er trinkt einen Schluck. »Ist es zu bitter geworden?«, frage ich. Nils lacht. »Soll das ein Witz sein?« »So was Ähnliches«, sage ich und hole ihm sein Wechselgeld aus der Kasse. Nils hat keinen Deckel, aber er wird nach Nüssen fragen in drei, zwei, eins … »Hast du Nüsse da?«, fragt Nils.

Drei Brüder haben ist anstrengend. Drei Brüder und eine Bar haben ist noch anstrengender. Am anstrengendsten ist es aber, wenn man drei Brüder hat, die immer Streit haben (zwei gegen einen oder jeder gegen jeden oder einer mit einem anderen und der Dritte tut so, als ginge ihn das nichts an), und man eine Bar hat, in die alle drei Brüder trotzdem gehen wollen, weil es ja sehr praktisch ist, eine Schwester mit einer Bar zu haben. Damit die drei sich nicht absprechen, aber auch nicht begegnen müssen, hat jeder einen Slot bekommen. Philipp kommt, wenn er kommt, zwischen sechs und acht, Jo kommt, wenn er kommt, zwischen acht und zehn, und Nils kommt, wenn er kommt, zwischen zehn und zwölf. Alles nach Mitternacht ist Glücksspiel, da darf jeder kommen, wann er will, deswegen kommt da selten überhaupt einer von ihnen, außer, er ist sehr betrunken. Die festen Slots gelten immer und für jeden Tag, auch wenn nicht jeder von ihnen jeden Tag kommt. Wenn zwei von ihnen gerade gut miteinander sind, meistens, weil sie gemeinsam gegen den Dritten sind, dann sprechen sie sich manchmal ab und kommen zusammen im Slot eines der beiden, also zum Beispiel Philipp und Jo zwischen sechs und acht oder Nils und Philipp zwischen zehn und zwölf. Jo hat insgesamt den besten Slot, weil er in der Mitte liegt, und weil Jo dadurch, wenn er mit Philipp in Philipps Slot kommt, vier Stunden bleiben kann, und wenn er mit Nils verabredet ist, kann er auch vier Stunden bleiben. Wenn Philipp vier Stunden bleiben und Nils sehen will, aber gerade Ärger mit Jo hat, muss er kommen, wieder gehen und dann wiederkommen oder mit Nils kommen und dann noch zwei Stunden nach Mitternacht bleiben und hoffen, dass Jo dann nicht auch plötzlich auftaucht. Einmal, als Nils und Jo gerade Streit hatten und Philipp so getan hat, als hätte er mit all dem nichts zu tun, kam er um sechs und blieb bis Mitternacht und sprach ab acht zwei Stunden mit Jo und ab zehn zwei Stunden mit Nils und um halb zwölf war er sturzbetrunken und fing an, sich mit Nils zu streiten.

Mit Freunden oder ihren jeweils aktuellen Partnern kommen die drei schon längst nicht mehr, weil den Freunden und Partnern das alles viel zu anstrengend ist, und das ärgert mich, weil mir dadurch Kunden verloren gehen. Vor ein paar Monaten kam Nils’ Freund Amir mal um kurz vor acht, weil er mit mir darüber sprechen wollte, dass Nils so einen schlimmen Streit mit Jo habe und er nicht wisse, was er tun solle, und dann kam Jo um acht und ich habe die beiden zusammengesetzt, damit sie darüber sprechen können. Leider kam an diesem Abend um zehn auch Nils und wurde fuchsteufelswild, als er Amir und Jo zusammensitzen saß, und es kam zu einer fürchterlichen Szene, in der Nils erst Amir vorwarf, nicht loyal zu sein, und dann Jo, er mache sich an seinen Freund ran, woraufhin Jo furchtbar beleidigt war, dass Nils ihn anscheinend für einen Schwulen halte, und Nils und Amir dann beleidigt waren, dass Jo Schwulsein anscheinend für etwas Negatives halte, und dann habe ich meinen Kollegen Samuel gebeten, die drei vor die Tür zu setzen, obwohl alle anderen Gäste das Ganze extrem amüsant fanden. Meine Bar hat viele Stammgäste und die wissen natürlich schon, dass sich hier immer dieses Brüdergedöns abspielt. In einem Lonely-Planet-Thread zu Ausgeh-Empfehlungen in unserer Stadt gibt es sogar einen Eintrag, in dem ein Besucher mit einem Zwinker-Smiley erwähnt, dass die Tumbler Bar dafür berühmt sei, dass es dort diese drei Brüder gäbe, die immer … und so weiter. Mir persönlich wäre es ja lieber, wenn meine Bar dafür bekannt wäre, dass es dort diese guten Drinks gibt, aber man kann sich seine Brüder eben nicht aussuchen. Seine Drinks übrigens schon und, nur um das mal erwähnt zu haben: In meiner Bar hat man eine große Auswahl und die Drinks sind echt gut und nie, nie, niemals zu bitter!

Nils isst seine Nüsse. »Waren Philipp und Jo heute da?«, fragt er und wischt sich seine fettige Hand am Hosenbein ab. Er hat ein bisschen zugenommen in den letzten Wochen, sicher wegen Winter und wegen Jobsuche. »Ja«, sage ich. »Und beide waren irgendwie und wegen irgendwas sauer, aber frag mich nicht, wegen was.« »Ich muss dich gar nicht fragen, Mäuschen«, sagt Nils. »Ich weiß es nämlich!« »Ach was«, sage ich und poliere ein Glas. Ich werde jetzt nicht nachfragen, aber er wird es mir eh sagen, in drei, zwei, eins … »Wegen mir!«, sagt Nils. »Ach was«, sage ich. »Die Konstellation mal wieder?« Im Streit zwei gegen eins ist die Konstellation Jo und Philipp gegen Nils vermutlich die häufigste, noch häufiger nur, dass Philipp mit einem der beiden Streit hat und der Dritte dann eine Art Streitpause, falls er sich nicht dazu entschließt, für einen der beiden Partei zu ergreifen. Philipp fühlt sich am schnellsten angegriffen, was unter anderem daran liegt, dass er momentan die größte Angriffsfläche bietet. Er wohnt nämlich seit dem Tod unserer Mutter im letzten Jahr in unserem Elternhaus und müsste uns, seine drei Geschwister, die das Haus ja ebenfalls zu je einem Viertel geerbt haben, dafür eigentlich auszahlen. Dafür müssten wir aber erst mal ermitteln, wie viel das Haus wert ist, also einen Sachverständigen den Wert bestimmen lassen. Aber Philipp will das Haus lieber zum Verkauf anbieten, um herauszufinden, welchen Preis man damit erzielen könnte, und aus irgendeinem Grund verzögert sich das dauernd. Immer fehlt noch irgendein Dokument oder Philipp hat zu wenig Zeit, weil seine Ex-Frau und die Kinder ihn in Beschlag nehmen und so weiter. Es ist ziemlich klar, dass er das mit Absicht macht, weil er ja, sobald ein Wert feststünde, ein Darlehen aufnehmen und uns unseren Anteil auszahlen müsste, und das will er natürlich vermeiden. Nils ist sowieso dafür, dass wir das Haus verkaufen und Philipp woanders hinzieht, weil es ja auch ein bisschen irre ist, so ganz allein in einem Haus zu wohnen, aber Philipp hofft immer noch darauf, dass seine Ex-Frau samt Kindern zu ihm zurückkommt. Als er das wirklich mal als Argument angeführt hat, hat Nils gesagt, dass er da doch selbst nicht dran glaubt, wo es nicht mal Laika bei ihm ausgehalten habe. Laika war Philipps Jack-Russell-Terrier-Hündin, die in der ersten Woche, in der Philipp in unserem Elternhaus wohnte, aus dem Garten abgehauen ist und auf der Bundesstraße von einem Kleinlaster überfahren wurde. Philipp war natürlich stinksauer auf Nils, weil ihm das mit Laika doch sehr zu Herzen gegangen ist, und hat danach drei Abende zwischen sechs und acht an der Bar gesessen und geschimpft und nach jeweils drei Old Fashioned abwechselnd geschimpft und geheult. Am ersten Abend habe ich noch auf acht Uhr hingefiebert, weil ich dachte, er geht dann. Aber er ist geblieben, um zwischen acht und zehn Jo auf seine Seite zu ziehen, was auch geklappt hat, weil Jo Laika mochte und außerdem das Haus auch nicht verkaufen will. Allerdings nicht, weil er es Philipp gönnt, darin zu wohnen, sondern weil er hofft, dass Philipp sich in dem großen Haus irgendwann zu einsam fühlt und auszieht und Jo mit seiner Freundin einziehen, im Garten Hochzeit feiern und einen Haufen Kinder kriegen kann. Das hat er Philipp an diesem Abend und an den drei folgenden Abenden natürlich nicht gesagt, aber irgendwann hat Nils es Philipp gesagt und dann hat Philipp Jo damit konfrontiert und dann hatten die beiden Streit.

Ich poliere das nächste Glas und schweige, weil ich weiß, dass Nils schon von alleine weiterreden wird. Das Praktischste an meinem Job ist, dass ich fast nie Fragen stellen muss, weil die Leute mir einfach so alles erzählen. Ich bin wie die erlösende weiße Keramikkloschüssel, über die man sich beugen und reinkotzen kann, nachdem man sich mit der Hand vor dem Mund durch einen Haufen Leute gedrängt hat. So kriege ich zwar eine Menge Mist erzählt, andererseits muss mich der Mist auch nicht so richtig kümmern, weil die meisten nicht mal einen Rat von mir wollen. Sie wollen sich nur auskotzen. Und Fragen stellen ist halt auch nicht gerade meine Stärke, von daher optimal. »Ich hab Philipp noch mal aufs Haus angesprochen«, sagt Nils. »Weil ich Geld brauche. Er soll sich endlich mal kümmern.« »Ja, sollte er«, sage ich, obwohl es mir eigentlich wurscht ist. Solange ich meine Ruhe und meine Bar und meine Freunde und Netflix habe, können sie mit dem verdammten Haus machen, was sie wollen. »Ich hab in den letzten fünf Wochen ungefähr fünfzig Bewerbungen geschrieben und wurde nur ein Mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen und hab dann eine Absage bekommen«, sagt Nils. »Ich kann nicht mehr. Aber Philipp ist natürlich sauer geworden, weil sich die Sache mit dem Verkaufsangebot angeblich immer noch verzögert und er ja angeblich gar nichts dafür kann, dass es nicht vorwärtsgeht. Und dann habe ich Jo angerufen, um ihn zu überzeugen, doch mal auf meiner Seite mitzuspielen. Ich hab nämlich überlegt, zu klagen.« Nils trinkt an seinem Bier. Der einsame Typ neben ihm tut so, als wäre er in sich versunken, hört aber sicher zu. Einsame Typen an der Bar hören nämlich immer zu.

Es ist nicht so, als wäre das Thema Klage nicht schon mal auf dem Tisch gewesen oder zumindest: auf dem Tresen. Auf meinem. Nils hat es angesprochen. Jo hat es angesprochen, weil Nils es angesprochen hat. Und Philipp hat es angesprochen, weil er von Nils gehört hat, dass Jo es angesprochen hat. Dann gab es Streit und danach haben alle so getan, als gäbe es diese Option nicht. Darum klingt das jetzt bei Nils auch so, als sei das etwas ganz Neues. »Das ist ja was ganz Neues«, sage ich, weil ich damit gleichzeitig ironisch sein und das Spielchen mitspielen kann. »Ja, aber Jo will nicht mitmachen. Und dich muss ich eh gar nicht erst fragen. Und irgendwie finde ich es auch bescheuert, meinen eigenen Bruder zu verklagen. Das muss doch so zu regeln sein.« »Meinetwegen könnt ihr euch alle drei gegenseitig verklagen, dann entscheidet vielleicht endlich mal jemand darüber, wer von euch endgültig und für immer recht hat und dann ist Ruhe im Karton«, sage ich und greife unter die Theke, weil Nils’ Nüsse leer sind und er gleich nach neuen fragen wird. »Jetzt sei doch nicht so, Mäuschen. Und hast du noch … ach, danke!« Nils war schon immer am einfachsten glücklich zu machen, er strahlt die Nüsse an, die in die Schüssel rieseln. »Jedenfalls habe ich mir was überlegt«, sagt er dann. »Was anderes, um mich zu finanzieren, und was mir, glaube ich, Spaß machen würde. Und dir, glaube ich, auch.«

Ich zucke zusammen und hoffe, dass Nils das nicht bemerkt hat. Aber mir gefällt der Gedanke ganz und gar nicht, Teil irgendeines Plans zu sein, den einer meiner Brüder gemacht hat. Ich bin und war schon immer die neutrale Schwester. »Ich bin die Schweiz«, das habe ich früher immer gesagt, nachdem ich diese Redewendung kennengelernt hatte. Heute denke ich das zwar nur noch, aber ich sehe es noch genauso. Ich mische mich nicht ein, dafür erwarte ich von den anderen aber auch nichts. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich damit nicht zu meinen Brüdern, ich will keine Solidarität und keinen Rat von ihnen. Das war schon immer so und ich will mir gar nicht vorstellen, welches Chaos ausbrechen würde, wenn ich daran etwas ändern und mich an einen von den dreien wenden oder mich mit ihm verbünden würde. Das ganze System würde explodieren. Oder implodieren. Jedenfalls kaputtgehen. Wir sind wie ein Haus, das vom Erdbeben eh schon schief steht, und wenn man dran rütteln würde: wumms. »Ich wüsste nicht, was das sein soll«, will ich darum sagen, aber das kommt mir dann doch etwas zu eindeutig vor. »Das macht mir ein bisschen Angst«, sage ich und dann erlöst mich wieder ein Gast, der von rechts an den Tresen kommt. Hinten und rechts sind eigentlich Mayas Seiten der Theke, ich mache vorne und links, aber Maya mixt gerade und ich will aus der Situation flüchten. Also nehme ich die Bestellung auf und mische einen Mint Julep. Ich gebe mich höchst konzentriert und halte mich weit rechts, damit Nils mich nicht anspricht. Er nuckelt an seinem Bier und hat keine Nüsse mehr, aber das ist mir egal. Der einsame Typ schielt manchmal zu ihm rüber.

Nach dem Mint Julep kommen noch ein paar andere Gäste, und Samuel kommt, um die Tische zu bedienen, weil es ab elf voll wird, und ich bin erst mal beschäftigt. Ich habe Nils ein zweites Bier gegeben. Der einsame Typ hat ihn angesprochen und wirkt sehr flirty. Ich sehe, dass das Nils unangenehm ist, wahrscheinlich, weil er schlecht im Flirten ist und weil Amir immer so eifersüchtig ist und er daran denken muss. Der einsame Typ ist sehr attraktiv, so ein trainierter mit gesunder Gesichtsfarbe. Nils schaut mich immer wieder hilfesuchend an. Gegen Viertel vor zwölf wird es wieder etwas ruhiger, weil erst mal alle versorgt sind. »Noch ein Bier?«, frage ich Nils und er nickt. »Wir müssen noch über meine Idee sprechen«, sagt er dann sofort, wahrscheinlich will er dem Gespräch mit dem einsamen Typen entkommen. Außerdem ist in einer Viertelstunde seine Besuchszeit zu Ende und an einem Freitag kann man nie wissen, ob einer der beiden anderen nicht doch noch mal vorbeikommt. Ich stelle Nils sein Bier auf die Serviette. »Dann mal los«, sage ich und poliere ein Glas, das ich eben schon poliert habe. »Also«, sagt Nils, »ich brauche einen Job. Wenigstens für den Übergang, hab ich erst mal gedacht. Und dann dachte ich, dass ich gerne hier bin und dass wir uns gut verstehen und dass ich dich gern fragen würde, ob ich bei dir arbeiten darf.« Mir fällt das Glas runter. Wirklich. Obwohl das das größte Klischee ist, das es gibt, wenn ein Glas und ein Schreckmoment zusammenkommen. Es knallt vor mir auf die Theke und ein großes Stück bricht heraus. »Oh, fuck«, sagt Nils. Der einsame Typ schmunzelt und ich hasse ihn dafür. Ich werfe das Glas weg und nehme einfach ein anderes, das ebenfalls schon poliert ist, ohne Nils anzusehen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es gleich so schlimm findest«, sagt er. »Schlimm, schlimm«, sage ich, weil ich ja irgendwas sagen muss. »Schlimm, das ist so ein hartes Wort.« »Aber gut findest du es nicht«, sagt Nils. »Nils«, sage ich, »du bist mein Bruder, aber wenn ich dich hier arbeiten lasse, dann …« Ich mache eine Pause. »Was dann?« Ich überlege kurz. »Dann bin ich nicht mehr die Schweiz«, will ich sagen, aber zum Glück hebt vorher links von mir eine Frau, die seit etwa vierzig Minuten ein anscheinend eher unangenehmes Date absolviert, ihre Hand und gibt mir zu verstehen, dass sie gerne die Rechnung hätte. Ich beschließe, erst mal sie zu retten, bis ich mir überlege, ob ich meinen Bruder rette oder ihn hängen lasse. »Ich muss darüber nachdenken«, sage ich. »Und hier mal weitermachen.« Ich deute mit dem Kopf rüber zu der Frau, die wirklich ziemlich verzweifelt aussieht. Nils macht ein Gesicht, als hätte ich ihm die Geschwisterschaft gekündigt, und dann legt er mir einen Fünfer für das letzte Bier auf den Tresen. »Der Rest ist Trinkgeld«, sagt er und geht, ohne Tschüss zu sagen, nicht mal zu dem einsamen Typen, und ich finde das ziemlich dramatisch. Der einsame Typ sieht auch nicht mehr so amüsiert aus und ich kann nur hoffen, dass er sich jetzt aus Frust betrinkt, denn das wäre wenigstens gut für den Umsatz.

Ich habe drei Optionen. Erstens: Ich kann Nils einfach absagen. Zweitens: Ich kann Nils einstellen. Drittens: Ich kann mich in die Sache mit dem Haus einmischen. Druck machen, auf meinem Recht beharren und damit dafür sorgen, dass alle ihr Geld bekommen, inklusive Nils, der es am dringendsten braucht. Während ich dem einsamen Typen noch einen Negroni mische, wäge ich ab, welche dieser Möglichkeiten am wenigsten schlimm ist. Wenn ich Nils absage, wird er natürlich sauer sein, selbst wenn ich behaupte, dass ich niemanden brauche. Nils weiß nämlich, dass das nicht stimmt. Ich kann jemanden gebrauchen, weil Samuel und Maya meine einzigen Mitarbeiter sind, aber sich schon länger eine vierte Kraft im Team wünschen. Und die Bar läuft mittlerweile so gut, dass ich es mir gut leisten könnte. Ich könnte Nils auch sagen, dass ich ihn nicht für geeignet halte, aber das bringe ich nicht übers Herz, und ich glaube nicht mal daran. Und »Ich will weiter die Schweiz sein« ist aus meiner Warte verständlich, aber aus seiner nicht, und damit egoistisch. Wenn ich allerdings die Sache mit dem Haus antreibe, bin ich erst recht nicht mehr die Schweiz. Wenn ich Nils anstelle, auch nicht. Jo und vor allem Philipp würden glatt durchdrehen, wenn ihr nicht neutraler Bruder auf einmal in der Bar der neutralen Schwester arbeitet.

Es gibt also kein Am-wenigsten-schlimm. Am Ende gibt es nur ein Am-schlimmsten. Am schlimmsten fände ich es, mich in die Erbschaftsgeschichte einmischen zu müssen, mit Philipp streiten, mit Gutachtern oder Maklern oder gar Anwälten sprechen und verhandeln zu müssen. Aber fast genauso schlimm fände ich es, wenn Nils sauer auf mich wäre. Es ist komisch, das zuzugeben, wenn auch nur vor mir selbst, aber Nils ist mein Lieblingsbruder. Immer schon gewesen eigentlich. Ich bin nur nie in die Verlegenheit gekommen, irgendeine meiner Entscheidungen oder Handlungen davon abhängig zu machen. Ich werde ihn anrufen müssen, jetzt gleich. Und ihm sagen, dass er bei mir arbeiten kann. »Entschuldigung«, sagt der einsame Typ mit seinem Negroni in der Hand, »der ist etwas zu bitter geworden.« »Der gehört so«, sage ich.

Im ersten Moment fühlt sich alles ganz leicht an. Nils freut sich wahnsinnig, als ich ihm zusage, er jubelt sogar und sagt mehrmals »Mein Mäuschen, du bist die Beste« und »Du bist meine Rettung«. Es ist ein ungewohntes, aber auch ein ungewohnt gutes Gefühl, solche Freude bei jemandem auszulösen, und dann auch noch bei jemandem, der mir nahesteht. Schon am nächsten Wochenende soll Nils mit dem Einarbeiten anfangen. Er besteht allerdings darauf, Jo und Philipp das vorher mitzuteilen. Mir wäre lieber, er finge einfach an und würde nie arbeiten, wenn einer der beiden da ist, aber das geht natürlich nicht. Also bestellt Nils am Donnerstagnachmittag Jo und Philipp in die Bar, um fünf, eine Stunde bevor sie überhaupt aufmacht, und natürlich ahnen sie da nichts Gutes. Nils klärt die Fronten schon, als die beiden noch gar nicht da sind: Er stellt sich hinter den Tresen, neben mich, und da steht er dann und knetet seine Hände, als unsere Brüder durch die Tür kommen. Zusammen. Gleichzeitig. Was ich für kein gutes Zeichen halte. »Interessant«, sagt Philipp und setzt sich auf einen Barhocker. »Arbeitest du deinen Deckel ab oder ist das eine Geiselnahme?« Jo lacht. Sie haben sich noch nie so ähnlich gesehen und wirken auf einmal wie hämische Zwillinge. Die gleichen Geheimratsecken, die gleichen scharfen Gesichtszüge. Nils sieht dagegen irgendwie tollpatschig und weich aus. Aber er hat sich jetzt aufgerichtet und aufgehört, seine Hände zu kneten. »Wie wäre es erst mal mit Hallo«, sagt er. »Hallo Geschwister«, sagt Jo. »So jung kommen wir nicht mehr alle zusammen. Wir sollten was trinken, ist ja schon spät.« Er trägt noch seine Sachen aus dem Büro, was selten ist, weil er sich meistens umzieht, bevor er zu seinem Slot um acht kommt. Er hat einen grauen Anzug an und ein dunkelblaues Hemd und seine Haare zurückgekämmt. Er sieht seriöser und strenger aus als sonst, aber auch ein bisschen schmieriger. Ich mache jedem von uns ein Bier auf. »Geht aufs Haus«, sage ich. Philipp zieht die Augenbrauen hoch und nickt ein Mal anerkennend. Er hat sich anscheinend eben erst rasiert, denn er riecht nach Aftershave und hat eine kleine Wunde am Hals, an der das Blut gerade erst getrocknet ist. Philipp hat sein eigenes IT-Unternehmen und arbeitet oft im Home Office. Ich habe allerdings das Gefühl, dass er auch oft nicht arbeitet und seine Zeit mit Kummer über die Scheidung und mit Schnaps verbringt.

»Ich werde ab kommendem Wochenende hier arbeiten«, sagt Nils. »Zumindest übergangsweise, bis ich einen neuen Job gefunden habe. Wenn es mir gefällt, aber vielleicht auch dauerhaft.« Ich will ihm widersprechen, denn davon war bisher nie die Rede. Ich hole Luft und alle sehen mich an. »Weil Nils doch gerade nichts verdient«, sage ich dann, weil ich ihn nicht vor den anderen beiden bloßstellen will. Und mich auch nicht. »Ich finde, ihr solltet wissen, dass ich hier jetzt Mitarbeiter bin«, sagt Nils. »Denn immerhin könnte ich jetzt einfach da sein, wenn einer von euch kommt. Ohne zeitliche Begrenzung. Das ist euch hoffentlich klar. Und na ja, ich steige gewissermaßen in ein Familienunternehmen ein und ihr gehört ja auch zur Familie.« Meine Achseln sind innerhalb der vergangenen Minute komplett nass geworden. Das alles gefällt mir ganz und gar nicht. Nils klingt, als sei er Anteilseigner der Bar, Jo sieht aus, als hielte er die Luft an, und Philipps Mund steht offen. Dann fängt er sich und sagt: »Klasse, wirklich super, Nils«, und kurz denke ich, dass es vielleicht nicht ironisch gemeint ist. »Damit versaust du unseren ganzen Deal.« Er sieht mich an. »Und du findest das wirklich gut?«, fragt er mich und klingt dabei wie immer, wenn er mich für etwas verurteilt, wie unser Vater. Unter anderem darum vermeide ich es eigentlich, mich in irgendeine Lage zu bringen, in der mir einer der drei irgendwas vorwerfen oder infrage stellen kann, was ich tue. »Geschwister helfen sich doch«, sage ich, um nicht »ich« sagen zu müssen, und nehme einen Lappen, um den Tresen zu wischen. Ich weiß, dass Nils jetzt enttäuscht ist, weil ich nicht klar und deutlich »Ja!« gesagt habe, aber ich bin ihm wirklich schon genug entgegengekommen. »Wollt ihr neue Slots aushandeln?«, fragt Nils. »Ihr habt ja jetzt mehr Zeit zur Verfügung, wenn ihr nur noch zu zweit seid.« Philipp und Jo sehen sich kurz an. »Nein«, sagt Jo dann. »Die alten Regeln gelten hier ja anscheinend eh nicht mehr. Aber ich finde, wir sollten zumindest darüber informiert werden, wann du arbeitest. Du könntest uns den Dienstplan schicken.« »Das geht nicht«, sage ich. Hier passiert genau das, was ich befürchtet habe. Ich verliere die Kontrolle. Wenn ich einem meiner Brüder die Tür einen Spalt weit aufmache, damit er reinschlüpfen kann, kommen die anderen hinterhergerannt und stellen ihren Fuß rein. Oder treten die Tür gleich ganz auf. »Meine Dienstpläne sind vertraulich, die können nicht einfach an irgendwen rausgeschickt werden!« »An irgendwen?« Da ist er wieder, der Vater-Ton. Philipp schüttelt den Kopf. »An irgendwen. Also echt.« »Ich dachte, das wäre hier ein Familienunternehmen, dann wird die Familie ja wohl wissen dürfen, wann die anderen Familienmitglieder arbeiten«, sagt Jo spöttisch. »Ich schicke euch eine Mail mit meinen Schichten«, sagt Nils, der anscheinend auch eine Eskalation befürchtet. »Na prima«, sagt Philipp. »Am Ende muss ich mir ne neue Bar suchen.« »Ich mir auch«, sage ich. Die Schweiz hätte so was natürlich nie gesagt.

Nils macht sich gut, erstaunlich gut sogar. Er lernt schnell, versteht sich gut mit Maya und Samuel, und von den Gästen kommen auch keine Klagen. Erst macht er nur die Tische, aber dann will er, obwohl er selbst immer nur Bier trinkt, unbedingt mixen, und Maya bringt es ihm bei. Seltsamerweise sieht es völlig natürlich aus, wenn Nils den Shaker in den Händen hat, und wenn er nach dem Schütteln leicht mit dem Handballen draufschlägt, um das Mixglas zu lösen, könnte man meinen, er würde schon Jahre hier arbeiten. Er ist ein Naturtalent, das muss ich zugeben, aber das tue ich nur vor mir selbst. Maya hingegen ist ganz aufgeregt. Sie trinkt einen Schluck von dem Horse’s Neck, den Nils gerade gemixt hat, und schließt verzückt die Augen. »Nils, dich hat der Himmel geschickt!« »Ja«, sagt Nils und grinst. »Schwule mögen sie da oben nicht so gerne, darum bin ich hier gelandet.« Maya lacht und legt ihm die Hand auf den Arm und Nils sieht mich an, als wolle er auch von mir ein Lob bekommen. Aber ich nicke nur und drehe mich weg. So kann ich wenigstens vor mir selbst die Illusion bewahren, hier, in meiner Bar, und vor allem hier, hinter meinem Tresen, sei neutraler Boden.

Philipp und Jo kommen seltener. Das liegt natürlich auch daran, dass Nils oft arbeitet, aber wahrscheinlich sind sie vor allem beleidigt und es geht ihnen ums Prinzip. Es ist beinahe ein Boykott. Aber ein Mal die Woche tauchen sie dann doch auf – und zwar immer zu zweit. Sie sitzen nebeneinander an der Bar und reden nur mit mir, wenn sie etwas bestellen. Meistens reden sie nicht mal viel miteinander, sondern wischen auf ihren Handys rum, Jo liest manchmal sogar die Zeitung, obwohl das Licht dafür eigentlich viel zu schlecht ist. Und Philipp schaut mir phasenweise einfach bei meiner Arbeit zu, was mich extrem nervös macht, sodass ich ab und zu mit Maya die Seiten tausche, um aus seinem Blickfeld verschwinden zu können. Am Ende lassen sie anschreiben und gehen gemeinsam. »Langsam werden sie mir gruselig«, sagt Maya an einem dieser Abende. »Die sind wie die grauen Herren bei Momo oder so.« Ich zucke bloß mit den Schultern und sage: »Einfach ignorieren.« Dabei schaffe ich das selbst am wenigsten.

Ein paar Wochen lang ist alles ruhig und ich gewöhne mich an die neue Situation. Mehr oder weniger. Immerhin gibt es keine Streite mehr an der Bar, zumindest nicht unter meinen Brüdern, und auch keine Beschwerden. Nils macht einen guten Job und Jo und Philipp kommen und schweigen und trinken und lassen anschreiben und ich habe nicht die Nerven, ihnen zu sagen, dass sie endlich mal wieder bezahlen müssen. Sie lassen auch bei Maya anschreiben, die sich natürlich nicht in irgendwelche Familienangelegenheiten einmischen will, aber mich mehrmals vorsichtig darauf hinweist, dass die Zechschulden der beiden langsam ein Maß erreichen, das wir eigentlich nicht mehr akzeptieren können. Ich weiß das, aber ich weiß auch, was passiert, wenn ich auf dem Geld bestehe. Darum drücke ich mich jedes Mal wieder davor, mache weitere Striche auf den beiden Bier­deckeln und drehe sie anschließend um, um sie besser vergessen zu können.