Einer von Tausend - Detlef Jablonski - E-Book

Einer von Tausend E-Book

Detlef Jablonski

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Beschreibung

Eigentlich wünscht er sich nur, bei seiner richtigen Mutter zu sein. Durch einen Zufall erfährt Detlef Jablonski als kleiner Junge, dass die Erwachsenen, bei denen er in Ost-Berlin aufwächst, gar nicht seine richtigen Eltern sind. Die Pflegemutter züchtigt den Jungen, missbraucht ihn als Haussklaven und kontrolliert jeden seiner Schritte. Doch seine leibliche Mutter ist nach einer Haftstrafe nach West-Berlin abgehauen und sein Vater will nichts von ihm wissen. Mit fünfzehn Jahren unternimmt der Junge seinen ersten Fluchtversuch, mit Achtzehn scheitert er erneut damit, zu seiner Mutter zu fliehen. Er wird zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die er im Arbeitslager Schwarze Pumpe verbüßt. Ungefiltert und höchst authentisch erzählt Detlef Jablonski die Erlebnisse eines Berliners und unfreiwilligen „Staatsfeindes“. Wohl erstmalig beschrieben werden die Zustände und der brutale „Alltag“ in einem DDR-Arbeitslager.

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DetlefJablonski

Einer von Tausend

bearbeitet von Grit Poppe

KLAK

Impressum

© Detlef Jablonski, Berlin 2021

© KLAK Verlag, Berlin 2021

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jolanta Johnsson

Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-948156-52-7

Prolog

Eins

(Kindheit)

Siebenstriem

„Deine Mutter ist nicht deine Mutter“

Schönschrift

Unter Beobachtung

Beim Jugendamt

Mutter kommt

Der Pinguin auf unserem Hof

Im Waschhaus

Fünf Pfennig oder ein Stück Speck

Flucht zu den Nachbarn

Hiob und Suse

Das Radio

Im Ferienlager

Zwei

(Jugend)

Als ich einmal fast ins Heim für Schwererziehbare kam

Beim Friseur

Meine Jugendweihe

Sommerball

Hotel Berolina

Der Nazi-Chef

Alles so wie immer

Ein heimliches Treffen mit meiner Mutter

Mein erster Fluchtversuch

Wolken zählen

Allein mit Jesus

18

Wie im Hamsterrad

Nazi-Chef 2

Sehnsucht

Drei

(Knast)

Meine zweite Flucht

Im Verwahrraum in Bad Schandau

Polizeigefängnis Pirna

Gefängnis Schießgasse, Dresden

Auf Transport

Untersuchungshaftanstalt Berlin, Keibelstraße

Gefängnis Rummelsburg, Berlin

Strafgefangenenlager Schwarze Pumpe

Wieder draußen

Karl Marx gegen Levi‘s

Kein Schlusswort

Glossar

Prolog

Ich bin ein Sonntagskind, allerdings hat sich das Glück nicht besonders darum geschert.

Das Licht der Welt, das ich erblickte, fiel spärlich durch das vergitterte Fenster des Haftkrankenhauses in Jerichow – auf meine Mutter und auf mich, ihren frisch geborenen ersten Sohn. Der Tag war grau, die Wolken bedeckten den Himmel und es nieselte an jenem Tag. Draußen auf dem Hof drehten Schwangere unter Bewachung der uniformierten Schließerinnen ihre Runde, die täglich nur eine halbe Stunde dauern durfte.

Der Saal, in dem meine Mutter mit mir lag, war nichts anderes als eine Gruppenzelle für inhaftierte Frauen, die man aus der jeweiligen Haftanstalt nach Jerichow überführt hatte, damit sie dort ihre Kinder gebären konnten.

Auf die Welt geholfen hatte mir eine Mitgefangene meiner Mutter, eine wegen Kindsmord verurteilte Krankenschwester – wie ich einige Jahrzehnte später erfahren sollte.

Zweihundert Geburten soll es dort in diesem Jahr gegeben haben. Den Müttern wurde maximal zehn Wochen Zeit gelassen – bis dahin hatten sie die Säuglinge abzustillen, falls sie unter diesen Bedingungen überhaupt in der Lage waren zu stillen. Dann kamen sie zurück in den „richtigen“ Strafvollzug und die Kinder wurden in Heime gesteckt oder zu Verwandtschaft gebracht.

Meine Mutter jedoch gehörte zu jenen, die keine Milch geben konnten. Und so landete ich schon nach vierzehn Tagen zunächst in einem Heim und dann bei „Pflegeeltern“, die ich heute „Schläge-Eltern“ nenne.

*

Was war los mit meiner Mutter?

Warum kam sie in Haft?

Von ihr habe ich das nie erfahren.

Das Puzzle über ihre Verhaftung, dessen Teile aus unterschiedlichen Quellen stammen, musste ich selbst zusammenfügen. Ob es hundertprozentig so stimmt, weiß ich bis heute nicht.

Meine Mutter war recht hübsch mit Anfang Zwanzig. Und wie es das Schicksal so wollte, hatte sie einen Freund, der war hochgradig kriminell. Nun gut, man schrieb das Jahr 1955 und teilweise war noch Selbstbeköstigung angesagt. Der Liebhaber meiner Mutter jedenfalls klaute Fotoapparate im Osten, die er in den Westen schmuggelte und dort verhökerte. Das brachte ordentlich Geld. Meine Mutter war bei dem einen oder anderen Raubzug dabei, versteckte das Diebesgut und unterstützte ihren Geliebten, wo sie nur konnte oder auch musste. Als junger Frau gelang es ihr offenbar nicht, den Verlockungen zu widerstehen, die so ein Gangster ihr bieten konnte, der immer Kohle hatte und auch mal eine Büchse Leberwurst für die Familie springen ließ.

Nichtsdestotrotz lernte Mutter einen anderen Mann kennen. Der spielte Trompete in einer Jazzkapelle, klaute nicht und kam aus gutbürgerlichem Hause. Und der junge Musiker verknallte sich wohl holterdiepolter in die blonde Schönheit.

Meine Zeugung stelle ich mir romantisch vor: mit Kerzenschein und Manieren, Charme und Grazie. Ja ja, mein Herr Vater war einer, zu dem man aufschauen konnte. Später stellte sich zwar heraus, dass er eine ganz schöne Pfeife war, aber so weit sind wir ja noch nicht. Sie wurde also von ihm schwanger, denn Kondome waren teuer und die Pille wurde erst 1960 zugelassen. Da war ich aber schon fünf und bekam bereits regelmäßig Keile von der zahnlosen Pflegemutter, zu der ich immer Mutter sagen musste.

Was war nun also los mit meiner Mutter?

Nichts Sonderliches eigentlich. Der Gangster wollte seine blonde Schönheit behalten.

Die war aber schon von dem Trompeter schwanger. Und so sagte der Gangster: „Wenn ich dich nicht haben kann, bekommt dich keiner.“

So trug es sich zu, dass der Gangster aus Eifersucht die Volkspolizei informierte.

Meine Mutter wurde von Herren, die alle die gleichen Anzüge, die gleichen Schuhe, die gleichen Ledermäntel und dazu passend die gleichen Schlapphüte trugen, in ihrer eigenen Wohnung erwartet, verhaftet, eingelocht und zu drei Jahren Haft wegen Hehlerei verurteilt.

Und so kam es, dass ich schon im Knast saß, bevor ich auf der Welt war.

Zehn Jahre nach dem Krieg verlief das Leben noch nicht in so geregelten Bahnen wie heute.

Während Bundeskanzler Adenauer in der Sowjetunion die Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen erwirkte, beeilte sich die UdSSR damit, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen. Die Bundesrepublik trat der NATO und die DDR dem neugegründeten Warschauer Pakt bei. Im Westen flimmerte das erste Mal die Ratesendung Was bin ich? über die Bildschirme und im Osten erschien erstmalig das Mosaik mit den Abenteuern der Digedags.

Und ich war gerade geboren, saß im Gefängnis und konnte nichts machen. Noch nicht mal an der Brust meiner Mutter konnte ich saugen, weil der Knaststress die Milch nicht in ihre Brust schießen ließ.

Das bekam eine Gefangene mit, die sich Liebkind bei den Bewacherinnen machen wollte. Sie hatte nichts Besseres zu tun, als einer Wachtel, wie man die Schließerinnen im Frauengefängnis nannte, Bescheid zu geben. Und so wurde veranlasst, dass ich in ein Waisenhaus nach Berlin-Johannisthal in der Südostallee kam.

Ich war schon zwei Wochen alt, hatte eine Ernährungsstörung und eigentlich schon eine Macke weg. Draußen tobte das Leben.

Albert Einstein war bereits über sechs Monate tot, aber Rowan Atkinson, später besser bekannt als Mr. Bean, lebte schon ein dreiviertel Jahr.

Ich lag im Waisenhaus und wackelte, um einschlafen zu können, mit dem Kopf. Das ist nichts Außergewöhnliches, das machen alle Babys so, die mit dieser Bewegung die Brust der Mutter suchen. Sie schreien vor sich hin, bis sie die Brustwarze gefunden und angesaugt haben. Dann sind sie still und schlürfen friedlich aus der Mutter. Ist keine Mutter da, dann bleibt nur noch Kopfwackeln und Schreien.

Mein Schreien hörte irgendwann auf, wenn mal jemand mit einer Nuckelflasche vorbeikam.

Was passierte nun mit meiner Mutter?

Sie saß die ganzen drei Jahre ab. Kam völlig fertig aus dem Knast und ging erstmal wieder arbeiten. Mein Herr Vater mochte sich wohl mit einer Kriminellen, die aus dem Gefängnis entlassen wurde, nicht abgeben. Seine Musikerkarriere stand schließlich auf dem Spiel. Damals als Kind hatte er in der Hitlerjugend im Fanfarenzug freiwillig mitgemacht. Er wollte immer Trompete spielen. Und die Nazis boten das an. Es war billig und man war als kleiner Trompeter süß anzusehen. Und mein Vater konnte sich so durchs Leben blasen.

Nun lag ich da also im Waisenhaus in Johannisthal in Ostberlin und Tante Lenchen, die zwanzig Jahre ältere Schwester meiner Mutter, hatte gerade einen Platz in der Wohnung frei. Sie war mit Onkel Kurt verheiratet und lebte in der Stalinallee, die später dann die Karl-Marx-Allee wurde. Der gemeinsame Sohn hatte geheiratet und war ausgezogen. Und so holten sie also mich, ihr eigen Fleisch und Blut, wie Tante Lene stets betonte.

Alles schien schön. Alles so, wie es sein sollte. Alles mit Aussicht auf ein Happyend.

Mit Sprüchen wie „In unserer Familie war noch nie einer im Heim“ und „Wir achten immer auf Ordnung und Sauberkeit“ hatte Tante Lenchen wohl das Jugendamt überzeugt.

Und so kam ich im Lebensalter von zwei Monaten zum Aktivisten der ersten Stunde, Onkel Kurt, und seiner Gattin Tante Lenchen. Ich muss wohl sehr krank gewesen sein. In meiner Krankheitsgeschichte wurden Keuchhusten und Stoffwechselstörungen vermerkt. Mein Immunsystem hat die Trennung von der Mutter und die leckere Waisenhauskost wohl nicht so sehr vertragen. Tante Lenchen hatte eine Menge Rennerei mit mir. Sie war immerhin schon zweiundvierzig.

Anfangs war noch alles lustig. Ich war das „Schieperle“, was immer das auch gewesen sein mag. Es schien alles friedlich. Die Ruhe vor dem Sturm. Und ich kränkelte und musste Hoppehoppe Reiter spielen. Mit einer Mutter, die gar nicht meine Mutter war.

Meine richtige Mutter verschwand eines Tages aus Ostberlin. Sie seilte sich in den Westen ab und ließ mich im Osten zurück.

Als ich alt genug war, beschloss ich dann, ihr zu folgen. Nur gab es da indessen leider eine Mauer, die ganze Familien auseinanderriss und die auch mich von meiner leiblichen Mutter fernhielt.

Und so kam es wohl, wie es kommen musste …

Eins

(Kindheit)

Siebenstriem

Ein kurzer Schrei voll Wut und Hass.

Was ist nur wieder los?

Schon husche ich davon. Onkel Kurt, den ich Vater nennen soll, rennt hinter mir her.

Aus seiner Kehle kommen unartikulierte Laute. Nur seine Wut nehme ich deutlich wahr, seinen schrecklichen Jähzorn. Ich flüchte in die Küche. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.

Gehe rückwärts, bis der Küchenschrank hinter meinem Rücken mich stoppt.

„Du Idiot! Du Null! Du Nichtsnutz! Du Versager! Dir werd‘ ich‘s zeigen!“

Er springt vor mir hin und her, um mich am Weglaufen zu hindern. Ich sehe die Waffe in seiner Hand.

Die Peitsche.

Den Siebenstriem.

Onkel Kurt wirkt bis aufs Äußerste angespannt. Er pirscht sich an mich heran wie ein Löwe, der zum Sprung ansetzt. Ich sehe etwas in seinen Augen, das mich im Innersten gefrieren lässt. So fixiert das Raubtier das Zebra, kurz bevor der tödliche Biss in die Kehle erfolgt. Ich erstarre vor Angst, kann mich nicht mehr rühren, verfalle in einen Totstellreflex. Onkel Kurt stellt seine Beute, lässt mir keinen Ausweg, hebt die Peitsche und holt aus. Doch plötzlich fliegen drei Riemen durch die Luft. Als er auf mich einschlägt, lösen sich weitere drei. Nur noch eine Lederschnur befindet sich an dem Holzgriff.

Unwillkürlich lache ich laut auf. Das war’s dann, denke ich, als auch die letzte Schnur sich löst.

Doch Denken ist Glückssache und ich habe Pech.

Onkel Kurt drischt jetzt einfach mit dem Knüppel auf mich ein. Auf die Ellenbogengelenke, die ich dann drei Tage nicht richtig bewegen kann, auf den Kopf, auf dem eine riesige Beule sprießt, auf die Hände, die vergeblich versuchen, meinen Schädel vor den Schlägen zu schützen.

Und warum? Wieso das alles?

Tante Lenchen, die ich Mutter nennen soll, hat sich mal wieder über mich beschwert. Ich habe das Bad nicht ordentlich genug geputzt. Ein Teller war nach dem Abwaschen nicht ganz sauber. Ich bin ein Störfaktor. Ich mache alles falsch. Und gebe dann auch noch Onkel Kurt, der schon mit schlechter Laune nach Hause kommt und mich zur Rede stellt, die falsche Antwort.

Heulend liege ich in der Ecke und schluchze: „Mutter hat gesagt, wenn alle Striemen abgefallen sind, gibt es keine Dresche mehr mit dem Ding. Und sie sind alle abgefallen!“

Doch Onkel Kurt scheint mich nicht zu hören.

Wieder hebt er den Knüppel, drischt wie ein Wahnsinniger auf mich ein.

Eine zweite Beule leistet der ersten Gesellschaft und die andere Hand schwillt auch an.

Während die Schläge auf mich einprasseln, schreit er jähzornig: „So lange du die Füße unter meinen Tisch stellst, mache ich mit dir, was ich will!“

Das war das letzte Mal, dass ich mit diesem Siebenstriem Senge bekam. Es hatte sich also gelohnt, die Lederstreifen anzuschneiden.

Ich war Sechzehn zu diesem Zeitpunkt und über zehn Jahre bin ich mindestens einmal pro Woche mit dem Ding verprügelt worden. Bis ich anfing mich zu wehren und meinen Verstand einsetzte – und ein kleines scharfes Messer mit dem ich die Riemen in aller Sorgfalt anritzte.

Der Siebenstriem bestand aus einem dreißig Zentimeter langen Hartholzknüppel, an dem, unter einer Ledermanschette, sieben Lederstreifen befestigt waren.

Ursprünglich war er wohl für die Reinigung von Uniformen gedacht. Man hing die Uniform auf einen Bügel und klopfte mit dem Ding den Staub ab. Früher haben manche Leute Rinder mit dieser Peitsche getrieben oder Pferde abgerichtet.

Ich kann mich gut erinnern, dass ich das Ding das erste Mal im zarten Alter von fünf Jahren zu spüren bekam.

Ich musste mich auf dem Korridor nackt ausziehen. Alle Türen wurden verschlossen und dann ging es los. Ich konnte zusehen, wie der Lederstriemen um meinen Arm schnellte oder das Ende vorn an der Brust sich in die Haut einschnitt. Die Stelle wurde erst blau, dann lila und dann rot. Wenn die Haut aufplatzte, fing es an zu bluten.

An diesen brennenden Schmerz konnte ich mich niemals gewöhnen. Ich war schutzlos der Willkür meiner Tante und meines Onkels ausgeliefert. Sie hatten kein Erbarmen.

Die Prügelexzesse wurden dann von Jahr zu Jahr heftiger.

Ich war fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahre alt.

Seit ich in die Schule ging, gab es zwei bis drei Mal pro Woche Prügel: mit Pantoffeln, mit den spitzen Hacken von Schuhen, mit dem Kochlöffel, mit Reibekeulen, mit nassen, eklig stinkenden Abwaschlappen oder eben mit dem Siebenstriem.

Meist setzte es die Prügel von Tante Lene, die ich Mutter zu nennen hatte.

Sie war eine strenge, derbe Frau. Wenn sie mich anbrüllte, weil ich wieder mal was vergessen hatte, sah man, dass ihr die oberen Schneidezähne fehlten. Die Eckzähne ließen sie dann beim Keifen wie einen Köter hinter dem Gartenzaun erscheinen, der an der Kette zieht und wütend die Zähne fletscht. Ihr langes Haar trug sie in einem Netz, das auf ihrem Nacken ruhte und aussah wie ein Drei-Kilo-Brot im Einkaufsbeutel.

Dass sie gar nicht meine richtige Mutter war, erfuhr ich durch einen Zufall.

„Deine Mutter ist nicht deine Mutter“

Der Krieg, über den nicht viel gesprochen wurde und wenn dann nur heimlich, war schon siebzehn Jahre vorbei. Ich war sieben. Der heutige Tag war kein besonderer Tag. Mutter weckte mich so früh, dass ich, wie fast jeden Morgen, vor Schulbeginn einkaufen gehen konnte. Sie war so fürsorglich, mich eine halbe Stunde zu früh loszuschicken, so dass ich vor dem Konsum warten sollte, um gleich der erste zu sein.

Diesmal brauchte ich nur anderthalb Liter Milch in der Kanne zu holen. Ich watschelte also mit der Aluminiumkanne los und tat automatisch, was von mir verlangt wurde. Das war eben meine Pflicht. Sie hatte keine Zeit zum Einkaufen, denn die Kaffeeklatschrunden mit der Nachbarin waren sehr zeitintensiv. Als ich mit der dreiviertel vollen Kanne wieder oben ankam und meinen Zwieback essen wollte, sagte sie, dass ich noch für Vater eine Zeitung holen sollte. Die fünfzehn Pfennig lagen schon abgezählt auf dem Küchentisch und so rannte ich nochmal schnell die Treppen runter zum Zeitungskiosk, der unweit unseres Hauseingangs war, gab das abgezählte Kleingeld, schnappte mir das Gewünschte und rannte die Stufen wieder hoch. Die Mutter schloss die Wohnungstür auf und nahm mir die Zeitung aus der Hand. Mein Magen knurrte und ich freute mich auf mein Frühstück, das schon auf dem Küchentisch stand. Um halb acht musste ich den Schulweg starten.

„Mach, mach, mach“, sagte sie ungeduldig.

Ich schob mich auf den Küchenstuhl und der säuerliche Geruch der Milch stieg mir in die Nase.

„So mein Freundchen“, sagte sie böse. „Die Zeitung bringst du wieder runter! Die hat ein Eselsohr.“

Ich gehorchte, obwohl mir das Wasser schon im Mund zusammenlief. Ich griff nach dem Blatt, das sie mir vorwurfsvoll hinhielt, und peste die Treppen nochmal runter, hin zum Kiosk, um den Mangel zu beklagen.

„Mutter hat gesagt, ich möchte bitte eine andere Zeitung holen, weil hier ein Eselsohr ist.“ Dabei errötete ich, denn ich schämte mich in dem Moment für meine Segelohren, die immer für Gespött sorgten. Mutter zog oft dran und so schienen die auch immer länger zu werden. Die Zeitungsfrau sah mich an und ihr Blick wurde mitleidig. Mir war es peinlich, wie so oft. Die Leute waren immer so nett und Mutter hatte nie einen guten Gedanken für auch nur einen einzigen Menschen übrig. Aber nur, wenn sie allein mit mir war, beschimpfte sie alle als dreckig und schlampig. Wenn sie sich mit den Leuten unterhielt, dann war sie zu denen freundlich. Das kam aber nicht allzu oft vor.

Die Zeitungsfrau beugte sich zu mir herunter und setzte eine Miene auf, von der ich nicht wusste, was sie bedeuten sollte. Dann sagte sie etwas zu mir, aber ich dachte, dass ich mich verhört haben musste. Automatisch schüttelte ich den Kopf.

Die Frau seufzte und wiederholte diesen Satz, der seltsam klang und irgendwie verrückt: „Deine Mutter ist nicht deine Mutter.“ Ich dachte immer noch, ich höre nicht richtig und grinste. „Die Alte da oben ist nicht deine Mutter.“ In ihrer Stimme lag nun eine Spur von Ungeduld. „Deine Mutter ist die blonde Frau, die manchmal aus dem Westen bei euch zu Besuch kommt.“ Ich beschloss, das für einen sonderbaren Scherz zu halten und grinste verlegen. Die war wirklich sehr sympathisch und versuchte wohl witzig zu sein.

Doch dann beugte sie sich noch ein bisschen tiefer zu mir herunter, so dicht, dass ich ihren sauren Atem wahrnahm und ihn auf meiner Wange spürte. „Weißt du das denn nicht?“, fragte sie. Dabei hatte sie immer noch diesen mitleidsvollen Blick, der mir jetzt zu nah vorkam, fast furchteinflößend.

Erst allmählich begriff ich, was ihre Worte bedeuteten. Mein Hunger war plötzlich weg. Ich dachte nicht mehr an meinen Zwieback und an die warme Milch, die inzwischen bestimmt schon kalt war. Ich schnappte mir die bemängelte Zeitung und rannte die vier Stockwerke wieder hoch, schmiss der Alten die Zeitung vor die Füße und sagte: „Du hast mir gar nichts zu sagen! Du bist nicht meine Mutter.“

Sie schlug mir sofort ins Gesicht. Und dann noch einmal. Rechts, links, rechts, links.

In meinen Ohren pfiff es und ich hörte ihre Stimme undeutlich, als sie mich anschrie. Ich nahm sie nur gedämpft wahr, die Worte kamen wie durch Watte gesprochen bei mir an: „Was soll das? Bist du nicht ganz dicht? Du bist mein eigen Fleisch und Blut! Ich werd dir zeigen, wer hier deine Mutter ist!“ Klatsch, klatsch, klatsch, klatsch. Rechts, links, rechts, links.

„Und ich hatte dir gesagt, du sollst eine neue Zeitung holen! Was schleppst du die Alte wieder an? Ab Marsch und mit der Frau im Kiosk wird kein Wort mehr gewechselt! Nie wieder! Hast du kapiert?“

Die Nachbarin, die zum Kaffeeklatsch gekommen war, bekam alles mit und starrte mich mit großen Augen an. Ich heulte Rotz und Wasser und schämte mich, dass sie mich so sah.

Noch einmal lief ich mit der Zeitung die Treppe hinunter. Aus meiner Nase floss Blut, es rauschte in meinen Ohren und ich konnte vor lauter Heulen kaum etwas sehen.

Der Zeitungsfrau hielt ich stumm die alte Zeitung hin und sie gab mir kopfschüttelnd eine neue. Sie sagte noch etwas zu mir, der Ton klang mitleidig, aber ich konnte sie durch das Sausen in meinem Kopf nicht verstehen. Sie sprach zu leise. Und ich fragte nicht nach, sprach kein Wort und sagte auch nicht „Auf Wiedersehen“, so wie sonst.

Ich rannte so schnell ich konnte hoch und die Alte schlug mir sofort wieder ins Gesicht. Diesmal, weil Blut auf der Zeitung war.

Wo war nur meine Mutter?

Wieso war die nicht bei mir?

Schönschrift

Ich wurde 1962 eingeschult. Wir wohnten in der Karl-Marx-Allee in Berlin und auf der anderen Straßenseite wurde das Filmtheater Kosmos fertiggestellt und füllte die Lücke zwischen den Zuckerbäckerbauten. Die Grenze von Ost- nach Westberlin war seit einem Jahr dicht, aber natürlich ahnte ich damals noch nicht, was das für mich und mein weiteres Schicksal bedeuten sollte.

Auch interessierte ich mich gerade für anderes: zum Beispiel für Fräulein Flieder. Sie war meine erste Klassenlehrerin und ich verliebte mich gleich in sie. Sie war nie böse und hörte immer zu, wenn ich mit ihr sprach. Meine Liebe fand ein jähes Ende, als sie auf einmal Frau Krause hieß und unter den Achseln immer rasiert war.

Tante Lenchen, die darauf beharrte, dass ich sie weiter Mutter zu nennen hatte, brachte mich immer fein gestriegelt mit einer Brottasche um den Hals und den Ranzen auf dem Rücken in die Schule und holte mich auch wieder ab. Morgens hatte ich stets eine Klemme im Haar, damit die Tolle mir nicht so ins Gesicht fiel. Als ich nach dem Unterricht aus dem Schulgebäude kam, fehlte diese meist und ich erhielt zur Begrüßung gleich eine geknallt.

Tante Lenchen hatte immer genug Klemmen auf Lager und nachdem ich mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, bekam ich wieder so ein Ding verpasst. Sie drückte dabei so sehr, dass sie dabei meine Kopfhaut zerkratzte. Manchmal hatte ich Glück und konnte mit der gleichaltrigen Nachbarstochter gemeinsam zur Schule gehen.

Tante Lene überließ nichts dem Zufall. Ich wurde stets adrett ausstaffiert: Weiße Socken, kurze Hose, auch wenn es schon kühler wurde, Fassonschnitt und Haarklemme für die Tolle, die sich nicht bändigen lassen wollte. Allerdings hatte ich Segelohren und „eine Schnauze, mit der man die Banane querfressen kann“ – so drückte es Tante Lene aus. Und genauso sah ich mich auch: Klein, dumm, hässlich, frech und zu nichts nütze.

Die Schule war mir ein Gräuel. Alle schienen mich dort zu hassen. Dass es gar nicht so war, stellte sich erst viel später heraus. Ich empfand es zu dieser Zeit so. Ich stand draußen. Oft amüsierten sich die Kinder und erzählten von ihrem gestrigen Spiel. Ich wollte auch was erzählen, konnte aber nur Faxen machen, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Das ging einigen auf die Nerven und sie fingen an, mich zu verprügeln. Wer will schon den ganzen Tag mit jemandem zu tun haben, der nur Quatsch macht und ständig Grimassen zieht.

„Wir lernen für unsere sozialistische Gemeinschaft“, predigten die Lehrer und ich gehörte einfach nicht zu dieser Gemeinschaft.

Zuhause musste ich Schönschrift üben. Da wurde mir mit dem Knüppel eingebläut, dass ich nur für mich lerne. Und sauber schreiben gehörte dazu. Das Witzige war, dass ich mit rechts und mit links schreiben konnte. Das haben mir die Alten beide ausgetrieben. Meine linke Hand wurde auf dem Rücken festgebunden. Klappte das nicht, musste ich mich auf die Hand setzen, bis sie taub wurde. Durch die Heulerei zerlief die ganze Tinte auf dem Papier. Es gab Schellen, weil ich mit dem Schreiben nicht fertig wurde. Rechts, links und links und rechts.

Nun wurde ich noch zum Schreibwarenladen geschickt, um ein neues Heft zu kaufen. Wegen der Spur der Tränen musste ich alles noch einmal abschreiben, nicht nur die eine Hausaufgabe, sondern das komplette Heft. Tante Lene saß neben mir und passte auf, dass ich nicht wieder alles voll heulte.

Unter Beobachtung

Mein Schulweg war keine dreihundert Meter lang, einfach nur die Lasdehner Straße runter geradeaus, und eigentlich gab es keinen Grund für Tante Lene mich ständig zu begleiten und abzuholen.

Der Unterricht begann mit dem üblichen Pioniergruß des Lehrers „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!“ und unsere Antwort „Immer bereit!“ klang manchmal auch eher nach einem genuschelten „Immer breit“, verbunden mit dem Hahnenkammgruß, der an manchen Tagen auch nicht so zackig sozialistisch ausfiel, wie sich die Lehrer das vielleicht wünschten. Dann sangen wir als Zweitklässler noch mehr oder weniger enthusiastisch: „Kam ein kleiner Teddybär aus dem Spielzeuglande her, und sein Fell war wuschelweich, alle Kinder riefen gleich: Bummiii, Bummiii, Bummi, Bummi, brrrumm, brrrumm, brrrumm. Bummiii, Bummiii, Bummi, Bummi, brrrumm, brrrumm, brrrumm!“ Später folgten „Fröhlich sein und singen, stolz das blaue Halstuch tragen!“, „Das Lied vom kleinen Trompeter“, „Wer will fleißige Handwerker sehn“, „Hoch auf dem gelben Wagen“, „Horch, was kommt von draußen rein“ und noch später die Arbeiterkampflieder wie „Die Internationale“ und „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ und das „Hans-Beimler-Lied“ oder auch die erste Strophe von den „Moorsoldaten“.

Ich sang die Lieder gern und konnte sie in- und auswendig, so dass ich sie auch im Schlaf hätte singen können. Einige Jahre danach, als ich in Haft kam, sollten die ins Gedächtnis eingebrannten Texte und Melodien noch eine Rolle für mich spielen.

Was ich weniger mochte, war, in der Schule still zu sitzen und zuzuhören.

Ich durfte mich ja schon zu Hause kaum bewegen.

Und jetzt saß ich also artig und bewegungslos in der Klasse – jedenfalls immer dann, wenn ich das Gefühl bekam, Tante Lene sieht alles.

Der Neubau, in dem wir unterrichtet wurden, hatte große Fenster und ich bildete mir stets ein, dass Tante Lenchen vom Wohnzimmer aus ins Klassenzimmer gucken konnte. Sie wusste ja genau, wo ich sitze.

Sie sah, wenn ich mit dem Stuhl kippelte. Sie sah, wenn ich Faxen machte und auf dem Tisch herumturnte, während der Lehrer an der Tafel schrieb. Ich kam da manchmal nicht so schnell wieder runter und handelte mir dann oft eine Fünf in Betragen ein oder wurde gefragt, was gerade dran war. Das wusste ich natürlich nicht, weil ich ja Faxen machte. Dann gab es noch eine Fünf im Fach. Je schwerer der Stoff wurde, umso mehr Faxen machte ich.

Tante Lenchen kam eines Tages in die Schule und ordnete an, dass ich ein Verhaltensheft zu führen hätte. Jeder Lehrer war angewiesen, mein Verhalten zu benoten.

Von nun an saß ich also immer ganz ganz still und brav allein in der ersten Reihe und hatte Angst, eine schlechte Betragensnote zu bekommen.

Nun machten die anderen hinter mir Faxen und ich durfte nicht. Sogar meine in der Klasse allseits beliebten Grimassen konnte ich nicht mehr ziehen, da ich ja vorn direkt vor der Nase des Lehrers saß.

Ich fing an, schwächere Schüler zu hänseln und zu ärgern. Jeder, der ein bisschen doof war, wurde sofort von mir aufs Korn genommen und zum heimlichen Gespött gemacht.

Meine Klassenlehrerin bekam das irgendwann mit und beauftragte mich, genau diesen Schülern Nachhilfe zu erteilen. Tante Lenchen wurde in die Schule zitiert und es wurde verabredet, dass ich das zu leisten hätte. Einerseits freute ich mich. Ich hatte endlich mal Kinder bei mir zuhause. Andererseits waren es nicht die, die ich gern dagehabt hätte.

Also machte ich mit Schülern, die in irgendwelchen Fächern hinterherhinkten, Hausaufgaben. Der Eddie ist so von seiner versetzungsgefährdenden Fünf in Mathe auf eine Drei hochgerutscht, und er hat mir sehr gedankt, mir sogar ein Buch geschenkt.

Ich konnte den nie leiden. Keiner konnte den leiden. Der war immer am Grinsen und superfreundlich. Er mochte mich hingegen sehr. Und seine Eltern waren genauso nett und freundlich und grinsten den ganzen Tag.

Ich konnte so viel Freundlichkeit nicht ertragen.

Natürlich wäre ich besser dran gewesen, wenn ich mich mit Eddie verbündet hätte. Denn er musste auch ein Betragensheft führen, bei ihm waren die Schwerpunkte Mitarbeit und Fleiß.

Doch damals kam mir das nicht in den Sinn. Ich tat, was mir gesagt wurde, nicht wegen den Lehrern, sondern weil Tante Lene mich beobachtete, kontrollierte und bei jedem noch so kleinem, angeblichem Fehlverhalten bestrafte.

Für die Lehrer war es einfach bequem, dass ich mit der Nachhilfe aus doofen Kindern schlaue machte. Sie schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe: Denn aus dem Zappelphilipp und Klassenclown wurde dadurch ein recht ruhiger Schüler.

Dass mit mir etwas nicht stimmte, merkten die Kinder nur, weil ich immer verheult war, wenn sie mir auf der Straße begegneten, wenn ich für Tante Lenchen einkaufen musste.

Gesagt hat niemand etwas.

Meine Musiklehrerin merkte, dass ich gut singen konnte und schlug mir vor, in den Chor einzutreten. Ich freute mich und wollte unbedingt mitmachen.

Doch Tante Lene sagte zuhause zu mir: „Wehe, wenn du in diesen Chor gehst! Ich schlage dir den Schädel ein!“

In der Schule druckste ich dann herum und sagte der Musiklehrerin, dass ich doch nicht möchte. Sie ließ aber nicht so schnell locker und besuchte uns.

Es war alles blitzeblank, als sie kam. Alles gesaugt, gewischt und gebohnert. Alles hatte seinen Platz. Nichts lag herum. Kein Knüppel, keine Peitsche. Kein Blut war zu sehen.

Tante Lene erklärte dann, dass ich leider keine Zeit hätte, um in den Chor einzutreten.

Und so ist die studierte sozialistische Pädagogin wieder abgedackelt.

Und ich machte alles, was von mir verlangt wurde.

Ich machte alles, außer im Chor zu singen.

Beim Jugendamt

Zum Jugendamt mussten wir auch. Ich habe das gehasst, weil ich da immer wie ein Anziehpüppchen hergerichtet wurde. Mein Hass nutzte mir nichts. Tante Lene quetschte mir die Finger, bis ich wimmerte und sagte: „Mama ist lieb, ich bin böse.“

Beim Fingerquetschen sieht man keine Striemen und keinerlei Beulen oder andere Blessuren.

Außer den weißen Socken oder weißen Kniestrümpfen hatte ich dann Sandalen anzuziehen. Die besaßen einen Druckknopf und der wurde, wie der Name schon sagt, zugedrückt. Ich allein bekam diese Knöpfe nicht zu. Hatte keine Kraft in den Fingern, obwohl ich mir immer alle Mühe gab. Tante Lene presste den Metallknopf dann mit ihrem Daumen so tief wie möglich in meinen Fuß hinein.

Es tat weh, doch wenn ich zusammenzuckte oder „Aua“ sagte, kam von ihr der Spruch: „Wenn du Idiot das nicht zukriegst, muss ich das eben machen!“ Und: „Hab dich nicht so mädchenhaft!“

Auf dem Weg zum Jugendamt hieß es dann: „Wehe du heulst da und versuchst wieder Mitleid zu erregen!“

Als ich dann wusste, dass Tante Lene und Onkel Kurt nicht meine richtigen Eltern sind, erklärte mir die Frau vom Jugendamt: „Deine Mutter Maria ist in den Westen geflüchtet. Sie hat im Gefängnis gesessen. Und du bist bei deinen Pflegeeltern, die alles Menschenmögliche für dich tun, Junge!“

Ich hörte staunend zu. Doch bevor ich noch eine Frage stellen konnte, schickte sie mich raus auf den Flur.

Da dachte ich dann über das Gehörte nach. Allzu blöd war ich nicht. Ich wusste, dass ich kein Mädchen war. Ich wusste nur nicht, warum ich nicht bei meiner Mutter lebte.

Die Frau und Tante Lene redeten dann ewig hinter dieser Tür, die für mich verschlossen war.

Ich saß allein auf dem Gang vom Jugendamt. Solange ich denken kann, saß ich da immer allein.

Ich sah die Tür an und hörte gedämpft, ohne ein Wort zu verstehen, die Stimmen der beiden Frauen, die über mich sprachen, als wäre ich gar nicht da.

Sie quatschten und quatschten und quatschten.

Ich saß mit kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen und diesen Sandalen mit den scheußlichen Druckknöpfen da herum. Draußen war es warm, aber hier drinnen war mir kalt. Je länger ich dort ausharren musste, desto kälter wurde mir. So kalt, dass meine Beine blau anliefen.

Von außen betrachtet, wirkte ich sicherlich wie ein ordentliches, vielleicht etwas zu dünnes Kind. Ich hatte ein frisch gebügeltes Campinghemd an. Ich war gekämmt und trug diese Klemme im Haar.

Irgendwann kamen die Erwachsenen heraus aus der Amtsstube.

Tante Lenchen liebkoste mich vor der Jugendamtsfrau, so dass Glücksgefühle in mir aufkamen und ich einen Moment dachte, dass von jetzt an alles anders wird. Doch auf dem Heimweg begann sie wieder damit, mich zu kneifen und mir meine Hand zu quetschen, bis ich anfing zu weinen.

„Wirst du wohl aufhören zu flennen?“, schnauzte sie mich an. „Du hast doch gar keinen Grund hier herumzuheulen!“

Zuhause musste ich dann den Wasserhahn und die Herdstange mit Sidol blank putzen.

Wenn alles schön glänzte, spielte sie Hoppereiter mit mir oder sie legte mich ins Bett und drückte mich an sich.

Mutter kommt

Ich wartete schon inbrünstig, heiß und sehnsüchtig, seitdem ich erfahren hatte, dass Maria am Sonnabend kommen würde. Und heute war Sonnabend. Heute kam Maria, meine echte Mutter.

Endlich klingelte es. Lene und Kurt waren auch ganz aufgeregt, denn die Frau, von der ich jetzt erst wusste, wer sie wirklich war, brachte ja immer was Schönes für sie aus dem Westen mit: Zigaretten, Seife, Kaffee, Butter, Apfelsinen, Schokolade und Bananen.

Die Tür ging auf und Lene hatte einen starren, erwartungsvollen Blick. Sie kaute, obwohl sie nichts im Mund hatte. Und Kurt stierte dem Besuch mit einem irgendwie eingefrorenen Lächeln entgegen.

Maria betrat den Flur. Für mich schien auf einmal die Sonne. Ich empfand den Raum wärmer, größer und heller. Ich rief ganz laut: “Mutter!“ zu ihr und plötzlich verstummten alle drei Erwachsenen in ihrem Begrüßungszeremoniell und sahen mit ernster Miene zu mir. Lene und Kurt blickten missbilligend zu mir herunter und Maria schaute mich mit einem herzerwärmenden Lächeln an. Ihre Augen funkelten dabei. Dann fauchte mich Lene an, dass ich in mein Zimmer gehen soll, um dort zu spielen. Ich hatte kein Zimmer, aber sie deutete mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger auf die Schlafzimmertür. „Sofort!“, rief sie streng im Kommandoton. So ging ich dann dem Befehl folge leistend ins kleine Schlafzimmer und spielte dann dort mit meinen Holzbaukastensteinen auf der winzigen mir zum Spielen zugeteilten Fläche zwischen Bettkante und Kleiderschrank.

Mechanisch schob ich die Klötzer hin und her und sah immer wieder zur Tür. Sie war geschlossen, doch eine leichte Nebelschwade von Zigarettenqualm drang zu mir. Mir erschien der Duft herrlich, nur weil er von meiner Mutter kam. Ich konnte kaum erwarten, endlich bei ihr zu sein.

Nach einer Weile, die mir ewig lang erschien, betrat sie ganz leise und vorsichtig das Schlafzimmer und lächelte mich an. Hinter ihrem Rücken holte sie langsam etwas hervor: ein Auto! Kein kleines Matchboxauto, sondern ein Mercedes mit Fernsteuerung. Ich war wie berauscht. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Sie stellte es auf den Boden und blieb noch einen Moment stehen, um zu gucken, wie ich mich freute. Aber ich konnte mich nicht freuen. Ich staunte über das sonderbare Spielgerät, aber noch mehr staunte ich über diese Frau, die also nun meine richtige Mutter sein sollte. Dann ging sie wieder aus dem Zimmer. Die Tür blieb halb offen und ich stand da und lauschte auf jeden Ton von ihr. Sie ging nur auf die Toilette. Doch alles, was sie tat, jede Bewegung registrierte ich wie ein Luchs. Sogar das Gluckern des Urins, das Rascheln der Kleidung, die Art wie sie spülte erschienen mir anders als die Geräusche von Lene und Kurt. Sie kam zu mir zurück und lächelte erwartungsvoll. Es hatte den Anschein, dass sie sich mehr über das Auto freute, als ich es konnte. Ich staunte immer noch. Doch das Auto fuhr nicht. Sie hatte keine Batterien mitgebracht.

Sie ging wieder zu Lene und Kurt, und dort tranken sie die nächste Kanne mitgebrachten Westkaffee. So ging das stundenlang. Und dann wurden nebenan alle unruhig, denn meine Mutter musste wieder nach Westberlin. Sie kam zu mir und sagte, ich soll mal in die Küche kommen. Dort setzte ich mich auf ihren Schoß und sie schälte eine Banane, die sie mitgebracht hatte. Normalerweise waren Bananen etwas Heiliges. Sie rochen betörend und schienen etwas mitzubringen aus dem Land, aus dem sie kamen: einen Hauch aus der freien weiten Welt. Wenn ich sie denn endlich essen durfte, wurde sie nicht einfach gekaut, sondern gelutscht, wie ein ganz besonderes Bonbon. Stück für Stück.

Meine Mutter jedoch schien von diesem Ritual nichts zu wissen.

In einem gönnerhaften Ton sagte sie zu mir: “Iss so viel du kannst.“ Ich verschlang die Banane. Sofort schälte sie noch eine zweite und schließlich eine dritte und vierte Banane für mich. Zwischendurch gab es noch ein paar Stücken Schokolade. Dabei murmelte sie mir zu: „Je mehr du isst, umso weniger futtern Lene und Kurt dir was weg.“ Sie streichelte mich und der Bananen- und Schokoladengeruch mischten sich mit ihrem Duft. Ich stopfte alles in mich hinein, so wie sie es von mir zu erwarten schien, doch immer mehr spürte ich ihre Unruhe. Sie wollte weg. Weg von mir.

Auf einmal wurde mir schlecht und plötzlich kotzte ich alles wieder aus.

Jetzt hatte niemand mehr etwas von Westbananen und Westschokolade. Lene und Kurt nicht und ich auch nicht. Dann kam das, was kommen musste: Lene marschierte in die Küche. Immer wenn sie den Verdacht hegte, dass etwas aus ihrer Kontrolle geriet, reagierte sie forsch. Und so sah sie das Erbrochene, den angeekelten Blick meiner geliebten Mutter und brüllte mich an, was das soll. Schrie herum, dass ich mich nie benehmen könne, wenn jemand zu Besuch ist. Und wieder streckte sie ihren Zeigefinger aus und diesmal deutete sie Richtung Badezimmer. „Ab ins Bad und lass dich ja nicht mehr hier blicken!“

Ich gehorchte. Meine Mutter sagte leise etwas und es kam mir vor, als würde sie mich in Schutz nehmen. Doch dann hörte ich wieder Tante Lene und ihre Worte nahm ich klar und deutlich wahr: „Geh! Geh nach Hause! Und das nächste Mal gib uns die Bananen oder hast du Angst, dass der Idiot keine abkriegt?“

Der Idiot, das war ich. Wer sonst?

Unvermittelt riss Lenchen die Badezimmertür auf und befahl, dass ich rauskommen und vernünftig Auf Wiedersehen sagen soll. Der Besuch war beendet, die Gesichter wirkten beim Abschied alles andere als erfreut. Ich wollte mit meiner Mutter mit, die doch meine richtige Mutter war. Aber sie war plötzlich weg, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und ich bekam gleich rechts und links Ohrfeigen von Tante Lenchen.

„Ich bin deine Mutter, hast du mich verstanden? Diese Schlampe hat für dich nichts übrig. Sie denkt, dass sie sich hier einschleimen kann mit ein paar Bananen. Die sind wohl vergiftet gewesen. Oder warum hast du gekotzt, du Schwein? Nimm dir einen Eimer, Scheuerlappen und Schrubber und wische die Küche, die Flure und draußen den Gang. Aber ordentlich! Sonst setzt es was. Hast du mich verstanden?!?“

Dann gab es noch ein paar Klapse auf den Kopf und ich beeilte mich, ihren Forderungen nachzukommen, wischte die klebrige Kotze weg, säuberte die Küche, die Flure und den Gang draußen. Dabei dachte ich immer an Mutter. An ihren Geruch, an ihre Art sich zu bewegen und an ihre Augen und den Mund. Am schönsten fand ich immer ihren Duft. Sie roch so schön nach Westen.

Irgendwann kam Lene und blaffte von hinten, ob ich bald fertig bin mit Wischen. „Das Geschirr muss noch abgewaschen werden!“, herrschte sie mich an.

Der Pinguin auf unserem Hof

Auf unserem Hof stand ein einsamer Pinguin und beobachtete die spielenden Kinder.

Er war aus Stein und gehörte zu einem Spielplatz mit Klettergerüst, Bänken für die Erwachsenen, einem großen runden Buddelkasten und einer Wippe.

Er wirkte etwas fremd, als würde er nicht dazugehören, er bewegte sich nicht, man konnte nicht auf ihm schaukeln oder wippen. Er war eben aus Stein.

Auch ich gehörte nicht dazu, konnte nicht schaukeln, wippen und da unten mit den anderen Kindern herumtollen. Vom Balkon aus sah ich verstohlen und neidisch dem ausgelassenen Treiben zu.

Nachmittags konnte ich oft den Lärm von vielen, vielen Kindern hören, die sich dort tummelten. Die Größeren spielten Fußball und Federball, die Mädchen hopsten mit und ohne Gummi. Die Kinder fuhren Roller, alle tobten und lachten und machten einen frohen Eindruck. Nur ich hockte in der Wohnung und durfte nicht raus.

„Mami, darf ich nachher runter?“, fragte ich Lene, wenn ich all die Fröhlichkeit da unten genug beobachtet hatte und mein Alleinsein nicht mehr aushielt.

Manchmal sagte sie sogar „Ja“. Doch bevor ich mich zu früh freuen konnte, hieß es: „Aber vorher gehst du noch einkaufen. Hol mir zwei Pfund Zucker!“ Mit der Bezeichnung Kilogramm konnte sie nie etwas anfangen.

„Und dann darf ich runter?“

„Ja.“

Also wetzte ich mit dem Kleingeld in der Hand die vier Treppenabsätze nach unten und lief das kurze Stück zum Konsum.

Geduldig wartete ich in der Schlange und freute mich auf die Wippe und das Klettergerüst. Vielleicht konnte ich sogar endlich mit den anderen Kindern spielen?

Zucker und Kleingeld wechselten den Besitzer und ich raste zurück zum Haus, die Treppe im Sauseschritt hoch. Oben wurde ich schon erwartet. Ich gab Lene das Päckchen Zucker und fragte, wann ich wieder oben sein soll.

„Jetzt musst du noch Milch holen“, sagte sie und schickte mich erneut los.

Runter die Stufen, Geld gegen Milch, zurück zum Haus und die Treppe hoch.

„Mir fällt gerade ein, dass wir auch Margarine brauchen.“

Dann Mehl. Und schließlich noch Zigaretten. Die gab es am Ende der Straße.

Als sie die Schachtel Casino in den Händen hielt, fiel ihr auf, dass der Wein dazu fehlte.

Um Balkanfeuer zu kaufen, einen roten Dessertwein, der aus Bulgarien stammte, musste ich noch einmal die ganze Karl-Marx-Allee hinunter.

Kaum zu Hause schickte sie mich Kohlen holen aus dem Keller. Der Herd in der Küche ließ sich nur mit Kohlen beheizen, auch im Sommer.

Danach fiel ihr ein, dass die Schuhe geputzt werden mussten: ihre, meine und die von Onkel Kurt. Und da alles stets sauber zu sein hatte, durfte ich Zuguterletzt noch den Gang fegen.

Auf einmal war es zu spät, um noch runterzugehen und zu spielen.

Sechzehn Uhr Dreißig hieß es: „Ausziehen, waschen!“

Dann kam Onkel Kurt nach Hause und es gab Essen.

Ich saß im Schlafanzug da und sah zum Fenster hinüber. Die Stimmen der Kinder vom Hof waren weniger geworden und hörten schließlich ganz auf.

Den Abwasch hatte ich noch zu erledigen und anschließend das Bad zu putzen.

„Mach dich fertig!“, schrie Tante Lene, wenn ich ins Bett sollte. „Hopp hopp! Zack zack!“

Den Pinguin-Platz habe ich nur zweimal betreten dürfen. Beide Male kamen Tante Lenchen und Onkel Kurt aus der Gaststätte Gubener Eck, die von beiden liebevoll Die Ecke genannt wurde, wohl weil sie sich in einem Eckhaus befand.

In der Ecke verbrachten sie viel Zeit.

Gelegentlich, wenn sie mich nicht gerade zuhause einschlossen, nahmen sie mich mit in die Kneipe, in der sich der Zigarettenqualm mit dem Geruch von Bier und Schweiß vermischten. Mir wurde dort schnell sehr langweilig. Es wurde so viel geraucht, dass ich kaum Luft bekam. Ich musste ganz still auf dem Stuhl sitzen und artig sein. Hin und wieder erhielt ich ein Malzbier. Ich durfte dann mit den Bierdeckeln spielen. Wenn ich mal aufs Klo musste, hatte ich zu fragen: „Darf ich mal bitte auf die To-lette?“ Erst nachdem der Alkohol Tante Lenchen und Onkel Kurt schon etwas erschlaffen ließen, durfte ich dann raus auf die Straße.

Zu Spielen gab es da nichts. Mal fand ich einen Stock, mal einen Pflasterstein, mal pulte ich auch Steine aus dem Gehweg.

Bei Anbruch der Dämmerung liefen wir dann von der Ecke die Hildegard-Jadamowitz-Straße entlang nach Hause. Die beiden Erwachsenen waren „schwer angegangen“ wie man damals zu sagen pflegte. Tante Lenchen warf Onkel Kurt die Trunkenheit auch vor.

„Ich bin hier der Verdiener und ich kann machen, was ich will“, brummte er dann. Umgekehrt machte er ihr nie Vorwürfe. Dass sie auch alles andere als nüchtern war, schien ihm egal zu sein.

Zu Hause hieß es dann: „Ausziehen und ab ins Bett!“ Meist folgte noch: „Mach, mach, mach! Ich will endlich mal Feierabend haben!“

Ich baute ein Päckchen aus meiner Kleidung, wusch meine Hände und mit einem Lappen das Gesicht und verschwand im Schlafzimmer. Dort lag Onkel Kurt schon besoffen in seinem Bett, ungewaschen und nach Schnaps und Bier stinkend und schnarchte. Der Raum war sehr klein, die Luft schnell aufgebraucht. Tante Lenchen interessierte das nicht. Sie machte die Schlafzimmertür zu, um nicht das Geschnarche zu hören. Sie ging auf den Balkon und rauchte noch eine Zigarette, bevor sie auf der Couch im Wohnzimmer ihr Nachtlager herrichtete.

Onkel Kurt schnarchte so laut, dass ich lange brauchte, ehe ich einschlafen konnte.

Mitunter, wenn meine Pflegeeltern von der Ecke nach Hause kamen, passierte es auch, dass Onkel Kurt sich zu mir ins Bett legte. „Muss mich nur mal kurz ausruhen“, murmelte er dann. Nach einer Weile fing er an, mein Gesicht zu lecken. Ich presste Mund und Augen zu, tat so, als würde ich schlafen und spürte diese eklige nach Schnaps und Bier stinkende Zunge, die über meine Nase, meine Wangen, meine Lippen fuhr. Das ging immer eine ganze Zeitlang so.

Dabei wurde auch immer mal an meinem Geschlecht herumgefummelt.

Ich nahm wahr, dass sich sein Atem veränderte und dass er einen Steifen bekam, auch wenn ich das damals noch nicht hätte benennen können und nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich ekelte mich sehr und versteinerte innerlich, wie der Pinguin, der auf unserem Hof stand. Irgendwann verschwand Onkel Kurt dann auf dem Klo und blieb dort manchmal eine ganze Stunde lang. In der Zwischenzeit lag dann Tante Lenchen neben mir und drückte mich ganz fest an sich. Manchmal begrapschte auch sie meinen Kinderpimmel. Manchmal furzte sie mir lautstark ins Gesicht. Immer alles aus Versehen, wie sie behauptete und sich dann dabei köstlich amüsierte.

Obwohl sie nach Zigaretten und Wein stank, dachte ich, das ist Mutterliebe.

Am Morgen um Sechs wurde ich geweckt: Tante Lene kam ins Schlafzimmer, riss mir die Decke weg und schrie im Kommandoton: „Los los, raus aus den Federn, dalli dalli!“

Onkel Kurt war dann schon weg.

Ich stand auf, wusch mich, putzte die Zähne, säuberte das Bad, zog mich an und nahm den Einkaufszettel von Tante Lenchen entgegen.

So stand ich dann um Sechs Uhr Dreißig vor dem Milchladen, der um Sieben öffnete und war da immer der Erste und meist auch der Einzige.

Im Waschhaus

Mit anderen Kindern durfte ich nie spielen.

Immer war Tante Lenchen überall mit dabei oder ich musste sie begleiten, wenn sie irgendwo hin musste oder wollte. So auch ins Waschhaus, in dem wir damals unsere Wäsche wuschen.

Manchmal kam Tante Gertrud mit. Sie war eine Jugendfreundin von Lenchen und wohnte im selben Haus, auf der gleichen Etage. Gertrud war ziemlich klein, außer ihr Busen, der war riesengroß. Genauso groß wie ihre Sorgen, von denen sie dauernd erzählte. Ihr Mann war ein sogenannter Spätheimkehrer, der mal ganz nett gewesen war, bevor er in den Krieg ging. In Stalingrad wurde er verwundet, kehrte zurück, musste nach seiner Genesung wieder nach Stalingrad, wurde gefangen genommen und schließlich nach Sibirien verschleppt. Aber das durfte keiner wissen. Gertrud flüsterte immer und mir schien, dass sie vor irgendetwas Angst hatte. Ich war trotzdem froh, wenn sie da war. Denn dann gab es kaum Schelte.

Tante Lenchen mangelte Laken und Bettbezüge, Tischdecken und Geschirrtücher und Tante Gertrud erzählte leise vom Krieg und vom Mann, der jetzt immer öfter nach Alkohol roch und sehr schreckhaft und nervös war.

In diesem Waschhaus war es unerträglich heiß. Aus dem Kessel mit dem kochenden Wasser stieg unentwegt Dampf. Es roch nach nasser Wäsche, Seifenpulver und fauligem Holz, nach Feuchtigkeit, Schmutz, Käsefüßen und Lauge. Ich musste wie stets still auf einem Stuhl sitzen, schwitzte, langweilte mich und sehnte mich danach, aufzustehen, hinauszugehen an die frische Luft und ein bisschen zu spielen. Doch ich durfte mich nicht von meinem zugewiesenen Platz wegbewegen. Wenn ich mal pinkeln musste und nicht vorher fragte, ob ich aufs Klo dürfe, gab es Schläge ins Gesicht. Das war immer so und ging mir dermaßen in Fleisch und Blut über, dass ich sogar in der Schule andere Schüler fragte, ob ich mal pullern darf. Die guckten mich dann blöd an, manche lachten mich aus.

Eines Tages wurde mir übel in all der Hitze und dem Dampf. Ich saß auf meinem Stuhl und sah mich nach Tante Lene um und konnte sie nicht entdecken. Schnell lief ich hinaus, rang ein paarmal nach Luft und kehrte wieder um. In dem dunklen Raum schlugen mir die Dunstschwaden entgegen. Ich konnte nichts sehen und schob mich in die Richtung, in der ich meinen Stuhl vermutete. An einer Stelle war der Boden seifenglatt und plötzlich schlitterte ich wie auf einer Eisbahn und suchte nach einem Halt. Ich griff zu, griff an ein Rohr, durch das kochend heißes Wasser lief, und im nächsten Moment schrie ich wie am Spieß. Meine Finger verbrannten und ich schrie und heulte und schrie. Tante Lenchen kam angerannt und hielt einen Wäscheknüppel in der Hand. Statt mir zu helfen, schlug sie mich damit auf den Hintern – wohl damit ich mit dem Gebrüll aufhörte. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, ich japste und keuchte, die Schläge prasselten auf mich ein, doch ich spürte sie kaum, denn die Finger glühten, als wären sie selbst mit kochend heißer Flüssigkeit gefüllt. Und schließlich verstummte ich tatsächlich – ich bekam keine Luft mehr vor Schmerzen. Als ich zusammensackte, half mir Gertrud auf und drückte mich an ihren großen Busen. Ich zeigte ihr meine verbrannte Haut und sie lief los, um kaltes Wasser zu holen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass du sitzen bleiben sollst!“, brüllte Tante Lenchen und drosch noch einmal mit dem Knüppel auf mich ein.