Einführung in die Kunstpädagogik - Georg Peez - E-Book

Einführung in die Kunstpädagogik E-Book

Georg Peez

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Beschreibung

This book introduces current concepts in art teaching and the historical roots of the discipline. The complex causal framework linking education and art serves as the starting-point and the thread on which the presentation is based. The professional fields involved in art teaching - particularly art teaching in schools - and the target groups and methods are then discussed in detail. The volume also provides an in-depth introduction to central fields of scholarly research on art and provides information about the most important questions for study courses.

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Grundrisse der Erziehungswissenschaft

Herausgegeben von Jörg Dinkelaker, Merle Hummrich, Wolfgang Meseth, Sascha Neumann und Christiane Thompson

Der Autor

Dr. Georg Peez ist Professor für Kunstpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er studierte Freie Malerei und Grafik an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste, Frankfurt am Main, Städelschule, u. a. bei Thomas Bayrle und Hermann Nitsch, sowie Kunstpädagogik an der Goethe-Universität, wo er sich 2000 habilitierte. Georg Peez lehrte und forschte zudem an den Universitäten Duisburg-Essen, Erfurt, Bern sowie der Hochschule der Künste Bern (Schweiz). Seine Forschungsschwerpunkte, zu denen er zahlreiche Veröffentlichungen vorlegte, lauten: Digitale Medien im Kunstunterricht, Bewerten und Benoten im Schulfach Kunst, Dimensionen ästhetischen Verhaltens, Kreativitätsforschung und Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik.

Georg Peez

Einführung in die Kunstpädagogik

6., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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6., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041222-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-041223-1

epub:     ISBN 978-3-17-041224-8

 

Vorwort der Herausgebenden

 

 

 

Die »Grundrisse der Erziehungswissenschaft« verfolgen angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung und Pluralisierung von pädagogischen Feldern und wissenschaftlicher Grundlagen den Anspruch einer begrifflich-systematischen Einführung in die Erziehungswissenschaft. Die Reihe führt in erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen und Forschungskontexte ein, wobei ihr Bezug zu pädagogisch-professionellen Feldern eine besondere Berücksichtigung erfährt. Im Sinne gesellschafstheoretischer Reflexion greift die Reihe z. B. auch zeitgenössische Schlüsselprobleme der erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Reflexion auf.

Die »Grundrisse der Erziehungswissenschaft« zielen darauf ab, widerstreitende Auffassungen in Forschung, Theoriebildung und Praxis als Teil erziehungswissenschaftlicher Selbstverständigung zu vermitteln und auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Problemstellungen und Konflikte zurückzubeziehen. Ein Nachdenken über Erziehung, Bildung und Lernen erfordert gleichermaßen eine breite Einbettung in die wissenschaftliche Diskurslandschaft wie in andere gesellschaftliche Kontexte (Politik, Wirtschaft, Religion, Medizin). Indem die »Grundrisse« auch die historische Genese, die epistemologischen Konturen und öffentlichen Geltungsbedingungen erziehungswissenschaftlichen Wissens und pädagogischer Semantiken aufgreifen, eröffnen sie überdies eine kritische Reflexion ihrer Methoden und Wissensformen.

 

Herausgebende

Jörg Dinkelaker (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)Merle Hummrich (Goethe-Universität Frankfurt am Main)Wolfgang Meseth (Goethe-Universität Frankfurt am Main)Sascha Neumann (Eberhard Karls Universität Tübingen)Christiane Thompson (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort der Herausgebenden

Vorwort

1 Zwischen Pädagogik und Kunst

1.1 Zeitgenössische Kunst und Pädagogik – drei unterschiedliche Facetten

1.2 Kunstvermittlung – der ›blinde Fleck‹ der Kunstpädagogik

1.3 Konsens im Fach – Ästhetische Erfahrung und Bildkompetenz

2 Entwicklung der Kunstpädagogik – vom 16. Jahrhundert bis heute

2.1 Zeichenstunden und ihre Bedeutung für Erziehung und Ausbildung seit dem Mittelalter

2.2 Künstlerisches Virtuosentum im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts – Lehren für Heranwachsende und ›Dilettanten‹

2.3 Zeichenlehren und Zeichenunterricht im 19. Jahrhundert

2.4 Die Kunsterziehungsbewegung

2.5 Zeichenunterricht in der Weimarer Republik und Bauhauslehren

2.6 Nationalsozialistische Kunst- und Volkserziehung im ›Dritten Reich‹

2.7 Musische Erziehung

2.8 Wiederbelebung der Bauhauslehren und ›Formaler Kunstunterricht‹

2.9 Kunsterziehung in der DDR

2.10 Visuelle Kommunikation/Ästhetische Erziehung

2.11 Ästhetische Erziehung in den 1980er Jahren

2.12 Ästhetische Erziehung – Gunter Ottos didaktische Konzepte des Kunstunterrichts

2.13 Ästhetische Bildung – Gert Selles kunstnahe ästhetische Projekte

2.14 Bildorientierung

2.15 Künstlerische Bildung

2.16 Ästhetische Forschung und Biografie-Orientierung

3 Kunstpädagogik – im Kontext eines pluralen Fachverständnisses

3.1 Kompensatorische und therapeutische Bedeutungen ästhetisch-bildnerischer Praxis

3.2 Kunstlehren und ihr Einfluss auf das kunstpädagogische Engagement von Kunstschaffenden

3.3 Aspekte und Verfahren der Performance in der Kunstpädagogik

3.4 Kunstpädagogik und die Genderthematik

3.5 Kunstpädagogik im Zeichen der digitalen Medien

3.6 Mapping/Kartierung

3.7 Interkulturalität und Transkulturalität

4 Bildnerisch-ästhetische Praxis und Rezeption

4.1 Von der Bewegungsspur zum Zeichnen

4.2 Formen und Gestalten mit Ton

4.3 Kunstrezeption/Begegnung mit Kunstwerken

5 Kunstpädagogik als Beruf – Tätigkeitsbereiche, Praxisfelder, Zielgruppen und Perspektiven

5.1 Schule

5.2 Museum

5.3 Erwachsenenbildung

5.4 Jugendkunstschule

5.5 Seniorenarbeit

6 Zwischen Anleitung und Offenheit – Orte, Sozialformen, Methodenaspekte

6.1 Vormachen und Nachmachen

6.2 Werkstätten, Ateliers und Stationenlernen

6.3 Projekte

6.4 Kreativität in Einzel- und Gruppenarbeit

7 Forschen in der Kunstpädagogik

7.1 Die Anwendung von forschenden Verfahren in Kunst, Pädagogik und Kunstpädagogik

7.2 Sinn und Zweck wissenschaftlicher Forschung

7.3 Historische Forschung

7.4 Kinderzeichnungsforschung und Erforschung bildnerisch-ästhetischen Verhaltens von Heranwachsenden

7.5 Bildungstheoretische hermeneutische Forschung

7.6 Fachdidaktische Forschung

7.7 Empirische Forschung

8 Kunstpädagogik studieren – Hochschulen, Studiengänge und Abschlüsse

8.1 Künstlerische Eignungsprüfung

8.2 Studienziele, Studienabschlüsse und Berufsfelder

8.3 Studiengänge

9 Support

9.1 Berufsverbände, Forschungs- und Serviceeinrichtungen

9.2 Zeitschriften, Handbücher, digitale Medien, Unterrichtsmaterialien

Literaturverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

Mit diesem Buch werden zwei Absichten verfolgt: Zum einen wird eine Einführung in das Studienfach Kunstpädagogik mit dessen wissenschaftlichen, didaktischen und künstlerischen Angeboten und Konzepten und hiermit zusammenhängenden studienpraktischen Aspekten gegeben. Zum anderen wird die generellere Thematik der Beziehung zwischen Pädagogik und Kunst exemplarisch anhand des im Eingangskapitel begonnenen »roten Fadens« der gesellschaftlichen Bedeutung von Gegenwartskunst aus pädagogischer Sicht veranschaulicht.

Beide Themenbereiche werden allenfalls einer vorläufigen Klärung zugeführt; sie werden facettenreich und plural entfaltet, damit sich bei den Leserinnen und Lesern unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten sowohl an das Thema »Pädagogik und Kunst« als auch an ihre individuellen Interessen in Hinsicht auf das Fach Kunstpädagogik ergeben. Solche Bezugsfelder sind z. B. Fragen zur Entscheidung über das Studienfach (Kap. 8), fachdidaktisches Basiswissen zu Studienbeginn (Kap. 3), berufliche Arbeitsfelder (Kap. 5), Erkenntnisse aus der Historie des Faches bis heute (Kap. 2), Gegenwartskunst (Kap. 1), ästhetische Phänomene und Praxis (Kap. 4) oder Fachkonzeptionen in Theoriebildung und Forschung (Kap. 7). Dementsprechend ist das vorliegende Buch so aufgebaut, dass ein selektiver Einstieg für Lesende mit jedem Kapitel möglich ist, um von hier aus eigene Wege und Anknüpfungen zu finden. Ein umfangreiches Verweissystem soll diese Art des Lesens ebenso unterstützen wie die in den Text eingefügten Abbildungen.

In der Nutzung der ersten Auflagen zeigte sich, dass diese »Einführung« nicht nur zu Studienbeginn Orientierung bietet, sondern insbesondere am Ende des Studiums und im Referendariat einen kompakten Einblick in die historischen und aktuellen Konzepte des Faches vermittelt. Diesem Bedürfnis wurde in späteren Auflagen verstärkt entsprochen.

Die Themen »Bildung« und »Kulturelle Bildung« werden wie selten zuvor in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert. Diese Entwicklungen lassen sich u. a. mit folgenden Stichworten umreißen:

•  internationale Vergleichsstudien zur Ermittlung von (Basis-)Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler,

•  der Bedeutungszuwachs einer wissenschaftlich fundierten Bildung in der frühen Kindheit,

•  ein Lehrkräftemangel im Fach Kunst in vielen Bundesländern,

•  die Etablierung von Ganztagsschulen mit der Frage, welche Rolle hier das Fach Kunst spielen sollte,

•  die Herausforderungen, die mit dem Thema der Inklusion aufgrund der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der UNO auf nationaler Ebene verbunden sind,

•  zunehmende kulturelle und soziale Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, etwa durch Migration oder Flucht,

•  verstärkte Digitalisierung von Alltag, bildbezogener Kommunikation und Kultur, nicht zuletzt durch die konstante Anbindung an das Internet mittels mobiler digitaler Medien und die pandemiebedingten Erfahrungen aus dem Distanz- und Hybridunterricht,

•  die Reduzierung der Schulzeit im Gymnasium um ein Jahr (G8) und deren teilweise Rücknahme,

•  die Etablierung des Zentralabiturs und die hiermit einhergehende Kanonisierung abfragbarer Fachinhalte sowie

•  die Diskussionen um Bildungsstandards und Kompetenzen und die Frage, wie sich diese für das Schulfach Kunst und die außerschulische kulturelle Bildung formulieren lassen.

Nicht zuletzt unter diesen Vorzeichen entwickelte auch die Kunstpädagogik seit der letzten, fünften Auflage dieser »Einführung« ihre Ansätze und Konzepte weiter. Deshalb liegt nun eine überarbeitete, sechste Neuauflage vor, in welcher das Fach in seinen Grundlagen und aktuellen Entwicklungslinien dargestellt wird.

 

1          Zwischen Pädagogik und Kunst

 

 

 

1.1       Zeitgenössische Kunst und Pädagogik – drei unterschiedliche Facetten

Pädagogik und Kunst sind vielfältig miteinander verwoben. Sie gehen in sehr verschiedenen Zusammenhängen komplexe Beziehungen ein. Pädagogik und Kunst ergänzen sich, sie stoßen sich jedoch auch ab. Dies wird im Folgenden an drei Beispielen erläutert. Drei Kunstwerke eröffnen drei Facetten dieses komplexen Beziehungsgefüges.

Hierbei wird jeweils von einem erweiterten Kunst-Verständnis sowie einem erweiterten Pädagogik-Verständnis ausgegangen. In der Kunst ist diese Erweiterung (Kap. 2.13, Kap. 3.2 und Kap. 4) allgemein anerkannt. Kunst setzt heute im Grunde alle ihr zur Verfügung stehenden Materialien, Medien und Handlungsmöglichkeiten ein, sie versucht, immer neue Ausdrucksformen zu finden. Kunst verbleibt nicht nur in Atelier und Museum, sie wirkt in vielen sozialen, gesellschaftlichen und alltäglichen Bereichen, sie diffundiert häufig mit diesen.

Für die Pädagogik gilt, dass in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein das Verständnis von Pädagogik zwar traditionell insgesamt durch das öffentliche Bildungssystem und dessen Institutionen repräsentiert wird, z. B. durch die allgemein bildenden Schulen oder die Volkshochschulen; jedoch wird diese Ordnungsvorstellung immer brüchiger. Denn die Vermittlung von Kulturaspekten und Wissen wird nicht nur von professionell pädagogisch Tätigen in Bildungsinstitutionen ausgeführt, sondern sie erfolgt durch zahlreiche ›Miterziehende‹, u. a. durch unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen oder die elektronischen Medien. Die Vermittlung von Kulturaspekten ist demnach eine gesellschaftliche Herausforderung, bedingt durch das soziale Zusammenleben, auf der pädagogisches Handeln basiert und auf die es antwortet. Mit pädagogischen Aspekten und Intentionen kann man auch in Berührung kommen beim Fernsehen, beim Ausstellungsbesuch, im Betrieb, bei der Nutzung einer Hilfe-Funktion im Computerprogramm oder eines Tutorials, beim Zeitunglesen oder in künstlerischen Projekten – um nur wenige Beispiele zu nennen.

Die zentrale Frage angesichts dieser erweiterten Verständnisweisen sowohl von Kunst als auch von Pädagogik lautet, wo und wie sich Kunstpädagogik heute verorten und womit sie ihre Notwendigkeit begründen kann, ohne das Rad dieser Entwicklungen zurückzudrehen. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen.

»Denkmal für die ermordeten Juden Europas« von Peter Eisenman

Mit der Aussage, es handele sich um ein »offenes Kunstwerk«, übergab der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 10. Mai 2005 das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« der Öffentlichkeit. In kürzester Zeit wurde dieses begehbare erste Nationaldenkmal der ›Berliner Republik‹ ein besonderer Anziehungspunkt für Schulklassen und unzählige Berlin-Reisende aus aller Welt (Abb. 1). Wer unter dem Brandenburger Tor hindurch läuft, begibt sich auch zum südlich hiervon gelegenen Mahnmal, das ursprünglich vom US-amerikanischen Bildhauer Richard Serra gemeinsam mit seinem Landsmann Peter Eisenman geplant wurde. Nachdem sich Serra 1998 vom Wettbewerbsbeitrag zurückzog, überarbeitete der dekonstruktivistische Architekt Eisenman den Entwurf. Denn in der Öffentlichkeit war Kritik am Monumentalismus des Wettbewerbsmodells laut geworden (vgl. »Kunst+Unterricht« 227/1998, S. 24). Übrig blieben 2711 Beton-Pfeiler (Umriss einer Stele: 95 x 238 cm), zwischen denen 54 x 87 im rechten Winkel zueinander organisierte Pfade hindurchführen. Zudem wurden 41 Bäume auf das wellenförmig angelegte 19.000 m2 große Areal gepflanzt (www.holocaust-mahnmal.de).

Abb. 1: Peter Eisenman (*1932): »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, Berlin, fertiggestellt 2005, im Hintergrund (Mitte) das Reichstagsgebäude sowie das Brandenburger Tor (Foto: Georg Peez)

Alle Besuchenden müssen zu diesem offenen, Tag und Nacht begehbaren Kunstwerk Position beziehen – im wörtlichen und übertragenen Sinne. Wer am Rande des Stelen-Feldes ankommt, wird unwillkürlich »hineingezogen«. Am Anfang sind die dunkelgrauen Betonpfeiler noch überschaubar niedrig. An manchen Stellen im äußeren Bereich des Mahnmals ähneln sie eher dunklen, auf dem Boden liegenden Grabplatten. Ab und zu sind einzelne Blumen und Steine auf ihnen abgelegt. An anderen Stellen kann man sich auf ihnen sitzend niederlassen. Das uneben verlegte Pflaster unter den Füßen verunsichert beim Laufen: Es führt zunächst zur Mitte des Feldes hin leicht abwärts. Die Stelen werden schnell höher, bis zu viereinhalb Meter. Sie scheinen – teilweise leicht schräg stehend – bedrohlich aus dem Boden zu wachsen, nehmen das Licht. Sie schlucken die Geräusche der Umgebung. Beim Durchschreiten wird man überrascht von anderen Menschen, die ebenfalls auf den schmalen Pfaden laufen, die die strenge Ansicht jeweils für wenige Sekunden verändern. Ihre Wege kreuzen sich mal näher, mal weiter entfernt mit den eigenen. Aber schnell ist man wieder alleine, biegt um eine Ecke und sieht andere Fremde. Diese begehbare Skulptur spricht in den engen Gängen die Einzelbesuchenden an, isoliert sie, ermöglicht ihnen eine kontemplative Besinnung auf sich selbst. Distanz ist zugleich in der Enge nur schwer möglich.

Peter Eisenman sagt, das Holocaust-Mahnmal solle ein »dauerhaftes Gedächtnis« an die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden schaffen. Doch die Besuchenden überprüfen diese Aussage: Kann das zwischen Landart, abstrakt-minimalistischer Skulptur und Denkmal changierende Kunstwerk das leisten, was Eisenman vorgibt? Das Werk ist offen, ungewiss und deshalb sehr unterschiedlich zu erfahren und auszulegen. Erinnert die Tatsache, dass man zwischen den Stelen schnell allein ist, an die Isolation der Opfer? Soll und kann das Mahnmal Mitgefühl wecken? Oder assoziiert man die perfekt geordnete ›kalte Grammatik‹ der unpersönlichen Betonpfeiler, die ein wenig an Nazi-Architektur erinnern, mit der Gewaltherrschaft des Dritten Reichs? Oder ist es doch eher eine Stadt der Toten, ein Gräberfeld, auf dem die Namen fehlen?

Persönliche Eindrücke, historisches Wissen, kunsthistorische Assoziationen, eigene Körperempfindung, Gefühle und ästhetische Erfahrungen (Kap. 1.3) beim Durchschreiten bilden für viele Berlin-Besuchenden eine eigentümliche Gemengelage, die sich nicht auflösen lässt, sondern ihre Wirkung meist eindrücklich entfaltet. Eine ›Handlungsanweisung zum Erinnern‹ wird weder vom Kunstwerk noch vom Künstler mitgeliefert. Muss uns dieses Werk etwas Bestimmtes sagen? Es ist ja schließlich ein Denkmal. Sollte Kunst heute eine klare Aussage treffen, etwas vermitteln? Oder muss Kunst mittels der ästhetischen Erfahrung, die sie auslöst, »ein Bewusstsein der Offenheit von Gegenwart« (Seel 2007, S. 66) herstellen, weil ihre Bedeutung sowieso stets individuell konstruiert wird?

Eisenman lehnt jede Deutung seines Werks ab: Es solle nichts symbolisieren, keinen Friedhof, keine Totenstadt, kein Kornfeld, es solle auch kein Gegenbild zu den ineinander verkeilten Eisschollen in Caspar David Friedrichs Gemälde »Gescheiterte Hoffnung« von 1822 sein. Das Leiden derer, an die es erinnere, habe ihn zum Schweigen bewogen. Lediglich Einzigartigkeit war Eisenmans Ziel: einen Ort zu gestalten, der wie kein anderer auf der Welt ist. Denn nie zuvor habe es auch einen Holocaust gegeben.

Durch die performativen Eigenschaften (Kap. 3.3) dieses Mahnmals wird der Begriff des Denkmals dekonstruiert: Es regt zum Denken an, ohne einen Gedanken vorzuschreiben. In diesem Sinne ist das eigentliche Denkmal die Diskussion hierüber. Der bebaute Raum ist demnach Anlass dafür, das Denkmal im sich immer wieder erneuernden Diskurs zu schaffen und weiterzuentwickeln; ein Diskurs, der lange vor der Errichtung begann, 1988, als Deutschland noch geteilt war und als eine Bürgerinitiative um die Journalistin Lea Rosh begann, ein Holocaust-Denkmal für die ehemalige Hauptstadt des faschistischen Deutschlands zu fordern.

Ob Anstoß, Ablehnung oder Zustimmung: Eisenman hat das erreicht, was ein Kunstwerk erreichen kann: über die bildnerische Form und über die ästhetische Erfahrung (Kap. 1.3) zum selber Denken und zum Disput anzuregen (vgl. »Kunst+Unterricht« 316/2007). Denn hier findet keine Vermittlung von festgelegten Ideen und Inhalten statt – zumindest oberirdisch. Aus der Furcht heraus, dass solche Offenheit zur Beliebigkeit führe, war ein Ergebnis der jahrelangen Diskussionen, dass unter diesem Areal ein »Ort der Information« geschaffen wurde. Hier wird in vier ausstellungsdidaktisch geplanten Räumen eindrücklich an die Opfer erinnert, etwa indem unablässig die Namen von 800 ermordeten Juden genannt und deren Schicksale geschildert werden.

»One Minute Sculptures« von Erwin Wurm

Selbst der legendäre deutsche Fußballspieler, -trainer und -funktionär Franz Beckenbauer tat es. Er posierte eine Minute nach der Anweisung von Erwin Wurm: Beckenbauer lehnte sich seitlich an eine Hauswand an. Doch berührte er nicht mit seinem Jackett das Haus, sondern er presste vorsichtig zwei Orangen-Früchte gegen die Hauswand: eine Orange zwischen Schläfe und Wand, eine zwischen Schulter und Wand (Abb. 2). Der Gesichtsausdruck ist konzentriert, leicht verlegen und zugleich amüsiert. Wurm dokumentiert Beckenbauer in diesem Moment mit der Kamera. Das Foto, auf dem diese Kurzzeit-Skulptur festgehalten wurde, war Plakatmotiv der Kunst-Ausstellung zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland.

Im Werkverzeichnis des Bildhauers Erwin Wurm (Jg. 1954) gibt es eine ganze Serie mit Gemüse und Früchten. Beispielsweise steht ein Bankdirektor vor der Kamera: In jedem Nasenloch steckt ein weißer Spargel. Der Kopf des Mannes ist leicht nach oben gerichtet, so dass die Spargelstangen fast senkrecht aus den Nasenlöchern herabhängen, sie erinnern an Walrosszähne. Eine andere Zeitgenossin hat sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen und kleine Essiggurken zwischen ihre Fußzehen geklemmt. Ein weiterer Freiwilliger in der Serie »Outdoor Sculptures« (1998), der als Lohn für seine Handlung »lediglich ein kleines Foto« bekam, so Wurm, posierte kopfüber in einer offenen Mülltonne am Straßenrand, nur die nach oben aus der Tonne ragenden Beine waren zu sehen.

In Erwin Wurms Schau mit dem Titel »Handlungsformen der Skulptur« (2003) sind alle aufgefordert, von Betrachtenden zu Akteurinnen und Akteuren zu werden: Auf weißen Podesten liegen diverse Alltags-Utensilien, wie Orangen, Stöcke, Bleistifte oder ein Pullover. Zu jedem Gegenstand gibt es eine Handlungsanweisung (Zeichnung mit kurzem Text) des Künstlers (Wurm 2006; Lehmann 2003). So lassen sich zwei Orangen auch unter die Bluse oder ins Hemd im Bereich der Brust stecken. In dem Moment, in dem diese anleitungsorientierte skulpturale Haltung auf Zeit steht, kann man sich von einer Aufsichtsperson der Ausstellung fotografieren lassen. Wer dann noch 100 Euro zahlt und Wurm das Foto zuschickt, erhält es von Künstlerhand signiert zurück, womit die Echtheit einer Wurm’schen Skulptur bescheinigt wird. Ob mit oder ohne Foto: Alle können auf diese Weise als Ausstellungsbesuchende die Verantwortung für das Gelingen eines Kunstwerks übernehmen bzw. eine Skulptur auf Zeit sein.

Was auf den ersten Blick für manche Betrachtende wie Klamauk oder Slapstick wirken mag, erweist sich jedoch als höchst originelle und subtile Kunst-Botschaft. Mit seinen inszenierten »Skulpturen für eine Minute« ist Wurm ein Grenzgänger zwischen den traditionellen Gattungsgrenzen. Skulptur, Happening, Performance (Kap. 3.3), Ready-made (Marcel Duchamp) verschmelzen zu etwas Neuem. Bekannte kategoriale Gegensätze für Kunst sind paradoxerweise gleichzeitig wirksam:

Abb. 2: Erwin Wurm (*1954): »One Minute Sculpture«. Für die Ausstellung »Rundlederwelten«, dem offiziellen Beitrag des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung zur FIFA WM 2006, stand Franz Beckenbauer für Plakat und Einladung zur Verfügung. In der Ausstellung konnten sich alle Besuchende auch selbst für wenige Minuten in eine lebendige Skulptur verwandeln.

Prozess und Produkt, Bewegungslosigkeit und Aktion, Ruhe und Dynamik, Stabilität und Instabilität, Künstlichkeit und Wirklichkeit, Regel und Zufall, Original und Nachahmung; festgehalten mit Video- oder Fotokamera. Dass in Wurms Werken zweifellos immer auch Humor und Ironie sowie Selbst-Ironie mitschwingen, dass die verblüffenden Fotodokumentationen zum Schmunzeln veranlassen, lässt sie umso subtiler und tiefgründiger wirken. Denn mit einem Lächeln sind wir gegenüber den radikalen Intentionen des Künstlers wesentlich aufgeschlossener.

Zweitens erweitern diese kurzzeitigen Skulpturen den Kunstbegriff (Kap. 3.2), indem sie den Übergang vom Alltag zur Kunst ebnen. In diesem Kontext fördern sie auch die ästhetische Bildung. Wer einmal einen Pullover nach den Anweisungen von Wurm gefaltet und aufgehängt hat oder wer einmal eine »One Minute Sculpture« selbst ausgeführt hat, wird ab dann im alltäglichen Umgang jenes Kleidungsstück anders betrachten, falten oder anziehen. Er oder sie wird – wenn auch nicht immer, aber immer öfter – Gegenstände auf ihre Möglichkeit, Skulptur zu werden, überprüfen. Er oder sie wird eine Verbindung zwischen Kunst und Alltag herstellen und sich an die einmal selbst ausgeführte Aktion erinnern. Denn man hat einen innovativen skulpturalen Prozess selber mimetisch (d. h. kreativ nachahmend) erfahren (Lehmann 2003, S. 70f.).

Die Vermittlung seiner Kunst geschieht durch den Künstler und seine Handlungsanweisungen unmittelbar: In der tatsächlichen Aktion kann jeder versuchen, wie Franz Beckenbauer mit zwei Orangen eine Skulptur auf Zeit zu werden. Zweifellos liegt es in der Absicht des Künstlers, ästhetische Erfahrungen auszulösen. Die in Kapitel 1.3 aufgelisteten Strukturmomente ästhetischer Erfahrung kommen hier zum Tragen (Kap. 1.3). Zum anderen lassen sich viele Werke mittelbar erfahren, indem man sich in den agierenden Menschen in Gedanken hineinversetzt: Welches Körpergefühl muss ich entwickeln? Welche Körperspannung, Konzentration und Balance muss ich halten? Welche Vorsicht muss ich walten lassen, damit die zwei Orangen nicht wegrutschen und ich selber nicht ins Wanken gerate?

»Ein Kommunikationsraum« von Christine und Irene Hohenbüchler in Zusammenarbeit mit der Kunstwerkstatt Lienz

Auf den Böden eines weißen, etwa 1,70 m hohen Regals lagen viele Objekte, denen man bereits von Weitem ansah, dass sie mit etwas handwerklichem Ungeschick hergestellt worden waren: kleine figürliche Darstellungen von Phantasietieren aus Keramik; eine selbstgehäkelte Mütze; mehrere etwa handgroße, meist bunt glasierte Keramikschalen und -gefäße; einige mit Ornamenten grell bemalte Frottee-Handtücher; das Porträtfoto einer lachenden Frau, welches nachträglich durch Wachsmalkreide mit Mustern bunt verziert und auf ein Stück Pappe aufgeklebt war.

Dies alles war im Sommer 1997 in einem großen, hellen Raum der documenta X zu sehen, dem »Museum der hundert Tage« für zeitgenössische Kunst in Kassel. Am Eingang dieses Raumes hing an der Wand ein kleines Schild: »multiple autorenschaft. Christine & Irene Hohenbüchler in Zusammenarbeit mit Kunstwerkstatt Lienz. Ein Kommunikationsraum. 1996–1997«. Weitere schriftliche Angaben zu den Ausstellungsobjekten wurden nicht gemacht.

Diese Objekte waren auf ungewöhnlichen Möbeln präsentiert (Abb. 3): An der Rückwand eines halbrunden, mitten im Raum stehenden, mit Ausstellungsobjekten bestückten Regals befand sich eine Sitzbank. Eine andere Konstruktion sah aus wie ein hoher Stuhl mit einer viel zu kurzen Lehne bzw. wie ein niedriger Schreibsekretär. Diese Stellage wurde als Präsentationstisch für einen Ringbuchordner mit in Prospekthüllen eingelegten Zeichnungen genutzt. Zwei Besuchende standen an diesem »Tischchen« und blätterten im Ordner. Sie unterhielten sich hierbei. Auf einem anderen Tisch stand ein Computer, auf dessen Bildschirm Grafiken aufgerufen werden konnten: Darstellungen eines Feuerwehrautos, eines Lastwagens, eines Hauses, einer Landschaft. An einer Wand stand eine ca. 1,50 m hohe Konstruktion aus Drähten, an denen mit greller Farbe bemalte Badeanzüge, Badehosen, mehrere Schwimmreifen und eine große aufgeblasene Plastikente präsentiert wurden.

Die Zwillingsschwestern Christine und Irene Hohenbüchler, 1964 in Wien geboren, arbeiten seit Jahren mit Menschen zusammen, die u. a. in Nervenheilanstalten oder in Gefängnissen untergebracht sind. Die auf der documenta X ausgestellten Werke wurden von ihnen gemeinsam mit 20 geistig Behinderten in einem Zeitraum von zwei Jahren in der »Kunstwerkstatt« der »Nervenheilanstalt Lienz«, Osttirol in Österreich, geschaffen. Durch diese projekt- und werkstattorientierte künstlerische Kooperation entstanden verschiedene Werke mittels unterschiedlichster Herstellungsverfahren und Materialien, die die Geschwister Hohenbüchler zum Gesamtwerk, dem »Kommunikationsraum«, zusammenfügten.

Abb. 3: Christine und Irene Hohenbüchler (*1964), multiple Autorenschaft: Ein Kommunikationsraum, verschiedene Materialien und Medien, 1996/97. Resultate kollektiver Arbeiten in der »Kunstwerkstatt Lienz« mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Nervenheilanstalt Lienz, Osttirol, Österreich

Christine und Irene Hohenbüchler sind weder Kunstpädagoginnen noch Kunsttherapeutinnen, sie sind sowohl in ihrem Selbstverständnis als auch im kunsttheoretischen Kontext durch ihre Teilnahme an der documenta X anerkannte Künstlerinnen. Auf vergleichbare Weise wie die Geschwister Hohenbüchler arbeiten gegenwärtig eine Anzahl zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler prozesshaft direkt in pädagogischen Zusammenhängen. In der Kunsttheorie wird gar gemutmaßt, dass sich langfristig künstlerisches Tun von der Bereitstellung ästhetischer Produkte zum Angebot ästhetischer Tätigkeiten für Menschen, die im weitesten Sinne etwas gestalten wollen, verschieben könnte. Diesen Kunstschaffenden ist ein zentraler Aspekt künstlerischen Arbeitens gemeinsam: Sie integrieren kunstpädagogische Handlungsweisen in ihre Kunstäußerungen und erweitern den Kunstbegriff hierdurch. Sie bearbeiten die Grenze zwischen Pädagogik und Kunst. Gerade durch die von ihnen ausgelöste Irritation an der Grenze zum pädagogischen System erfahren die Geschwister Hohenbüchler Aufmerksamkeit und Akzeptanz im Kunstsystem.

1.2       Kunstvermittlung – der ›blinde Fleck‹ der Kunstpädagogik

Hinsichtlich des komplexen und facettenreichen Beziehungsgefüges zwischen Pädagogik und Kunst wird ein Charakteristikum häufig genannt, welches eher die Unvereinbarkeit zwischen Kunst und Pädagogik betont: Die Möglichkeit einer Vermittlung von Kunst, einer Vermittlung dessen, was die Kunst zur Kunst macht, wird in der kunstpädagogischen Diskussion oft grundsätzlich angezweifelt (Kap. 2.13 und Kap. 4.3). Dieser Zweifel betrifft den kunstpädagogischen Berufsstand fundamental, der zwischen Pädagogik und Kunst steht, dessen Aufgabe es ist, Kunst zu vermitteln. Freilich lassen sich bildnerische Techniken lehren und vermitteln, wie etwa das Schraffieren mit dem Bleistift oder der Umgang mit einem Bildbearbeitungsprogramm, aber wer das Spezifische von Kunst vermitteln will, macht sie sich gefügig. Er unterrichtet hierdurch an der Kunst vorbei. Die Entwicklung der modernen und zeitgenössischen heterogenen Kunstrichtungen macht nämlich deutlich, dass sich Kunst und Kunsterfahrung durch die Verweigerung gegenüber Verstehensabsichten und durch die Irritation der Rezipientinnen und Rezipienten stetig dem rational auslegenden Verstehen zu entwinden versuchen (Sontag 1968). Eine solche Verweigerungshaltung mit lehrenden Methoden pädagogisch ›zähmen‹ zu wollen wäre kontraproduktiv. Kunst ist demnach nicht didaktisierbar (Buschkühle 2003, S. 32ff.).

Die Basis dessen, was kunstpädagogische Konzepte lange Zeit prägte und was alle kunstpädagogischen Methodenentscheidungen überhaupt erst legitimierte, wird durch diesen Ansatz radikal in Frage gestellt. »Erfahrung gelingt nicht durch Vermittlung«, sagte unmissverständlich der Kunstpädagoge Hermann K. Ehmer (Ehmer 1993, S. 32). Vermittlung gilt demnach nicht mehr als eine der Kunst angemessene Kategorie, weil der Inhalt möglicher Kunstvermittlung nicht reflexiv verfügbar ist.

Kunstlehrende geraten unversehens unter einen Rechtfertigungsdruck. Das Paradoxon, mit dem sie selbst unter Anerkennung der oben konturierten Prämisse umgehen müssen, lautet: Trotz allem versuchen sie weiterhin die Gelenkfunktion zwischen der Kunst und den Schülerinnen und Schülern bzw. den Adressatinnen und Adressaten einzunehmen – sie vermitteln ›etwas‹. Das Gewahrwerden dieses ›blinden Flecks‹ der Kunstpädagogik wird im Fach theoretisch kultiviert und gewissermaßen zu einem ›Kunstgriff‹ stilisiert (Kap. 2.15) (Pazzini 2005). Aus Sicht der Praxis lässt sich die Wahl der Vermittlungsmethoden wohl vorwiegend als eklektisch oder noch treffender als pragmatisch bezeichnen. Das heißt, man wählt jeweils die situativ adäquat erscheinende Methode aus, die angesichts der eigenen Berufserfahrung momentan einen größtmöglichen Erfolg für kreative und produktive Anschlüsse verspricht. Die Wahl der Vermittlungsmethoden ist somit keinesfalls beliebig, d. h., zumindest im Nachhinein ist es mittels Reflexion möglich, die Wahl professionell zu begründen – unabhängig davon, ob sich die Wahl im Nachhinein auch als angemessen erwies. Es lässt sich offensichtlich der ›Kunstgriff‹ anwenden, dass Vermitteln auch angesichts der Anerkennung der Unvermittelbarkeit dessen, was Kunst ihrem Wesen nach ist, keineswegs überflüssig wird. Denn im Zentrum steht deswegen nun die Frage: Wie lässt sich die Nicht-Vermittelbarkeit der Kunst überzeugend und gegenstandsgerecht, d. h. kunstgerecht, vermitteln? Dass diese Frage so verhandelt wird, zeigt beispielsweise Hermann K. Ehmer mit seiner offenbar paradoxen Formulierung, wir müssten lernen, dass es an der Kunst nichts zu lernen gebe (Ehmer 1994, S. 14).

1.3       Konsens im Fach – Ästhetische Erfahrung und Bildkompetenz

»Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen – in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts« (Kirchner/Otto 1998, S. 1). Mit diesen Worten charakterisierten Constanze Kirchner und Gunter Otto eine noch gültige Hauptaufgabe heutiger Kunstpädagogik. Diese Aufgabe besteht nicht in der Vermittlung von Kunst, sondern kunstpädagogische Grundintentionen zielen ab auf die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen im Bildnerischen. Ästhetische Erfahrungen lassen sich sowohl produktiv im eigenen bildnerischen Gestalten (Kap. 4.1 und Kap. 4.2) als auch rezeptiv, etwa in der Kunstbetrachtung (Kap. 4.3), aber auch im Alltag »in Ereignissen und Szenen« machen, »die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen« (Dewey 1934/1980, S. 11), so der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in seiner Sammlung von Vorlesungstexten »Art as Experience« aus dem Jahre 1934. Auf diese Grundaussagen Deweys bezieht sich die deutsche Kunstpädagogik häufig. Ästhetische Erfahrungen können als Erfahrungen der Diskontinuität, der Differenz zum bisher Erlebten gelten (Mattenklott/Rora 2004). Sie überschreiten das mittels unserer Wahrnehmung Erwartbare und »erzeugen Risse in der gedeuteten Welt« (Seel 2007, S. 59). In dieser »Schwellenphase« werden »kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet« (Küpper/Menke 2003, S. 140).

Strukturmomente von ästhetischer Erfahrung sind zusammengefasst, chronologisch geordnet von der ersten Aufmerksamkeit bis zur Mitteilung und abgeleitet aus den oben genannten Literaturquellen:

•  Aufmerksamkeit für Ereignisse und Szenen, die Gefallen und Interesse wecken und hierdurch unmittelbares Spüren der Wahrnehmung bedingen;

•  Offenheit und Neugier;

•  Versunkensein und emotionales Involviertsein im Augenblick;

•  Genuss der Wahrnehmung selbst und hiermit verbundenes Lustempfinden (nicht nur angenehm, sondern auch verstörend oder erschaudernd);

•  Spannung und Überraschung, die Staunen vor dem wahrgenommenen Phänomen auslösen können;

•  Erleben von Subjektivität und Individualität im Wahrnehmungsprozess;

•  Anregung der Fantasie durch Entdeckung von neuen Assoziationen zu scheinbar Bekanntem und Gewohntem;

•  Reflexion über die eigene Wahrnehmung und deren Prozesshaftigkeit mit hierdurch bedingter nötiger Distanz zum eigenen Wahrnehmungserleben, zum Abschluss der ästhetischen Erfahrung;

•  Voraussetzung für die Reflexion sind Wissen und Einsicht, die sich aus früherer Wahrnehmung und Erfahrung ergeben;

•  In-Beziehung-Setzen der eigenen ästhetischen Erfahrung mit kulturellen und künstlerischen Produkten;

•  Festhalten der ästhetischen Erfahrung in ästhetischer Produktion;

•  Mitteilen dessen, was die ästhetische Aufmerksamkeit erregte (kommunikativer Aspekt).

Deweys Auffassung steht in Opposition zu ästhetik-philosophischen und bildungstheoretischen Standpunkten, beispielsweise des Kunsthistorikers Gottfried Boehm, der es für die ästhetische Erfahrung als kennzeichnend ansieht, dass ihre Eingliederung ins Pädagogische nicht nur in Frage zu stellen sei, sondern dass die Idee einer natürlichen Annäherung von Kunst und Pädagogik ein fragwürdiges Unternehmen bleibe (Boehm 1990, S. 471). Für Boehm ist ästhetische Erfahrung nur an Kunstwerken bzw. in Verbindung mit Kunstwerken zu gewinnen. Die sich gegen einfache Erklärungen wehrende zeitgenössische Kunst – wie etwa die Erwin Wurms (Kap. 1.1) – errichte eine schwer überwindbare Barriere gegenüber jenen Versuchen, sie zum Instrument ästhetischer Erziehung zu machen.

Doch ihre Beziehung zur bildenden Kunst ist für die Kunstpädagogik zwar zentral, aber nicht allgegenwärtig. Ästhetische Erfahrungen sind für die Kunstpädagogik nicht das Mittel zum Zweck der Kunsterfahrung. Ästhetischen Erfahrungen kommt ein hiervon unabhängiger Wert an sich zu. Aber Kunsterfahrung ist ohne zuvor erfolgte ästhetische Erfahrungen im Alltag nicht möglich. »Die Erfahrung der Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst – und hier gerade von ästhetischen Erfahrungen in den Räumen der Stadt und der Natur, in denen die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinander geraten« (Seel 2007, S. 66) (Zu den philosophischen Wurzeln der ästhetischen Erfahrungen und ihrem Verständnis heute vgl. Tatarkiewicz 2003, S. 448ff.; Küpper/Menke 2003). Unser Wahrnehmungsverhalten bildet sich mitgängig und muss deshalb im Kunstunterricht thematisiert und geschult werden. Ästhetische Erfahrungen und Empfindungen erleben zu können, ist ein Teil unserer »Grundausstattung«, so der Kunstpädagoge Gert Selle, sie werde von Künstlerinnen und Künstlern lediglich intensiver genutzt und sensibler entwickelt (Selle 1988, S. 30).

Jede ästhetische Erfahrung enthält eine zweifache Orientierung: Zum einen sollte sie auf die sinnlichen Anteile der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein. Zum anderen sollte dem Spüren und Wahrnehmen ein Sinn gegeben werden: Es geht um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten; wie etwa bei Peter Eisenman (Kap. 1.1). Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, wenn wir ihr gewahr werden, wenn wir die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. Ein solches ›Sinn-Bewusstsein‹ muss nicht in Worte gefasst werden, es sollte aber reflexiv verfügbar sein.

Kunstpädagogik geht davon aus, dass im Alltag und in der Sozialisation durch Umwelterfahrungen nicht genügend Situationen geboten werden, in denen ästhetische Erfahrungen in den angesprochenen Dimensionen in ausreichendem Maße und tiefgreifend zu machen sind; ästhetische Erfahrungen, die auch grundlegend für Bildungsprozesse sind (Kämpf-Jansen 2001, S. 153ff.). Für die Entwicklung (selbst-)kritischer und selbstbestimmter ästhetischer Entscheidungen sind Impulse, Gegenerfahrungen und Irritationen erforderlich.

Zugleich hat sich in den letzten Jahren Schul- und Bildungspolitik immer stärker einer Kompetenzorientierung verschrieben. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) erließ Empfehlungen mit Kompetenz-Auflistungen für alle Schulfächer, zusammengefasst in so genannten Bildungsstandards. Bildungsstandards greifen laut KMK »allgemeine Bildungsziele auf und legen fest, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen. Die Bildungsstandards konzentrieren sich auf Kernbereiche eines Faches und beschreiben erwartete Lernergebnisse« (KMK 2004, www.kmk.org) (Kap. 5.1). In eine solche Vorstellung von Bildung als »erwartete Lernergebnisse« passt ästhetische Erfahrung freilich nicht hinein.