Einstellung des Verfahrens - Emmanuel Bove - E-Book

Einstellung des Verfahrens E-Book

Emmanuel Bove

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Beschreibung

"Flucht in der Nacht" und "Einstellung des Verfahrens" sind so etwas wie das literarische Vermächtnis von Emmanuel Bove, abgefasst zwischen 1942 und 1944 im Exil in Algier. Die beiden Romane schließen inhaltlich aneinander an, und beide spielen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs: Der Ich-Erzähler aus "Flucht in der Nacht" bricht mit einem Dutzend Kameraden aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager aus und schlägt sich, zuletzt nur noch mit einem Gefährten, bis nach Frankreich durch. Doch auch nach seiner Rückkehr ins besetzte Paris, an den Hauptschauplatz von "Einstellung des Verfahrens", kommt der Bove'sche Antiheld nicht zur Ruhe. Seine persönliche Tragödie wird zur Groteske: Hin und her gerissen zwischen heroischen Anwandlungen und Paranoia, dem Wunsch nach Einsamkeit und der Unfähigkeit dazu, lähmender Entschlusslosigkeit und panischer Aktivität, Hilflosigkeit und maßlosen Ansprüchen, ist er mit seinem Drang nach Freiheit und Sicherheit – obwohl ihm die Flucht nach Spanien gelingt – letztlich zum Scheitern verurteilt. Emmanuel Bove, für seine gleichsam chirurgische stilistische Präzision von der Kritik hoch gerühmt, schildert diesen menschlichen Niedergang ungeschönt subjektiv als ein Scheitern nicht nur an der Welt, sondern vor allem an sich selbst. "Boves Figuren sind Sonderlinge. Sie träumen davon, unentdeckt zu bleiben und doch verstanden zu werden." [Quelle: Ralf Konersmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung] Zum Weiterlesen: "Emmanuel Bove. Eine Biographie" von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton ISBN 9783860347096

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Über dieses Buch

»Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens« sind so etwas wie das literarische Vermächtnis von Emmanuel Bove, abgefasst zwischen 1942 und 1944 im Exil in Algier. Die beiden Romane schließen inhaltlich aneinander an, und beide spielen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs: Der Ich-Erzähler aus »Flucht in der Nacht« bricht mit einem Dutzend Kameraden aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager aus und schlägt sich, zuletzt nur noch mit einem Gefährten, bis nach Frankreich durch. Doch auch nach seiner Rückkehr ins besetzte Paris, an den Hauptschauplatz von »Einstellung des Verfahrens«, kommt der Bove’sche Antiheld nicht zur Ruhe. Seine persönliche Tragödie wird zur Groteske: Hin und her gerissen zwischen heroischen Anwandlungen und Paranoia, dem Wunsch nach Einsamkeit und der Unfähigkeit dazu, lähmender Entschlusslosigkeit und panischer Aktivität, Hilflosigkeit und maßlosen Ansprüchen, ist er mit seinem Drang nach Freiheit und Sicherheit – obwohl ihm die Flucht nach Spanien gelingt – letztlich zum Scheitern verurteilt.

Emmanuel Bove, für seine gleichsam chirurgische stilistische Präzision von der Kritik hoch gerühmt, schildert diesen menschlichen Niedergang ungeschönt subjektiv als ein Scheitern nicht nur an der Welt, sondern vor allem an sich selbst.

»Boves Figuren sind Sonderlinge. Sie träumen davon, unentdeckt zu bleiben und doch verstanden zu werden.« (Ralf Konersmann in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Mai 1996)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Einstellung des Verfahrens

Roman

Aus dem Französischenvon Thomas Laux

Edition diá

Inhalt

Erster Teil:Verwandte und Freunde

Zweiter Teil Das Gefängnis

Dritter Teil:Richtung Freiheit

Impressum

Erster Teil:Verwandte und Freunde

1

Seit meiner Ankunft in Paris war bereits eine Woche vergangen.

Ich lief den Boulevard de Courcelles entlang in Richtung Place des Ternes. Die Straße war menschenleer. So wie an diesem Nachmittag war mir noch nie bewusst geworden, in welchem Ausmaß seit der Besatzung Familie, Freundschaft, der Umstand, wieder in seiner Geburtsstadt zu sein, an Bedeutung verloren hatten. Früher hätte es in einer heiklen Situation tausend Möglichkeiten für mich gegeben, mich aus der Affäre zu ziehen, mir neue Freunde zu schaffen, irgendwo unterzukommen, Halt und Unterstützung zu finden. In der gegenwärtigen Not aber zählte nichts mehr, weder Empfehlungen noch irgendwelche Garantien, ja nicht einmal Verwandtschaft. Alle waren auf der Hut, das war mir mittlerweile klar geworden. Ich empfand eine schreckliche Leere. Ich hatte viele meiner Freunde gesehen. Aber es reichte schon, dass ich noch einmal zu ihnen ging, und sie zeigten sich abweisender.

Wohin sollte ich gehen? In den Revolutionsgeschichten kann man nachlesen, dass Entflohene Stroh auflasen, sich daraus in den Musikpavillons Lager machten oder in den Wäldern von Meudon schliefen, aber heutzutage war das nicht mehr möglich.

Ich sah mir die Deutschen an, die mir begegneten. Einige waren in Begleitung von Frauen, von denen ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie sich ihnen hingaben, so hart waren ihre Gesichter. Da niemand auf die Deutschen achtete, taten sie so, als wären sie allein auf der Welt.

Mitunter lächelten mir Offiziere wohlwollend zu, aber nicht in ihrer Eigenschaft als Deutsche, sondern als gesellschaftlich Höherstehende. Ich war so feige, dieses Lächeln zu erwidern, um nicht unangenehm aufzufallen, was mich manchmal in eine groteske Lage meinen Landsleuten gegenüber brachte. Ich sah den Moment kommen, wo sie mir ihre Verachtung zeigen würden; dabei hatte ich zwei dieser Deutschen umgebracht, hatte unter Einsatz meines Lebens vierzehn Mithäftlingen zur Flucht verholfen, und ein Preis war auf meinen Kopf ausgesetzt.

Von allem, was mir widerfuhr, war das Verrückteste vielleicht, von Franzosen, die, wären sie an meiner Stelle gewesen, noch ganz brav in ihrem Gefangenenlager sitzen und für die Nazis arbeiten würden, für prodeutsch gehalten zu werden. Manchmal passierte mir das.

Es war acht Uhr abends. Ich musste unter allen Umständen ein Zimmer finden. Gerne hätte ich mit der Suche noch gewartet, doch die Hotels begannen schon zu schließen. Um mir Mut zu machen, sagte ich mir, es sei nicht möglich, dass die kleinen Polizeibeamten, die die Hotels kontrollierten, stets eine komplette Fahndungsliste mithatten. Sie würden einfach die Namen notieren und später im Büro mit ihren Karteien vergleichen. Vor Mitternacht würden sie nicht dorthin zurückgekehrt sein. Angenommen, sie machten sich unverzüglich an die Arbeit, so würde es nochmals dauern, bis sie wiederkämen. Andererseits hatte ich immer sagen hören, dass es von jeher üblich sei, zwischen Sonnenuntergang und -aufgang keine Polizeiaktionen durchzuführen. Natürlich musste es Fälle geben, in denen man sich nicht daran hielt. Wenn ich in der Morgendämmerung aufbrach, dann, so schien mir, setzte ich nicht allzu viel aufs Spiel.

Ich ging in Richtung Levallois. Über eine Stunde trieb ich mich in den menschenleeren Straßen herum. Ich war auf der Suche nach einem Hotel, das nur ein Stockwerk hatte, höchstens zwei, damit ich gegebenenfalls aus dem Fenster springen konnte. Außerdem war mir wichtig, dass es abseitslag, weit entfernt von jeder wichtigen Straße, damit der Inspektor es auf seiner Runde vergaß. Schließlich sah ich eins, aber im letzten Augenblick ging ich doch nicht hinein. Denn als ich durch die Fensterscheiben blickte, bemerkte ich, dass die Hotelgäste sich kannten und eine familiäre Atmosphäre herrschte, die ich unweigerlich gestört hätte.

Es ist wirklich quälend, in einer solchen Situation zu sein. Jedes Mal, wenn ich mich anschickte, etwas zu tun, gab es einen Grund, der mich zwang, es bleibenzulassen.

Plötzlich bemerkte ich an der Seite einen jener Nebeneingänge, die die ganze Nacht über offen sind. Ich stieg in die erste Etage hoch. Ein Mann war gerade damit beschäftigt, sich in einer Art Büro ein Bett herzurichten. Im nächsten Augenblick würden das Hotel, der Eingang, die Treppe in Dunkelheit versinken, was sicherlich nicht der Fall gewesen wäre, wenn man noch Polizei erwartet hätte.

Kein Tisch in dem Büro. Dennoch reichte mir der Mann einen Zettel zum Ausfüllen, aber er fand kein Tintenfass. Ich bot ihm an, diese Formalität am nächsten Morgen zu erledigen.

»Oh, nein!«, erwiderte er, wobei es mir kalt den Rücken hinunterlief. »Man weiß nie, wann sie kommen!«

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich unter falschem Namen eintragen sollte, immerhin hatte der Portier absolut keine Möglichkeit, das, was ich hinschrieb, zu überprüfen. Dann dachte ich daran, meinen Namen so zu schreiben, dass man ihn nicht entziffern konnte, doch las ich unten auf dem Blatt in dicken Lettern die schroffe Ermahnung: »Schreiben Sie leserlich.«

Der Portier verlangte Bezahlung im Voraus. Es mag lächerlich klingen, aber dieser Mangel an Vertrauen erleichterte mich. Für das Hotel war ich also ein zweifelhafter Gast. Demnach betrachtete man mich hier als einen freien Mann, auf den man keinen Einfluss hatte, einen Mann, der weggehen konnte, wann immer ihm danach war.

Ich ging in mein Zimmer hinauf. Eine bis zum Boden hängende Tagesdecke mit Fransen verbarg die Sprungfedermatratze, die in der Mitte durchgelegen war.

Ich sah mir das Zimmer nicht einmal an. Ich versperrte die Tür. Das Schloss war schief eingesetzt. Ich untersuchte das Schließblech. Es gab auch einen Schnapper, aber ein kleiner Stoß mit der Schulter hätte genügt, und er hätte nachgegeben.

Trotz der Kälte öffnete ich das Fenster. Ich befand mich in der ersten Etage; das war sehr gut. Dummerweise lag dieses Fenster gerade über dem Eingang, so dass ich, hätte ich springen müssen, den unten wartenden Polizisten genau in die Arme gefallen wäre. Ich dachte daran, zur Rezeption zurückzukehren. Ich brauchte einen Vorwand. Ohne Gepäck konnte ich nicht den Wählerischen spielen, denn so benötigte ich ja nur ein Bett zum Schlafen.

Obwohl ich mich immer häufiger dabei ertappte, dass ich stolz auf den Mut war, den ich nach und vor allem während meiner Flucht bewiesen hatte – immerhin hatte ich ja, um das Gelingen der Flucht zu garantieren, um meine Kameraden zu retten, zwei Deutsche umgebracht –, bemerkte ich doch, dass meine Befürchtungen gegen alle Erwartung mit der Zeit nicht weniger wurden. Im Gegenteil: Es wurden immer mehr.

Bei meiner Ankunft in Paris hatte ich naiverweise geglaubt, mich an völlig abseitsgelegenen Orten verstecken zu können: auf eingezäunten Geländen, Lagerplätzen, Baustellen, wo gerade nicht gearbeitet wurde, und so weiter. Doch da wäre ich neuen Gefahren ausgesetzt gewesen. Indem ich mich dort aufhielt, hätte ich ja zugegeben, dass ich mich versteckte; ich hätte mich schuldig gemacht, und die Leute, mit denen ich es dann zu tun bekommen hätte, wären nicht mehr wie andere verpflichtet gewesen, sich an irgendwelche Regeln zu halten. Wenn ich mich an diese abgelegenen Orte begab, musste ich darauf achten, nicht gesehen zu werden, aber das hieß, das Risiko auf mich zu nehmen, Leute neugierig zu machen, die mich ansonsten überhaupt nicht beachtet hätten. Als wir eines Nachts ein Dorf durchquert hatten, Roger, Baumé und ich, hatten wir keine Sekunde gezögert, uns in den Graben zu werfen, als wir Schritte vernahmen. In jenem Moment waren wir absolut entschlossen, uns zu verteidigen.

Seit ich mich in Paris befand, war diese schöne Energie dahin. Es ging für mich nicht mehr darum, über Mauern zu klettern, mich dahinzuschleichen, mich in irgendwelche Ecken zu werfen, sondern darum, wie alle anderen zu sein und unbemerkt zu bleiben.

Ich hatte auch daran gedacht, zu meinem Vater nach Versailles zu gehen. Aber mir fiel immer noch nicht wieder ein, ob in den Papieren, die ich dummerweise im Lager gelassen hatte, seine Adresse sowie die meiner Mutter aufschien oder nicht. Einige meiner Kameraden waren vielleicht festgenommen worden. Womöglich hatten sie mich verpfiffen, wie vermutlich jene, die im letzten Moment abgesprungen waren. In meinem Soldbuch stand: 243, Rue Saint-Jacques, aber hatte ich in den zahllosen Fragebögen, die die Deutschen mich ausfüllen ließen, nicht eine neuere Adresse angegeben? Von Anfang an hatte ich die Absicht gehabt zu fliehen und alles, was ich tat, diesem Ziel untergeordnet, doch hatte ich nicht vielleicht in irgendeinem Moment versagt? Es ist schwierig, sich sicher zu sein, keinen Fehler begangen zu haben, wenn man die Tage nicht mehr in allen Einzelheiten im Kopf hat.

Das Vernünftigste war, noch nicht nach Versailles zu gehen, vor allem aber durfte ich von den Menschen, die mir auf den Fersen waren, nicht allzu viel Eifer erwarten. So wünschenswert meine Gefangennahme für sie auch war, ich musste mir sagen, dass meinen Feinden nicht so viel an einem Erfolg lag, wie etwa mir bei der Suche nach einem geliebten Menschen daran gelegen gewesen wäre. Daher bemühte ich mich, die Gefahren, die ich einging, nicht zu übertreiben und alles mit den Augen eines Mannes zu betrachten, der sich nichts vorzuwerfen hatte. Aber das war nicht leicht.

Zuletzt fasste ich den Entschluss, Monsieur Georget aufzusuchen, einen Professor und guten Freund meines Vaters, bei dem ich einige Jahre zuvor gelebt hatte, als ich im ersten Jahr Jura studierte. Mit seinen Augenhöhlen, die wie zwei große Löcher in seinem Gesicht wirkten, und mit seinem traurigen Ausdruck erinnerte er an eine Eule. Er hatte einen langen weißen, nicht gerade dichten Bart. Bei Licht musste er mit den Augen blinzeln. Er hatte so viele Jahre in den Büchern vergraben gelebt, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut, der nicht Professor oder Student war, ihm ebenso viel Angst machte wie eine hübsche Frau. Er war bescheiden, rechtschaffen und gut, aber ich muss sagen, dass ich in meiner Situation diesen Qualitäten keine allzu große Bedeutung beimaß.

Ich malte mir alle möglichen Zwischenfälle aus. Ein so gewissenhafter und naiver Mensch könnte in eine dumme Sache geraten, ohne es überhaupt zu ahnen. Er konnte sich in Gefahr gebracht haben, indem er andere Leute gedeckt hatte, die es nicht einmal verdienten oder die sich in derselben Lage wie ich befanden, denn so außergewöhnlich mir diese auch vorkam, sie war bestimmt nicht einzigartig. Zum Glück wurde mir dann gleich klar, dass übertriebene Vorsicht und Besonnenheit ebenso gefährlich waren wie Sorglosigkeit.

Monsieur Georget bewohnte ein vollkommen unscheinbares Haus in der Rue de Sèvres. Es machte im Vergleich zu den Nachbarhäusern etwas mehr her, denn die Hausnummer stand nicht auf einem Täfelchen aus blauer Emaille, sondern war in ein Schild genau über der Tür eingraviert. Die schmalen Fenster und der geringe Abstand zwischen ihnen wiesen darauf hin, dass die Zimmer klein waren.

Beim ersten Mal ging ich sehr langsam an dem Haus vorbei, wie ein Spaziergänger; beim zweiten Mal mit zügigem Schritt, wie ein Mann, der erwartet wird, aber noch nicht zu spät dran ist; beim dritten Mal sehr schnell mit einer genervten Miene, so als hätte ich etwas vergessen; beim vierten Mal mit sicherem Schritt und erleichterter Miene. Jedes Mal hatte ich einen flüchtigen Blick in den Hausflur geworfen. Nie war jemand da gewesen. Dennoch entschloss ich mich noch nicht, mich hineinzuwagen.

Hätte der Freund meines Vaters ahnen können, was hier vorging, wäre er sehr erstaunt gewesen. Ich, ein gefährlicher Ausbrecher, hatte Angst, wegen ihm, einem friedfertigen und achtbaren Mann, festgenommen zu werden. Ich, dessen Anwesenheit die schlimmsten Konsequenzen für ihn haben konnte, fürchtete, seinetwegen verhaftet zu werden.

Schließlich entschloss ich mich, durch die Tür zu gehen. Da ich wusste, dass mich unerwartete Geräusche erschreckten, war ich stets auf der Hut. Genau in einem Moment der Unaufmerksamkeit fiel im Hof ein Fahrrad um. Ich glaubte, jetzt hätten sie mich. Jäh wandte ich mich um, als wäre die Eingangstür hinter mir zugefallen. Mir schien, als würden gleich von überall her Männer auftauchen, als säße ich in der Falle. Ich ging wieder hinaus und blieb einige Augenblicke auf der Straße, um wieder zu Atem zu kommen.

Schließlich klopfte ich an die Hausmeisterloge. Der Mann hob den Kopf, fragte mich etwas durch die Scheibe hindurch. Nun galt es, eine weitere schwierige Situation zu meistern, den Moment nämlich, wo ich den Namen Georget aussprechen und dieser Name womöglich eine vergessene Geschichte aufrühren würde.

»Ist Monsieur …«, ich tat, als suchte ich den Namen, als sei meine Beziehung zum Professor so unbedeutend gewesen, dass er mir entfallen war. »Ein Name, der mit G beginnt, ein alter Herr mit weißem Bart.«

»Sie meinen Monsieur Georget?«

»Ja, genau!«, rief ich freudig, ohne den Hausmeister jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Wohnt er immer noch hier?«

»Dritter Stock links, Monsieur«, sagte der Mann.

Ich stieg eine dunkle Treppe hinauf. In der ersten Etage angekommen, ging ich wieder einige Stufen hinunter, um einen Blick über den Vorhang zu werfen, der vor das kleine Logenfenster gespannt war. Am Ende des Flurs bemerkte ich die Eingangstür. Sie stand noch immer offen. Ich beugte mich vor und konnte Menschen vorübergehen sehen, die nicht einmal einen Blick hineinwarfen. Der Hausmeister las Zeitung. Er trug einen Kneifer. Ich klopfte gegen die Scheibe. »Ist es auch wirklich im Dritten?« – »Aber ja doch«, erwiderte der Hausmeister erstaunt.

Als ich erneut die Treppe hinaufging, sagte ich mir, es werde noch ein schlimmes Ende mit mir nehmen, wenn ich so weitermachte. Ich sah wieder den verblüfften Gesichtsausdruck des Hausmeisters und stellte mir den Argwohn vor, der wohl in ihm erwacht war. Was Monsieur Georget anging, war ich zwar beruhigt, in Bezug auf den Hausmeister allerdings nicht mehr. Ich malte mir aus, wie er sich einen Haufen Fragen stellte, wie er mich für seltsam befand und irgendjemanden informierte. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre noch einmal hinuntergegangen, nicht um mit ihm zu reden, sondern um ihn mir heimlich anzusehen und mich zu vergewissern, dass er beim Lesen war und nicht an mich dachte. Die Furcht, er könnte mich dabei überraschen, hielt mich davon ab. Man stelle sich die Szene vor: Der Hausmeister hebt den Kopf und sieht mich unbeweglich dastehen und ihn anstarren.

Monsieur Georget empfing mich überaus herzlich. Er ließ mir unverzüglich eine Kleinigkeit zu essen bringen, oh, nichts Besonderes, eine Scheibe Schwarzbrot und Marmelade mit Traubenzucker. Ich fürchtete, er werde sich fragen, wieso ich nicht zu meinem Vater gegangen sei oder zu engeren Freunden, denn eigentlich konnte ihm der Grund, weshalb ich zu ihm kam, nicht recht klar sein. Aber ihm schien das ganz natürlich, so wie man ein Kompliment natürlich findet. In seinem Gesicht war ein Ausdruck von Geschmeicheltsein und Selbstgefälligkeit zu lesen. Unverzüglich zeigte er mir das Zimmer, das er mir zur Verfügung stellen wollte. Dort wäre ich natürlich in Sicherheit. Setzte man voraus, dass ich keinen Schritt mehr vor die Tür tat, schien es unmöglich, dass man mich je hier fand.

Am ersten Tag verspürte ich ein ungeheures Gefühl von Sicherheit. Ich war gerettet. Am zweiten Tag hielt dieses Gefühl, wenn auch gemindert, noch an. Am dritten Tag verflog es. Mir wurde bewusst, dass meine Situation in Wirklichkeit nicht besser war als zuvor. Monsieur Georget wunderte sich bereits, dass meine Wahl gerade auf ihn gefallen war. Wenn man jemanden um einen Gefallen bittet, dann muss der Betreffende auch als Einziger in Frage kommen.

Ich versuchte mehrere Male herauszubekommen, was Monsieur Georget wohl dachte. Aber nichts ist schwieriger, wenn man es mit netten Leuten zu tun hat. War er entschlossen, mich bei sich zu behalten? Wenn man ihn reden hörte, dann schien seine Großherzigkeit ohne Grenzen. Andererseits äußerte er sich nie klar. Er gab mir mehr durch seine große Güte als durch konkrete Handlungen zu verstehen, dass ich ihn nicht störte.

Ich konnte mich nicht in Sicherheit wiegen. Er bewegte sich auf einem Feld, aus dem er sich schnell wieder hätte zurückziehen können. Als er mir sagte: »Sie können auf mich zählen, mein Junge, Sie sind hier zu Hause, meine Frau und ich werden Sie nie im Stich lassen«, war ich nur halb zufriedengestellt. Lieber wäre mir gewesen, er hätte mir gesagt: »Hier ist der Schlüssel, verlassen Sie vor allem nicht das Haus. Ich gebe Ihnen einen Anzug von mir. Ich werde versuchen herauszubekommen, wie man sich Papiere besorgen kann.«

Ich spürte, dass Monsieur Georget mich allmählich übertrieben vorsichtig für einen jungen Mann fand, der vorgab, ganz einfach aus einem Gefangenenlager ausgebrochen zu sein. Die ersten Tage war ich noch durch die erduldeten Strapazen entschuldigt gewesen. Ich gab vor, es sei mir unangenehm, in solch einer Aufmachung aus dem Haus zu gehen; es gefalle mir sehr gut in meinem Zimmer, und so weiter. Doch meine Erklärungen ließen eine wichtige Frage offen: Man konnte ihnen nicht entnehmen, wie ich mir die Zukunft vorstellte.

Als ich zwölf Tage lang keinen Schritt vor die Tür getan hatte, erzählte man mir von einem Cousin, der, selbst Flüchtling, seine Arbeit beim Crédit Industriel et Commercial wieder aufgenommen habe. Ich begriff die Andeutung. Nach dem Mittagessen unternahm ich zum ersten Mal einen kleinen Spaziergang.

Ich hatte es mit friedlichen Leuten zu tun, bei denen ich absolut fehl am Platz war. Sie waren sehr stolz darauf, mir Gastfreundschaft zu gewähren. Sie stellten sich vor, dadurch eine patriotische Tat zu vollbringen. Das war mir peinlich. Mitunter redeten sie mit einem komplizenhaften Unterton mit mir.

Bis ich anderswo einen genauso sicheren Unterschlupf fand, war ich wohl gezwungen, ihnen scheinbar beizupflichten. Doch fehlte es mir an Eifer. Sie gingen mir mehr und mehr auf die Nerven, da sie die Tragik meiner Situation nicht erkennen wollten und zu glauben schienen, ich werde schon in wenigen Tagen wieder ein normales Leben führen können.

Ich hatte mir vorgestellt, dass ich, zurück in Paris, in einer Atmosphäre des Kampfes und der Begeisterung leben würde, aber nun, im Laufe der endlosen Tage, die ich bei Monsieur Georget verbrachte, hatte ich immer stärker den Eindruck, dass ich bloß meine Zeit vertrödelte. Aber tat ich das wirklich? Ich konnte meine Zeit ja gar nicht vertrödeln, weil das Einzige, was ich bis zum Ende des Krieges tun konnte, war, mich zu verstecken. Nun gut, ich war in einem Versteck. Was wollte ich mehr? Ich begriff, dass die größte Gefahr für mich nicht von der Polizei noch vom Egoismus der Leute ausging, sondern von der Warterei, die mir schwer zu schaffen machen würde.

Ich hätte anderswo eine Bleibe finden können, doch ich war schon in die Trägheit verfallen, die einen überkommt, wenn die Dinge erst einmal provisorisch geregelt sind. Ich sagte mir, dass es überall etwas geben würde, was nicht richtiglief, dass es besser sei, mich mit dem zufriedenzugeben, was ich hatte, und nicht ewig unzufrieden zu sein – was mir häufig vorgeworfen wurde. Mein Heil hing nicht davon ab, was ich anderswo finden würde, sondern davon, wie es mir gelang, das Beste aus dem zu machen, was ich gerade hatte. Gleichzeitig aber dachte ich, dass ich im Gegenteil versuchen musste, meine Lage zu verbessern, dass ich meine Zeit nicht irgendwo vertun durfte, wo, so viel war klar, ich nicht bleiben konnte. Ich war also ziemlich durcheinander. Nun, da mein Leben auf dem Spiel stand, wurde mir bewusst, dass meine Fehler, die ich bislang nicht bedacht hatte, gewaltig waren. Zu guter Letzt beschloss ich abzuwarten, bis ich zum Handeln gezwungen wurde. Was sollte ich sonst tun?

Ich war in Sicherheit, ich riskierte nicht viel. Ich bemühte mich, freundlich zu sein. Ich fand sogar, dass ich es bisher nicht genug gewesen war. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Ich hatte zu sehr das Gefühl gehabt, dass das, was man für mich tat, selbstverständlich sei. Ich hatte mir zu viel auf die Qualitäten eingebildet, die ich unter Beweis gestellt hatte, um auch nur in Betracht zu ziehen, dass man mir keine besondere Wertschätzung entgegenbringen könnte.

Obwohl sonst so unterschiedlich, waren Monsieur Georget und ich gleich groß. Er hatte endlich beschlossen, mir einen seiner alten Anzüge zu geben, einen Anzug aus spiegelndem Kammgarn, völlig abgetragen, aber tadellos gebügelt.

Die Fenster der Haupträume gingen auf einen sauberen Hof hinaus, der Boden war aus Zement mit aufgemaltem Plattenmuster. Mein Zimmer ging, wie die Küche mit ihrem außen angebrachten Vorratsschrank, auf einen zweiten, kleineren Hof hinaus. Das lackierte Holzbett war sehr hoch und schlecht gebaut. Ein Bärenfell, das viel besser aussah, als es sich anfasste, diente als Teppich. Man hatte mir einen Klapptisch hingestellt. Um dem Zimmer ein wohnliches Aussehen zu geben, hatte Madame Georget ein Tintenfässchen, einen Füller und eine Schreibunterlage auf den Tisch getan. Es war das zweite Mal seit meiner Flucht, dass mir so viel Aufmerksamkeit bezeugt wurde. Anfangs hatte ich nicht gewagt, das Fenster zu öffnen, wegen der Leute gegenüber und weil die Hausangestellten sonst zu mir hinaufgegrinst hätten. Nun aber öffnete ich es, freilich ohne mich zu zeigen, was nicht ganz einfach war, denn das Zimmer war klein und mit Schränken und Kommoden vollgestellt. Ich hörte Leute, die sich allmorgendlich grüßten und sich auf eine Art nach dem gegenseitigen Befinden erkundigten, die mir auf die Nerven ging, denn es war eindeutig, dass es ihnen gut ging.

Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde mir, dass ich nicht bei so biederen Leuten wie diesem Professorenehepaar leben sollte, sondern bei Leuten meines Alters, die mutig waren, denen ich meine wahre Situation offenbaren konnte und die mich, statt Angst vor der Gefahr zu haben, verteidigen und sogar stolz darauf sein würden, etwas für mich zu riskieren.

Schließlich wurde mir bewusst, dass ich das Opfer eines Missverständnisses war. Monsieur Georget hatte eingewilligt, mich zu beherbergen, nicht, mich zu verstecken. Ich hatte die zwei Dinge miteinander verwechselt. Er fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Und mir war nichts unangenehmer, als diesen anständigen Mann in dauerndem Kampf mit seinen eigenen schlechten Regungen zu sehen, mit seiner Angst, sich zu kompromittieren, mit dem Gefühl, nicht genug zu tun, mit seinem heimlichen Wunsch, ich möge verschwinden.

Etwas anderes ging mir noch stärker gegen den Strich. Ich hatte geglaubt, der Professor leide unter all den Schwierigkeiten, denen man in dieser schweren Zeit begegnete, wenn man nur das Geringste tun oder sich den kleinsten Wunsch erfüllten wollte. Aber weit gefehlt. Er schien sich niemals besser gefühlt zu haben. Er bemühte sich gerade darum, mit seiner Lebensmittelkarte in eine bessere Kategorie eingestuft zu werden. Er konnte über nichts anderes sprechen. Es langweilte ihn überhaupt nicht. Er machte rückhaltlos sein Alter und seine Gebrechen geltend. Er wollte nichts von dem verlieren, worauf er Anspruch hatte, und als er in der Zeitung las, dass ihm soundso viel Gramm Butter zustanden, ließ er sofort seine Bücher liegen, um zum Milchladen hinunterzugehen.

Ich beschloss, von hier zu verschwinden. Ich hatte kein Geld. Ich wusste nicht, wohin, aber ich hatte ein starkes Bedürfnis, nur noch auf mich selbst gestellt zu sein. Wenn ich hierblieb, würde ich am Ende in einem Netz von guten Absichten gefangen sein. Ich wollte den Freund meines Vaters weder verletzen noch einen schlechten Eindruck auf ihn machen. Ich hatte aus Schwäche zugelassen, dass er sich meiner zu sehr annahm.

Während ich mir das Gehirn zermarterte, um einen Vorwand zu finden, kam ich mir plötzlich wie ein Spinner vor. Was? In dem Moment, da mein Leben auf dem Spiel stand, hielt ich mich mit kleinlichen Überlegungen auf?! Ich ballte die Fäuste. Ich musste wieder ein Mann werden, ich musste mir unaufhörlich sagen, dass ich wieder ganz allein war, Aug in Aug mit meinen Verfolgern.

2

Sowie ich draußen war, bemerkte ich, dass ein eisiger Regen fiel; ich hatte keinen Mantel. »Kammgarn braucht vielleicht länger als andere Stoffe, bis es nass ist, aber wenn es mal nass ist, dann braucht es auch länger zum Trocknen«, dachte ich. Alle hatten einen Mantel, nur ich nicht. Das war, was ich am meisten fürchtete – durch ungewöhnliche Kleidung aufzufallen. Um ein Haar wäre ich wieder zu Georget hinaufgegangen. Ich tat es nicht. Das Fortgehen war mir zu schwer gefallen, um es nun wieder in Frage zu stellen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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