Einwürfe - Eduard Geyer - E-Book

Einwürfe E-Book

Eduard Geyer

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Beschreibung

Vor 25 Jahren, am 12. September 1990, fand in Belgien das letzte Länderspiel der DDR-Nationalmannschaft statt. Sie gewann mit 2 : 0, nicht zuletzt dank ihres Trainers Eduard Geyer. Für ihn ist das heute ein Anlass zurückzublicken: auf Fußball und Leistungssport, auf menschliche und gesellschaftliche Entwicklungen im Osten Deutschlands. Und "Ede" Geyer nimmt kein Blatt vor den Mund. Im Gespräch mit dem Sportjournalisten Gunnar Meinhardt klopft er nicht nur Sprüche, sondern äußert sich nachdenklich und kritisch, auch wenn er über die eigene Karriere spricht, die ihn vom Stürmer bei Dynamo Dresden (ab 1968) bis zum Trainer von Energie Cottbus (ab 1994) führte. Eduard Geyer war stets ein Mann der klaren Worte: "Es hat nicht viel funktioniert in der DDR, aber der Leistungssport hat funktioniert."

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Impressum

ISBN eBook 978-3-355-50023-4

ISBN Print 978-3-355-01837-1

© 2015 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von Michael Helbig

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

EDUARD GEYER

EINWÜRFE

Über Fußball, die Welt und das Leben in Gesprächen mit Gunnar Meinhardt

Genau ein Vierteljahrhundert ist es her, das letzte Spiel der DDR-Nationalmannschaft. Eduard Geyer war ihr ­Trainer, er fieberte damals am Spielfeldrand mit. Und als einer der wenigen Journalisten, die den historischen Augenblick erahnt hatten und in Brüssel dabei sein wollten, saß ­Gunnar Meinhardt unter den Zuschauern im Stadion. Dieser 12. September 1990 teilte DDR- und Fußballgeschichte, seither gibt es ein Davor und ein Danach. Heute ist er ein guter Anlass, Geschichte und Geschichten aus siebzig Jahren Revue passieren zu lassen und einem der großen Fußballer und Trainer zuzuhören: Ede Geyer.

Der Verlag

1. Kapitel

Letztes Länderspiel | 22 Absagen | Drei Strophen Nationalhymne | 70 000 D-Mark Prämie | Sammer zum Glück gezwungen | Kicker auf dem Sklavenmarkt | Nationalspieler ohne Ballberührung

Herr Geyer, haben Sie jemals mit Lothar de Maizière gesprochen?

Ja, wir trafen uns zweimal beim Semper Opernball und haben uns auch sehr nett unterhalten.

Auch über den 12. September 1990?

Nein.

Als letzter Außenminister der DDR hat de Maizière an jenem Tag in Moskau mit seiner Unterschrift unter dem sogenannten »Zwei-plus-Vier-Vertrag« die DDR abgeschafft. Das auch von seinem Amtskollegen der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, und den vier Siegermächten ratifizierte Abkommen gab Deutschland die volle Souveränität zurück und entließ das drei Wochen später vereinte Land aus der Verantwortung der Alliierten.

Und ich bestritt mit der Nationalmannschaft an diesem Tag in Brüssel gegen Belgien das letzte Länderspiel. So ist das Leben. In Moskau begann eine neue Epoche, wir verabschiedeten uns als DDR-Auswahl für immer von der Fußballbühne. Von dem, was an dem Tag in Moskau ablief, bekamen wir in Brüssel aber nichts mit.

12. September 1990, 20 Uhr, Constant Vanden Stock Stadion in Brüssel – das 293. und letzte Länderspiel einer DDR-Fußball-Nationalmannschaft wird angepfiffen, nachdem gleich alle drei Strophen der DDR-Nationalhymne gespielt worden sind. Sie sitzen als Cheftrainer auf der Bank.

Das war ein denkwürdiges Ereignis, ohne Frage. Die beste Erinnerung ist natürlich, dass wir mit unserer Rumpfmannschaft die Belgier besiegt haben. Da muss ich in erster Linie den Spielern ein Riesenkompliment machen. Dass die, die mitgereist waren, sich so eingesetzt haben. Sie haben die Botschaft verstanden, die wir aussenden wollten.

Die DDR-Nationalmannschaft vor dem Anpfiff im Brüsseler Constant Vanden Stock Stadion zu ihrem 293. und letzten Länderspiel – Kapitän Matthias Sammer, Jens Schmidt, Andreas Wagenhaus, Uwe Rösler, Heiko Peschke, Detlef Schößler, Dariusz Wosz, Heiko Bonan, Jörg Schwanke, Jörg Stübner, Heiko Scholz (v. l.). © picture alliance / dpa/dpaweb

Und zwar?

Ich war damals sehr sauer auf viele Nationalspieler, die ich nach meinem Amtsantritt zurückgeholt hatte. Berufen wurde ich dazu am 16. Juli 1989. Zum damaligen Zeitpunkt waren viele Spieler abgeschrieben, denen ich danach noch einmal eine Chance gegeben habe. Doch fast alle von denen sagten für das letzte Länderspiel ab. Ich habe wie ein Blöder rumtelefoniert, dass wir überhaupt sechzehn Spieler zusammenbekommen. Doch einer nach dem anderen gab mir einen Korb. Jeder hatte irgendwelche Ausreden oder Ausflüchte.

Sie bekamen 22 Absagen, mit teilweise dubiosen Entschuldigungen. Rainer Ernst, Henri Fuchs, Dirk Heyne und Volker Röhrich gaben Motivationsprobleme an. Uwe Machold hätte keinen Pass gehabt, Dirk Schuster, heute Trainer von Bundesliga-Aufsteiger Darmstadt 98, sah sich schon als BRD-Bürger.

Ich denke, den Spielern kann man gar nicht so viel vorwerfen, weil sie nicht diesen großen Durchblick hatten. Doch die Funktionäre der Westvereine, bei denen sie inzwischen spielten oder unterkommen wollten, verhielten sich erbärmlich. Sie sagten mir eiskalt ins Gesicht, dass sie die Spieler nicht hergeben würden. Dabei ging es darum, dass wir uns von der Bühne des Weltfußballs ordentlich verabschieden. Das habe ich den Spielern klar gesagt, die ich eingeladen habe. Viele spielten jahrelang zusammen in der Oberliga, mitunter auch jahrelang in der Nationalmannschaft, und wir wollten einfach standesgemäß auf dem Rasen Abschied nehmen und danach zusammen Bier trinken. Das schwebte mir vor, denn mir war klar, dass wir danach in alle Himmelsrichtungen auseinanderlaufen und so nie wieder zusammenspielen würden. Dass wir 2 : 0 gewannen, war natürlich eine kleine Sensation. Die Belgier waren bei der Weltmeisterschaft 1990 unglücklich im Achtelfinale gegen England nach Verlängerung und Elfmeterschießen ausgeschieden. Dass wir diese starke Truppe mit unserem Himmelfahrtskommando besiegten, gab mir Genugtuung. Einen schöneren Abschied hätte es nicht geben können.

Hatten Sie überhaupt noch Bock auf dieses Spiel? Das DDR-Fernsehen übertrug nicht mal live. Pro Tag bekamen Sie 20 D-Mark Spesengeld. Jeder Spieler kassierte für seine Nominierung 1500 D-Mark, als Siegprämie mussten Sie sich 70 000 D-Mark teilen.

Wir haben uns genauso darauf vorbereitet wie zu jedem anderen Spiel auch. Wir übten Standards, trainierten Schnellkraft, machten alles so gewissenhaft wie immer – als wäre es das wichtigste Spiel unseres Lebens. Als das Spiel losging, wollten wir natürlich nur gewinnen. Da dachte auch keiner daran, dass es das letzte Länderspiel ist. Ich wollte unbedingt siegen, und dann – ja, und dann weitersehen.

Noch einmal Siegen für die DDR oder aber für einen lukrativen Vertrag bei einem Verein im Westen?

Als Sportler willst du immer gewinnen, egal, für wen oder für was. Da tritt der politische Aspekt in den Hintergrund. Deshalb haben wir uns auch trotz widriger Umstände gezielt vorbereitet.

In der Sportschule in Kienbaum, vierzig Kilometer östlich von Berlin gelegen, trafen Sie sich mit dem Häuflein der vierzehn Aufrechten am 9. September.

Es war Sonntag.

Und es kamen Jens Schmidt, Jens Adler, Heiko Peschke, Detlef Schößler, Jörg Schwanke, Andreas Wagenhaus – Heiko Bonan, Matthias Sammer, Jörg Stübner, Stefan Böger, ­Dariusz Wosz, Uwe Rösler, Heiko Scholz und Torsten Kracht.

Wir blieben dort zwei Tage und flogen von Schönefeld aus nach Brüssel. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, wie es danach weitergehen wird, auch weil ich in dem guten Glauben war, dass ich schon irgendwo als Trainer weiterarbeiten werde. Ich wurde mit Dynamo Dresden 1989 DDR-Meister, stand mit der Mannschaft im Halbfinale des UEFA-Cups, was bis heute der größte Vereinserfolg ist, war Nationaltrainer – für mich, war ich mir sicher, wird es immer etwas Interessantes geben.

Was sich als Trugschluss herausstellen sollte. Dazu aber später noch. Welche Bedeutung besitzt für Sie der 12. September 1990?

Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass dieser Tag auch eine gewisse historische Bedeutung hatte. Im Vorfeld und an dem Tag selbst ging es nur darum, dass wir gewinnen. Andere Gedanken hatten keinen Platz in meinem Kopf. Ich weiß noch sehr genau, wie nach dem Spiel plötzlich diverse Spielerberater um uns herumturnten. Es war beschämend, wie sich einige von denen aufführten.

Konkret?

Rücksichtslos sind die an die Spieler rangegangen. Ich dachte, ich wäre auf einem Sklavenmarkt. Ich fand es erschreckend, wie da gefeilscht und gehandelt wurde. Das war für uns völlig neu. Unter den Spielerberatern oder -vertretern – wie auch immer man die nennen will – waren viele Spitzbuben, die den Spielern auch schon vor dem Spiel den Kopf verdreht hatten.

So dass Sie die Spieler mit Ihren Ansprachen gar nicht mehr erreicht haben, weil Sie entweder schon auf Berater wie Norbert Pflippen oder Wolfgang Karnath oder aber auf Trainer wie Christoph Daum, Willi Entenmann, Hannes Löhr oder Arie Haan gehört haben, die alle im Stadion waren?

Doch, doch, ich habe die schon erreicht, sonst hätten wir ja nicht so ein Spiel abgeliefert. Die Jungs, die in Brüssel gespielt haben, opferten sich wirklich auf. Jeden, der mitfuhr, setzte ich ein. Wir waren ja nur vierzehn Spieler. Sie machten sich selber ein großes Geschenk, gingen in die DDR-Fußballhistorie ein. Sie alle bewiesen Charakter im Gegensatz zu vielen anderen, die meine Botschaft nicht verstanden hatten.

Welche Spieler enttäuschten am meisten?

Alle, die eingeladen waren, aber nicht erschienen sind.

Wie Kapitän Rainer Ernst, der beim 1. FC Kaiserslautern unter Vertrag stand?

Der besonders. Unter meinem Vorgänger (Manfred Zapf, d. Autor) spielte er überhaupt keine Rolle mehr. Ich habe ihn zurückgeholt, habe ihn über die Nationalmannschaft praktisch für die Bundesliga fit gemacht. Ulf Kirsten, Andreas Thom, Thomas Doll – alle ließen sich durch fadenscheinige Begründungen entschuldigen. Alle, die die WM-Qualifikation wenige Monate zuvor versaut hatten, fehlten. Das war beschämend. Es war für die Spieler auch nicht einfach, das muss ich zugeben. Die Spieler, die schon bei Westvereinen unter Vertrag standen, wie Thom und Kirsten in Leverkusen oder Ernst in Kaiserslautern, besaßen zu dieser Zeit nicht mehr die Bindung zur Nationalmannschaft. Die lebten schon in einer anderen Welt. Deswegen kann ich ihnen auch keinen hundertprozentigen Vorwurf machen. Ihnen fehlte der Weitblick. Sie waren sehr jung und unbedarft, doch deren Funktionäre spielten eine schäbige Rolle. In Leverkusen hätte man doch zu den Spielern sagen können: »Menschenskinder, klar, zu dem letzten Spiel, fahr doch hin.« Was wäre denn da gewesen? Genauso wie in der Politik, wo die DDR einfach übernommen worden ist, lief es auch im Fußball. Ohne groß etwas zu tun, kam es zur Einverleibung. Das war bedrückend.

Matthias Sammer ließ Sie aber nicht hängen, obwohl er schon beim VfB Stuttgart spielte.

Ich hatte Matthias ungefähr drei Jahre im Juniorenbereich und dann noch etwa vier Jahre im Männerbereich trainiert. Mit seinem Vater Klaus hatte ich zusammen beim SC Einheit Dresden und bei Dynamo gespielt. Matthias war manchmal nicht ganz leicht, er war ein bisschen kompliziert, hatte zuweilen völlig andere Ansichten. Mit dem konntest du dich Tag und Nacht über Fußball unterhalten. Er war immer total fußballfixiert, total überehrgeizig. Schon als kleiner Junge. Er hat sich hingeschmissen, wenn’s nicht so lief, wie er es sich gedacht hatte. Die Eltern und seine Schwester haben ihn gefördert, gehegt und gepflegt, wo sie konnten.

Spielertypen, die sich auf dem Platz zerreißen, kann man sich doch als Trainer nur wünschen.

Im Training war es nicht so leicht mit Matthias. Da hat er die anderen nicht mitgerissen. Ich will nicht sagen, dass er faul war, aber ab und zu musstest du ihn antreiben. Aber bei allem, was mit Balltraining zu tun hatte, da entwickelte er besonderen Ehrgeiz.

Das würde man nicht denken.

Grundsätzlich machte er sich aber immer Gedanken über Fußball. Mit ihm konntest du stundenlang darüber reden und diskutieren. Er ist schon ein besonderer Spezi, sonst hätte er es auch nicht so weit gebracht. Das Spiel gegen Belgien bescherte ihm unheimlich viele Pluspunkte. Eigentlich wollte er auch abreisen. Ich hätte das sogar verstanden. Er kam nach Kienbaum, als plötzlich einer nach dem anderen absagte.

Sammer zeigte sich entsetzt, als er nach Kienbaum kam: primitive Unterkünfte, schlechtes Essen, unfreundliche Bedienung. Die Selters musste selbst bezahlt werden. Er ließ sich wieder nach Tegel zum Flughafen chauffieren, kehrte dann aber zurück, da keine Maschine mehr nach Stuttgart ging. Wäre Sammer aus persönlichen Gründen zurückgetreten, wäre alles geregelt gewesen. Da er aber zuvor nicht seinen Rücktritt erklärt hatte, hätten die Schwaben für einen fehlenden gesunden Sammer 20 000 Mark Geldbuße zahlen müssen. Also blieb er letztlich beim Team, was er später mit den Worten kommentierte: »Manchmal wird man eben zu seinem Glück gezwungen.«

So entsetzlich waren die Bedingungen in Kienbaum nun auch wieder nicht. Matthias Entscheidung war jedoch goldrichtig. Mit seinen zwei Toren machte er sich unsterblich. Es tat uns natürlich gut, dass er dabei war. Er war auch Kapitän. Seine Tore …

Matthias Sammer macht sich mit seinem zweiten Tor gegen Belgien im letzten DDR-Länderspiel unsterblich. © picture alliance / dpa/dpaweb

… in der 74. Minute und in der ersten Minute der Nachspielzeit …

… wenn du dir die ansiehst, sein Antritt, wie er das gemacht hat – es war einfach herrlich. Absolute Weltklasse.

Hatten Sie ihn vor dem Spiel noch einmal extra ins Gebet genommen?

Nein. Das war nicht nötig. Wenn Matthias auf dem Platz stand, hat er sich vor Ehrgeiz zerrissen. Er ließ sich von den Absagen der anderen nicht kirre machen. Ich habe natürlich auch versucht, das der Mannschaft zu erläutern und sie richtig zu pushen. Ich sagte: »Hier, seht ihr das? Eure Kumpels, alle haben euch in den Arsch getreten. Ihr seid eigentlich der letzte Rest, aber ihr könnt euch einen guten Namen machen. Ihr könnt euch bewähren, und wir werden das Ding schon schaukeln. Wir gewinnen gegen Belgien.«

Haben Sie die Nein-Sager nach ihrer Absage noch mal kontaktiert und versucht, sie zu überreden?

Warum? Wieso? Die waren für mich erst mal gestorben. Sollte ich etwa nach Leverkusen fahren? Nach Rostock? Nach Berlin? Nach Köln?

Man kann ja auch ein Telefon in die Hand nehmen.

Anrufen? Die hättest du gar nicht erreicht, womit denn? Mit der Fackel? Oder mit einem Leuchtfeuer? Handys wie heute gab’s damals noch nicht. Außerdem: Sollte ich die am Hintern lecken, damit sie das letzte Länderspiel machen? Nein. Wenn die es vorher nicht begriffen hatten, dann begreifen sie das in dem kurzen Telefonat auch nicht. Ich wusste doch, dass sie von ihren Vereinen zurückgehalten wurden. Deswegen bin ich so froh, dass wir gewonnen haben.

Das klingt sehr stolz.

Was heißt stolz? Ich bin nicht stolz darauf. Mir wär’s lieber gewesen, wir wären zur WM gefahren. Doch so, wie wir vereinnahmt wurden, wie die Berater und Manager und die Vereine aus dem Westen mitunter mit den Ostvereinen umgegangen sind, auch bei Spielerverpflichtungen, das war so schäbig.

Konkret?

Beispielsweise Calmund. Der hat sich die ganze Zeit gebrüstet, dass er der erste Räuber im Osten gewesen ist. Klar, als Manager musst du schnell sein, doch damals war es eine ganz andere Situation. Die sind vor nichts zurückgeschreckt. Diese Art des knallharten, rücksichtslosen, brutalen, egoistischen Business war uns völlig fremd. So gemein konnten wir gar nicht denken, wie sich manche verhalten haben.

Flossen Tränen nach dem Spiel?

Nein. Ich hätte heulen können, als wir die WM nicht geschafft haben, aber nicht nach dem Belgien-Spiel. Da war ich trocken. Ich hatte mich mit der Realität abgefunden.

Sie wirkten in der Kabine, so erinnere ich mich noch genau, aber sehr nachdenklich.

Waren Sie etwa bei dem Spiel dabei?

Natürlich. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Damals berichtete ich für die Junge Welt. Mit zwei Kollegen fuhr ich am Spieltag um acht Uhr mit dem Wartburg los. Drei Stunden vor Anpfiff kamen wir in Brüssel an und düsten zwei Stunden nach dem Spiel wieder zurück. So saßen wir am nächsten Morgen pünktlich wieder in der Redaktion.

Alle Achtung. Klingt sehr strapaziös. Es hat sich aber gelohnt, oder?

Natürlich. Übrigens, als ich im Stadion die Pressemappe für das Spiel bekam, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass ich auf der Delegationsliste Ihrer Mannschaft stand.

Fragen Sie mich nicht warum. Keine Ahnung.

Hätte ja sein können, dass Sie dafür eine Erklärung haben. Egal. Zurück zur Kabine.

Zum Lachen war mir trotz des Sieges natürlich nicht zumute. Ich glaube, ich habe mich noch bei der Mannschaft bedankt und gesagt: »Wisst ihr, ich habe das Spiel genossen.« Das war so ein Wortspiel, da musste ich selbst drüber schmunzeln. Und dann habe ich mit Eberhard Vogel (Assistenztrainer, d. Autor) noch eine Zigarre geraucht und ein, zwei, drei Bier getrunken.

Wie sind Sie mit den Spielern auseinandergegangen?

Wir sagten Tschüss und wünschten uns alles Gute, das war’s. Völlig unspektakulär.

Bedankten sich Spieler bei Ihnen für ihre Nominierung?

Damals nicht. Später dann, wenn ich Spieler wiedertraf, sagten sie mir, wie stolz sie waren, dass sie in der DDR-Nationalmannschaft hatten spielen dürfen. Jens Adler, den ich noch in der 90. Minute einwechselte …

… der Ersatztorhüter aus Halle hatte keine Ballberührung, ging aber als letzter DDR-Auswahlspieler in die Geschichte ein …

… richtig, ja. Wann immer ich ihn traf, bedankte er sich, dass er noch hatte spielen dürfen. Eberhard Vogel hatte zu mir gesagt: »Mensch, wir setzen alle ein«, was ich dann auch gut und richtig fand. Jeder Spieler, den ich in die Nationalmannschaft holte, sagt heute: »Das war eine schöne Zeit.« Das gilt auch für die Zeit bei Dynamo Dresden, wo sich Kirsten auf dem Hartplatz reingehauen hat. Viele Spieler sind mit dem Alter ein bisschen klüger geworden.

Eduard Geyer (l.) und sein Assistent Eberhard Vogel coachten die DDR-Nationalmannschaft in ihren letzten zwölf Spielen. © picture alliance / Zentralbild: Berliner Verlag/Archiv

Haben Sie mit den Spielern vom letzten Länderspiel noch Kontakt?

Eigentlich nicht. Es ist alles auseinandergegangen.

Und mit den anderen, die unter Ihrer Ägide zum Einsatz kamen?

Perry Bräutigam traf ich ein paar Mal. Heiko Peschke habe ich nicht mehr gesehen, Stefan Böger traf ich, auch Matthias Sammer, Andreas Thom, Thomas Doll, Ulf Kirsten Dariusz Wosz, Detlef Schößler und Torsten Kracht. Wenn wir uns sahen, hatten wir immer einen Heidenspaß. Andreas Thom rief mich zu meinem sechzigsten Geburtstag an, zu meinem siebzigsten hat er’s vergessen. Ich find’s schön, wenn man an einen denkt. Ich würde sagen, ich habe zu allen Spielern einen verhältnismäßig guten, aufgeschlossenen Kontakt.

Wie oft haben Sie sich das Spiel gegen Belgien angesehen?

In voller Länge noch nie. Ich habe durchgezappt, vielleicht eine Stunde, und die wichtigsten Szenen angeschaut. Vor einigen Monaten war ich in Brüssel im Stadion mit Stefan Böger, wo wir für einen Film noch einmal alles Revue passieren ließen. Da sah ich auch noch mal die Höhepunkte des Spiels. Das war wirklich interessant.

2. Kapitel

Duell der Legenden | Leben in Büchern | Toter BFC-Fan |­Scheißzeit als Trainer | ­Räuber Calmund | ­Verpfiffen in Österreich |WM-Aus schmerzt noch immer | Elf Geyers reichen nicht

Das Freundschaftsländerspiel gegen Belgien sollte ursprünglich die Auftaktpartie für die Qualifikation zur Europameisterschaft 1992 in Schweden sein. Neben Belgien und der DDR-Auswahl wurden auch Luxemburg, Wales und die BRD-Mannschaft in der Qualifikationsgruppe 5 ausgelost.

Das war vielleicht verrückt. Ich weiß noch, wie die Bild-Zeitung titelte: »Wir gegen uns!« und in der Unterzeile schrieb: »Was für ein Quatsch!« Die Auslosung war am 2. Februar 1990 in Stockholm. Ich saß zwischen Berti Vogts und Michel Platini. Hingereist bin ich dort ohne Begleitung, was Wahnsinn war. Der Westen dribbelte mit einer riesengroßen Delegation auf, mich schickte man mutterseelenallein los. Der DDR-Verband wollte sparen. Ich hatte auch kaum Geld mit. An die Währungsunion war noch nicht zu denken. Man gab mir den üblichen Sicherheitsbetrag von 500 D-Mark mit, der nur in der Not benutzt werden durfte, um eine zusätzliche Hotelnacht oder einen außerplanmäßigen Rückflug bezahlen zu können. Damit wurde jede DDR-Sportdelegation ausgestattet, wenn’s ins westliche Ausland ging. Was nicht ausgegeben wurde, musste hinterher abgerechnet werden. Es war schon ein bisschen erschreckend. Den ersten Abend ging ich in ein Selbstbedienungsrestaurant, weil ich nicht mehr so viel Tagegeld besaß. Am zweiten Abend hatten mich die türkische und die deutsche Delegation eingeladen, mit denen ich mich natürlich intensiv über die bevorstehenden Spiele unterhielt.

»20 Jahre Fußball-Einheit« – Berti Vogts und Eduard Geyer beim Jubiläumsspiel Weltmeister von 1990 gegen DDR-Legenden. © picture alliance / augenklick/firo Sportphoto

Zu denen es dann aber wegen der sich abzeichnenden Wiedervereinigung nicht mehr kam.

Das Verrückte war, dass ich sogar Mitte März noch in Frankfurt am Main war zur Terminierung des Spielplans.

Das war am 15. und 16. März.

Die Situation war abstrus. Da sitzt du in der DFB-Zentrale und kämpfst um die bestmöglichen Ansetzungen deiner Mannschaft, obwohl du gar nicht weißt, was morgen sein wird. Ich hatte so gehofft, dass wir das letzte Spiel bei uns gegen die Bundesrepublik machen. Wäre es schlecht gelaufen, hätten wir vielleicht noch eine kleine Chance gehabt, uns zu qualifizieren. Doch ich hatte überhaupt keine Stimme bei den Absprachen. Ich konnte zwar meine Meinung sagen, aber es stand alles schon fest. Am nächsten Tag jedenfalls war ich dann noch in Mainz bei Günther Jauch im ZDF »Sportstudio«. Ich weiß noch, wie der aussah. Hör bloß auf! Wie ein Oberschüler. Respekt, was der aus sich gemacht hat.

Die EM-Qualifikationsspiele gegen die BRD sollten am 21. November 1990 in Leipzig und am 21. Dezember 1991 in München stattfinden. Das zweite Duell hätte zugleich den Abschluss der EM-Qualifikation bedeutet.

Dazu kam es ja dann leider nicht mehr, weil sich inzwischen die Wiedervereinigung abzeichnete. Anfang April 1990 hatte ich noch meinen Trainerjob bei Dynamo Dresden aufgegeben, um mich voll und ganz auf die Qualifikation zu konzentrieren. Aber natürlich ergibt es keinen Sinn, gegeneinander anzutreten, wenn beide Mannschaften derselben Nation angehören. So wurde aus der ursprünglich vorgesehenen Fünfer- eine Vierergruppe und das Spiel gegen Belgien zum letzten Freundschaftsvergleich.

Statt des ausgefallenen EM-Qualifikationsspiels sollte es anlässlich der Vereinigung der beiden Verbände am 21. November im Zentralstadion ein großes Fußballfest geben, bei dem der Weltmeister gegen eine Ex-DDR-Elf ein sogenanntes Vereinigungsspiel bestreiten sollte. Doch die Partie wurde acht Tage vorher abgesagt. Wegen befürchteter Zuschauerausschreitungen. Eine Bedrohungslage war infolge des Todes des 18 Jahre alten BFC-Fans Mike Polley entstanden, der unter ungeklärten Umständen von einem Polizisten am 3. November in Leipzig erschossen worden war.

Aus Sicherheitsgründen – das kann mir keiner erzählen. Die hatten Schiss vor uns, das war der Grund. Als Weltmeister wollten sie nicht gegen uns verlieren. Ich hätte noch einmal eine richtig gute Mannschaft zusammengestellt. Um gegen den Weltmeister zu spielen, wären sicher auch alle gekommen. Was kann es Besseres geben, als sich gegen den Champion zu beweisen. Dieses Spiel hätte ich als Nationaltrainer gern noch gemacht.

Zwanzig Jahre später, am 20. November 2010, kam es dann doch noch in Leipzig zum Vergleich Ost gegen West. Das Spiel ging als »Duell der Legenden« in die Geschichte ein. Sie beriefen in Ihre Mannschaft Dirk Heyne, Perry Bräutigam, Jens Adler, Detlef Schößler, Dirk Stahmann, Burkhard Reich, Torsten Kracht, Hendrik Herzog, Andreas Wagenhaus, ­Ronald Kreer, Heiko Peschke, Frank Lieberam, Jörg Schwanke, ­Matthias Döschner, Heiko Bonan, Dariusz Wosz, Stefan Minkwitz, Heiko Scholz, Uwe Rösler, Olaf Marschall, Thomas Doll, Ulf Kirsten, Bernd Hobsch, Andreas Thom. Ihr Kollege Berti Vogts konnte auf Andreas Köpke, Dieter Burdenski, Thomas Helmer, Guido Buchwald, Matthias Herget, Andreas Brehme, Thomas Berthold, Christian Wörns, Michael Schulz, Günter Hermann, Stefan Reuter, Dieter Eilts, Hansi Müller, ­Lothar Matthäus, Uli Borowka, Jürgen Klinsmann, Frank Mill und Karl-Heinz Riedle zurückgreifen. Ihre Mannschaft gewann 2 : 1. Marschall und Kirsten trafen für Ihre Elf, nachdem Karl-Heinz Riedle die Führung erzielt hatte.

Da ging es ganz schön heiß her auf dem Rasen. Um jeden Ball wurde verbissen gekämpft. Matthäus, Klinsmann – sie legten sich alle mächtig ins Zeug. Man spürte, dass es um viel Prestige ging. Die Verlierer waren nicht amüsiert. Beim Bankett blieben sie lieber unter sich. Ich genoss den Sieg so richtig. Das habe ich mir auch ins Tagebuch geschrieben.

Sie führen Tagebuch?

Ja, schon seit dreißig Jahren. Aber nicht so, dass ich ganz akribisch alles aufschreibe. Doch das Wichtigste, was den Fußball betrifft und die Gespräche, die ich führe, halte ich fest. Beispielsweise habe ich viel aufgeschrieben, nachdem ich am 27. November 1990 zum ersten Mal beim SFB in Westberlin in der »Sportschau« bei einer Talkrunde dabei gewesen war. Sie lief von 21.50 Uhr, eine Stunde lang. Moderator war Jochen Sprentzel. Heinz Florian Oertel (ehemaliger DDR-Fernseh- und Radioreporter, d. Autor) und Jörg Berger (ehemaliger DDR-Auswahl- und Bundesligatrainer, der 1979 in die Bundesrepublik floh, d. Autor) waren auch dabei. Danach gingen wir noch zusammen essen. Es ist natürlich toll, dass ich in meinem Buch gerade in der Wendezeit viel festgehalten habe. Alles ging damals so schnell, vieles geriet dadurch noch rascher in Vergessenheit. Wissen Sie, dass sich die Spitzenfunktionäre des DDR-Fußballs im November 1989 zusammenfanden, um eine Transferregelung zu treffen?

Da war es doch schon zu spät. Leverkusens Manager Reiner Calmund traf sich schon sieben Tage nach der Mauer­öffnung in Berlin mit Andreas Thom, der damals noch beim DDR-Rekordmeister BFC Dynamo spielte, und überredete ihn zum Wechsel in die Bundesliga. Am 12. Dezember 1989 unterschrieb er für 3,8 Millionen D-Mark und vollzog damit den ersten offiziellen Transfer von Ost nach West.

Bis dahin waren auch schon einige Spieler abgehauen. Es musste schnellstens eine Regelung her. Außer Thom standen mit Kirsten, Sammer und einigen anderen weitere Hochkaräter zur Diskussion. Dass wir eines Tages ein Staat sein würden, daran dachte 1989 noch niemand. Wir wollten selbst Profifußball einführen. Keiner aber wusste, wie es gehen sollte. Wir hatten keinerlei Erfahrung darin.

Was haben Sie sich damals notiert?

»Erarbeitung von Verträgen, Trainerordnung, Gehalt muss absolut angehoben werden, Risiko muss höher bezahlt werden, Nachwuchstrainer müssen höheren Stellenwert erhalten, Bund deutscher Fußballlehrer der DDR ist zu bilden. Hans Meyer (ehemaliger Oberliga- und Bundesliga­trainer, d. Autor): ›Fußball müssen wir attraktiver machen.‹ Joachim Streich (ehemaliger DDR-Nationalspieler, d. Autor): ›Die Spieler wollen ins Ausland. Dann müssen wir die Termine für den Fußball neu regulieren.‹« Dann ging’s um eine Lizenzspielerordnung und die Eigenständigkeit – uns diktierte und drangsalierte ja der DTSB(Deutscher Turn- und Sportbund, d. Autor). »Die Eigenständigkeit sollte sofort erfolgen. Die Ökonomie, die Gehälter in den Vereinen müssen stimmen.« Diskutiert wurde um Gehälter in halb DDR- und halb Westmark. »Schlussbemerkung: Vertragssystem des DFB ist verbindlich. Transfers ohne Altersbegrenzung über Klubs und DFV und Spieler, Sonderregelung, nationale Transfers klären.« Es gab ja in der DDR im Grunde keine Transfers. Wenn es eine Ausnahme gab, war das ein Politikum. »Spieler und Trainer sind an Valuta-Einnahmen zu beteiligen. Ausländer können von Oberliga bis Kreisklasse spielen, bislang durften sie nicht mal in der Zweiten Liga kicken.« Dann ging’s weiter: »Mittelfristig klären, wie Geld verteilt wird, mehr internationale Spiele, Trainer ins Ausland schicken, ausländische Trainer holen, Trainerverträge mit rechtlicher Grundlage, Fußballlehrer-Ausbildung, Trainerrat, Trainingsmethodik, Hospitation WM 90, Fußballbibliothek anlegen, Datenbank usw., Beschlussfassung Präsidiumssitzung am 23. November 1989. Weitere Tagesordnungspunkte: Benachteiligung des Fußballs, Aufheben des Fußballspielverbots an Schulen.«

Das gab es in der DDR?

Ja, nicht an allen Schulen durfte im Sportunterricht Fußball gespielt werden. Unglaublich, aber wahr. Es war ein Katalog, der erarbeitet werden sollte, um unseren Fußball zu revolutionieren und international anzupassen. Eigentlich waren wir der Zeit voraus, wussten aber eben nicht, dass wir selber vereinnahmt werden und ausführen müssen, was der DFB uns vorgibt. Durch die Wiedervereinigung war der Kuchen gegessen. An das neue Spielsystem musste auch ich mich erst mal gewöhnen, dass eben Oberliga damals Vierte Liga, heute Fünfte Liga und nicht mehr Erste Liga bedeutete.

Wie fühlte es sich an, derart vereinnahmt worden zu sein?

Minderwertigkeitskomplexe bekam ich nicht. Ich habe versucht, mich mit der Situation zu arrangieren. Ich dachte, wenn die Spieler alle in den Westen gehen oder die Möglichkeit dazu haben, werde ich durch meine Trainer­erfolge der letzten Jahre auch auf irgendeinen Zug aufspringen und wieder Spieler trainieren können. Ich war auch nicht traurig, dass ich den Kirsten verloren habe oder Sammer oder andere.

Das glaube ich nicht.

Warum sollte ich denn? Die Entwicklung war doch nicht aufzuhalten.

Haben Sie versucht, Spieler zu überzeugen, im Osten zu bleiben?

Ich habe bestimmt Gespräche geführt, aber das war einfach sinnlos. Die Entwicklung damals war so schnelllebig, so schnell konntest du gar nicht denken. Sie hat uns alle überrollt. (liest in seinem Tagebuch und schmunzelt)

Warum lächeln Sie?

Weil ich gerade lese: »8. bis 13. Januar 1990: Winterlager mit Dynamo Dresden in Johanngeorgenstadt. Lieberam will nicht ins Trainingslager mitfahren. Gründe: Ist nicht zur Nationalmannschaft eingeladen worden, und zweitens, in der Stadt hätte er erfahren, dass ich mir einen neuen Libero suche.« Verrückte Zeit. Sie brannte uns auf den Nägeln, da die Spieler nicht mehr zu halten waren. Viele boten sich selber bei Westvereinen an. Dem Trainer erzählten sie dann, dass sie krank seien, und sind irgendwo zum Probetraining gefahren oder trafen sich zu Gesprächen. Und das nicht nur an ihren trainingsfreien Tagen. Es war unheimlich schwer für uns Trainer, mit denen zu arbeiten, vor allem dann noch Leistung rauszukitzeln.

Wen meinen Sie persönlich?

Ich kann ja nur für die Dynamo Dresden sprechen. Einige Spieler meldeten sich krank und erschienen nicht mehr zum Training. Andere hatten plötzlich einen Hang zu Faulheit, Arroganz und schlechter Trainingseinstellung oder täuschten Verletzungen vor.

Da dürfte Ihnen als Disziplinfanatiker die Hutschnur gerissen sein.

Für einen Trainer war es eine Scheißzeit. In der Wendephase gab es keine festen Regeln mehr. Da herrschte Anarchie. Jeder Spieler tat das, wovon er glaubte, dass es richtig für ihn sei. Das hatte sich zuvor keiner getraut. Viele Spieler waren von Hirngespinsten getrieben. Die hatten Verträge im Kopf, die sie niemals wert waren, aber glaubten, es zu sein. Viele machten dann später auch bittere Erfahrungen.

Wie gelang es Ihnen trotz der Irritationen, die Nationalmannschaft zu motivieren?

Ich habe den Spielern versucht einzutrichtern, dass sie ihren Marktwert nur steigern können, wenn sie international auftrumpfen. Vor unserem letzten WM-Qualifikationsspiel am 15. November 1989 in Österreich war mein Credo: »Eine größere Bühne als die WM könnt ihr nicht kriegen, um in der ganzen Welt bekannt zu werden.«

Erreicht haben Sie die Spieler angesichts des 0 : 3 gegen Österreich aber nicht.

Doch, ich denke, das habe ich weitestgehend getan. Man darf das vielleicht jetzt nicht nur auf dieses Spiel beziehen.

Deutlicher hätten Sie die WM-Qualifikation für Italien aber kaum verpassen können.

Bitte bedenken Sie, als ich die Mannschaft im Juli 1989 übernommen habe, waren wir in der WM-Qualifikation mit 3 : 7 Punkten eigentlich tot. Doch durch das 3 : 0 in Island und das 2 : 1 in Karl-Marx-Stadt gegen die Sowjetunion hatten wir plötzlich 7 : 7 Punkte und besaßen auch noch das bessere Torverhältnis als Österreich. Schon ein Unentschieden hätte uns in Österreich zur Qualifikation gereicht. Und dann kam eben dieser – leider für mich eine Woche zu frühe – große Knall, und es wurde gesagt, die Grenze geht auf, die Mauer fällt. In den Köpfen der Spieler herrschte mehr oder weniger Chaos. Sie haben dieses politische Weltwunder in der kurzen Zeit überhaupt nicht verarbeiten können, obwohl wir das Spiel ganz gewissenhaft vorbereitet haben. Es fand nur sechs Tage nach dem Mauer­fall statt. Einige Spieler hatten zwei Tage Magenverstimmung, angeblich durch die Luftverschmutzung in Leipzig, wo wir trainierten. Laut meinen Notizen schrieb das am 9. November die Leipziger Volkszeitung. Smog, den kannten wir doch nur aus dem Westen. (lacht) Trotzdem war ich überzeugt, dass wir das Unentschieden machen. Ich wollte zur WM, unbedingt. Doch die vielen beschissenen Berater und Funktionäre, die da aus dem Westen Kontakt mit den Spielern aufgenommen hatten, haben uns unheimlich geschadet. Dabei hatten wir eine sehr gute, junge Mannschaft. Doch auch der Schiedsrichter hat uns betrogen. Ich hatte das Gefühl, dass man uns bei der WM nicht haben wollte. Es pfiff ein völlig unbekannter Pole, dessen Namen ich nie wieder gehört habe.

Es war Piotr Werner, damals vierzig Jahre alt. Er hatte zuvor noch kein Länderspiel gepfiffen und danach auch nur noch zwei Freundschaftsländerspiele.

Es war eine Frechheit, ihn einzusetzen. Ich habe mir immer gesagt: »Hilf dir selbst!« Das ist auch richtig. Doch in dem Fall kannst du nichts machen. Beim Stand von 0 : 1 hätte er nach einem Foul an Kirsten einen Foulelfmeter für uns geben müssen. Stattdessen belohnte er fünf Minuten später eine klare Schwalbe von Christian Keglevits im Duell mit Dirk Stahmann mit einem Strafstoß. Es gab sehr viele streitbare Entscheidungen. Letztlich steht es 3 : 0, da braucht man nicht weiter drüber zu reden. Doch wie das Ergebnis zustande kam, darüber lässt sich durchaus ein schönes Pamphlet verfassen. Für mich, meinen Co-Trainer Eberhard Vogel und die Funktionäre, die richtig mit Herz und Seele dabei waren, war das ein Genickschuss. Wir wollten so gern als DDR mal wieder zur WM fahren.

Hätten elf Eduard Geyers, also elf Typen Ihres Schlages, die von Leidenschaft und Verbissenheit geprägt sind, das notwendige Remis geschafft?

Das kann ich nicht sagen. Elf Geyers vielleicht nicht, es macht immer die Mischung. Du brauchst Spieler, die bis zum Umfallen kämpfen. Meine Spieler wollten schon. Das Praterstadion war ausverkauft, Tausende DDR-Fans waren in Sonderzügen und in Trabbis nach Wien gereist. Es ging echt um was. Der Hype war riesig, erst recht nach dem Mauerfall. Aber wenn du im Kopf nicht klar bist, du so viele Dinge in so kurzer Zeit verarbeiten musst, die es noch vorher noch nie gegeben hat, du nicht weißt, wie es in deinem Leben weitergeht, ist es sicher schwierig, sich hundertprozentig auf die Aufgabe zu konzentrieren. Es war eine historische Umbruchphase, die keiner einschätzen, die keiner voraussehen konnte.

Aber bitte, die Nationalspieler besaßen doch einen Status, waren gestandene Kicker. Wie sich später zeigte, wurden sie mit Kusshand in der Bundesliga aufgenommen.

Sicher. Doch noch nicht zu dem Zeitpunkt. Die wollten Geld verdienen. Das richtig große Geld, das 1 : 7 und mehr getauscht wurde.

Und das hat ihnen den Kopf verdreht?

Ja, einhergehend mit dem politischen Umbruch. Sie können mir nicht erzählen, dass jeder sofort gedacht hat: Jetzt werde ich fünf Jahre Profi und kann dann das ganze Jahr auf der faulen Haut liegen. Das waren ja alles keine Einsteine. Für mich war klar, dass ein Sammer, ein Kirsten, ein Thom, ein Doll oder auch ein Wosz, dass die im Westen spielen können. Die waren richtig gute Fußballer. Wir wären doch jetzt noch froh, wenn wir einen Matthias Sammer in der Nationalmannschaft hätten. Die Diskrepanz zwischen Spitzenfußballern in Ost und West war doch nicht bedeutend. Klar, Beckenbauer und Netzer waren schon ganz Große. Aber ein ganz Großer war auch Sammer, ein ganz Großer war Kirsten, ein Großer war auch Thom. Er hätte vielleicht sogar noch ein bisschen mehr aus sich machen können.

Was haben Sie Ihrer Mannschaft vor dem Spiel gegen Österreich in der Kabine gesagt? Appellierten Sie an die Ehre, an den Stolz der Spieler?

So genau weiß ich das nicht mehr. Klar habe ich ihnen gesagt, dass jetzt erst recht die ganze Welt auf uns schaut. Dass es keine bessere Bühne zur Darstellung geben kann. Dass es ein WM-Spiel ist, in dem es um alles geht. Das hatte ich mir auch bei der Spielvorbereitung aufgeschrieben. Viel mehr gab es da nicht zu sagen.

Dokumentierten Sie jede Spielvorbereitung?

Na klar, ob Oberliga oder Nationalmannschaft. Ich musste doch der Mannschaft ein taktisches Gerüst für das Spiel mitgeben.

Hatten Sie das nicht im Kopf?

Schon. Aber ich mach mir auch Gedanken und darf ja nichts vergessen. Wenn ich etwas bei der Besprechung vergesse und uns genau das einen Punkt oder ein Gegentor kostet, wäre das für mich absolut verwerflich gewesen. Ich wollte der Mannschaft ein Rüstzeug mitgeben, damit sie in jeder Spielsituation bestimmte Dinge eigenständig umsetzen kann. Als Trainer stehst du am Rand, kannst auf dem Spielfeld nicht direkt Einfluss nehmen. Es gibt leider keine Auszeit wie im Basketball.

Führten Sie Einzelgespräche?

Meistens sprach ich erst mit der ganzen Mannschaft, einen Tag vorm Spiel dann intensiv in kleineren Gruppen, also mit der Abwehr, dem Mittelfeld und dem Sturm, und dann natürlich auch mit Einzelnen. Unmittelbar vor einem Spiel besprachen wir in der Kabine noch mal die wesentlichsten Schwerpunkte. Da ging’s aber eher darum, die Jungs richtig heiß zu machen.

Was hätten Sie für die WM-Qualifikation finanziell bekommen?

Keine Ahnung. Ist mir auch nie gesagt worden. Sie können mir den Kopf abschlagen, aber in dem Moment interessierte mich das Geld auch nicht. Der ideelle Wert wäre mir mit der WM-Qualifikation tausendmal lieber gewesen als diese paar Gasgroschen, die wir bekommen hätten. Es war auf keinen Fall so viel, dass ich auf den Rücken gefallen wäre. (lacht)

Was bekam denn ein Nationalspieler für die Nominierung oder als Auflaufprämie, wenn er von Anbeginn spielen durfte?

Nichts. Das ist doch sowieso Humbug – Auflaufprämie. Die sollen darum kämpfen, dass sie spielen können, das soll denen doch Spaß machen. Die erwähnte Auflaufprämie wurde erst viel später erfunden. Sie ist wahrscheinlich eingeführt worden, um den Konkurrenzkampf innerhalb der Mannschaft zu schüren.

War das in Ihrem Sinne?

Ich denke, die Spieler verdienen schon ein ordentliches Gehalt, und wenn sie nicht verlieren, bekommen sie eine Prämie. Das ist doch schon super. Wenn einer spielt, ist das eine Auszeichnung. Die heutigen Verträge sind so verschachtelt und widersprüchlich und manchmal unverständlich, dass kaum einer den Ausführungen folgen kann. Was da alles drin steht, das ist doch ein absoluter Witz.

Wie sind Sie als Nationaltrainer entlohnt worden?

Ich bekam monatlich 1000 DDR-Mark.

Und wenn Sie mit der Mannschaft gewannen?

Das war unterschiedlich. Für das 2 : 1 in der WM-Qualifikation gegen die Sowjetunion gab’s 5000 DDR-Mark.

Noch einmal zurück zur Niederlage im WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich: Wie lange brauchten Sie, um diese Schmach zu verarbeiten?

Mir ging’s hundsmiserabel. Das Blöde war noch, dass meine Frau und die von unserem Mannschaftsarzt Dr. Wolf­gang Klein extra zu uns nach Wien gefahren wurden. Ich aber wollte niemanden sehen und nur noch weg.

Wohin?

Nach Hause. Am liebsten hätte ich mich mit einer Flasche Whisky in die Sauna gesetzt und mit niemandem geredet. Mir war alles zu viel. Es dauerte lange, um das irgendwie zu verdrängen. Wirklich – nach den 3 : 7 Punkten und dann dieser Chance, mit dem Unentschieden zur WM zu fahren, und das nicht geschafft zu haben, das war eine Niederlage, die wahnsinnig wehtat.

War es die schlimmste Ihrer Karriere?

Ich will das nicht katalogisieren. Es hat mir gereicht. Diese Niederlage berührt mich heute noch. Jede Niederlage ist eine zu viel, aber eben manchmal für die eigene Entwicklung ein wichtiges Signal.

Haben Sie sich in der Nacht richtig die Kante gegeben?

Ich weiß es gar nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich das Ganze mit der Zeit verdrängt. Ich weiß aber noch, dass ich völlig apathisch war und nicht ansprechbar. Innerlich habe ich den Schiedsrichter verflucht. Die ganze Vorbereitung war ein Schuss in den Ofen, dachte ich. Und dann noch diese Maueröffnung – es ist ja so viel auf uns eingestürmt.

Gaben Sie sich die Hauptschuld am Versagen der Mannschaft?

Nein. Klar, ich als Trainer bin verantwortlich für die Mannschaft, für Sieg und für Niederlage. Aber ich habe mich nie so schuldig gefühlt, dass ich nun derjenige gewesen war, der die ganze WM verspielt hatte. Wenn wir danach gehen, haben die Funktionäre das vorher vergeigt mit den zwei Trainerentlassungen während der Qualifikation, diesem ganzen Hickhack. Erst musste Bernd Stange, dann auch sein Nachfolger Manfred Zapf gehen, ehe ich übernahm. Deshalb habe ich mich auch nicht zerfleischt. Zumal ich glaubte, dass die Vorbereitung okay war. Zwei Tage vor dem Spiel sind wir nach Lindabrunn gereist. Die Stimmung im Team war sehr positiv. Die Spieler wirkten gelöst. Ich hatte sogar das Gefühl, dass die Stimmung zu gut ist. Vielleicht war sie es auch. Aber das ist alles Spekulation.

Vielleicht fehlte dadurch die innere Spannung.

Quatsch, bei so einem Spiel fehlt keine Spannung. Die meisten Spieler waren noch sehr jung. Möglicherweise waren einige zu unreif. Es versagten dann aber nicht die Jungen, sondern die Gestandenen.

Wer von denen?

Der Lindner gegen Polster. Ich habe die drei Tore von Polster noch mal nach vielen Jahren angesehen. Mitentscheidend war natürlich auch der verschossene Elfmeter von Steinmann in der ersten Halbzeit.

Wie oft sahen Sie sich das Spiel danach an?

Nie. Nur die Tore habe ich mal angeguckt. Mehr will ich auch nicht sehen. Es ist vergeudete Lebenszeit. Das ist Geschichte. Übrigens war ich trotzdem bei der WM