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Axel Simon

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Beschreibung

So kennen wir das Berlin Ende des 19. Jahrhunderts bisher nicht. Der große Auftakt der historischen Kriminalserie um Ermittler Gabriel Landow, Ermittler wider Willen im turbulenten Berlin des Deutschen Kaiserreichs, verbindet Spannung, Zeitkolorit, Atmosphäre. Berlin, Frühjahr 1888: Warum sollte man ausgerechnet einem kleinen Schnüffler wie ihm einen lukrativen Regierungsauftrag anbieten? Seine Detektei in Kreuzberg läuft eher mies. Der Erfolg fällt Gabriel Landow nicht in den Schoß. Aber dann fällt ihm sein letzter Klient direkt vor die Füße. Aus großer Höhe. In rabenschwarzer Nacht. Mitten aufs Sperrgebiet Tempelhofer Feld. Nur ein kleiner Beamter, der mit einem geheimen Militärprojekt zu tun hatte. Aber schon der dritte Tote mit einem Buch der Brüder Grimm in der Hand. Und wer hat offenbar auch an Landows Tod ein brennendes Interesse? Wo doch ganz Europa gebannt auf den Tod des moribunden Kaisers wartet. Auf den einige längst spekulieren.

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Seitenzahl: 529

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Axel Simon

Eisenblut

Kriminalroman

Über dieses Buch

Denn nur Eisen kann uns retten, und erlösen kann nur Blut.

 

Berlin 1888: Kleine Seitensprung-Schnüffeleien sind der Alltag seiner schlecht laufenden Detektei im miesen Berlin-Kreuzberg: Gabriel Landow, schwarzes Schaf seiner ostpreußischen Getreidejunker-Familie, fällt der Erfolg nicht gerade in den Schoß. Aber dann fällt ihm ein Observierter direkt vor die Füße: aus nachtschwarzem Himmel mitten aufs Sperrgebiet am Tempelhofer Feld. Nur ein kleiner Ministerialbeamter, der allerdings mit einem geheimen Marineprojekt zu tun hatte. Und immerhin der dritte Tote dieser Art in letzter Zeit mit einem Buch der Gebrüder Grimm in der Hand. Aber weshalb die Regierung ausgerechnet Landow mit der Aufklärung betraut, ist auch ihm ein Rätsel. Genauso wie der Brandanschlag auf ihn kurz darauf. Doch wer sollte am Tod eines kleinen Ermittlers interessiert sein? Ganz Berlin, ach was, ganz Europa, verfolgt gerade gebannt das Sterben des todkranken Kaisers. Einige spekulieren aus ganz eigenen Motiven darauf.

 

Willkommen im turbulenten Berlin des Deutschen Kaiserreichs: Der Auftakt der historischen Kriminalserie um Ermittler Gabriel Landow.

Vita

Axel Simon, Jahrgang 1962, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er hat an verschiedenen Theatern zeitgenössische Opern inszeniert und arbeitete danach lange als Creative Director in großen Werbeagenturen in Hamburg und München. Simon lebt heute in Hamburg, wo er u.a. am zweiten Fall für Gabriel Landow arbeitet.

«Homo homini lupus est.»

(Der Mensch ist des Menschen Wolf.)

Titus Maccius Plautus

Als Kind glaubte Landow, dass Kegelrobben unter Wasser kegeln würden. Möglicherweise hegte er deshalb von klein auf den Wunsch unterzugehen.

Erster AbschnittDer vorletzte Mohikaner

«Das Geheimnis der Spekulation: Kaufe, wenn das Blut in den Straßen fließt.»

Nathan Mayer Freiherr von Rothschild

1

Mittwoch, 2. Mai 88. Noch 44 Tage bis zum Tod des Kaisers.

Der schmale Mann ist sichtlich ungehalten. Der Wind auf dem offenen Hof pfeift ihm eisig zwischen den Hosenbeinen herum. Mit der freien Hand versucht er, seinen Mantel vor der Brust zuzuhalten. Er hasst dieses Reisen. Obwohl er auf der Fahrt hierher meist geschlafen hat, fühlt er sich wie zerschlagen. Dazu noch diese vorübergehende Einhändigkeit. Er flucht.

Der schmale Mann sieht vom schläfrigen Hellgrau des Himmels auf das stumpfe Graubraun des gepflügten Ackers herab. Weiter hinten, kurz vor einem schwarzen Wäldchen, entdeckt er Schafe. Oder Ziegen. Eine Ansammlung von Tieren jedenfalls. Er hasst das Landleben. Der winzige, beigebraune Fellklumpen gerät jetzt in Bewegung, ganz so, als hätten die Tiere seinen abschätzigen Blick bemerkt. Er lächelt. Der Fellklumpen teilt sich nun jäh in zwei Hälften. Wie dieses Rote Meer, denkt er, reißt sich zum x-ten Mal den Mantel zu und setzt seinen Weg über den Hof fort. Das panische Davonstieben der Schafe hinten am Wäldchen bekommt er gar nicht mit.

Der Abort ist neu, hat der Wirt gesagt. Und tatsächlich: Der landesübliche Geruch mischt sich hier mit dem Duft erst kürzlich gehobelter Fichtenbretter. Beide Kabinen sind frei. Slevogt, so heißt der dünne Reisende, seine Frau nennt ihn Vovo, verriegelt die Tür hinter sich und rafft mit seiner freien rechten Hand seine Kleider so zurecht, dass er seinen Hintern freibekommt und ihn auf die kühle Holzbrüstung niederlassen kann. Während Slevogt lustlos presst, liegt seine Linke, an eine flache Ledermappe gefesselt, auf seinen spitzen Knien. Der Wind pfeift unter der frischgehobelten Tür hindurch. Der neue Wagen wird in dreißig Minuten startklar sein. Er hört schon die Hufe und das Schnauben der Tiere auf dem Hof. Wenn das Wetter hält, überqueren sie in zwei Stunden schon die Grenze. Er würde versuchen, den nächsten Pferdewechsel zu verschlafen, übermorgen kann er in der Hauptstadt sein. Sein Pressen hat Erfolg. Er wird sich nach hier getaner Arbeit draußen noch ein wenig die steifgewordenen Beine vertreten, dann einen Teller der im Fahrpreis enthaltenen Suppe zu sich nehmen, auf eigene Rechnung noch einen halben Liter Wein genehmigen und dann –

«Besetzt!», bellt Slevogt. Und: «Nebenan ist noch frei.»

Trotzdem wird weiter an der Tür direkt vor ihm gerappelt.

«Bese–»

Etwas Dünnes, Metallisches schlüpft durch den Türspalt unter den Riegel und hebt diesen mühelos hoch.

«Was sol–»

Abrupt wird die Tür vor ihm aufgerissen. Vor die jähe Helligkeit der Öffnung schiebt sich eine Gestalt und verharrt dort regungslos. Slevogt kann im Gegenlicht nicht viel mehr erkennen. Aber: Das ist kein Irrtum, merkt er. Das ist ein Überfall. Er lässt die Zeitung, mit der er sich den Hintern abgewischt hat, knurrend hinter sich in die Grube fallen. Der Wind säuselt ihm die Schenkel hoch. Slevogt fröstelt. Erst jetzt bemerkt er die kurze, bleifarbene Waffe in der Hand direkt vor sich. Murmelnd zerrt Slevogt die kleinen Geldscheine hervor, die er für solche Fälle in einer Innentasche verwahrt. Er reist nicht zum ersten Mal. Er wird nicht zum ersten Mal überfallen. Aber zum ersten Mal auf dem Klo. Er hasst dieses Reisen.

Slevogts stille Wut verfliegt, als die Gestalt in der Tür angesichts der hingehaltenen Scheine den vermummten Kopf schüttelt. Seine Wut verflüchtigt sich genau wie der beißende Geruch in der kleinen Kammer. Sie weicht einer ungewissen Furcht. Er hat zwar schon öfter Pistolenläufe direkt vor sich gesehen, schließlich war er im Krieg. Aber dass jemand sein Geld nicht will, ist ihm noch nie untergekommen. Das macht ihm Sorgen. Der kurze Lauf zeigt jetzt ruhig auf Slevogts Linke, die noch immer, wie festgewachsen, die dünne Ledermappe auf seine Knie presst. Es friert ihn schneidend an den Eiern.

Slevogt schiebt die linke Hand weiter aus dem Ärmel seines hellen Reisemantels heraus. Die Ledermappe mit den doppelten Metallverschlüssen und dem wachsversiegelten Band ist an seinem Handgelenk festgekettet. Wie zur Bestätigung klirrt das Metall der Kette leise. Slevogt setzt ein schiefes Lächeln auf, so, als bedauere er diesen Umstand ganz außerordentlich.

Sein Gegenüber in der Tür hat sich noch kein einziges Mal danach umgeschaut, ob nicht etwa die Leute von der Pferdestation, der Wirt oder ein Reisender, den Überfall bemerkt haben könnten, wird Slevogt klar. Es ist diese verdammte Ruhe, die ihm Angst macht.

Der Räuber hält jetzt die freie Hand auf wie ein Bettler. Feines Handschuhleder, akkurat genäht, schmale Finger. Sehr schmale Finger für einen Mann. Slevogt versteht. Der will den Schlüssel.

«Ich habe keinen Schlüssel», sagt er und kann nicht anders, als hinzuzufügen: «Wäre ja auch witzlos, wenn ich den Schlüssel dazu hätte.»

Er rechnet damit, dass der Straßenräuber ihn dafür schlägt. Der jedoch steckt ruhig die Pistole in den Gürtel und holt jetzt wie ein Varieté-Zauberer etwas anderes unter dem Reitumhang hervor. Es ist eine kleine Eisensäge.

«Das ist sinnlos», knurrt Slevogt. «Der Stahl ist gehärtet. Krupp. Deutsche Wertarbeit.»

Davon unbeeindruckt greift der Vermummte blitzschnell nach seinem Handgelenk. Slevogt versteht. Es ist nicht die Kette, die hier zersägt werden soll. Wie gelähmt betrachtet er die Stiefelspitze des Angreifers. Die hebt sich ganz langsam, als suche sie noch nach einem geeigneten Steigbügel, bevor sie sich jäh auf Slevogts Schoß senkt. Obwohl schmerzhaft auf den Sitz gepresst, wundert sich Slevogt über die geringe Größe des Reitstiefels auf seiner nackten Mitte.

«Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?», zischt er hilflos.

Der Räuber sieht ihn ruhig an und nickt. «Ja, Sie sind meine Nummer vier.»

«Ich werde schreien», kündigt Slevogt trotzig an.

«Das würde ich an Ihrer Stelle auch», kommt es unter dem Schal hervor, der Nase und Mund des Räubers verhüllt. Die Augen darüber kann Slevogt nur für einen Moment erkennen. Sie machen ihm Angst. Die Stimme klingt erstaunlich hell, denkt er noch. Er wird hier doch nicht allen Ernstes von einer Frau …!? Dann beginnt die Säge, sein Fleisch zu zerreißen, und der Schmerz trifft ihn wie ein Hammerschlag.

***

Zur selben Zeit etwa, hundert Preußische Meilen weiter östlich. Aus dem schiefgelegenen Bett heraus kommen derart unheimliche Geräusche, als werde hier gerade gestorben. Die Stille danach beunruhigt fast noch mehr. Doch jetzt kommt wieder Bewegung in das längst nicht mehr saubere, an zwei großen Stellen geflickte Deckbett von nur noch undefinierbarer Farbe. Schließlich wird es zur Seite geworfen, gibt neben einem Schwall muffigen Geruchs den Blick auf den nackten Körper eines nicht mehr ganz jungen Mannes frei. Dunkelhaarig, fleischig, groß in Höhe und Breite. Er schmatzt mehrmals und wuchtet dann seinen schweren Leib von der Matratze hoch. Wie ein nasser Hund schüttelt er den Kopf und öffnet das kleine Fenster seiner Schlaf- und Wohnkammer, lässt frische Luft herein. Frische vielleicht nicht, aber andere Luft. Britzer Wohnküchenduft, Friedrichshainer Außenklos und andere schon reichlich gebrauchte Reichshauptstadtluft, die sich bereitwillig mit der von drinnen verbrüdert. Draußen fliegen Amseln auf.

Der große, feste Mensch betrachtet sein vom Schlaf zerfaltetes Gesicht in einem kaum handtellergroßen Spiegel an der Wand. Er sieht mitgenommen aus, abgenutzt, älter als seine achtunddreißig Jahre. Wie dreiundvierzig etwa. Er heißt Gabriel Landow. Freunde nennen ihn abwechselnd Gabi oder Arschloch. Selbst im gleißenden Licht der offenen Dachluke erinnert sein Spiegelbild weder an einen Erzengel noch an die Unbefleckte Empfängnis. Unter den Alberts, Heinrichs und Wilhelms seiner Heimat als Gabriel zu überleben, war nicht immer einfach, wurde allerdings dadurch erleichtert, dass sein älterer Bruder Perikles heißt. Pe-ri-kles. Ein griechischer Staatsmann mit visionärer Kraft und beeindruckender Goldmaske. Was allerdings sämtliche Alberts, Heinriche und Wilhelms nicht daran hinderte, die beiden Landow-Brüder meist Penikles und Gabriele zu rufen.

Landow entfernt etwas Braunes, Krustiges, das über seinem Auge klebt. Bloß Straßendreck von gestern Nacht wahrscheinlich, denkt er und schnuppert gewissenhaft an seinen Fingern.

Er sieht an sich herab. Nein, fett wird er nicht. Er ist es schon. Fast zärtlich streicht er über die beiden rosaroten Narben an seiner linken Brust. Bajonett und Streifschuss. Jugendsünden. Während er in die einzigen Kleider schlüpft, die in dem winzigen Raum herumliegen, lauscht er auf die vertrauten Geräusche, die von unten aus der Pension zu ihm hochdringen. Er ist der einzige Dauergast des Hauses, Kriegskamerad und Lebensretter des Pensionswirts, zumindest behauptet der das nach dem vierten oder fünften Schnaps immer hartnäckig und mit Tränen in den Augen. War wohl so. Lange her. Nach zwei Händen Wasser im Gesicht, mit seinem mittig gescheitelten, halblangen Haar und in seinem verknickten, aber einheitlich dunklen Anzug sieht Landow immerhin aus wie ein kleiner Assessor, mindestens wie ein Grabredner. Er schließt die Luke wieder. Diesmal fliegen die Amseln nicht mehr auf. Er sieht übers Dach die schmale, lichtarme Straße hinab, räuspert sich und verlässt den Raum.

Nur der alte Mann auf dem Foto sieht ihm nach. Die Fotografie, mit schartigen Schnitten aus einer Zeitung herausgelöst und danach mit einem Reißnagel neben dem Rasierspiegel vor dem Vergessen bewahrt, zeigt einen mürrischen alten Mann mit faltigem Gesicht, der das Haar in etwa genauso, schulterlang und schwer, trägt wie Landow. Der Alte hockt auf einem Knie und hält dabei eine Winchester in Händen. Die Bildunterschrift lautet: «Der letzte Häuptling endlich in Gefangenschaft: Die Rothaut Geronimo hat endgültig kapituliert.»

Das Foto ist erst im letzten Jahr und damit ein Jahr nach der Kapitulation des Häuptlings aufgenommen worden, irgendwo in einem Fotoatelier in Dallas oder Fort Worth, vor einer Landschaft aus Pappmaché. Landow weiß das.

 

Drei verwinkelte Etagen tiefer, in der Küche der Pension, trifft Gabriel Landow auf Koester, der kleine Geldscheine mit der Innenseite der Hand zu glätten versucht.

«Gabi, alter Zigeuner, auch schon auf? Lass dir mal die Fransen schneiden.»

«Kaffee da?»

«For paying guests only.»

«And for old friends? Oder Kriegskameraden? Was heißt Kriegskamerad?»

«Krieg heißt war, das müsstest du wissen, Gabi, das hatten wir schon gelernt.»

«Stimmt, Krieg hatten wir schon.»

Damit nimmt Landow den Topf vom Herd und schenkt sich Dampfendes in einen Kumpen ein, der auf dem Tisch steht. Genau genommen ist er zahlender Gast. Er zahlt Koester acht Mark für den monatlichen Wechsel der Bettwäsche und dafür, dass die alte Köster, die behauptet, Koesters Mutter zu sein, was Koester aber leugnet – es handele sich um eine bloße Namensgleichheit –, einmal pro Woche ihren Putzfeudel zu ihm hochträgt. Den Rest einer nie näher definierten Miete gleicht er damit aus, Koesters zweites geschäftliches Standbein, Luise und Clara, vormittags von den Einnahmen der Nacht zu befreien und bei Bedarf vor unhöflichen oder allzu unsauberen Freiern zu beschützen. Und damit, dass er manchmal samstags auf die Pension aufpasst. Dann nämlich, wenn Koester und der Feinbäcker Franz im Nacktbad sind, um die Sonne zu genießen und sich der Vorstellung hinzugeben, das, was sie tun, sei vollkommen natürlich. Der Feinbäcker Franz, ein stattlicher Mensch mit melancholischen Augen und breiten Schultern, ist Koesters große Liebe.

«Ein Athlet und Gentleman», schwärmt Koester oft halblaut und cremt sich dabei dankbar die wunden Stellen ein. Die beiden sind seit knapp zwei Jahren ein Paar, aber er, Koester, fühle sich beim Feinen Franz immer wieder wie frischver- liebt.

Aus dem Schatten vor dem Sofa in der winzigen Küche schiebt sich etwas Plumpes ins Licht der Welt: ein dicker, dunkler Hund auf sehr kurzen Beinen. Landow tunkt trockenes Brot in den dünnen Kaffee und wirft dem Tier davon ein Stück zu. Das Stück nasses Brot fliegt über den Kopf des Tiers und landet mit einem hellen Klatsch auf den Dielen.

«Och, Gabi, weißte, muss das sein, Köstern hat erst gestern dort gewischt.»

Koester steckt ein paar der geplätteten Geldscheine ein, den Rest stapelt er in eine stählerne Kassette, die er in die Speisekammer nach nebenan trägt. Dort verräumt er sie geräuschvoll. Der dicke Hund schlabbert das nasse Brot vom Boden auf.

«Wartime comrade.»

«Watt?»

«Kriegskamerad heißt wartime comrade. Steht hier jedenfalls», kaut Landow, als Koester aus seinem Geldversteck zurückkommt, und steckt das kleine Wörterbuch in die Jacke zurück.

«Wartime comrade», Koester lässt das neue Wort nachklingen. «Klingt edel, trotzdem könntest du mal wieder Miete zahlen, Gabi. Franz hat nächsten Monat Geburtstag, und ich möchte ihm was wirklich Schönes schenken. Nicht bloß Sarotti Zartbitter. He is worth it.»

«Was riecht hier eigentlich so?»

«Na, was wohl. Was hier nach sehr alten Kartoffelschalen riecht, dürfte dieser comrade da sein, Gabi.»

Der angesprochene Hund blickt aus vorquellenden Augen zu den beiden Männern hoch.

«Der gute Cointreau, wer sonst. Apropos: Noch Cointreau da, my dearest wartime comrade?»

Zu den wenigen überreichlich vorhandenen Dingen in der Schlafpension Koester, versteckt, aber durchaus zentral gelegen im Bezirk Kreuzberg-Ost, Spindlerstraße, Rückgebäude, zählt der erwähnte Orangenlikör. Der Grund hierfür ist, dass ein regelmäßiger Pensionsgast, der stille Handelsvertreter Bolt, eines Nachts spurlos verschwand, entgegen seiner sonstigen Art nicht wiederkam und Koester in einem Lagerhaus in Spandau mehrere hohe Stapel mit Kisten des erwähnten Likörs hinterließ. Etwa dreitausend Flaschen, um genau zu sein. So gelangte das Getränk ins hiesige Rückgebäude und seitdem regelmäßig in den Leib des Dachkammerbewohners. Kurz darauf lief den Herren in der Pension der kurzbeinige Hund zu und wurde kurzerhand auf den Namen des Likörs getauft: Cointreau. Er hört nicht drauf, aber insgesamt klingt dieses Arrangement vornehm, findet Koester. Deshalb darf das Tier auch manchmal im Bett schlafen, wenn Koester und der verehrte Feinbäcker nach dem hörbaren Ausüben körperlicher Liebe zur Ruhe gekommen sind. Die vielen Stufen hoch zu seinem eigentlichen Herrchen sind Cointreau nicht mehr zuzumuten.

***

Das Hubbertchen ist nicht schlau. Aber obwohl es erst fünfe ist, weiß das Hubbertchen das selber auch schon. Deshalb hat es sich Sachen ausgedacht, wie es schlau wirken kann, ohne schlau zu sein. Um Dinge, die ihm aufgetragen werden, nicht zu vergessen, sagt er sie immer wieder laut vor sich hin. Klo gehen Klo gehen Klo gehen oder schlafen schlafen schlafen. Deshalb braucht das Hubbertchen länger als andere auf dem Gut. Selbst Opa Keyserling ist schneller, und der ist schon fast tot. Man hätte ihn besser ersäufen sollen wie einen Wurf Katzen, hat das Hubbertchen den Verwalter Mahlmann mal sagen hören. Und das Hubbertchen hat sich gedacht, dass er da aber noch mal Glück gehabt hat. Jetzt jedenfalls läuft er so schnell es eben geht, quer durch den Hohlweg zum hinteren Feld rüber, auf dem die Leute der Landow’schen Güter dabei sind auszusäen. Er ist tot sags Mahlmann er ist tot sags Mahlmann er ist tot sags Mahlmann.

Das Hubbertchen ist so überstürzt aufgebrochen, dass es vergessen hat, die Holzlatschen anzuziehen. Die spitzigen Steine bohren sich deshalb heimtückisch in seine nackten Füße, und er muss immerzu an die Nägel in den Füßen vom Herrgott am Kreuze denken, bis er endlich hinten beim Kreuzweg Mahlmann auf seinem Pferd sitzen sieht. Sags Mahlmann sags Mahlmann sags Mahlmann. Das Pferd vom Mahlmann mag das Hubbertchen sehr. Es ist sehr schön, fuchsrot, ein Trakehner mit vier schlanken, schneeweißen Füßen. Ein Trakehner ein Trakehner ein Trakehner. Die Leute auf den Feldern bemerken das rennende Hubbertchen, und ein paar winken ihm zu. Zurückwinken zurückwinken zurückwinken. Das Herz klopft so wild wie ein verspäteter Fuhrmann nachts an die Scheunentür, als das Hubbertchen, staubbedeckt wie ein bemehlter Bäckerjunge, sein Ziel erreicht.

«Na, Gnom, was willst du denn hier? Pass auf, dass wir dich nicht aus Versehen hier einpflanzen, und dann wird ein Bäumchen aus dir.»

Der schöne Trakehner, der dem Hubbertchen hier draußen noch größer vorkommt als auf dem Hof, schnaubt ungeduldig.

Einpflanzen einpflanzen einpflanzen.

Der Verwalter setzt sich im Sattel auf und schiebt sich, über den kleinen Idioten grinsend, den Hut in den Nacken.

Von dort oben sieht er auf das Hubbertchen hinunter und bellt, dass alle es hören: «Und wenn dann ein Bäumchen aus dir geworden ist, dann hacken wir dich ab. Verstehst du das, Gnom?»

«Er ist tot sags Mahlmann», schießt es da aus dem staubverklebten Mund des Jungen.

«Red keinen Unsinn, Trottel.»

«Er ist tot er ist tot.»

Mahlmann beugt sich tief zum Hubbertchen hinunter, packt ihn mit einer Hand und hebt den Jungen mühelos zu sich auf den Sattel.

«Dieselben grauen Augen wie der Alte», denkt Mahlmann. «Wenn’s nicht der Balg vom Grafen wäre, hätt ich ihn schon längst bei der Waldarbeit erschlagen.»

Aber so: «Also, wer ist tot, Junge?»

«Er ist tot er ist tot.»

«Er? Graf Landow? Bist du sicher, Hundskrüppel?»

«Und wie.»

2

Samstag, 5. Mai. Noch 41 Tage bis zum Tod des Kaisers.

Ist das nicht genug? Das hier? Möwen streiten sich kreischend um ein Stück Stullenrinde, Enten schnattern irgendwo, der leichte Wind in den Bäumen. Reicht das nicht? Er stellt sie sich oft, diese Frage nach dem Glück. Und Koester, den nackten, fast noch weißen Winterhintern jetzt in die zaghafte Frühlingssonne wendend, fragt sich, ob er sie sich zu oft stellt. Ist er undankbar, dem Leben gegenüber ungerecht, wenn er zu viel fordert? Mehr will? Mindestens vier Mal war er schon tot gewesen, mausetot, so gut wie jedenfalls. Vier Mal hat er überlebt, zwei Mal war Gabi Landow unmittelbar daran beteiligt, als Lebensretter. August 70 bei Beaumont und im September 71 irgendwo bei diesem beschissenen Sedan.

«Apfel war aus, gab nur noch Kompott.»

Der Feine Franz kommt von der Waffelbude, balanciert elegant wie ein Oberkellner im Astoria zwei Waffelstücke mit einer Pfütze dunkelroten Schmorobstes darauf. Der Feine Franz setzt sich im Schneidersitz dicht zu Koester aufs Laken, zeigt ihm dabei, was er hat, aber das kennt der ohnehin gut, und sagt, Koesters Blick aufs Kompott beantwortend: «Pflaume.»

«Selber Pflaume», sagt der und nimmt eine Waffel. Es sind genau diese Momente, in denen Koester sich die Frage nach dem Glück stellt. Ist das schon Glück? Oder ist das bloß Zufriedenheit, und es ginge noch mehr, Glück eben? Aber was soll mehr gehen als der nackte Franz, muskulös wie ein Sportler, fein wie ein Kammerdiener und, wenn’s drauf ankommt, grob wie ein Kesselflicker, eine Waffel mit Pflaumenkompott – obwohl er, Koester, sich Apfelmus gewünscht hätte – und die milde Sonne des noch jungen Jahres auf der nackten Haut?

Sie gehen so oft hierher wie möglich, freilich immer bloß samstags, wenn Landow die Pension übernimmt. Samstags ist dort am wenigsten los, die Wochenendgäste sind schon angekommen und durchwandern, den Touristenführer in der Hand, die Museen und das Brandenburger Tor, die Messe- und Geschäftsleute sind längst wieder bei sich zu Hause in Zürich oder Mannheim. Samstags geht es, Mensch zu sein. Kompottmensch. Nacktmensch. Glücksmensch. Koester genießt diese Dreiviertelstunde Wanderung raus aus der Stadt, hierher in den Rehwinkel. Der Rehwinkel ist der Treffpunkt Gleichgesinnter, offiziell Heimat des Vereins Aurora Sonnenfreunde Spandau. Man trifft sich, entkleidet sich und liegt nackt auf Badelaken im Gras. Der Lärm der Stadt zieht, je nach Wind, sogar bis hierher, aber sonst ist hier Friede. Hier stört kein blöder Blick, kein giftiger Kommentar ihr Tun, hier sind sie unter sich, wie sie es in der Stadt nie sein können. Das Gelände gehört einem Vereinsfreund, ist dicht von Strauchwerk und alten Hecken umgeben. Weißdorn und Schlehen, der Franz weiß auch so etwas. Man genießt das Licht auf der Haut, betrachtet die sich müde rekelnden Körper ringsum, lauscht dem dumpfen, gleichförmigen Plopp der Tennisbälle auf den beiden neuen Sportplätzen hinter den hohen Hecken, isst Waffeln mit Kompott.

Koester leckt sich das restliche Schmorobst von den Fingern und betrachtet die langen Beine seines Franz, der, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in den Himmel sieht. Weshalb mehr wollen, fragt sich Koester dabei, mehr als das hier. Weshalb der Unfug mit Amerika. Gabriel mit seiner ständigen Vokabellernerei hat das dem Franz ins hübsche Ohr geflötet. Seitdem murmelt der Franz im heraufziehenden Dämmerschlaf manchmal was von bakery und poppy-seed cake, und der Koester neben ihm fragt sich dann, ob der Franz das alles hier, die Rehwiese und die Stadt und seine beiden Stellungen in der Feinbäckerei und als Türmann im Club und ihn, Koester, für dieses nebulöse Amerika aufgeben würde. Für Poppy und nichts und wieder nichts.

Koester wendet den Blick von ein paar strammen Ballspielern ab und legt sich wie der Franz auf den Rücken. Koester ist mittlerweile vornherum schon etwas weich und wellig geworden. Den Franz stört’s nicht, sagt der Franz, und so, die Arme hinterm Kopf, spannt es sich ganz vorteilhaft. Koester schließt die Augen, lauscht den leisen Rufen der anderen Aurorasier, dem Piepen der Vögel, dem Wind. Koester bekommt eine ausufernde Gänsehaut, und er fragt sich, ob das bloß wegen des Windes ist oder wegen seines Gefühls, dass ihn bald irgendwas verändern wird. Ihn, den Franz, alles.

 

Er muss eingenickt sein. Das Erste, was er wahrnimmt, ist das monotone, vornehme Ploppen der Tennisbälle hinter den Hecken. Wie ein gedämpftes Metronom, das seine Gleichförmigkeit nur unterbricht, wenn einer dort drüben einen Punkt gemacht hat. Bolt, der verschwundene Gast mit dem Cointreau («Samuel Bolt – Liköre, auf die ich schwöre!»), hat ihm diesen neuen Sport einmal erklärt und die allgemeine Weltlage dazu.

«Herr Koester, das ist die moderne Zeit. Warten Sie mal ab, eines Tages wachen wir auf, und es gibt keinen Kaiser mehr.»

Genau in diesem Moment hört das Ploppen drüben auf. Als wenige Augenblicke später das schärfere Plopp des nächsten Aufschlags ausbleibt, öffnet Koester die Augen und blinzelt in den Himmel. Etwas neben ihm raschelt ganz leis, und ein filziger Tennisball rollt die Rehwiese entlang und hält direkt vor Koesters verblüfftem Gesicht. Der Ball hat eine schwungvolle Naht in der Stoffhülle, die Koester an Operationsnarben erinnert. The Cyprus steht in eleganter Schrift darauf. Damit von drüben keiner kommt, um den Ball zu holen – Bolt hat erwähnt, wie teuer diese kleinen Dinger sind – und den Frieden ihrer Rehwiese stört, steht Koester auf, wickelt sich vorsichtshalber ein Handtuch um den Winterhintern und trägt den Ball vorsorglich zurück. Der Franz schlummert wie ein griechischer Gott. Koester geht bis zur Hecke, hinter der noch immer kein neues Plopp zu hören ist. Koester will rufen, lässt es aber dann, denn nicht jeder versteht die große Naturnähe der Aurorasier. Er beschließt, den Ball einfach über das dichte Gebüsch zurückzuwerfen. Während er schon ausholt, glaubt er, auf den Tennisplätzen dahinter gedämpfte Gespräche zu hören. Eher ein hastiges Flüstern als die Wortfetzen, die der Wind sonst so durch die Schlehen zwirbelt. Koester sieht von hier aus bloß das Rot der Asche durch die Sträucher blitzen. Er wirft den Ball in weitem Bogen, sieht dem schnell kleiner werdenden The Cyprus nach, wie er über dem frischen Grün der Hecke verschwindet, hört drüben das sanfte Plopp seines Aufpralls, dann das leisere Plopp-plopp des Fortspringens. Sonst nichts.

Koester hat kein «Danke!» von dort erwartet, aber als die tuschelnden Stimmen vollends abreißen, als der Ball aufspringt und sich anschließend eilige Schritte entfernen, ist seine Neugier geweckt. Vielleicht spielen die nackt und wollen nicht, dass man sie dabei sieht? Behände schlüpft er zwischen zwei Büschen durch, etwas pikst dabei in seine Brust und reißt ihm das Handtuch fort. Schon steht er dicht vor dem brusthohen Staketenzaun, der die Grundstücke der Aurora-Wiese und des Tennisclubs zusätzlich trennt. Kleine Steine und Holzstückchen piken ihn in die nackten Sohlen. Das Rot des Platzes leuchtet sehr vornehm in der Frühjahrssonne. Das Rot des Blutes, das aus dem Kopf des Mannes vor ihm rinnt, leuchtet dunkler, so wie das Kompott auf der Waffel. Der Mann liegt quer und irgendwie verrenkt vor dem gespannten Netz. Seine weiße Spielkleidung ist mit der Asche des Platzes beschmiert. Wie ein Frevel. Der Mann ist tot, das sieht Koester selbst von hier. Die dunkle Lache am Kopf ist groß und wird rasch größer. Man muss nicht in Beaumont oder Sedan gewesen sein, um zu wissen, was das heißt. Der Tennisschläger des Toten liegt etwas entfernt im Staub herum. Der Ball, den Koester geworfen hat, ist der Ordnung halber dicht daneben gerollt. Wieder spürt Koester diese allumfassende Gänsehaut von ihm Besitz ergreifen. Seltsam, dass der tote Sportsmann ein Buch in der Hand hält.

***

Es riecht hier wolkig nach Cologne, Tabak und Leder, und es bleibt auf geheimnisvolle Weise unklar, inwiefern diese Duftmelange von den Kunden, vom Salon oder von beidem ausgeht. Dorns Barbiersalon ist zuallererst eine Informationsbörse für Landow, aber was er an diesem Ort darüber hinaus besonders schätzt, das ist der reibungslose Ablauf hier. Das stetige Einseifen, Schärfen und Barbieren vollzieht sich mit der Präzision eines Uhrwerks. Keiner der fünf dunkelgrünen Stühle ist länger als zehn Sekunden unbesetzt. Jeder neue Kunde setzt sich in die gewärmte Mulde des Vorgängers. Der zuständige Barbier verbeugt sich kurz, legt dem neuen Bart eine warme Kompresse auf und beginnt dann, frischen Schaum zu schlagen. Dorn, ein rundlicher Zwerg mit vermeintlich viel zu kurzen Armen für dieses verantwortungsvolle Handwerk, lotst Landow mit einer winzigen Handbewegung in den mittleren Sessel der Reihe. Von hier aus hat Landow das beste Gehör. Das zahnende Kind rechts außen interessiert ihn nicht, schon eher die neuen Lafetten für leichte Landgeschütze. Noch durch das warme Tuch, das man ihm über die Wangen gelegt hat, um den Bart zu weichen, schwärmt der Herr zu seiner Linken von deren Leichtgängigkeit. Der ungarische Barbier, der diesen Artillerie-Experten bedient und gerade geräuschvoll die Seife aufschlägt wie ein Zuckerbäcker den Schlagrahm, lenkt dann aber leider das Gespräch auf die Leichtgängigkeit einer Varieté-Tänzerin, von der die ganze Stadt schwärmt. Dorn, der Landow rasiert, spricht kein Wort. Auch Landow schweigt. Wer schweigt, hört besser. Das weiß auch Dorn. Nützliche Informationen aus erster Hand, dazu eine tadellose Rasur, das ist die Effizienz der neuen Zeit.

Hier lassen sich viele Ministerialbeamte der mittleren Ebenen rasieren. Die wirklich wichtigen bestellen sich den Barbier nach Haus und die wenigen ganz wichtigen sogar ins Amt. Bei Dorn sitzen bloß die in der Arschwärme des Vorgängers, die entweder noch hungrig sind oder schon unzufrieden. Die plaudern gern mal, lassen was raus durch den Seifenschaum. Obwohl die wirklich verwertbaren Inhalte für ihn als Ermittler spärlich sind, hält Landow an diesem Arrangement mit Dorn fest. Landow hat Dorn vor Urzeiten einmal einen Gefallen getan, der für Dorn wesentlich wichtiger war als für Landow schwierig. Seitdem schweigt der mittlere Sessel, wenn der wuchtige Herr aus der Spindlerstraße rasiert wird. Wahrscheinlich die Hälfte aller seiner Fälle des letzten Jahres hatte direkt oder indirekt mit mittleren Leuten der Ministerien zu tun. Diese Stadt besteht, könnte man meinen, nur aus Arbeitern, Militärs und Beamten. Arbeiter können sich Landows Dienste als verschwiegener Ermittler in prekären Angelegenheiten nicht leisten, während die Oberschicht solche Angelegenheiten auf ihre Weise erledigt, diplomatisch, lautlos, spurlos. Aber die hier, diese aufstrebenden Beamten haben viel zu gewinnen und viel zu verlieren, wenn eine Unregelmäßigkeit – welcher Art auch immer – ruchbar wird. Landow findet für diese Leute Dinge heraus, vertuscht andere, je nach Auftragslage. Deshalb ist Dorns Barbiersalon von jeher eine bewährte Auftragsbörse.

Seit eine Großtante aus Kolberg vor zwei Jahren als Letzte der Familie ihren Kontakt und ihre gelegentlichen Zuwendungen zu ihm abgebrochen hat, sind die kleinen Honorare als Ermittler die einzigen, die er hat. Wesentlicher Quell seiner Aufträge ist die Unzufriedenheit. Die größere Wohnung, das größere Büro, die jüngere Freundin, die Kur in Baden-Baden, all das muss bezahlt werden. Und wer nur das magere Gehalt eines Beamten erhält, kann das nicht ohne Unregelmäßigkeiten und Risiken bewerkstelligen. Links außen redet einer in schlesischem Singsang vom Krieg. Von keinem vergangenen Krieg, von einem kommenden. Gegen den Russen, gegen den Franzosen. Gegen alle, wenn es sein muss. Krupps Kanonen haben vor Sedan schon gezeigt, was sie können, und seitdem hat sich viel entwickelt. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten, den Rest versteht Landow nicht, weil Seife den Mund des Herrn links außen kurz verschließt, bevor er weiterschwärmt. Vor ein paar Jahren erst hat ein Tommy einen Schussapparat erfunden, ein Maschinengewehr, das sechshundert Schuss abfeuert. In der Minute. Zehn Schuss pro Sekunde. Ohne nachzuladen. Tak tak tak tak tak tak tak tak tak tak. In einer einzigen Sekunde. Und in der nächsten noch mal. Der Linksaußen ist überzeugt, dass Krupp, Thyssen und Co. das noch mal übertreffen werden. Weit übertreffen, schreit der jetzt in den Salon hinaus, wohl auch, weil sein Barbier ihm gerade Mentholwasser in die rosigen Wangen klopft.

Ohne wirklich Brauchbares gehört zu haben, verlässt Landow Dorns Salon. An der Kasse überreicht er Dorn wie immer das Dreifache des üblichen Rasurhonorars und erhält dafür wie immer eine gefaltete Quittung. Er verlässt den Salon durch die von Dorns Lehrjungen aufgehaltene Tür, geht die samstäglich geschäftige Straße hinunter und liest im Gehen das, was Dorn ihm, steil nach rechts abfallend, auf den gefalteten Zettel geschrieben hat. Ein Honorar ist für die Rasur, ein Honorar ist für Dorns Schweigen, das am Stuhl und das darüber hinausgehende, und das dritte Honorar ist für das, was Dorn aufschnappt, wenn Landow nicht im Laden ist, also meistens.

«Es gibt vertrauliche interne Sicherheitsüberprüfungen in Ministerien. Spürbare Unruhe bei einigen. Und etwas mit einem Spezialschiff. Taufboot? Konnte nicht mehr verstehen», steht jetzt da.

Soso, denkt Landow, wenn Dorn schon von den Überprüfungen weiß, können die ja so geheim nicht mehr sein. Taufboot? Ein Boot für Bootstaufen oder was? Landow trinkt bei Ossmann’s ein schnelles Bier und ein Ruckzuck-Kirschwasser hinterher und will dann rasch rüber Richtung Tiergarten, mal im jetzt halbverwaisten Büro vorbeischauen. Das gemeinsame Ermittlungsbüro in Zukunft allein führen zu müssen, weil Kompagnon Leo erst in die Ehe und dann in die Vereinigten Staaten desertiert ist, fühlt sich seltsam an. Er verbrennt die vermutlich nutzlose Information Dorns im Ascher und bestellt noch einen Ruckzuck-Kirsch gegen die Melancholie. Und für den Weg.

3

Sonntag, 6. Mai. Kurz vor drei Uhr am Nachmittag und noch 40 Tage bis zum Tod des Kaisers.

Die Erde bebt, wenn auf der Gegengeraden die Pferde an ihnen vorbeidonnern. Der kleine Mann sieht das nicht. Aber er spürt es. Er sieht bloß die steilen Jackenrücken dicht vor sich, meist raue, unempfindliche Fischgrätmuster, oft auch graubrauner Hahnentritt, seltener karierte Stoffe, einige noch dunkel vom Winter, andere, hellere, schon auf Frühjahr gestimmt. Nicht wenige der Herren hier, und nicht nur die Offiziere, tragen noch einen Trauerflor für den vor knapp zwei Monaten verstorbenen Kaiser an Arm oder Revers. Die Blaskapelle hinten beim Sattelplatz spielt schon wieder Schmissiges.

Aber nicht die Farben und Muster interessieren den kleinen Mann in der Menge. Er ist wegen der Tascheninhalte hier.

«Lass doch mal den Kleinen vor, Männe.»

Die geräumige Frau meint es wirklich gut mit ihm, schiebt resolut Menschen zur Seite und zieht dann den kleinen, unauffälligen Mann mit dem Arm in der Schlinge nach vorn.

«Sehen Se, geht doch. Und gute Besserung noch», wünscht sie ihm und beißt dann wieder beherzt in ihren schrundigen Apfel.

Der kleine Mann ist sichtlich überrumpelt von so viel Herzenswärme.

«Na, für den Arm», ergänzt die Apfelesserin und: «Wird schon wieder.»

Der kleine Mann nickt, weiß aber, dass das nicht stimmt. Sein rechter Arm wird nicht mehr. Aussichtslos. Denn der Arm ist längst nicht mehr dran. Das, was er in der Schlinge mit sich rumträgt, ist sein Tarnarm. Sein mit Sägespänen ausgestopftes Berufsgeheimnis.

«Calisto, lauf!!»

Apfelstückchen versprühend, feuert die Geräumige hinter ihm ein Pferd an, das sich drüben, auf der Geraden vor der Sitzplatztribüne, dem Ziel nähert. Das erinnert Orsini, so heißt der kleine Mann, an den Zweck seines Aufenthalts hier auf der Rennbahn in der ersten Reihe der Stehplatzsektion. Er ist gekommen, weil die meisten hier auf vorbeirennende Pferde starren. Wer auf Gäule starrt, dabei in Bratwurst beißt, Limonade oder Bier schlürft, ist abgelenkt. Und wer abgelenkt ist, noch dazu an einem so wünschenswert linden Nachmittag, der achtet freundlicherweise nicht auf sein Portemonnaie. Pferde interessieren ihn nur als Braten, gern essigsauer mit dampfenden Klößen. Er taxiert stattdessen wieder die Ausbuchtungen der Hosen- und Jackentaschen um ihn herum. Er spekuliert auf Brieftaschen und Geldbörsen. In gewisser Weise ist er, denkt Orsini, ein Börsenspekulant.

Gewissensbisse hat er deswegen nicht. Nicht mehr. Alltags arbeitet er gern an einem der Bahnhöfe und bei Beerdigungen, an Wochenenden nutzt er lieber ein heiteres Umfeld, den Zoo, Museen, Paraden und zur Not sogar die Nachmittagsvorstellung des alten Zirkus, in dem er früher aufgetreten ist. Oder das hier, den Hoppegarten. Internationale Galopprennen auf höchstem Niveau. Sport, Spiel, Spannung. Im Nu zum reichen Mann. Oder auch nicht. Nicht bloß Kinder nennen das hübsch herausgeputzte Areal im Osten der großen Stadt gern den Hoppelgarten.

Die Geräumige hinter ihm flucht jetzt. Calisto hat versagt. Sie zerknüllt ihren Wettschein und offenbart dabei für einen Moment den Geldbeutel in ihrer Hand. Etwas in Orsini zuckt vor, will schon mit der noch vorhandenen Linken zuschnappen, aber das bessere Etwas in ihm lässt ihn abdrehen. Sie war so freundlich zu ihm.

Orsini blinzelt seiner Gönnerin zu und tätschelt mit der Hand den Attrappenarm. Er lässt sich vom Schlagen der Totalisatorglocke und dem Geschrei an den Buchmacherständen aus der dichten Menge fortziehen. Vielleicht hätte er heute doch zum Zirkus gehen sollen. Im Treptower Park hat letzte Woche einer aufgebaut. Aber die freie Luft, der babyblaue Himmel über Neuenhagen hat ihn wie magisch angezogen. Ein gut gefülltes Zirkuszelt erleichtert die Arbeit zwar immens. Andererseits ist ein Zirkus der Grund für Orsinis Sägemehlarm und mithin Anlass hartnäckiger Melancholien. Nicht irgendein Zirkus. Sein Zirkus. Jeden Tag zwei Vorstellungen kopfüber am Trapez, an Wochenenden drei. Während unten im Dunkeln die Taschendiebe ihrer Arbeit nachgingen, schwang er oben streng im Takt, fing federleichte Frauen in glitzernden Ballerinakostümen und behaarte Kerle in Streifentrikots, roch den von unten würzig hochsteigenden Duft nach Bratapfel, Schweiß und Sägespänen und genoss den Applaus am Ende der Nummer. Bis dieser Nachmittag kam. Orsini weiß heute noch nicht, wie genau … Ein Seil riss wohl, er rutschte, fiel wie ein Meteorit, hörte noch die spitzen Schreie der Zuschauerinnen. Als er in der Charité aufwachte, war sein Arm schon fort gewesen.

Seitdem fragt er sich eigentlich jeden Tag, was mit diesem Arm geschehen ist, nach dem Unfall.

Seitdem ist er linkshändiger Taschendieb mit rechtem Attrappenarm und besucht berufsbedingt genau die Orte, an denen auf kleinem Raum viele Taschen versammelt sind.

Noch während seines Aufenthaltes in der Charité hatte ihm Signora Tofani, die Frau des Zirkusdirektors, einen dünnen Strauß Astern aufs Bett und mit großem Bedauern die Situation dargelegt. Der geringe Gewinn des Unternehmens reiche gerade aus, um die Behandlungskosten ihres alten Padrone, die Löhne und das Tierfutter zu zahlen. Dazu schepperte sie viel mit ihren unechten Armreifen. Da gab es keine Reserven für einen einarmigen, ehemaligen Artisten, den man nicht mal an der Kasse oder zum Stallausmisten vollwertig gebrauchen könnte. Orsini hatte das verstanden, hatte seine Papiere und sein restliches Gehalt genommen, bevor er später in irgendeiner Kneipe eine Viertelstunde geheult und danach eine ganze Woche durchgesoffen hatte. Und bevor er sich, um die Zeche in der letzten Bierhalle zahlen zu können, mit der noch ungeschickten Linken die Börse von einem gezogen hatte, der noch voller war als er selbst. So in etwa hatte das vor knapp einem Jahr begonnen. Das Leben zwang einen offenbar zu solchen Erfindungen. Er war, wie gesagt, nicht stolz darauf. Etwas stolz war er zumindest aber auf seine Idee, seinen verlorenen rechten Arm wieder dranzumachen. Von einem Flickschuster am Schlesischen Bahnhof hat Orsini sich eine Pappmaché-Attrappe mit einer verteufelt echt aussehenden Hand aus Schweinsleder machen lassen, die er auf seinen Beutezügen in den baumelig leeren rechten Jackenärmel schob. Niemand würde sich jetzt an einen Einarmigen erinnern, bloß an einen kleinen, freundlich aussehenden Mann, dessen rechter Arm in einer Schlaufe steckte. Der wird es wohl kaum gewesen sein, Herr Wachtmeister, nicht wahr? Die Schlinge ist außerdem ein willkommenes Versteck für seine Beute. Bemerkte ein Bestohlener etwas, dann war die Börse bereits in der Schlaufe verschwunden, und Orsini kratzte sich entspannt mit der Linken an der Nasenspitze.

 

Auch hier auf der Rennbahn riecht es, wie beim Zirkus, vertraut nach Wurst und Pferdemist, auch hier wimmelt es von Menschen und ihren Aahs und Oohs. Aber hier – um sicherzugehen, blinzelt er in die noch fahle, aber strahlbereite Frühlingssonne – gibt es keine Kuppel mit Trapezgestänge.

Orsini lässt sich treiben, greift mal hier, mal da zu, erbeutet (in chronologischer Reihenfolge) lediglich ein Taschentuch, eben erst benutzt und körperfeucht, ein Salbei-Bonbon der Marke Areola, ein leeres Damenportemonnaie mit noch gültiger Tribünenkarte. Weiter hinten, zwischen den Wettbuden, kriegt er einen Wettschein fürs neunte Rennen in die Finger. Vielleicht bringt der noch was. Gerade läuft das siebte.

Auf der Tribüne setzt Orsini sich neben ein fleischiges, zerstrittenes Ehepaar. Der Mann hat Senf im dunklen Bart, die Frau sieht aber offenbar keine Veranlassung, ihn darauf aufmerksam zu machen. Stattdessen macht sie ihm gut hörbar Vorwürfe: «Und ich sage noch: der Name! Aber der Herr hört ja nicht auf den Instinkt einer Frau und setzt zwei Mark auf eine Lysistrata! Ein Name wie eine Darmkrankheit. Guten Tag, Herr Doktor, ich fürchte, ich habe mir eine Lysistrata eingefangen. Und was hat uns unsere ach so stolze Lysistrata eingebracht? Dort liegt das stolze Pferd. Und unsere zwei Märker gleich mit.»

Der lauthals Beschuldigte wischt sich verlegen mit der Hand durchs Gesicht und entfernt dabei zumindest die Senfspur. «Aber sie lag in Führung.»

«Richtig bemerkt: lag. Erst lag sie in Führung, jetzt liegt sie im Gras. Und siehe da, die Knechte halten schon die Decken hoch. Du weißt, was jetzt kommt? Und da ist er schon, der Tierarzt mit der Flinte.»

Drei Reihen weiter hinten, Böses ahnend, beginnen zwei Kinder schrill zu weinen und reiben ihrem Vater dabei Eiscreme an den Arm. Als hinter dem Sichtschutz der erlösende Schuss fällt, zucken alle zusammen. Auch Orsini. Bloß eine elegante Dame einige Reihen vor ihm nicht.

Der Wagen kommt, um die tote Lysistrata fortzuschaffen, und das Kindergeschrei wird klagender. Die Damen wenden entsetzt den Blick ab. Nur diese einzelne, ungerührte Frau beobachtet den Abtransport des toten Pferdes interessiert durch ihr kleines Opernglas. Ein Bein des toten Tiers gleitet unter der Plane heraus und winkt, auf dem Transportwagen rüde hin und her geschaukelt, rehbraun und blutig zur Tribüne zurück.

 

Sportliches, veilchenblaues Kostüm der neuesten Mode, kühnes, nicht wirklich schönes Gesicht, auf den Knien eine dünne Ledermappe, die er zuerst für ihre Handtasche hält. Dann aber entdeckt er den ungewöhnlichen, doppelten Verschluss und die Siegelschnur. Außerdem scheint sie allein zu sein, keine Gören, kein Verlobter, der gerade Zuckerwatte holt. Sie verfolgt das Geschehen mit mäßigem Interesse. Ein Kindermädchen ist sie jedenfalls nicht, darauf würde Orsini wetten. Außerdem hat sie diese ungewöhnliche Mappe dabei. Orsini nutzt den Tusch der nächsten Siegerehrung, um sich geschickt in die Reihe direkt hinter der Mappenfrau zu drängen. Ist es ihr Parfüm, das er durch den Bier- und Bratwurstdunst riecht? Die dünne Ledermappe liegt nun zum Greifen nah vor ihm. Lächelnd schiebt Orsini sich noch etwas nach links, um mehr Platz zu haben. Die Blicke der Übrigen werden gerade abgelenkt von der Ehrenrunde des lorbeerbekränzten Siegerpferdes des siebten Rennens. Rechts von der Mappenfrau taucht ein älterer Herr auf. Der Mann steigt über etwas, das ein Kindermädchen auf den Boden hat fallen lassen. Mit eiserner Miene entschuldigt er sich dafür und nimmt dann da Platz, wo die Dame mit der Mappe etwas zur Seite gerückt ist. Die beiden sehen sich nicht an, sie scheinen bloß konzentriert die Startvorbereitung für das nächste Rennen zu beobachten.

Ohne den Blick zu wenden, hält der Mann der Frau einen braunen Kartonumschlag hin, so ruhig und arglos, als böte er ihr ein Bonbon an. Der Umschlag ist in etwa so dick und groß, dass ein Buch drin sein könnte, und mit einer dünnen, einfachen Sisalkordel verschlossen. Die Dame sieht weiter ungerührt zu den nervösen Pferden in der neuen Startaufstellung hinüber und nimmt mit rechts den Umschlag entgegen. Im Gegenzug schiebt sie mit links die dünne Siegelmappe von ihrem Knie auf das des Herrn. Der legt seine Hand darauf, und für einen flüchtigen Moment berühren sich dabei die behandschuhten Finger der beiden. Dann steht der Mann, der vor nicht einmal drei Minuten gekommen ist, auf und geht, die dünne Mappe unterm Arm, davon. Orsini hätte gern gewusst, was die versiegelte Mappe enthält, aber sein Gefühl sagt ihm, dass der dicke Umschlag, den die Dame hat, für ihn lohnender ist. Er betrachtet den schlanken, etwas nach vorn geneigten Rücken ihres veilchenblauen Kostüms dicht vor sich und wartet. Ein Trapezfänger muss warten können. Schwingen und warten. Vorschwingen und – endlich ist auch die nervöse Nummer 5 bereit für den Start und bekommt dafür höhnischen Applaus – Zurückschwingen. Immer bei exakt gleichem Tempo. Bereit zuzugreifen, wenn das bunte Mädchen geflogen kommt.

«It’s all about timing.» Der große Stratton hat das zu ihm gesagt. In Antwerpen. Nicht direkt zu ihm, zu dem neben ihm, aber Orsini hat auch sich gemeint gefühlt. It’s all about timing. Der Starter auf seinem Podest hebt den Arm mit der Pistole. Ihr schmaler Rücken strafft sich. Sie steht federnd auf. Tatsächlich trägt sie keinen Blümchenduft, auch nicht das orientalisch Schwüle der blassen Sekretärinnen. Nein, das ist ein herbes Männerparfüm, denkt er noch, während er, wie ausgelöst vom Knall des Startschusses, seine Linke vorschießen lässt wie eine Giftschlange. Der Umschlag enthält natürlich kein Buch. Wusste er es doch. Was hier drin ist, ist fest, aber gleichzeitig biegsam. Dieses Gefühl kennt Orsini gut. Wie mit einer Eisenzange hält er den Umschlag fest. Auf seine gut trainierte Linke ist immer Verlass. Schon hat er drei Reihen überwunden. Mit dem Stoff ihres langen engen Rockes und der lauten Kindergruppe nebendran hat sie keine Chance. Sie hat bestenfalls seinen Rücken gesehen, wenn überhaupt. Bloß ein dunkelgrüner, etwas abgeschabter Jackenrücken.

Sekunden später erreicht er schon die Treppe Richtung Ausgang. Das Geraune der Menge, die den Start verfolgt, feuert auch ihn an. Lauf, Orsini, lauf doch! Auf der steilen, weiß getünchten Treppe hinab verstellt ihm ein lachender Mann mit drei Bierkrügen den Weg. Gekonnt springt Orsini an ihm vorbei, nimmt drei Stufen auf einmal, und schon berührt sein Fuß das zerschabte, gelbbraune Gras des Seitenausgangs. Wie ein Hammer pocht ihm sein Herz, nicht wegen der Rennerei, nein, wegen der Vorfreude. Nichts wie hinunter zur Straße, weiter hinten in die Pferdebahn und fort!

«Sie haben etwas, das mir gehört.»

Wie sie sich ihm in den Weg stellen konnte, ist ihm unbegreiflich. Wie sie es überhaupt hierher geschafft haben kann in der kurzen Zeit. Zwölf Sekunden! Höchstens fünfzehn. Von der Tribüne herab kommt Applaus, wahrscheinlich für ein gewagtes Überholmanöver.

Zumindest atmet auch sie schwer. Sie steht so dicht, dass er die Wärme ihres Atems im Gesicht spürt. So dicht, dass nur er die kleine, kurzläufige Pistole sehen kann, die sie ihm in die Rippen stößt. Sie ist tatsächlich nicht wirklich schön, sieht er nun, als er hochblickt. Nicht im erhabenen Sinne jedenfalls. Über einer Augenbraue hat sie eine feine, lachsfarbene Narbe, die wie eine winzige Wünschelrute aussieht. Oder wie ein kopfstehendes Ypsilon.

Er weiß, was zu tun ist. Er zieht den Umschlag aus der Schlinge und hält ihn ihr hin.

«Sie sind schnell», sagt sie. Sie hat einen ganz leichten Akzent.

Der Lärm von der Tribüne ist nun so groß, dass niemand den Schuss, den sie gleich auf ihn abgibt, bemerken wird. Niemand außer ihm natürlich.

Aber sie geht einfach. Umschlag und Pistole verschwinden blitzschnell in einer Handtasche. Und sie geht so ruhig fort wie eine Dame, die noch zu einer guten Freundin in eins der feinen Viertel zum Fünf-Uhr-Tee will.

Orsini sieht an sich herab und bemerkt, dass seine Hände zittern. Beide.

***

Etwa zur selben Zeit in der Spindlerstraße. Auch hier wird gezittert. Koester verzieht dramatisch das Gesicht, als er den dritten Cointreau herunterkippt. Er hat Landow gerade begreiflich zu machen versucht, dass er gestern Zeuge eines Mordes wurde. Beinahe jedenfalls.

«Der lag da, regungslos, Landow, du kennst mich, ich bin kein Angsthase, aber der war tot. Hundertprozentig. Wer bringt denn jemanden um, der Tennis spielt? Da waren doch noch andere Leute auf dem Platz. Ich hab die direkt davor doch noch reden hören. Ich habe wahrscheinlich die Mörder reden hören. Ich bin Ohrenzeuge, Gabi. Verstehst du?»

Landow nimmt auch einen Cointreau, der Geselligkeit halber. Nach dem vierten Glas hat man sich an den klebrig-süßen Geschmack gewöhnt und spürt nur noch Wirkung. Landow glaubt Koester kein Wort. Die viele frische Luft am Nudistentreff verträgt nicht jeder. Aber Landow spielt die Sache einfach mal mit, weil er sich langweilt. Und weil Koesters wirre Geschichte ihn von seiner trüben Gegenwart und einer wahrscheinlich nicht minder trüben Zukunft ablenkt. Er hat seinen Kompagnon verloren, hat nur noch einen einzigen Fall, einen allerletzten Klienten. Es wird eng. Ein Teil des Geldes, das er für die Überfahrt nach Amerika zurückgelegt hat, ist längst für anderes draufgegangen. Für Schnaps und für das Hochzeitsgeschenk für den abtrünnigen Leo. Die zwei englischen Duellpistolen, generalüberholt aus dritter Hand, waren ganz was Feines, das hat der Händler auch gesagt. Allein die Schatulle aus poliertem Mahagoni machte ordentlich was her.

«Wer Tennis spielt, ist abgelenkt, Herr Ohrenzeuge. Eigentlich eine gute Gelegenheit für einen Mörder. Wo kam das Blut denn raus? Aus dem Hinterkopf oder der Kehle?»

Koester sieht ihn entgeistert an: «Irgendwo, was weiß ich, jedenfalls jede Menge. Seit damals hab ich nicht mehr so viel Blut auf einem Haufen gesehen.» Wieder macht Koester vor, wie verrenkt der angebliche Tote dagelegen hat. «Und auf dem Ball», fällt ihm ein, «stand The Cyprus. Und neben dem Toten lag der Schläger. Sieht aus wie eine plattgedrückte Gitarre, so ein Ding. Sachen gibt’s.»

«Vielleicht ist der einfach gestürzt? Er schlägt diesen hohen Ball, der zu dir geflogen ist, rutscht aus, schlägt mit dem Hinterkopf an den Eisenpfosten, der dieses Quernetz spannt, von dem du erzählt hast, und stirbt. Weil er dort heimlich mit einer Liebesaffäre spielte, Tennis meine ich, flieht die fragliche Frau und einzige Zeugin des tragischen Sportunfalls zutiefst schockiert und aus Angst vor dem drohenden Skandal. Und in den Büschen steht nackt wie ein Waldgeist mein alter Freund Koester und wundert sich. Nun, wie findest du diese Erklärung, Koessi?»

«Und weshalb, Landow, hat der Mann, der Ermordete, dann ein Buch in der Hand, als er stirbt?»

«Ein Buch? Gute Frage, Herr Staatsanwalt. Vielleicht war der spätere Tote zu Lebzeiten des Tennisspielens noch nicht wirklich mächtig und brauchte noch eine Spielanleitung.»

«Du verarschst mich doch, Gabi.»

«Da hast du recht, Koessi. Ich weiß auch nicht, warum der Mann beim Sport ein Buch dabeihatte. Zufrieden? Manche Dinge sind unerklärlich.»

Der Feine Franz steht währenddessen mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt. Er hat auf der Rehwiese geschlafen, von all dem nichts mitbekommen. Er zuckt bloß mit den Schultern und sieht dann ruhig wieder auf den dicken Hund hinab, der erstaunlich hingebungsvoll auf Franzens linken Schuh rammelt.

***

Gemeindesekretär Lederberg ist fast fertig. Seine Fingerspitze rutscht in der Spalte eins abwärts. Er ist seit heute früh vor sieben schon dabei, die Kondolenzschreiben zu adressieren. Frau Lederberg, seine Mutter, bei der er noch immer wohnt, was gelegentlich zu Tuscheleien und Kopfschütteln führt, sitzt am Ende des langen Tisches und streut freigiebig Löschsand auf jedes von Lederberg in wirklich hochnobler Manier beschriftete Kuvert. Dann faltet sie die gedruckte Kondolenzanzeige sorgfältig und schiebt sie, jedes Mal neu pietätvoll seufzend, in die Hülle. In einem Korb neben ihr stehen die fertigen Umschläge steif aufgereiht wie die elfenbeinfarbenen Rippen eines Blasebalges. Einhundertzwanzig Einladungen werden mit Eildepesche verschickt, während die Subalternen es aus dem Kreisboten erfahren werden. Lederbergs Feder kratzt hell auf dem steifen Papier. Den Kaffee von Diener Wulf haben sie noch nicht angerührt. Wie alle im Haus sind beide von der Wichtigkeit des Moments gefangen. Weniger von Trauer, dazu war der alte Graf zu ungerecht und wüst. Auch weniger von Bestürzung über einen jähen Tod, dazu war der alte Landow schon zu alt: Dreiundsiebzig, da kann man gehen, hat Frau Lederberg gesagt, als sie davon erfuhr. Aber eine so große Feier für so viele Gäste hat man hier im Hause schon lange nicht mehr abgehalten. Zuletzt wahrscheinlich bei der Rückkehr der beiden Brüder aus dem Krieg. Unangemessen prächtig sollte es nicht werden, jedoch so, dass keiner Grund zu Tadel hatte.

Lederberg reicht ein weiteres Kuvert, auf dem die Tinte noch schwarzblau glänzt, an seine Mutter weiter. Die kleine Kaminuhr im Arbeitszimmer, in das man die beiden gesetzt hat, schlägt Viertel vor. Der junge Graf, nach dem Tod des Vaters nun der eigentliche Graf, kommt ins Zimmer.

«Nun, Lederberg, geht’s voran?»

«Bald fertig, Herr Graf, noch drei Adressen.»

«Und das dort, das sind die fertigen, die zur Post müssen?»

«Jawoll, Herr Graf», sagt die alte Lederberg. «Ich hab die Städtenamen alphabetisch geordnet, dann geht es auf der Post schneller, meinen Sie nicht?»

«Prächtig, Frau Lederberg, Sie denken an alles. Das ist gut.»

Der junge Graf sieht heute wirklich schon stattlicher aus, denkt die Alte, sein ganzes Auftreten erscheint ihr anders. Wegen des Lobes befingert sie verlegen die fast leere Streusandbüchse. Der junge Landow steht jetzt neben dem Korb mit den Umschlägen und lässt nachdenklich seine Finger über die steifen Kuvertkanten streichen.

«Hundertzweiundzwanzig», sagt sie.

«Gut gemacht», sagt der Graf, ihr den Rücken zukehrend.

Sie hat es tatsächlich alphabetisch gemacht, sieht er. Wie praktisch. Seine Fingerkuppen wandern leichthin über Allenburg, Anklam, Arys, Bartenstein, Berlin, Braunschweig, Breslau, verharren bald und schleichen wie auf Zehenspitzen wieder ein paar Stationen zurück. Die alte Kaminuhr schlägt leise scheppernd die volle Stunde. Christburg, Bischofswerder, Bischofstein, Berlin. Nach Berlin gehen einige Briefe. In die Ministerien, zu ihren Bankiers. Dann hat er, was er sucht. Er nimmt den Umschlag heraus und steckt ihn unbemerkt ein.

«Danke, ihr lieben Lederbergs, das habt ihr gut gemacht», sagt er und legt sowohl der Alten als auch dem immer noch tief gebeugt Buchstaben malenden Gemeindeschreiber eine Münze hin. Dann geht er.

 

Auf dem Korridor läuft aufgeregt das Hubbertchen herum, in jeder Hand ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf.

«In die Küche damit, Hubbertchen, das wäre wohl die beste Idee. Und wisch das Blut am Boden fort.»

Das Hubbertchen nickt eifrig und läuft den Korridor entlang fort.

«In die Küche damit in die Küche damit.»

Aus den abgehackten Hälsen der Vögel rinnt ein feiner Blutfaden auf die braun-weißen Steinfliesen.

Der junge Graf sieht zum Treppenabsatz hoch, auf dem seine Mutter steht, ganz in Schwarz wie die Erscheinung in einem Geisterroman.

«Selbst der kleine Trottel ist noch verwirrter als sonst», sagt sie müde. «Geht die Post bald ab?»

«Keine Sorge, Mama, Lederberg hat das in bewährt guter Manier erledigt. Mit dem Mittagszug geht das noch raus.»

«Auch an ihn?»

«An wen, Mama?»

«Du weißt genau, an wen ich meine.»

«An Gabriel? Natürlich, Mama. Wenn er noch nicht ausgewandert ist, erreicht ihn das Schreiben morgen Mittag in Berlin. Spindlerstraße. Das zumindest ist die letzte Adresse, die wir von ihm kennen.» Er sieht zu der regungslosen Gestalt hinauf, bevor er sich geschäftig umwendet. Halblaut, aber sicher, dass auch sie dort oben es noch hören kann, wiederholt er beim Hinausgehen: «Spindlerstraße. Rückgebäude. Bei einem gewissen Koester. Einem Wirt, hörte man.»

4

Freitag, 11. Mai. Noch 35 Tage bis zum Tod des Kaisers.

Auf dem Weg in ihr altes Büro, jetzt nur noch sein Büro, guckt Landow beim Zeitungsmann vorbei, studiert gewohnheitsgemäß die Schlagzeilen. Viel los in der Welt. Aber keine Spur von einem Toten auf dem Tennisplatz. Montag nicht, Dienstag nicht, gar nicht. Natürlich nicht. Koester, Koester. Heute ist schon wieder Donnerstag. Oder Freitag? Egal. Die Zeit fliegt. Er kann seinen kurzen Weg von der Pension zur Arbeit im Stockfinstern gehen und sturztrunken, aber jetzt nicht mehr, ohne an den ehemaligen Kompagnon und Freund Leo zu denken. Der ist längst irgendwo auf hoher See, die Zukunft im Blick, die Frau im Arm. Selbst wenn er gerade vor Neufundland heringsgrün über der Reling hängt und sich die Seele aus dem Leib reihert. Bei Matz an der Ecke («Möbel und Kleinteile mit Niveau») hat Landow gerade eine Uhr gekauft, eine altmodische Kaminsimsuhr in fröhlichem Schwarzbraun. Ihr dunkles Gehäuse erinnert an einen kleinen Sarg, findet er, und setzt seinen Weg damit grimmig fort.

Sie folgen ihm dabei schon seit der Melchiorstraße. Sie sind zu dritt und glauben, er hätte sie im lauten Durcheinander aus Passanten, Kurieren, Bettlern, Straßenkötern und Fuhrwerken nicht bemerkt. In der Neanderstraße biegt er neben der Pferdeschlachterei in die lange, tunnelartige Hofeinfahrt ein. Es riecht vertraut nach Lauge und frischer Wurst. Er stellt sich zwischen zwei hohe Transportwagen am Ende des schmalen, überdachten Hofes. Der eine Karren hat hohe Wannen mit frischen Därmen geladen. Pferdedärme werden zu Geigensaiten verarbeitet. Von drinnen wiehert es erschrocken, so, als habe man dort auch schon davon gehört. Dann – kommen sie. Einer hat ein Messer, einer ein Gewehr. Der dritte, offenbar der Anführer, hat die Hände in den Taschen und eine Indianerhaube auf dem knochigen Kopf. Die Bewaffneten zucken zusammen, als Landow aus seiner Deckung tritt, der Häuptling nicht. Dessen Haube besteht aus einer alten Gardine und Federn von Hühnern und Stadtraben, die auf seinem Kopf herumstehen wie die letzten Zähne im Mund eines Penners. Betont ruhig nickt Landow dem Häuptling zu. Der nickt zurück, spuckt einmal aus und sieht ihn an, als gehöre ihm die ganze Stadt. Ach was, das ganze Land. Der Häuptling deutet mit dem Kopf auf die Uhr unter Landows Arm.

«Na, Landauer, damit du immer weißt, was die Stunde geschlagen hat?»

«Gut erkannt, Häuptling.»

«Und sonst? Suchste wieder wen?»

«Den Sinn des Lebens, wie wir alle, oder?»

Der mit dem Knüppel, den er hält wie Geronimo seine Winchester, lacht rotzig.

«Schnauze», der Häuptling ist ungehalten.

Der Dritte steckt das Messer, ein großes, rostiges Exemplar zum Stullenschmieren, das er im Müll gefunden hat, in den Gürtel zurück, der bloß ein Stück schmutziges, altes Seil ist.

«Ihr könntet mir helfen», sagt Landow und wirft dem Häuptling eine kleine Münze zu. Der fängt sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

«Weiß nicht, ob wir Zeit haben», sagt er grinsend, «sind auf Kriegspfad mit denen in der Warschauer.»

Die zweite Münze fängt er genauso ruhig.

«Was soll’s denn sein, Bleichgesicht?»

 

Nachdem sich Landow irgendeinen Auftrag für sie ausgedacht hat und sie sich mit ernsten Gesichtern aus dem Hof verzogen haben, schließt er sein Büro auf. Aus einem der Schuppen weiter hinten kommen zwei Mann und kippen schäumende, rosafarbene Lauge in den Ausguss. Einer der Männer sieht zu Landow rüber. Der winkt. Der Laugenmann nicht. Das einzige Tageslicht fällt durch eine kippbare Luke, nicht größer als zwei Blatt Papier, in Landows Office.

Hello, it is a pleasure to meet you, Sir. My name is Landow, I am a professional private investigator. I originally come from Berlin, Germany, but I am resident of the United States since two years now.

Bei Licht betrachtet, selbst bei dem diffusen hier drinnen, sieht das Ding wirklich aus wie ein Sarg. Ein Sarg mit Zifferblatt. «Sie spielt allerdings keine Melodie», hat der Trödler gesagt.

«In Ordnung, dann nehme ich sie.»

Landow zieht die Sarguhr auf und stellt ihre Zeiger dann sechs Stunden zurück. Chicago-Zeit. Leos Zeit. Andere Zeit, andere Welt. Reichlich melancholisch stellt er den tickenden, dunklen Klotz dann auf Leos leergeräumten Schreibtisch und starrt ihn an.

Es gelingt ihm dabei, die Schlichtheit des Raumes, die eigentlich eine schlichte Hässlichkeit ist, zu ignorieren. Er überzeugt sich davon, dass tatsächlich kein Brennholz mehr da ist, um einen Kaffee zu kochen. Kaffee wäre auch keiner mehr da gewesen. Also zupft Landow gleich die dunkle Hülle von seiner Remy. Sein Verhältnis zu ihr ist nicht eindeutig. Er ist stolz darauf, eine Remington Standard No. 2 zu besitzen, ein Vorjahresmodell aus einer Konkursmasse, und bis auf ein, zwei kleine Macken erfüllt sie ihren Dienst hervorragend. Er hat sie mit der letzten Apanage seiner Kolberger Großtante angeschafft; wahrscheinlich ahnte er schon damals, dass eine seiner bescheidenen Einnahmenquellen schon bald für immer versiegen würde. Bei aller Faszination für seine Schreibmaschine übt sie aber auch Druck auf ihn aus. Er hat sie gekauft, um die Abschlussprotokolle seiner Ermittlungen und seine Rechnungen damit abtippen zu können. Die letzte Rechnung vor drei Monaten. Sein nächstes Protokoll – sie nannten es großspurig Abschluss-Bericht der Detektei Bein & Landow, bei der Adresse schönt er ein wenig, aber sie hatten ohnehin nie Publikumsverkehr – wird er möglichst spät schreiben. Kein Protokoll: keine Abschlussrechnung: keine Einnahmen. Diese logische Perlenkette ist ihm durchaus bekannt. Allerdings will Landow den Fall Gürtler so lange wie möglich noch offenhalten, denn Herrn Gürtler auf die Finger und andere Körperteile zu schauen, ist sein derzeit einziger Fall. Er ist längst zu Ende ermittelt: Gürtler ist bloß ein eitler Bonvivant, der durchaus regelmäßig junge Damen aufsucht, aber seine Frau nur in geringem Maße hintergeht. Frau Gürtler, geborene Wilms, wohnhaft Keithstraße Hochparterre, ist diejenige, die das Geld mit in die Ehe gebracht hat und damals Leo und ihn beauftragte. Wilms & Sohn, Walzbleche und Eisengießerei seit 1873, Halle/Saale, sind eines der vielen prosperierenden Unternehmen, die mit Kanonenrohren und Eisenbahnschienen reich geworden sind. Der observierte, lebensfrohe Schwiegersohn, ein durchaus schneidig zu nennender Staatsbeamter im Ministerium des Inneren, bringt bloß das überschaubare Gehalt eines mittleren Reichsbediensteten nach Haus. Einmal, Landow blättert in Leos Kritzeleien, hat Gürtler im Tiergarten eine junge Dame getroffen. Sie haben für ein paar Minuten nebeneinander auf einer Bank gesessen, nichts hat darauf hingewiesen, dass die beiden sich näher kannten. Sie haben sich unterhalten, und zwar ernst und leise, nicht verliebt und ungeduldig, wie Kompagnon Bein genau notiert hat. Bis auf Gürtlers angedeuteten Handkuss zum Abschied habe es keinen Körperkontakt gegeben, keine Berührung, «zwischen die Sitzenden hätten bequem zwei Aktentaschen gepasst. Quer.» Ach, Leo. Quer. Auch deine Formulierungen werden mir fehlen.

Schließlich hat Gürtler dieser Dame an jenem Tag eine kleine Schachtel Konfekt überreicht, die er zuvor in der Behrenstraße bei Turrini & Sohn gekauft hatte. Gürtler hatte sich dann verneigt, er verstand sich auf elegante Gesten wie ein Hofschauspieler, um dann um exakt 16 Uhr 10 den Tiergarten wieder zu verlassen, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Dame, interessanter Typ, ohne eigentlich schön zu sein, sehr helle Haut, hohe Wangenknochen, möglicherweise Polin oder Russin, möglicherweise aber auch nicht, hatte, die Konfektschachtel auf den Knien, noch auf der Bank gesessen, als Leo dem zu observierenden Gürtler gefolgt war. Der fuhr mit der Pferdebahn brav nach Haus und traf dort um 17 Uhr ein. Zum Abendessen gab es Kalb vom Vortag und Orangeneis, um 22 Uhr 20 wurde das Licht gelöscht. Gürtlers, das wussten sie von ihrer Auftraggeberin, schliefen in getrennten Zimmern. Ob er darüber hinaus auch in anderen Betten schlief, genau das herauszubekommen, war ihr Auftrag, der nun nur noch Landows Auftrag ist.

Bei Verdacht auf Ehebruch ist es meist wie in diesem Fall: ihr Auftraggeber – Landow ertappt sich dabei, hartnäckig Leos leergeräumten Schreibtisch anzustarren –, der Auftraggeber hegt einen Verdacht und beschließt, eine bestimmte Summe in das zu investieren, was man die Wahrheit nennt. Die meisten waren aber trotz aller inneren Qual durchaus bereit und in der Lage, auf die Verkündung der Wahrheit zu warten. Eine Klientin hat Landow einmal das Jüngste Gericht genannt, als er ihr in der Lobby des Löwen-Hotels eine dünne Mappe mit dem Abschluss-Bericht der Detektei Bein & Landow überreichte. Sie hat drei lange Minuten mit den Tränen kämpfend dagesessen, abwechselnd ihn und den verschlossenen Umschlag auf ihren Knien angesehen. Dann schließlich hat sie die zusammengetippten drei Seiten überflogen und den Schluss zweimal gelesen. Als sie ihn danach, die Wahrheit kennend, ansah, hat sie gelächelt.

Landow weiß nicht mehr genau, warum, aber sie hatten sich dann ein Zimmer im Hotel genommen und miteinander gevögelt, bis sie schweißglänzend und außer Atem nebeneinanderlagen. So etwas kam vor, war aber selten.

Frau Gürtler ist, was das anging, nicht ganz sein Fall, aber sie ist vermögend genug, um ihn über die nächsten Wochen zu bringen wie eine dünne Suppe.