Thronfall - Axel Simon - E-Book

Thronfall E-Book

Axel Simon

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Beschreibung

Der neue Fall der Krimiserie um den eigenwilligen Ermittler Gabriel Landow: So unterhaltsam und spannend schreibt niemand über das Kaiserreich. Berlin, 1889. Jetzt rollen Köpfe. Sprengstoffanschläge auf Herrscher-Standbilder kündigen terroristische Umtriebe an. Privatermittler Gabriel Landow glaubt sogar an ein Attentat auf den Kaiser! Nur eine fixe Idee? Das wäre immerhin nicht das einzige Hirngespinst, das er mit sich herumschleppt. Denn Landow verdächtigt seine Herzdame, die resolute Polizeischreibkraft Elba Runge, mit dem Sozialisten Bebel nicht nur die Leidenschaft für eine gerechtere Gesellschaft zu teilen, sondern auch das Bett. Zudem rückt ein Notizbuch voller Zahlencodes den eigenwilligen Ermittler und seinen Kompagnon Orsini jäh ins Visier von Killern. Und der junge Kaiser? Während die Hauptstadt unter einem Glutofensommer ächzt, unternimmt Seine Majestät im Kreise einer handverlesenen Elite eine vierwöchige Kreuzfahrt in die Heimat der nordischen Helden. Aber genau dort, zwischen Morgengymnastik und Mythennebel, hat längst ein anderer ein Auge auf ihn geworfen. Und das birgt noch mehr Sprengstoff als das Dynamit der Terroristen.  

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Seitenzahl: 422

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Axel Simon

Thronfall

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein Fall mit Sprengkraft: der deutsche Kaiser im Visier von Terroristen.

 

Berlin, 1889. Jetzt rollen Köpfe. Sprengstoffanschläge auf Herrscherstandbilder kündigen terroristische Umtriebe an. Privatermittler Gabriel Landow glaubt sogar an ein Attentat auf den Kaiser! Nur eine fixe Idee? Das wäre immerhin nicht das einzige Hirngespinst, das er mit sich herumschleppt. Denn Landow verdächtigt seine Herzdame, die resolute Polizeischreibkraft Elba Runge, mit dem Sozialisten Bebel nicht nur die Leidenschaft für eine gerechtere Gesellschaft zu teilen, sondern auch das Bett. Zudem rückt ein Notizbuch voller Zahlencodes den eigenwilligen Ermittler und seinen Kompagnon Orsini jäh ins Visier von Killern. Und der junge Kaiser? Während die Hauptstadt unter einem Glutofensommer ächzt, unternimmt Seine Majestät im Kreise einer handverlesenen Elite eine vierwöchige Kreuzfahrt in die Heimat der nordischen Helden. Aber genau dort, zwischen Morgengymnastik und Mythennebel, hat längst ein anderer ein Auge auf ihn geworfen. Und das birgt noch mehr Sprengstoff als das Dynamit der Terroristen.

 

Berlin im Deutschen Kaiserreich: Band drei der historischen Kriminalserie um Ermittler Gabriel Landow.

 

«Man kann schon beim ersten Fall feststellen: Der Typ hat Format.» Der Tagesspiegel über ‹Eisenblut›

 

«Babylon Berlin im Kaiserreich.» B.Z. über ‹Goldtod›

Vita

Axel Simon wuchs im Ruhrgebiet auf. Er hat an verschiedenen Theatern zeitgenössische Opern inszeniert und arbeitete danach lange als Creative Director in großen Werbeagenturen. Simon lebt heute in Hamburg.

«Die Lust der Zerstörung ist gleichzeitig

eine schaffende Lust.»

Michail Bakunin (1814–1876)

Erster AbschnittZu Lande

«Dämmrung will die Flügel spreiten,

Schaurig rühren sich die Bäume,

Wolken zieh’n wie schwere Träume –

Was will dieses Grau’n bedeuten?»

Joseph von Eichendorff

«Zwielicht»

1

Sonntag, 6. Januar 89, rund 200 Werst südlich von Moskau

Kanisin hat noch nie an Gott geglaubt. Weshalb sollte er ausgerechnet heute, am orthodoxen Weihnachtsabend, damit anfangen? Aber dieses Ding da draußen, glaubt er, das war vor einer halben Stunde doch noch nicht da. Oder? Dieses Ding dort auf halber Strecke zwischen seiner Wachstube neben dem Hauptportal der Waffenfabrik und der jetzt menschenleeren Allee, die in die Kreisstadt führt. Kanisin sieht manchmal Dinge, die andere nicht sehen. Das liegt an dem, was die Leute das Zweite Gesicht nennen. Kanisin hat vor acht Jahren das Attentat auf den Zaren vorausgesehen, fast auf den Tag genau. Und die Krebsgeschwulst der Witwe Nitkin aus der Parallelstraße ebenfalls. Doch meistens, das weiß er, entstehen seine Visionen bloß aus dem Heimdestillat seines Nachbarn Schlugin. Aber dieses Ding dort vorn, das gibt es tatsächlich. Kein Zweifel. Es steht halb im senfgelben Lichtkegel der einsamen Gaslaterne und halb im festlichen Schwarz der russisch-orthodoxen Weihnacht. Von hier aus betrachtet könnte man denken, es wäre ein großer Schlitten, wie man ihn zum Transport von Waren oder Brennholz benutzt. Von Zugtieren, Ochsen oder Leibeigenen jedoch ist nichts zu sehen. Aber auf diesem Schlitten liegt etwas! Oder? Kanisin dachte zuerst, da säße einer drauf. Ein Angesoffener, der sich erdreistete, direkt vor dem Empfangsgebäude der Kaiserlichen Waffenwerke zu Tula eingeschlafen zu sein. Unsinnigerweise sieht Kanisin sich um, dabei ist heute, am Abend des Weihnachtsfestes, außer ihm niemand hier. Es wird ihm also nichts anderes übrig bleiben, als seinen schweren Mantel anzuziehen und in den Schneeregen zu gehen und – ja, was eigentlich? – den besoffenen Schlittenkutscher aus dem Weg zu schaffen. Hier draußen ist es fast windstill, die kleinen Schneeflocken fallen senkrecht zu Boden und auf Kanisins Gesicht, als er prüfend zum Himmel sieht. Kein einziger Stern ist zu sehen. Weihnachten ist immer ein Stern zu sehen, er kennt das von den Krippen, ein großer Stern mit einem Schwanz. Nicht mal das stimmt also. Kanisin stapft los. Die Bewegung tut ihm gut. Ein großer Transportschlitten, tatsächlich. Die Spuren der Kufen zeichnen sich noch deutlich im Schneematsch der Straße ab. Aber vor dem Schlitten sind keinerlei Fußspuren zu sehen. Weder von Menschen noch von himmlischen Rentieren. Kanisin grunzt. Wie ist das Ding also hierhergekommen?

Er ruft vorsichtshalber zweimal «Hallo?».

Bekommt zweimal keine Antwort.

Auf dem Schlitten sitzt gar keiner. Da liegt nur ein großer Sack drauf. Ein Weihnachtsgeschenk für ihn, Kanisin, eigens dort hingestellt von der Direktion? Er grunzt wieder und nähert sich noch zwei Schritte. Er ist durchaus für einen Spaß zu haben. Der Sack besteht aus grobem Stoff. Ein normaler Sack eben. Oder doch nur ein Scherz von den Kollegen? Haben die streunende Katzen und Pferdemist reingesteckt und stehen jetzt hinten bei der Materialeinfahrt und platzen fast vor Lachen? Tatsächlich, der Sack bewegt sich. Kanisin nimmt seinen Knüppel fester in die Hand. Was immer da drin ist und ihn gleich anspringen soll, er ist präpariert. Kanisin lauscht, ob er ein Brummen oder ein Wimmern hört. Aber nichts. Genug Zeit vertändelt. Entschlossen öffnet er das Seil, mit dem der Sack oben lose zugeschlauft ist. Dann wollen wir die kleine Weihnachtsfee mal befreien, denkt er und grunzt wieder. Als er sieht, was der Sack enthält, steht er bloß erstaunt da und starrt. In dem Sack steckt tatsächlich eine Frau. Eine junge Frau. Ihre Haare sind ganz verstrubbelt. Sie sieht ihn an. Sie ist hübsch.

«Haben Sie die ganze Zeit da dringesessen?», fragt er schließlich.

Sie nickt und sieht ihn nur an.

«Aber warum?», fragt Kanisin.

«Ich habe darauf gewartet, dass Sie herauskommen», sagt sie.

Kanisin fällt nichts Besseres ein, als seine Frage von vorhin zu wiederholen: «Aber warum?»

«Wegen dem da», sagt sie ernst und deutet auf den Schlüsselbund in seiner linken Hand.

Kanisin hebt den großen Bund hoch, als sehe er die vielen Schlüssel zum ersten Mal, es sind 34 Stück, weiß er, sie klirren dabei hell wie Messglöckchen.

Als er zu der Frau zurückblickt, hat sie einen Revolver in der Hand, sieht er. Dann sieht Kanisin nichts mehr. Nie mehr.

 

Das Verschwinden des Pförtners gibt nach den Feiertagen Rätsel auf. Aber Kanisin sei immer schon ein Kauz gewesen. Atheist, Junggeselle und wer weiß was noch. Das Verschwinden des Prototyps 37 aus der neuen Baureihe von Repetiergewehren für die Armee wird seltsamerweise erst Wochen später bemerkt, dann aber nicht weiterverfolgt, da Chefingenieur Mosin die für die Nr. 37 verwendete Stahlsorte ohnehin nicht für vielversprechend hält. So geraten beide in Vergessenheit, Kanisin und der Prototyp.

2

Montag, 4. Februar 89, etwas nördlich von Berlin Vier Wochen später, knapp 1800 Kilometer weiter westlich:

Sein Gefühl hat ihn nicht getrogen. Der See liegt wünschenswert einsam vor ihm im goldenen Vormittagslicht. Walther Mangesius, seit vier Jahren Materialeinkäufer bei der AEG in Berlin und seit elf Tagen frisch geschieden, hat die Stadt verlassen, um, ja, warum überhaupt? Um zur Ruhe zu kommen wahrscheinlich. Deshalb ist er hier heraus in den Norden der Grafschaft Ruppin gereist, gerade mal achtzig Kilometer nördlich der Hauptstadt. Er hat stille Wanderungen unternommen, obwohl er dem Wandern nie etwas abgewinnen konnte. Jetzt will er eislaufen. Der See ist zugefroren und mit einer dünnen Schneeschicht dekoriert wie ein Weihnachtsstollen. Der Gedanke an die Weihnachtsfeste mit Marie und ihrer Mutter stülpt kurz Melancholie über ihn. Dann gurtet er die Kufen unter seine neuen Winterstiefel und stellt sich auf. Er ist noch unsicher auf den Beinen, um Halt bemüht. Fast so wie im richtigen Leben als frisch geschiedener Junggeselle. Durch die Apanage, die er Marie für die nächsten drei Jahre zu zahlen eingewilligt hat, wird er sich einschränken müssen, aber er wird frei sein. Frei wie hier. Nach den ersten Stürzen aufs Eis hat er sich noch besorgt umgesehen, doch niemand bekommt sein unbeholfenes Straucheln hier draußen mit. Mangesius wickelt sich den Wollschal fest um den Hals und gleitet, jetzt schon sicherer auf der Mitte dieses völlig unbekannten, Stechlin genannten Sees, dahin. In seiner Jugend war er ein gekonnter Eisläufer, und auch jetzt, mit Ende vierzig, kommen die vertrauten Bewegungen und Abläufe rasch zu ihm zurück. Er gleitet, fühlt das Prickeln der eisigen Luft auf seinen Wangen. Wird übermütig. Bewegt sich mit weit ausgebreiteten Armen kreuz und quer über den See. Der Reiseführer auf dem Nachttisch seiner Pension in Rheinsberg berichtet von einer Legende, die diesen See umgibt. Der Rheinsberger See, von dem aus man auf das Jugendschloss eines längst toten Königs blickt, wäre freilich malerischer zu befahren gewesen, aber der ist nicht zugefroren. Der Stechlin-See hingegen ist es und wird außerdem, so der Führer, zu gewissen Zeiten Ort eines besonderen Naturschauspiels, von dem die Leute hier zu berichten wissen. Was genau das ist, das weiß er nicht mehr. Irgendetwas mit einem Hahn, der auf einer Fontäne aus dem See emporsteigt. Von mir aus, denkt Mangesius, solange er das nicht jetzt tut. Er versucht eine Pirouette. Er hat mit dem Misslingen gerechnet, sein Sturz überrascht ihn nicht. Er lacht über seinen Übermut, liegt keuchend rücklings auf dem Eis und blinzelt in das freundliche Hell des Himmels. Morgen will er noch einmal hierherkommen, beschließt er, übermorgen muss er schon nach Berlin zurück, am Donnerstag Punkt sieben beginnt wieder sein Dienst in Rathenaus Allgemeiner Elektricitäts-Gesellschaft beim Stettiner Bahnhof. Mangesius atmet die kalte Luft tief ein, schließt zufrieden die Augen, da hört er den Schuss. Er rappelt sich mühsam hoch. Den nächsten Schuss hört und sieht er gleichzeitig. Dicht neben ihm spritzen Eissplitter hoch. Mangesius braucht einen Moment, um sich auf den Schlittschuhen ganz aufzurichten, dann winkt er mit weit ausgebreiteten Armen in die Richtung, in der er den Schützen vermutet. Er ruft mehrmals, um sich bemerkbar zu machen und nicht versehentlich für ein Stück Schwarzwild gehalten zu werden, das sich aufs Eis hinausgewagt hat. Den dritten Schuss hört und sieht er nicht mehr. Er spürt ihn bloß in seine mit Eiseskälte und Zukunftshoffnungen gefüllte Brust einschlagen. Dann spürt er nichts mehr.

 

Der Betreiber einer benachbarten Köhlerhütte findet den Toten auf dem Eis erst am nächsten Morgen. Man birgt ihn vorsichtig, da es in der Nacht zu tauen begonnen hat und das Eis bereits gefährlich knackt. Der Mann, ein Feriengast aus Berlin, wurde ohne Zweifel erschossen, stellt man fest. Was man sich nicht erklären kann, ist, wie. Dort, wo man die Leiche fand, mitten auf dem See, ist das Ufer an allen Seiten zu weit entfernt, selbst ein geübter Schütze würde von dort nicht sicher treffen. Außerdem hat man keine Fußspuren auf dem Eis entdeckt außer denen des Erschossenen. Rätselhaft. Das wird man melden müssen.

3

Freitag, 3. Mai 89, mitten in BerlinZiemlich genau drei Monate später.

Zwei Prinzen, einer davon nicht mal volljährig, und ein Baron mussten dran glauben. Sie verloren ihren Kopf. In Stücke gerissen von der Urkraft des Dynamits, das zumindest vermuten die untersuchenden Polizeikräfte. Die Sprengladungen waren in allen drei Fällen der Denkmalsschändung so angebracht, dass tatsächlich nur die hohlen Häupter der Standbilder dran glauben mussten. Die Mitglieder des deutschen Hochadels präsentieren sich demzufolge auf den Bildern, die die Presse davon veröffentlicht, erschreckend kopflos. Ein Abendblatt titelt deshalb forsch: «In Berlin rollen die Köpfe!» Man vermutet anarchischen Vandalismus. Das aber ist falsch. Denn um die Bürger nicht zu beunruhigen, hat die Polizei zurückgehalten, was man an allen drei Tatorten fand: ein Schreiben, aufgemacht wie ein schnell zusammengeschusterter Propaganda-Handzettel. Darauf abgebildet ist jeweils das grimmige, holzschnittartige Porträt eines Menschenaffen der Gattung Schimpanse, der schief auf seinem dunklen Schädel eine Krone trägt. Unter diesem Bild befinden sich jeweils nur zwei Sätze:

Ein Arbeiter verdient 600 Mark im Jahr.

Ein Kaiser verdient den Tod.

Das war beunruhigend. Das ging über blindwütige Zerstörung weit hinaus. Das war eine Absichtserklärung und musste gemeldet werden.

4

Mittwoch, 8. Mai 89, Ritterstraße, ganz oben, ganz hinten

Ein Betrunkener wird im fortgeschrittenen Rausch hilflos wie ein Kind. Ein Trinker dagegen findet auch in diesem würdelosen Zustand noch den Weg nach Haus und sogar das Schlüsselloch. Es sei denn, das wird ihm geradewegs vor dem einstichbereiten Schlüsselbart fortgerissen, weil von innen jemand abrupt die Tür öffnet.

Der in tiefer Nacht heimkehrende Landow, es wird schon dreie durch sein, den Oberkörper tief zum Schloss hinabgebeugt, stutzt noch, da ist die Gestalt, die ihm von drinnen entgegenrennt, schon an ihm vorbei und die Stiege hinabgestürmt. Landow ist, seinem Zustand angepasst, verzögert fassungslos. Ein Einbrecher! Bei ihnen! Die Tür weist äußerlich keine Anwendung roher Gewalt auf, keine Kratzer von Stemmeisen oder Kuhfuß, das zumindest stellt der Sonderermittler selbst in dicht benebeltem Zustand noch fest. Also muss das ein Profi gewesen sein, der mit Dietrich und Draht hantiert. Gut, dass es bei ihnen nichts zu holen gibt, denkt sich Landow und verschließt sorgsam von innen die Tür. Dann schaut er sicherheitshalber doch in der Kaffeedose mit dem Palminsel-Motiv nach, die in der Abstellkammer neben den getrockneten Hülsenfrüchten steht und ihr gemeinsames Wirtschaftsgeld verwahrt. Kein originelles Versteck, das weiß er. Jeder Einbrecher kennt das. Aber hier fehlt nichts. Entweder er hat den Dieb beim Stöbern gestört, oder der hat etwas anderes gesucht. Schwankend streift er die Schuhe ab. Dann macht er doch noch Licht und inspiziert die zweieinhalb engen Zimmer, die nachts ihre Wohnung, tagsüber ihre Detektei Orlando sind. Orsini, sein Kompagnon und das «Or» von Orlando, ist nicht da, schläft wieder fremd, Landow ahnt schon, neben wem. Im Zwielicht sieht diese Ansammlung gebrauchter Möbel und klotziger Karteischränke, die bloß Leibwäsche enthalten, und der Schreibtische, die mit wenigen Handgriffen zu Betten umfunktioniert werden können, noch trostloser aus. Bei seinem Inspektionsgang denkt er noch einmal rasch Einbrecher! Bei ihnen!, dann entdeckt er auf dem Kaminsims eine Lücke. Da fehlt was. Aber das hat er selbst vergangene Woche dort weggenommen und fortgebracht. Dort stand die Urne mit der Asche seines missratenen Bruders, der im letzten Sommer in seinen Armen starb.

Drei Minuten später hat Landow seine abgestreiften Kleider in der Wohnung verteilt und löscht das Licht. Man kann sich, sinniert er, schon auf einem breiten Strom zügig Richtung Schlaf treibend, in dieser Stadt wirklich nirgends mehr sicher sein. Selbst bei ihnen nicht, unterm Dach.

 

Dumpf wie die Kesselpauken einer Truppenparade, unerbittlich wie ein entzündeter Zahn. Orsini, eben erst nach Haus gekommen, fährt aus dem schwarzen Schlaf hoch. Draußen dämmert gerade der Tag. Was soll dieser Lärm? Der kommt, das zumindest ist feststellbar, von ihrer Wohnungstür und besteht im Wesentlichen aus dem Schlagen von Fäusten. Orsini wickelt sich eilig aus seinen Decken und steht auf, da wird das Hämmern an die Tür abrupt beendet. Holz splittert. Die Tür fliegt auf. Schritte donnern herein. Sie sind zu viert. Der Erste hält Orsini ein Schreiben hin:

Hausdurchsuchung aufgrund Verstoßes gegen das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878.

Dann folgt viel Kleingedrucktes, in dem mehrfach das Zeichen «§» vorkommt, danach eine unleserliche Unterschrift und drei Dienststempel. Vier Leute sind für eine Durchsuchung ihrer Räume großzügig bemessen, denkt er und lauscht in den nächsten Minuten der raschen, an- und abschwellenden Geräuschentwicklung im Badezimmer, in der Küche, in Landows Zimmer und direkt hier vor seiner Nase. Orsini, gerädert von der Nacht mit der unermüdlichen Lisbeth Brecht, legt den Amtswisch zur Seite und geht so, wie er schlief, nämlich nackt, näher an den Mann heran, der gerade das Karteifach mit seinen Strümpfen durchsucht.

«Vielleicht möchten Sie diesen Tag mit einer Leibesvisitation beginnen, Herr Chefinspektor? Und falls Ihnen dabei auffallen sollte, dass ich, fürs Protokoll, nur über einen Arm, den linken nämlich, verfüge, bitte ich, das nicht politisch zu interpretieren und gegen mich zu verwenden.»

Der Mann, in schlechtes Zivil gekleidet wie die meisten Polizisten der unteren Ränge, unterbricht seine Suche tatsächlich für einen Moment. Er schaut zuerst auf Orsinis Armstumpf und danach auf die übrige Nacktheit, dann sucht er, was auch immer, wortlos weiter. Bismarcks sogenanntes Sozialistengesetz sollte bereits vor Jahren abgeschafft werden und ist ohnehin ein Widerspruch in sich. Es gibt zwar sozialistische Abgeordnete im Reichstag, aber deren Basis, eine sozialistische Partei, ist offiziell verboten. Noch. Im nächsten Jahr, zur Reichstagswahl Anfang 90, soll es zu Fall gebracht werden. Noch aber ist es in Kraft, wie man sieht und nicht überhören kann. In ihrer Küche scheppert was. Der Mann in Orsinis Zimmer untersucht jetzt sogar den Rückraum zwischen Schrank und Fußleiste.

«Darf ich mich in meinen Wohnräumen frei bewegen, Herr Generalmajor?»

Als er keine Antwort bekommt, geht Orsini rüber ins Badezimmer, wo der dortige Spürhund gerade die fortschrittliche Wasserspülung ihres Klosetts betätigt.

«Was ist das?», fragt der Mensch ihn prompt.

«Eine Toilette», antwortet Orsini und verkneift sich nicht den Zusatz: «Noch nie gesehen? Müssen Sie im neuen Präsidium noch über die Sickergrube? Ich dachte, die Rote Burg[*] wäre in allen Belangen hochmodern? Um noch einmal zu spülen, nur an der Kurbel drehen, das füllt den Behälter, dann den Hebel ziehen, und schon hat der ganze Scheiß ein Ende.»

Der Toiletteninspekteur, auch er in schlecht sitzendem Anzug und abgetretenen Schuhen unterwegs, scheint kurz zu überlegen, ob er ihn dafür schlagen oder verhaften soll, aber dann blickt er bloß auf Orsinis nicht vorhandene Vorhaut.

«Jude?»

«Ich denke, eher Sozialist. Das zumindest steht auf Ihrem Marschbefehl.»

«Ziehen Sie sich mal lieber was an, mein Herr. Schämen Sie sich gar nicht?»

Orsini kommt nicht dazu, den Kopf zu schütteln, da taucht der Sozialistenjäger aus der Küche, der bisher den meisten Lärm veranstaltet hat, in der Tür auf und fragt ihn: «Wohnen Sie hier allein?»

Nanu? Vorhin, gegen viere oder so, ist Landow doch noch in seinem Zimmer gewesen, erinnert Orsini sich. Man hat ihn (wie immer) gehört und (wie meistens) gerochen. Tatsächlich, das Bett nebenan ist zerwühlt, aber leer. Orsini kratzt sich mit der Hand am Kopf und versucht gerade, das und diesen Aufmarsch hier zu verstehen, da ertönt von nebenan ein Pfiff. Alle vier Polizisten sammeln sich im Flur, jeder von ihnen schüttelt kurz das dienstliche Haupt, dann rücken sie ab. Keine dreißig Sekunden später hört man sie unten im Vorderhaus auf die Ritterstraße hinauspoltern.

Der Barbar in der Küche hat tatsächlich zwei Teller zerschlagen und natürlich keinen Grund gesehen, sich dafür zu entschuldigen.

«Sind Sie Jude?!», bellt ihn von hinten eine Stimme an. Orsini fährt herum. Ach nee, guck an, der Landow!

«Wo waren Sie denn, Mensch?»

«Draußen, auf dem Fenstersims. Ich war nicht sicher, wer hier so dringend reinwill. Habe gerade ein paar Meinungsverschiedenheiten mit dem Betreiber eines Wettbüros. Ich sage nur: Pole. Übrigens: Gestern, als ich – vor Ihnen – nach Haus kam, überraschte ich hier einen Einbrecher. Sie müssen nicht nachsehen, unsere Haushaltskasse ist noch da. Drei Stunden später durchsucht die vierfache Menge Leute unser hochelegantes Domizil wegen sozialistischer Umtriebe, aber den Engels und Bakunin auf Ihrem Bücherbrett haben die nicht beanstandet. Lesen Sie das Zeug überhaupt oder dekoriert es bloß das leere Regal? Wie auch immer: reichlich seltsam, Herr Detektiv, oder?»

Orsini fegt, immer noch nackt, mit dem Kehrblech die Keramikscherben fort. Erst als er die penibel im Ascheimer versenkt hat, guckt er Landow an und sieht dabei irgendwie schuldbewusst aus.

«Das Einzige, was irgendwer bei uns außer unserer angenehmen Gesellschaft gesucht haben könnte, scheint mir demnach das hier zu sein.» Sagt’s, dreht das Kehrblech um und nimmt etwas von dessen Unterseite fort, das dort festgeklebt war. Ein Notizbüchlein, gerade mal handtellergroß. Es enthält Zahlen. Viele Zahlen. Ganze Kolonnen davon.

«Geldschrank-Kombinationen? Tombola-Gewinnnummern? Abgekartete Pferdewetten? Was ist das, Orsini?»

«Keine Ahnung, Landow, ehrlich. Das Ding war bloß Beifang. Gestern gegen Mittag, ich extrahierte gerade oben beim Französischen Dom erfolgreich ein paar lohnende Brieftaschen, fiel es mir in die Finger. Fühlte sich an wie eine kleine Börse, also nahm ich’s mit. Ungewöhnlich war, dass mir danach zwei Männer folgten. Erst hielt ich es für ein Hirngespinst, aber dann merkte ich, dass es keins war. Dass die mich möglicherweise wegen dieses Büchleins verfolgten, darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich dachte zuerst an Zivilpolizei. Ich habe dann ein paar ungewöhnliche Abkürzungen genommen, sogar die hundertprozentige durch die Nationalgalerie, und als ich gestern Nachmittag hier ankam, war ich eigentlich sicher, sie abgehängt zu haben.»

«Eigentlich war er sicher», äfft Landow ihn nach. «Offenbar nicht. Und eins steht immerhin nun fest: Von der Polizei waren die wohl kaum, denn die hätten auf alle Fälle Sie mitgenommen, wegen Taschendiebstahls, wegen Ihres Bakunins oder weil Sie Jude sind. Oder einfach bloß so zum Spaß. Mein Großvater sagte bereits: Bücher können einen in Teufels Küche bringen. Seine wertvollen Ausgaben des Marquis de Sade haben wir erst nach seinem Tod durch Zufall auf dem Speicher gefunden. Gemessen an seiner Winzigkeit hat dieses rätselhafte Heftchen hier aber offenbar das Zeug zu echten Scherereien.»

Orsini, zu dieser frühen Stunde noch nicht bereit, seine Fahrlässigkeit einzugestehen, beobachtet seinen Kompagnon eine Weile und fragt dann: «Sie kommen mir unausgeglichen vor, wenn ich das sagen darf. Verraten Sie den Grund? Liebeskummer, Landow?»

···

Zur selben Zeit etwa, aber viel weiter nördlich in der großen Stadt, etwas unterhalb vom Güterbahnhof an der Bernauer Straße, können drei junge Männer nicht anders, als sie immer wieder verstohlen zu betrachten. Sie, das sind zwei große, an sich nicht weiter verdächtig aussehende Transportkoffer mit kleinen Rädern an jeweils einer Seite und stabilen Haltegriffen an der anderen. Sämtliche Kanten sind mit Metall beschlagen, die Ecken der Behälter sind zusätzlich armiert. Eine der Kisten ist kaum größer als ein Reisekoffer, die andere ist schlank und ziemlich lang, fast mannshoch. Die beiden Dinger sind seit gestern Abend hier. Mit der Post war vor ein paar Tagen zuerst ein Gepäckschein gekommen, gestern am Nachmittag haben sie die beiden Kisten damit am Görlitzer Bahnhof abgeholt und wie verabredet in ihrer Wohnung deponiert. Und seitdem sehen die drei jungen Männer ständig zu ihnen herüber und fragen sich still, was diese mit plombierten Schlössern versehenen Behälter beherbergen könnten. Aber sie halten sich eisern an die Anweisung aus dem Begleitschreiben, die Kästen unter keinen Umständen zu öffnen. Man werde sie zu gegebener Zeit abholen. Wer ist man? Wann ist die gegebene Zeit? Das Warten ist das Schlimmste. Die drei jungen Männer, keiner älter als neunundzwanzig, ein Tscheche, ein Österreicher, ein Deutscher haben das Warten satt. Wie froh waren sie, als vor einer Woche endlich das Zeichen zum Losschlagen kam. Wie groß war die Enttäuschung gewesen, als sie merkten, dass die zu exekutierenden Prinzen nur Bronzestandbilder waren. Aber als es dunkel wurde und jeder von ihnen, Dynamit und Zündkapsel noch sauber getrennt, sein ihm zugelostes Ziel ansteuerte, da hatte die Erregung sie doch übermannt. Jedem von ihnen hatten die Hände gezittert beim hastigen Anbringen der schmalen Dynamitketten. Sie hatten sich genau an die Bauanleitung gehalten, hatten geringe Dosen zusammengekoppelt wie bei einem Diadem. Diese Dynamitkronen hatten sie den Standbildern um die Stirn gelegt wie einen zerstörerischen Lorbeerkranz. Dann verzögerte Zündung und nichts wie weg! Sie waren schon einen halben Häuserblock weiter, als es hinter ihnen krachte. Am nächsten Tag hatten die Zeitungen darüber berichtet. Im Reich rollen die Köpfe hat eine geschrieben. Dabei stimmte das gar nicht. Die Hohlschädel der Prinzen rollten nicht, sondern waren in tausend Stücke zerrissen worden. Fortgeflogen wie ein aufgeschreckter Schwarm Stare. Ihre Guillotine heißt Dynamit. Aber ihre Revolution wird nicht geringer sein als die vor hundert Jahren. Sie haben noch nicht einmal richtig angefangen. Sie haben bloß geübt. Sie haben nur Krach gemacht. Noch ist kein Blut geflossen.

Der Slowake, er nennt sich Desmoulins, denn jeder hier hat nur einen Künstlernamen, damit sie bei einer Verhaftung nichts preisgeben können, Desmoulins also, ein knochiger Schlacks mit rostroten Haaren, kommt gerade vom Klo zurück und tut so, als würde er die beiden Hindernisse im Korridor nicht beachten. Aber er kann nicht anders als stehen zu bleiben, auf sie hinab zu starren, sie kurz mit der Fußspitze anzustoßen und dann zu den anderen in die Küche zu gehen. Wahrscheinlich werden sie heute das tun, was sie seit Wochen in ihrer engen Mietwohnung im Dunstkreis der Brauerei tun: warten. Im befremdlichen Gemisch des süßlichen Hefegeruchs aus der Franseckistraße und des stechenden Apothekendufts der Sprenggelatine, die, portionsweise in Ölpapier gewickelt wie Hartwurst, in der Kammer nebenan lagert. In dieser lähmenden Atmosphäre werden sie warten, bis es endlich losgeht.

5

Donnerstag, 9. Mai 89

Sie müssen nicht groß darüber reden, und deshalb tun sie es nicht. Beide sind nicht freiwillig hier. Gabriel Landow würden mindestens fünf andere Orte einfallen, an denen er jetzt lieber wäre, und dem kleinen, stillen Herrn wahrscheinlich auch, der sich im Waschraum des Schauspielhauses direkt neben ihm sehr penibel die Finger abtrocknet. Trotzdem, vielleicht sogar, um höflich zu sein, fragt Landow diesen Herrn Erbs, den Begleiter einer Begleitung von Landows Begleitung: «Und, wie gefällt sie Ihnen?»

Clemens Erbs, Anfang sechzig und noch immer eine schneidige Erscheinung, keine Spur von Fett unter der Weste, keine Hautlappen unterm Kinn, könnte darauf mehrere Antworten geben, die früher oder später in Schwärmerei münden würden. Und das entspräche absolut den Tatsachen, denn Erbs findet die Witwe Grün, die er heute ins Theater begleiten darf, überaus apart. Und genau das sagt er dem großen Herrn am Waschtisch neben sich: «Überaus apart.»

«Eine erstaunliche Antwort. Sie finden die Wildente von Ibsen überaus apart? Wenn sie mich fragen: Mir ist Wildente mit Preiselbeersoße lieber. Aber verraten Sie mich nicht, das könnte bei unseren Damen Ärger geben.»

Der kleine Herr Erbs stutzt, bemerkt das Missverständnis und kann, während sie von fremden, erleichterten Herrn durch die Tür ins Foyer hinausgeschoben werden, nur noch ergänzen: «Ach, Sie meinten das Stück.»

Exakt zur gleichen Zeit auf der Damentoilette gegenüber waschen sich die Begleiterinnen der Herren Landow und Erbs die Hände. Sie sind absolut freiwillig hier. Sie verfolgen dieses moderne Schauspiel, in dem es um gesellschaftliche Doppelbödigkeit geht, um Verlogenheit und Lebenslügen aller Art, sehr gebannt. Aber das ist gar nicht Thema ihres kleinen Toilettengesprächs. Elisabeth Grün, Witwe eines wohlhabenden Spielzeugunternehmers und wie ihre Freundin, die Polizeisekretärin Elba Runge, leidenschaftliche Verfechterin der Sozialdemokratie, hat etwas auf dem Herzen.

«Gerade heraus, Elba, wie finden Sie ihn?»

«Ihren Begleiter? Hm, still, tadellose Manieren, gut aussehend, etwas melancholisch vielleicht, aber das kann am Stück liegen. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ich habe ihn vor zwei Stunden ja zum ersten Mal gesehen.»

Frau Grün nickt. Sie ist jetzt Anfang sechzig und beileibe keine Schönheit. Das weiß sie. Nach dem Tod ihres Mannes vor knapp zwei Jahren gab es einige Galane, verarmte Offiziere, glücklose Dichter, hadernde Erfinder, die erst ihre Aufwartung machten, dann allzu schwere Blumengebinde ranschleppten und schließlich über eine gemeinsame Zukunft sprechen wollten. Frau Grün aber fühlt sich nach einer quälend farblosen Ehe zum ersten Mal wie befreit, will zu den Gebinden sonst nichts Bindendes, gibt aber gern und reichlich von ihrem Vermögen für die gute Sache, den Klassenkampf. Dennoch kann sie nicht umhin, diesen stillen Herrn Erbs zu mögen. Er antichambriert nicht, er kommt ihr nicht mit fragwürdigen Buketts und schon gar nicht mit gemeinsamen Zukunftsvisionen. Er ist einfach an ihrer Seite, öffnet Türen, zieht die bewundernden Blicke weitaus Jüngerer auf sich und lächelt. Ein echter Herr, ein wahrer Glücksfall. All das tut ihr gut. Aber genau das macht ihr Angst.

Frau Grün, jetzt in der Ecke bei den Frisierspiegeln, nimmt einen verstohlenen Zug von Elbas Zigarette. Seit der Spielzeugfabrikant Grün, trotz seines Metiers in jeder Hinsicht unbunt und fantasielos, seine letzte Ruhe in Weißensee gefunden hat, tut sie gern verbotene, undamenhafte Dinge: auf Theatertoiletten an fremden Zigaretten ziehen, heimlich Mitglied in der illegalen Sozialistischen Arbeiterpartei SAP sein, auf Parteiveranstaltungen wie ein Droschkenkutscher «Hurra!» rufen und Bier aus Flaschen trinken. Und – sich von einem geheimnisumflorten Herrn wie diesem Clemens Erbs begleiten lassen.

Das erste Klingelzeichen mahnt zur Eile.

«Könntest du, Genossin, wohl mal einen Blick in eure Polizeikartei werfen? Ob über ihn etwas vorliegt? Nicht auszudenken, wenn ja. Doch wenn ich einen Blick in den Spiegel werfe, frage ich mich, weshalb ein Herr wie er meine Nähe sucht.»

Elba Runge stempelt rasch die Zigarette aus und versucht ein Grinsen: «Wenn ich ein Blick auf dein Konto werfe, fiele mir ein Grund ein, Genossin Grün.»

Frau Grün betrachtet ohne Freude die beiden messerscharfen Hautlappen zwischen ihrem zu breiten Kinn und ihrem altbackenen Perlencollier und antwortet halblaut, nur wie für sich: «Erbs ist anders. Und wenn schon. Es ist ja genug da.»

Dann lassen auch sie sich zurück ins Foyer spülen, wo der stille Herr Erbs und der laute Herr Landow bereits auf sie warten. Elba nimmt einen großen Schluck von Landows Riesling, dann noch einen.

«Das tut gut, Landow. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie sich aus dem Staub gemacht hätten.»

«Aber nicht doch, Frau Runge, statt mit Ihnen etwas Nahrhaftes zu essen und dabei ein gehaltvolles Gespräch zu führen, sehe ich mir jetzt noch weitere zwei Stunden norwegische Langweiler an.» Da klingelt es zum dritten Mal, man muss wieder hinein.

Kaum sitzen sie, wird das Licht abgedunkelt, und der dritte Akt beginnt.

Der feine Erbs spürt neben sich weich und taftummantelt den Oberarm der Witwe Grün. Das tut ihm gut. Und genau das beunruhigt ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er, Clemens Erbs alias Clemens von Erbs alias Johannes von Kaltern alias Gerhard Schleunitz alias Conrad Treff alias Heinrich-Paul Stifter, verliebt. Der erfolgreiche und in diversen Bezirken des Reiches gesuchte Heiratsschwindler wünscht sich zum ersten Mal im Leben einen Hafen. Gemeinsam mit Frau Grün. Ihr vermutlich beträchtliches Vermögen würde dabei keinen Ballast für sein Gefühl darstellen. Doch sie zögert, redet von Bebel und Ibsen, ist freundlich zu ihm, zuvorkommend. Aber nicht mehr. Das ist er nicht gewohnt. Frauen waren wie Wachs in seinen Fingern, diese ist Gusseisen. Aber er will nur diese. Nur noch diese eine, das große, kastellartige Lietzower Haus mit dem schattigen Garten dahinter, den Blick auf den Fluss, den etwas dunklen, aber großen Salon, die Annehmlichkeit eines wöchentlichen Hausarztbesuchs, einen Menschen in seiner Nähe, dessen Anwesenheit einen freut und dessen Abwesenheit einen sich ungut halb fühlen lässt. Er will, stellt Erbs einmal mehr im Dämmerlicht des Theaterparketts fest, jetzt genau das, was er seinen Damen sonst immer nur zu wollen vorgegaukelt hat.

Derart versunken in eigene Gedanken muss er Anfang des fünften Aktes eingeschlafen sein. Als er erwacht, ist es gottlob noch dunkel im Saal. Erbs spürt wieder den weichen Arm der Witwe Grün, und er hört, zur Bühne hinaufblinzelnd, just den Doktor im Stück den Satz sagen: «Das wäre das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen, so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück.»

Dieser Satz trifft Erbs in Reihe fünf wie ein Messer ins Mark. Sein ganzes Leben hat er gelogen. Jetzt belügt das Leben ihn. Es ist, fühlt Erbs unausweichlich wie Moses auf dem Sinai, jetzt an der Zeit, etwas Wahrhaftiges zu tun. Er muss ihr seine Liebe nicht gestehen. Er muss sie ihr beweisen.

 

Es ist längst elfe durch, als Elba und Landow, immerhin Arm in Arm, nach Hause gehen. Vor einem kleinen Hotel in der Wadzeckstraße, das letzten Monat aufgemacht hat, bleibt er stehen. Sie gehen meistens in Hotels, um sich nah zu sein. Das hat sich anfangs so ergeben, und das ist so geblieben. Elba, heute ohnehin schweigsamer als sonst, braucht einen Moment, um zu begreifen. Dann schüttelt sie den Kopf. Er kennt die Kombination Kopfschütteln mit Wangenkuss und Kopfschütteln mit schnellem Reiben über seinen Oberarm. Die Variante Kopfschütteln ohne was anderes ist ihm allerdings neu.

«Geht nicht, Landow, nächste Woche kommen die Bergleute zum Kaiser. Da muss noch so viel vorbereitet werden. Ich muss morgen früh vor dem Dienst noch zwei Reden für Bebel abtippen, und am Abend ist Versammlung.»

Zwei stumme Ecken weiter haben sie schon Elbas Gollnowstraße erreicht. Vor der Haustür sieht er sie ernst an. «Na, dann tippen Sie mal schön. Ihr Einsatz zur Rettung des Proletariats in allen Ehren, aber ich würde mich über etwas Zeit mit Ihnen freuen. Ohne Herrn Ibsen, ohne Herrn Bebel, ohne Kohlekumpels. Nur Sie und ich, Frau Runge. So wie früher. Halten Sie das für möglich?»

Den Schlüssel schon im Schloss, dreht sie sich zu ihm und sagt nicht nur wegen der späten Stunde sehr leise: «Sollte der Adel jetzt etwa schon eifersüchtig werden aufs Proletariat, Graf Landow? Tatsache ist, dass der Kaiser bereit ist, nächste Woche eine Delegation der streikenden Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Schlesien zu empfangen. Das ist eine historische Chance. Da müssen private Interessen mal hintenanstehen, fürchte ich. Gute Nacht.»

Kein Kuss. Nicht mal ein Kopfschütteln. Bloß Tür auf, Tür zu.

6

Mittwoch, 15. Mai 89

Knappe Woche später, der Frühling kommt, die Bergleute sind schon wieder weg. Deren Besuch beim Kaiser war ein voller Erfolg, sagt Elba. Für wen genau, behält sie vorerst für sich. Keine Chance für Landow, das näher rauszufinden, denn jetzt müsse natürlich allerhand nachbereitet werden. Der Genosse Bebel arbeitet außerdem an einem neuen Buch, und er schätzt, sagt Elba, ihre Fähigkeit, seine manchmal komplizierten Texte auf den Punkt zu bringen. Manchmal, jetzt gerade zum Beispiel, ist Landow nicht sicher, ob der feine Abgeordnete nicht auch das Fräulein Runge auf den Punkt zu bringen vorhat. Der Kerl ist fast fünfzig und verheiratet! War das je ein Hinderungsgrund?

In Ermangelung eines zu lösenden Falles haben Landow und Orsini deshalb beschlossen, ihren Spürsinn zu kitzeln und zumindest das Rätsel um das geheimnisvolle Notizbuch zu lüften. Es besteht immerhin ein begründeter Verdacht, dass die kleine Kladde voller Zahlen Grund für einen Einbruch und für eine fingierte Polizeirazzia war. Dass die vier Typen, die letzte Woche ihre Wohnung durchsuchten, keine Polizisten waren, hat Elba ihnen mittlerweile bestätigt. Mal sehen, ob irgendwer immer noch Interesse an diesem Büchlein hat. Sie haben deshalb an drei Tagen hintereinander eine Chiffre-Anzeige in der Vossischen und in der Volks-Zeitung aufgegeben:

Notizbuch gefunden, Format: 8 × 10 Zentimeter, Fundort Nähe Alexanderplatz, kein Interesse an Finderlohn, Chiffre.

Auf die dritte Anzeige hin hat sich tatsächlich jemand gemeldet. Für die Übergabe haben sie sicherheitshalber einen öffentlichen Treffpunkt vereinbart. Am Königsplatz, direkt zwischen Krolls Etablissement und dem Reichstag, an der Südseite der Siegessäule beim Tiergarten, am helllichten Tag. In drei Minuten ist es so weit. Als Erkennungszeichen haben sie angegeben: Mann in blauer Jacke mit Postpaket. Das ist Herr Curio, ein älterer Mann, der manchmal Botengänge für sie macht. Wenn derjenige, der auf das Chiffre geantwortet hat, tatsächlich der ist, der nicht zögerte, ihnen vergangene Woche die Tür einzutreten, ist vielleicht doch Vorsicht geboten. Curio kennen die nicht, dem würden sie nichts tun.

Herr Curio sitzt also in blauer Jacke, ein leeres Paket auf den Knien, seit zehn Minuten auf der Südseite und guckt Löcher in die milde Großstadtluft. Aber jetzt scheint es loszugehen. Seit wenigen Augenblicken sitzt Curio dort nicht mehr allein. Ein Mann mit braunem Hut hat sich gerade zu ihrem Strohmann gesetzt und spricht ihn jetzt an, wie Landow aus seinem Versteck sieht. Curio nickt und übergibt dem Mann, das haben sie so verabredet, jetzt das Büchlein. Der Fremde blättert das kleine Heft rasch durch und nickt dann Curio zu. Dann steht er auf, greift sich grüßend an die Krempe und geht zügig Richtung Süden davon. Da spritzen aus Curios Paket helle Kartonflocken auf, und ihr Strohmann sinkt ganz langsam leblos auf die Seite. Der leere Karton purzelt zu Boden. Bereits im Näherlaufen sieht Landow deutlich den dunklen, schnell größer werdenden Fleck auf der Brust ihres Boten.

···

Am frühen Nachmittag sieht Landow Herrn Curio zum letzten Mal. So still und nackt auf dem Arbeitstisch des Pathologen Pfeiffer in der Charité sieht er noch kleiner aus als ohnehin schon.

«Sie kannten ihn?», fragt Pfeiffer, mit einer langen Stahlnadel den Schusskanal in Curios Brust erforschend. Landow nickt. Dass eigentlich er selbst oder Orsini da auf dem Tisch liegen sollte, verschweigt er lieber.

«Der Schuss muss aus erhöhter Warte abgegeben worden sein», resümiert Pfeiffer. «Wenn der Tote saß, würde ich sagen, dass der Schütze etwa drei bis vier Meter hoch postiert war. Augenzeugen hörten den Knall bei einer weit entfernten Baumgruppe südwestlich.» Hans, Pfeiffers Assistent, hängt an seinen Lippen und stellt dann das Geschehen notdürftig nach, indem er die Leiter des Sektionssaals – wozu auch immer die hier unten gebraucht wird, denkt Landow – am entferntesten Punkt des Raumes aufstellt und hinaufsteigt.

Zumindest hinterlässt Curio keine Familie oder so was. Aber er starb nur, weil sie ihn da hineingezogen haben. Ebenfalls besteht seit der Übergabe von heute Morgen kein Zweifel daran, dass die Besitzer des Notizbuchs es ernst meinen. Todernst. Die haben den Überbringer aus dem Weg geräumt, obwohl ihr Mittelsmann das Büchlein schon hatte. Weshalb dann trotzdem der Mord? Um ein Exempel zu statuieren? Das Gebiet um die Siegessäule war belebt gewesen, und dennoch hatten diese Leute einen Schuss riskiert. Genau genommen zwei Schüsse, der erste traf das Paket und Curios Bein, der zweite traf ihn knapp rechts des Herzens. Der tödliche Schuss muss aus großer Entfernung abgegeben worden sein, der Schütze hatte alles andere als klare Sicht, das Projektil war wahrscheinlich haarscharf an Bäumen vorbeigezischt, bevor es in Curio einschlug und in der Parkbank dahinter stecken blieb. Strauchdiebe und Gelegenheitstäter konnte man ausschließen. Und Feiglinge wagten so etwas nicht.

«Wenn es Sie beruhigt, Landow …», winkt Pfeiffer ihn näher an den Tisch und zeigt auf den geöffneten Hals des Toten. Pfeiffer deutet mit der Spitze einer großen Pinzette auf zwei Stellen.

«Larynxkarzinome. Kehlkopfkrebs. Wie bei Kaiser Friedrich im letzten Sommer. Der hier ist bereits weit fortgeschritten. Der gute Mann wäre innerhalb der nächsten sechs bis zehn Monate daran elend zugrunde gegangen. Der Schuss hingegen ist absolut schmerzfrei für ihn gewesen. Den zweiten Schuss ins Bein hat er gar nicht mehr gespürt.»

Doch, Pfeiffer, denkt Landow sich, den Schuss ins Bein hat er bemerkt, denn der kam zuerst. Er hat einen Schlag gespürt und erst mit dem zweiten Schuss nichts mehr. Ob Curio von dem Krebs in sich wusste? Landow ist so in Gedanken versunken, dass er Pfeiffer dicht neben sich erst jetzt bemerkt.

«Los, raus damit, Landow, welche Rolle spielen Sie in dem Fall?»

«Gute Frage, das wüsste ich auch gern, Pfeiffer.»

Er sieht noch einmal zu Herrn Curio herüber, der vom pathologischen Assistenten, diesem seltsamen Herrn Hans, gerade sorgfältig zugemacht wird, dann lässt er sich von Pfeiffer zu einer Rauchpause in den Hof des Klinikums ziehen.

···

Dantons Tod hat jeden von ihnen erschüttert. Sie begraben ihn ganz in der Nähe auf dem Jüdischen Friedhof am Wörther Platz. Die drei jungen Männer, die sich pathetisch Desmoulins, Saint-Just und Marat nennen, haben gewartet, bis eine alte Frau das Grab, an dem sie ewig herumharkte, verlassen hat. Dann haben sie mit einem Löffel neben einer hohen Birke ein Loch gebuddelt und Danton darin begraben. Danton hatte vier Wochen bei ihnen gelebt, zwischen Kisten mit Dynamit und ihrem Matratzenlager im hofseitigen Zimmer. Sie hatten ihn mit Brotrinde und Käsebrocken gefüttert, aber berühren ließ sich Danton nur von Marat. Der war es auch gewesen, der die Maus in ihren Vorräten entdeckt und vor den Mordabsichten der anderen bewahrt hatte. Schließlich empfand jeder von ihnen die Besuche der Maus als willkommene Abwechslung in ihrem endlosen politischen Gefasel, im Studieren von Bauplänen für Sprengsätze und im ewigen Warten. Wann sie ihr den Namen eines großen Revolutionärs gegeben hatten, wussten sie nicht mehr. Sie hatten ihn lieb gewonnen, und als Danton tot an der Scheuerleiste lag, war klar gewesen, dass sie ihn nicht einfach in den Aschenkübel werfen konnten. So wickelten sie ihn in die Zeitungsberichte ihrer glorreichen Denkmalssprengungen vor fast zwei Wochen, legten ihn in eine leere Zigarrenkiste und klopfen jetzt ernst das rausgelöffelte Rasenstück auf dem frischen Grab fest. Ruhe sanft, Danton.

Auf dem Rückweg zu ihrer konspirativen Wohnung in der Hochmeisterstraße oben im Prenzlauer Berg weht ihnen wieder der süßsaure Hefegeruch aus den Schultheiß-Sudhäusern entgegen. Sie müssen nicht mehr darüber reden, jeder weiß, wie den beiden anderen zumute ist. Ihre erste und letzte Tat ist schon zwölf Tage her. Worauf warten ihre Befehlshaber denn? Die drei sind sich uneins darüber, wer ihre Anführer eigentlich sind. Aber es gibt sie. Sie schicken regelmäßig Geld für Essen und Miete, gelegentlich Bauanleitungen und Waren zum Zwischenlagern wie die beiden plombierten Transportkisten, die gestern am späten Abend endlich abgeholt wurden. Die drei jungen Revolutionäre hatten sich anhand der Größe und des Gewichts der Kisten darauf geeinigt, dass sie ein zerlegtes Maschinengewehr enthalten mussten. Zumindest hatten sie das gehofft. Diese Hoffnung hatte ihre Ungeduld auf ein baldiges Losschlagen genährt. Hoffnung verkürzt Warten. Aber als die beiden fremden Männer gestern die Kisten zu einem Fuhrwerk im Hof trugen, war ihre Hoffnung zersprungen wie Glas. Denn unten im Hof, erkannten sie, während sie heimlich hinter der Gardine am Fenster standen, waren die Kisten von einer Frau geöffnet und im Schein einer Handlampe sehr genau inspiziert worden. Von einer Frau! Also kein Maschinengewehr. Diese Enttäuschung hatte die drei Revolutionäre zu der These veranlasst, es könne nicht schädlich sein, auf eigene Faust noch ein paar Sprengungen in der Stadt vorzunehmen. Zur Übung. Um bereit zu sein, wenn man sie rief. Wieder nur Sachen, noch keine Menschen. Aber die drei spüren, dass sie jetzt etwas tun müssen.

7

Donnerstag, 16. Mai 89

Trotz der gerade etwas angespannten Gemengelage zwischen ihnen hat Landow seiner Herzdame nicht abschlagen können, sich diesen verdächtig harmlosen Begleiter ihrer Mitgenossin Grün mal näher anzusehen und – diese Aufgabe prompt Orsini zugeteilt. Immerhin, denkt dieser, kommt er so in Gegenden der Hauptstadt, die er sonst eher meidet, weil dort die schweren Portemonnaies nur lauter Kupfergeld enthalten und die Köpfe nur Sorgen. Orsini zieht gewöhnlich die leichtere Lebensweise vor, was wog schon ein Geldschein (fast nichts), und was konnte man damit anstellen (fast alles). Dieser Erbs jedenfalls, so viel hat Orsini inzwischen herausbekommen, nennt sich der Spielzeugwitwe Grün gegenüber von Erbs und gibt vor, wegen einer vorübergehenden finanziellen Kalamität im Haus seiner Schwester in Deutsch-Wilmersdorf zu wohnen. Da diese Schwester, eine verheiratete Pütter, wegen eines Schilddrüsenleidens und anderer charakterlicher Mängel notorisch zänkisch sei und ihm strikt verbiete, Besuch zu empfangen, trifft er die Witwe Grün ausschließlich in deren Villa in Lietzow oder an öffentlichen Orten wie Museen oder Parks. Seit Orsini in Landows Auftrag, der eigentlich Elbas Auftrag ist, ein Auge auf diesen Herrn geworfen hat (das andere konzentriert sich im Herumschlendern noch gern auf die Entnahme lohnender Brieftaschen), hat Erbs das angebliche Haus seiner Schwester noch nie betreten. Stattdessen schläft er in einer winzigen Wohnung, eher einer Kammer mit Lichtluke, direkt beim Güterbahnhof und vertreibt sich die Zeit mit Herumgehen. Vermutlich gibt es diese Schwester gar nicht, und sie dient Erbs nur als Vorwand, seine Angebetete nicht bei sich zu Hause empfangen zu müssen. Dieser Herr Erbs hat also ein kleines Geheimnis, denkt Orsini, die Linke jäh aus einer geradezu obszön hingehaltenen Einkaufstasche zurückziehend, die dummerweise nur rohen Fisch enthält. Ob Erbs’ offensichtliche Armut sein einziges Geheimnis ist, wird sich zeigen.

Herr Erbs hält sich tagsüber vornehmlich in den ärmeren Vierteln der Stadt auf, dabei trägt er zwar nichts Geflicktes, aber bereits hartnäckig zur Fadenscheinigkeit neigende Kleidung, fällt also dort überhaupt nicht auf. Am Nachmittag dann verschwindet er meist in seiner Wohnung beim Bahnhof und kommt zwanzig Minuten später in seinem besten Anzug und mit gewienerten Schuhen daraus hervor. Er scheint dann um Jahre verjüngt und wirkt wie jemand, der sich aus einem der besseren Viertel nur hierher verirrt hat. So ausstaffiert, das weiß Orsini bereits, trifft er meist die Spielzeugwitwe. Gemeinsam besucht man dann Debattierabende über die soziale Frage oder ein Konzert. Am Ende dieser Abende begleitet Erbs die Witwe stets nach Hause, verabschiedet sich an der Tür mit gekonnter Verbeugung und Handkuss und macht sich zu Fuß auf den sieben Kilometer langen Weg zurück zu seiner Elendsbude. Der Mann kann sich nicht mal einen Wagen leisten, macht sich aber offenbar Hoffnungen auf diese Witwe. Da sie nicht das ist, was man eine Schönheit nennt, wird sein Interesse anderswo liegen. Auf den inneren Werten etwa, denen von Konten und Depots. Dennoch kommt dieser Erbs ihm nicht wie ein abgebrühter Betrüger vor, im Gegenteil: Seit Orsini dem stillen, feinen Herrn folgt, tut der ihm zunehmend leid. Sind Erbs’ Schultern auf dem Nachhauseweg in Sichtweite der Grün’schen Villa noch aufrecht und straff, sinken sie mit jedem Kilometer weiter hinab, und spätestens beim Stettiner Bahnhof geht Erbs, die Schuhe mit Staub gepudert, gebückt und gebeugt wie die meisten hier. Diese – aus Orsinis Sicht – sinnlose Verfolgung wird immerhin erleichtert durch ein vorbildliches Wetter und die Tatsache, dass sie ihn in Bewegung hält. Denn ein bewegtes Ziel ist schwieriger zu treffen als ein sitzendes. Der bedauernswerte Herr Curio! Landows Bericht von dessen tödlicher Krankheit hat Orsinis Schuldgefühl nicht schrumpfen lassen. Er, Orsini und kein anderer, hat dieses unheilvolle Notizbuch extrahiert. Er, Orsini und niemand sonst, hatte das Ding danach entgegen aller Sicherheitsregeln behalten, obwohl er gemerkt hatte, dass man ihn verfolgte. Er, Orsini und nur er allein, hatte die Verfolger, ohne es zu ahnen, direkt zu ihnen in die Ritterstraße geführt. Und nur er war es gewesen, der Landow vor fünf oder sechs Tagen gefragt hatte: «Wie wär’s, wenn wir das Büchlein spaßeshalber bei den Fundsachen inserierten?» Wer keine Probleme hat, weder technisch noch moralisch, einen Wehrlosen auf einer Parkbank auszuschalten, trachtete womöglich in diesem Augenblick bereits auch Landow und ihm nach dem Leben.

Dass Erbs, sonst die Stadtviertel der Nichtse und Niemande durchstreifend, sich jetzt ausgerechnet der Siegessäule beim Tiergarten nähert, beunruhigt Orsini. In der Dorotheenstraße hinter der Friedrich-Wilhelms-Universität biegt er aber plötzlich in ein Gebäude ein. Dort, im Lesesaal II der Bibliothek, sucht Erbs nach etwas. Zweimal muss er jemanden fragen, dann hat er das Buch endlich gefunden, das er will. Nach etwa einer Stunde verlässt er das Bibliotheksgebäude wieder. Genauer: Er will es verlassen. Tut es aber nicht, weil ihn ein Bibliotheksdiener daran hindert. Erbs, das sieht Orsini, wird kräftig am Arm gefasst und seitlich zu einem Tischchen geführt. Dort redet der Bibliothekswächter auf den kleinen Herrn ein. Der, bemerkt Orsini im raschen Näherkommen, wiegelt mit traurigen Gesten ab.

«Sie irren sich, ganz bestimmt», hört er Erbs kleinlaut sagen.

«Das werden wir ja feststellen, mein Herr. Bitte lassen Sie mich einfach Ihren Mantel untersuchen. Andernfalls müsste ich die Polizei verständigen.»

Erbs gibt sich geschlagen. Er starrt zur Decke hinauf wie ein Schaf, das geschoren werden soll, und hebt die Arme, damit der Universitätsknecht ihn durchsuchen kann. Obwohl das Ganze durchaus diskret vonstattengeht, sind schon ein paar Studenten aufmerksam geworden und betrachten interessiert die Leibesvisitation. Herrje, jetzt läuft auch noch ein anderer Mann in den offenbar auf frischer Tat Ertappten hinein! Dieser Dritte, ein Kleiner mit einem verletzten Arm in der Schlaufe, rempelt dabei auch noch den Universitätsdiener unglücklich an, entschuldigt sich dann umständlich und geht schließlich hinaus auf die Dorotheenstraße. Dort biegt er unbehelligt um zwei Ecken, bevor er sich auf ein Mäuerchen setzt. Dann zieht er das schmale Buch aus seiner Handschlaufe, das sich vor einer halben Minute noch in der Manteltasche des Herrn Erbs befand. Der Buchdeckel trägt tatsächlich den Prägestempel der Universitätsbibliothek und den ausufernden Titel «Chemisch-technische Grundlagen zu Differenzierung, Lagerung und Handhabung moderner Schieß- und Sprengstoffe im militärischen und zivilen Bereich».

Die Berliner Universitätsbibliothek, weiß Orsini, ist eine der größten Europas. Weshalb interessiert sich ein stiller Herr mit getürktem von, erlogener Schwester und ausgeprägtem Hang zu langen Fußmärschen ausgerechnet für ein so spezielles Thema? Dieser Clemens Erbs ist offenbar doch nicht so unscheinbar, wie er tut. Orsini sonnt sich gerade innerlich im guten Gefühl, Schutzengel zu sein, da knallt es laut neben ihm! Er fährt zusammen, sieht suchend an sich herab, entdeckt aber kein Loch, aus dem es rot herausrinnt, und atmet auf. Nur ein geplatztes Bierfass, zwanzig Meter die Straße hoch von einem Handkarren gefallen. Kein Scharfschütze. Vorerst.

···

Seit Stunden schon springen Landows Gedanken orientierungslos zwischen dem sozialistischen Feuereifer Elba Runges und der Kaltblütigkeit eines Scharfschützen, der aus dem Nichts am helllichten Tag im Tiergarten tötet, hin und her. Die haben Curio für einen Mitwisser gehalten und deshalb ausgeschaltet. Aber Mitwisser – wovon? Als Landow einsah, dass er in der Sache mit diesem ominösen Büchlein keinen Zentimeter weiterkam, hat er sich seit Mittag dem Problem Elba gewidmet. Schon beim Bestatter in der Stallschreiberstraße, bei dem er dafür sorgte, dass der erschossene Curio ein ordentliches Begräbnis bekam, waren seine Gedanken immer wieder zu ihr abgeschweift.

«Aber für wen sind die Musiker, wenn Sie gar keine Trauergäste erwarten, Herr Landow?»

«Wie?», hatte Landow aufgemerkt. «Für wen? Für ihn, für den Toten natürlich. Curio liebte Musik.»

Reine Spekulation. Sie kannten Curio gar nicht. Aber er hatte einen italienisch klingenden Namen. Also liebte er Musik. Und all das restliche Zeug, das Landow bestellte und bar bezahlte, den übertriebenen Blumenschmuck in Herzform und den üppig verzierten Grabstein würde er ebenfalls mögen. Wenn sie ihm schon keinen Grund gegeben hatten, sein Ende zu mögen, an seiner Beerdigung sollte Curio seine helle Freude haben.

Jetzt, da das erledigt war, blätterte Landow in Reiseführern. Wenn der Sozialismus ihm keine andere Wahl ließ, musste er Elba einfach entführen. Der Bergarbeiterkongress war vorbei, der Urlaub konnte kommen. Sie ahnt noch nichts davon, er will sie überraschen. Sein anfänglicher Plan, mit Elba auf die gleichnamige Insel zu reisen, entpuppte sich bei genauem Durchrechnen als Schnapsidee. Die Reiseroute war so umständlich, dass ihnen von einer ganzen Urlaubswoche noch genau zwanzig Stunden Aufenthalt geblieben wären. Er grübelte, plante, kreiste schließlich die Wanderlandschaft Sächsische Schweiz näher ein. Nach drei Schnaps besserte sich seine Laune sichtlich, und schließlich, genau jetzt in diesem Moment, platzt er bei Pfeiffer in der Pathologie rein. Er braucht jetzt Rat, und Orsini ist in Sachen Erbs unterwegs und nicht erreichbar.

«Sie schickt der Himmel!», ruft Pfeiffer ihm zu, aber der Unterton dabei gefällt Landow nicht.

«So was haben Sie wahrscheinlich auch noch nicht gesehen, werter Landow, treten Sie näher.»

«Ich bin eigentlich nur hier, um Sie nach Ihrer Meinung zur Sächsischen Schweiz zu fragen. Sie waren doch schon mal dort, oder bringe ich da was durcheinander?»

«Eins nach dem anderen, Wandersmann», murmelt Pfeiffer und winkt ihn an den Sektionstisch. Landow folgt der Einladung und entdeckt auf zwei Tischen nebeneinander zwei junge Männer. Ihre Gesichter weisen leichte Spuren von Verbrennungen auf, Brandblasen an Stirn und Wangen, das Kopfhaar ist vorn angesengt. Das wirklich Auffällige, abgesehen von dem Umstand, dass sie tot sind, aber ist, dass beiden beide Hände fehlen. Landow vermutet einen Arbeitsunfall. In den Fabriken, an den rasenden Rammen und rotierenden Walzstraßen geschehen täglich ekelhafte Dinge dieser Art.