Goldtod - Axel Simon - E-Book

Goldtod E-Book

Axel Simon

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Beschreibung

"Fall zwo" der historischen Kriminalserie um den unkonventionellen Sonderermittler Gabriel Landow im wilhelminischen Berlin. So mitreißend lebendig und verbrecherisch abgründig hat man die Kaiserzeit noch nie erlebt. Berlin, 1889: Die Reichshauptstadt hält den Atem an! Wie ein großes, blutiges X hängt ein prominenter Bankier im Schlosspark von Charlottenburg. Doch der Duzfreund des Reichskanzlers bleibt nicht allein. Ein weiteres Opfer aus einflussreichen Kreisen folgt sogleich. Alles deutet auf eine Tat antikapitalistischer Gruppen hin, und unter den erfolgsverwöhnten Goldjungs der Stadt geht die Angst um. Aber Privatermittler Gabriel Landow lässt sich kein X für ein U vormachen. Gemeinsam mit seinem trickreichen Kompagnon Orsini ist er der Polizei einen entscheidenden Schritt voraus. Eine zweite Spur führt die beiden eigenwilligen Detektive in eine ganz neue Richtung und zugleich in tödliche Gefahr: Ein exklusiver Zirkel lässt sich im Verborgenen gern beflügeln. Von antiker Lyrik und den Apfelbäckchen goldiger, nackter Engelchen. Lebender Engelchen. So oder so: Am Ende goldener Zeiten wartet immer der Tod. Und wer Gold sät, wird Tod ernten.

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Axel Simon

Goldtod

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Wer Gold sät, wird Tod ernten.

 

Berlin, 1889: Die Reichshauptstadt hält den Atem an! Wie ein großes, blutiges X hängt ein prominenter Bankier im Schlosspark von Charlottenburg. Doch der Duzfreund des Reichskanzlers bleibt nicht allein. Ein weiteres Opfer aus einflussreichen Kreisen folgt sogleich. Alles deutet auf eine Tat antikapitalistischer Gruppen hin, und unter den erfolgsverwöhnten Goldjungs der Stadt geht die Angst um. Aber Privatermittler Gabriel Landow lässt sich kein X für ein U vormachen. Gemeinsam mit seinem trickreichen Kompagnon Orsini ist er der Polizei einen entscheidenden Schritt voraus. Eine zweite Spur führt die beiden eigenwilligen Detektive in eine ganz neue Richtung und zugleich in tödliche Gefahr: Ein exklusiver Zirkel lässt sich im Verborgenen gern beflügeln. Von antiker Lyrik und den Apfelbäckchen goldiger, nackter Engelchen. Lebender Engelchen.

So oder so: Am Ende goldener Zeiten wartet immer der Tod.

 

Berlin im Deutschen Kaiserreich: «Band zwo» der historischen Kriminalserie um Ermittler Gabriel Landow.

 

«Man kann schon beim ersten Fall feststellen: Der Typ hat Format.» Der Tagesspiegel

Vita

Axel Simon wuchs im Ruhrgebiet auf. Er hat zeitgenössische Opern inszeniert und arbeitete danach lange als Creative Director in großen Werbeagenturen. Simon lebt heute in Hamburg. «Goldtod» ist nach «Eisenblut» der zweite Fall für Privatermittler Gabriel Landow im turbulenten Berlin der Kaiserzeit.

«Das Einzige, was für den Triumph des Bösen nötig ist,

sind gute Männer, die nichts unternehmen.»

John Stuart Mill (1806–1873)

Ein paar Tage zuvor

«Na, was kann ich denn für diesen jungen Herrn tun? Etwas Pomade für die goldene Lockenpracht?»

Die Frau, die ihn das fragt, ist größer als er. Aber das ist Samuel Phillipi gewohnt, schließlich ist er im letzten Monat erst acht geworden. Die Frau, die sich jetzt erwartungsvoll über den funkelnden Glastresen zu ihm hinabbeugt und lächelt, ist sehr bunt, vor allem im Gesicht. Sie ist geschminkt, das ist das Wort dafür, das weiß er, denn seine Mutter ist nie geschminkt. Und trotzdem schön. Aber trotzdem traurig. Deshalb ist er hier und antwortet dem bunten Gesicht über sich nun: «Eine Flasche Yippieh, bitte.»

«Yippieh? Bist du sicher? Was soll denn das sein?»

«Yippieh ist ein Parfümwasser aus Paris. Es ist sehr gut. Das habe ich zumindest gelesen.»

Die Frau über ihm lächelt jetzt und zeigt dabei ein paar unregelmäßige Zähne.

«Verstehe, der junge Gentleman benutzt also schon ein Parfüm?»

«Das Yippieh soll für meine Mama sein.»

«Meinst du vielleicht das hier?» Sie zeigt ihm den gleichen länglichen Zettel mit dem Parfümfläschchen drauf, den er vorgestern in der Bahn gesehen hat, als er vom Unterricht kam.

«Genau», nickt er. «Einen Liter bitte.»

«Der junge Mann hat Geschmack, so viel steht fest. Das Parfüm», sie spricht das Wort aus wie den Komponisten Chopin, so seltsam verschnupft, «das du meinst, junger Mann, heißt nicht Yippieh, sondern Jicky. Der neue Duft von Guerlain.» Auch das näselt sie. «Das gibt es aber erst zur Eröffnung der Weltausstellung in Paris. Im Mai. Das ist erst in zweieinhalb Monaten. Ich fürchte, du wirst dich noch gedulden müssen. Du kannst es vorbestellen. Aber das haben schon viele getan. Wie wäre es denn als Geschenk für deine Frau Mama mit diesem … nanu, wo ist er denn hin, der goldige Kerl?»

Erster AbschnittYippieh!

«Am Tag, an dem der Affe sterben soll,

werden alle Bäume rutschig.»

Sprichwort aus Südwestafrika

1

Freitag, 15. Februar 89

Wenn er ihr von hinten durch den Kopf schießt, denkt sie und wundert sich erneut über ihre innere Ruhe bei diesem Gedanken, würde die Kugel vorn aus ihrem Gesicht wieder heraustreten und dort allerlei Verwüstung anrichten. Das will sie nicht. Sie hat deshalb beschlossen, dass er ihr von vorn durch die Stirn schießen soll. Bei der Aufbahrung könnte man dort vorn eine Locke über das Loch drapieren, und hinten würde ihr Haar die Verwüstung der Kugel verbergen. Vor allem aber will sie neben ihm aufgebahrt sein. Feierlich. Festlich. Mit stillem Ernst. Sie öffnet ihre Augen wieder und erkennt im Schwarz der Nacht seine Silhouette dicht vor sich.

Er ist keiner dieser aufdringlichen Spritzer. Und auch kein Planscher. Er rudert, wie er ist, ruhig und bestimmt. Er rudert, wie feine Leute rudern, denkt sie. Gesittet. Im Mai. Mit Strohhüten auf dem Kopf, von denen hinten Stoffbänder runterflattern wie Fahnen. Hier weht heute bloß der kalte, bittere Geruch der Borsigwerke in Moabit. Und statt eines Strohhuts hat sie ein Wolltuch um den Kopf gelegt. Statt Mai ist Februar. Statt Tag ist Nacht. Selbst das, was sie anfangs romantisch für den Mond hielt, entpuppte sich als Schornsteinleuchte einer Fabrik. Immerhin: Ihr Ziel ist fein und königlich. Schon hört sie das Schilf am Ufer rascheln, das ihr Kahn mit dem Bug zerteilt. Ihr Herz klopft jetzt lauter. Aber es klopft immer so doll, wenn sie mit ihm zusammen ist.

Vorgestern waren sie schon im Hellen hier und haben den Ort besichtigt, an dem es geschehen soll. Den Ort ihres gemeinsamen Todes. Das Belvedere im äußersten Norden des Charlottenburger Schlossparks soll es sein. Das Teehaus, das der Architekt Langhans vor hundert Jahren für den König von Preußen, Friedrich Wilhelm II., entwarf, noch bevor Langhans sich auch das Brandenburger Tor ausdachte. Hier am Belvedere im Schlosspark, sagt man, betrieb der König seine alchemistischen Studien, hier wurde er vom Geheimbund der Rosenkreuzer mit Spuk getäuscht und an der Nase herumgeführt. Exakt hier soll es geschehen. Kurz nach Sonnenaufgang. Sie weiß nicht mehr, wann genau der Plan in ihnen reifte, dass sie nicht nur zusammen leben, sondern auch gemeinsam sterben wollten. Kein alltäglicher Plan, schließlich sind sie erst siebzehn und achtundzwanzig. Aber seit vor zwei Wochen, am 31. Januar, der österreichische Thronfolger in einem Jagdschloss bei Wien erst seine siebzehnjährige Geliebte und dann sich selbst erschoss, ist dieser Wunsch in ihnen. Offiziell sprach man nur von einem einzelnen Tod, dem des Kronprinzen. Aber die Gerüchte hielten sich und wuchsen rasch wie Gewitterwolken: Eine ungarische Prinzessin wäre bei ihm gewesen. Starb vor ihm. Mit ihm. Durch ihn. Für ihn. Festlich. Feierlich. Mit stillem Ernst.

Auch sie beide im Boot im nächtlichen Borsigmief wollen nicht warten, bis sie alt und schrumpelig werden wie im Keller vergessene Äpfel. Sie wollen es jetzt. Wie der Dichter Kleist damals unten bei Stolpe am See und wie dieser Sohn der österreichischen Kaiserin mit seiner Geliebten.

Robert arbeitete bis gestern in der Oper, bei denen, die die Kulissen beleuchten. Seit sie sich vor drei Wochen zum ersten Mal trafen, hatte er sie mehrfach heimlich hinter die Bühne mitgenommen. Gemeinsam im Dunkeln und Hand in Hand hatten sie dort, mit Blick auf die segeltuchbespannten Stellagen der Theaterkulisse, den Todesgesang der Isolde gehört. «Wild und leise, wie er lächelt.» Und genau so wollen sie jetzt zusammen sterben. Wild entschlossen und mit leisem Lächeln auf den Lippen. Ihr wird aber nun doch reichlich bang, als sie im Osten den Himmel heller werden sieht. Ihr gemeinsamer Abschiedsbrief ist sorgsam in Wachspapier gewickelt, gegen den Schneeregen, bis man sie findet. Es war schwierig genug, ihn zu schreiben. Immer wieder hatte sie Fehler darin entdeckt und ihn noch mal begonnen. Der Brief musste sein, sie wollte, dass man verstand, weshalb sie starben. Aus reiner Liebe und innerem Edelmut, nicht etwa aus Not oder Schwangerschaft. Wild und leise. Der Bug des flachen Kahns läuft nun auf das Ufer des Schlossparks auf. Sie sind da, denkt sie, will zum Schornsteinlicht-Mond sehen, findet ihn nicht mehr, steht auf. Das Boot schwankt dabei, ganz leicht nur, wie eine Wiege.

Das Belvedere genannte Teehaus ist höher als breit. Ein schlankes Gebilde, ein feiner, dreistöckiger Pavillon, ganz in zartem Bleu und Weiß gehalten. Während Robert den Kahn in den Wasserarm zurückschiebt, der den Schlosspark im Osten umfließt – sie brauchen ihn nicht mehr –, sieht sie nur die nun bleistiftgrauen Umrisse des Gebäudes.

Er nimmt sie in den Arm und drückt sie fest an sich, wie es die Sänger auf der Opernbühne tun. Die Tasche mit der Pistole, die er einem Onkel geklaut hat, bollert dabei schwer gegen ihre Seite. Fast hat sie Angst, ein Schuss könnte sich lösen und die Schlosswächter alarmieren. Aber nein, alles bleibt still und bleistiftgrau. Wenn hier ein Schuss fällt, wird sie ihn nicht mehr hören.

So stehen sie ein paar Minuten fest an den anderen geklammert, bis ihr die Hände schmerzen. Dann schiebt sich flach und zögernd die Februarsonne zu ihnen heran. Und dann sieht sie ihn, den Mann dort oben. Er ist aufgespannt wie ein großes X zwischen den Säulen des östlichen Pavillonbalkons, blutig und tot und beinahe schon wieder schön. Ein schwebendes, rosenrotes Rosenkreuz vor dem Schwanenweiß der Fassade. Und so kommt es, dass sie beide nicht gemeinsam sterben, zumindest heute noch nicht, aber sich gemeinsam einnässen vor Entsetzen.

···

«Die Vögel sind heute drinnen. Wegen ’m Wetter.»

Der Zoowächter hat den Mann, der regungslos vor dem leeren Gehege der Straußenvögel steht, schon mehrmals in letzter Zeit hier gesehen. Sportlicher Allwettermantel, stark gebräunte Haut und an einem Lederriemen um die Schulter eine Feldflasche wie ein Wanderer. Eine Hand zittert leicht, sieht der Zoomann. Nervöse Zuckungen, kommt immer öfter vor heutzutage. Die meisten Besucher bleiben bei den Löwen stehen, schlecken Eistüten, während sie sich insgeheim fürchten. Zu den Straußen kommen nicht so viele, obwohl das Schild am Gehege von den enormen Geschwindigkeiten spricht, die struthio camelus, der afrikanische Strauß, zu erreichen in der Lage ist: Fünfzig Stundenkilometer kann so ein Riesentier über eine halbe Stunde halten, wollen Forscher beobachtet haben. Über kürzere Strecken sind sogar siebzig Kilometer in der Stunde möglich. Siebenzig! Das ist ja fast bis ganz nach Frankfurt/Oder. Der Benz Patent-Motorwagen Nummer 3, mit dem Bertha Benz, die Frau des Konstrukteurs, ohne das Wissen ihres Mannes im letzten Sommer ihre vielbeachtete Überlandfahrt unternahm, schafft gerade mal zwanzig Kilometer die Stunde. Maximal. Während dieses Automobil 3000 Goldmärker pro Stück kostet, ist ein Strauß umsonst. Denn der Strauß lebt auf deutschem Reichsgebiet in Deutsch-Südwestafrika. Man fängt ihn, verschifft ihn, und jetzt steht er hier im Berliner Schneeregen und wundert sich. Während der Tommie noch weiter südlich in seiner Kolonie am Kap allerdings schon Diamanten und Gold gefunden hat, berichten die Stimmen aus DSW, wie Weltläufige die junge deutsche Kolonie Deutsch-Südwest in betonter Vertrautheit gern nennen, noch nichts Vergleichbares. Man sucht nach diesen Bodenschätzen in dem (wie es heißt) riesigen und (wie es weiter heißt) sehr sandigen Land, findet aber nur Strauße. Vorerst.

Heinrich «Porti» Port, so heißt der Zoowärter, der sich gerade seine Pausenpfeife stopft und in den feinen Februargriesel blinzelt, hat einiges darüber gelesen. Nur Futter hinstellen und Dreck wegfegen ist ihm zu wenig. Er will wissen, mit wem er es zu tun hat. Ob Tapir, Menschenaffe oder eben Strauße, Port liest sich ein, fühlt sich geradezu ein in den Lebensraum dieser wunderbaren Kreaturen. Wenn er abends in der kleinen Wohnung in Kreuzberg sitzt und die entsprechenden Bücher studiert, spürt er förmlich körperlich die Hitze und den Staub in Deutsch-Südwest, sieht vor dem inneren Auge direkt hinter der Nähmaschine seiner Frau riesige Herden dieser Vögel durch die Savanne schreiten.

Als Port die kleine schwarze Pfeife am Randstein leerklopft und sich umsieht, ist der Straußenfreund von vorhin nicht mehr da. Wird wohl auch wegen des Wetters rein ins Haus gegangen sein. Die dunkelgrüne Ausgangstüre an der gegenüberliegenden Wand schwingt gerade noch zu. Port, 51, ist erst seit drei Monaten für die Strauße zuständig. Im Sommer kam sein neuer Kaiser, der dritte des letzten Jahres, und im Oktober kamen seine Strauße. Aber er hat über die Jahre im Zoologischen Garten ein untrügliches Gespür für die Befindlichkeit seiner Schützlinge entwickelt. Die Vögel sind drinnen heute anders, unruhiger. Der riesige schwarz-weiße Hahn läuft aufgeregter als sonst im Gehege des Winterquartiers herum, während seine grau-braunen Damen dicht zusammengedrängt in der anderen Ecke stehen. Etwas stimmt hier nicht. Port tritt näher heran. Zwei von seinen Vögeln scheinen nicht voneinander lassen zu können. Ihre langen Hälse, jeder dick wie ein Unterarm, sind miteinander um eine eiserne Gitterstange verknotet. Die Tiere sind tot!

Strauße, erzählt das Schild draußen am Gehege, haben die größten Augen aller Landwirbeltiere. Zwei Paar fünf Zentimeter große Augen sehen Port mit gebrochenem Blick an.

···

Die Hauptstadt präsentiert sich an diesem frühen Freitagabend überaus glänzend: Das von den Regengüssen der letzten Tage gewaschene Straßenpflaster spiegelt wie ein polierter Lackschuh. Und auch die Bewohner der Stadt, zumindest die, die es sich leisten können, wollen glänzen. Wichtige Karnevalsbälle stehen am Wochenende an. Da will man, da muss man dabei sein. Mit rosig rasierten, jungfräulich frischen Wangen, befreit von Last und Mief der Kontore und Büros.

Deshalb herrscht im Barbiersalon Dorn in der Muskauer Straße gerade Hochbetrieb. Aber Barbier Dorn, in etwa so hoch wie breit, eine unermüdliche, weiß bekittelte Kugel zwischen den tannengrünen Rasiersitzen, gelingt es dennoch, Gabriel Landow in alter Verbundenheit und ohne großen Protest der übrigen Wartenden auf dessen Logenplatz, den mittleren der fünf Drehsessel zu lotsen. Dorns Salon ist, wenn man es richtig bedenkt, Landows einzige Informationsquelle, die nicht primär mit dem Ausschank von Alkohol befasst ist. Landow sitzt, wird rasiert, lauscht, schnappt Dinge auf, Fetzen, Strömungen, Gerüchte, die für sein Metier als Privatermittler nützlich sein können. So weit zumindest die Theorie. Seit Wochen schon ist er allerdings nur noch privat hier, nicht als Ermittler. Kaum waren er und sein Kompagnon Orsini in die neuen Räume in der Ritterstraße gezogen, versiegte der Zufluss von Klienten. Es war auch vorher kein reißender Strom gewesen, eher ein Bächlein. Aber jetzt, seit Monaten, nichts mehr. Es scheint wie ein Fluch zu sein. Wie eine Strafe für das, was im letzten Juni geschah.

Thema der Stunde bei Dorn jedenfalls sind zwei Franzosen. Landow braucht einen Moment, um zu begreifen, dass es sich bei Chypre und Fougère bloß um zwei Duftwasser-Richtungen handelt.

Wenn es nicht um Politik und Weltgeschehen geht, reden sie hier gern über Frauen. Auch über deren Duft. Sogar über den südlich der Taille. Da macht es keinen Unterschied, ob es sich bei den Rednern um Herren, Männer oder Kerle handelt. Auch der Mann von Welt, und wer ist das nicht im Jahr der Pariser Weltausstellung, riecht längst nicht mehr nur nach Schießpulver, Sattelfett und Schweiß. Der moderne Mann duftet nach Eichenmoos und Ambra und am liebsten nach Erfolg. Man lebt in duften Zeiten. Man riecht gern gut, wenn man schmutzige Geschäfte macht, denkt Landow und hört auf, die Deckenleuchte über sich anzustarren. Er schließt die Augen, lauscht dem Schaben des Rasiermessers auf seinen Wangen und dem Gerede um ihn herum.

«Meine Frau», sagt einer von links durch den Rasierschaum, der ihm dick wie Schlagrahm an die Wangen gerieben wird, «macht mich nachgerade verrückt nach dem neuen Parfüm von diesem Gerling.»

«Guerlain», verbessert sein Nebenmann mit übertriebener Näselei und setzt wissend hinzu: «Meine auch. Sie hat schon drei Vorbestellungen gemacht, bei Schwarzlose, bei Vieth und bei Wertheim. Dabei wird dieses flüssige Nasengold doch wohl erst zur Eröffnung der Weltausstellung im Mai ausgeliefert. Wie heißt es … Jicky? … Kinderponys heißen so … wenn es allerdings wirklich sinnliche Wirkung hat, einen Stimulus für den gesamten Körper, dann meinetwegen.»

Das Besondere an diesem neuen Wunderduft ist, weiß ein anderer in der rosigen Runde, dass es diesem Franzosen gelungen ist, zum ersten Mal synthetische Zusatzstoffe zu verwenden.

«Synthetik!», ruft deshalb einer begeistert in die Runde. «Der exakte Nachbau der Natur mit künstlichen Mitteln. Das nenne ich Fortschritt. Auch wenn er hier von einem Franzosen gemacht wird. Meine Herren, wenn man bedenkt, was bald alles möglich sein wird. Syn-the-tik!» Er spricht es noch einmal feierlich aus, als handele es sich dabei um eine Symphonie, dann verschließt Schaum seinen Mund, und für einen Moment tritt Stille ein. Aber nur kurz.

Scheppernd reißt die Türglocke die meditierende Runde in ihren Rasiersitzen in die Wirklichkeit zurück.

«E-kel-haft!»

Der Eintretende legt offenbar Wert auf diese Feststellung. Er zerlegt das Wort in seine Silben, so, als handele es sich bei der Ekelhaft um eine Verwandte der Einzelhaft oder der Festungshaft. Der neue Kunde wiederholt das genau so noch mehrmals, während man ihm vorn am Empfang den Schirm und den tropfnassen Mantel abnimmt. Aber der scheint damit nicht den Regen zu meinen, der in großzügigen Mengen wieder eingesetzt hat. Der empörte Mann meint die Zeitung in seiner Hand. In Ermangelung eines freien Rasierplatzes ernennt sich der Neue, ein Mittvierziger mit breitem, fleischigem Gesicht, Typ Anwalt oder wohlhabender Bestatter, zum Herold aller und liest laut aus dem Extrablatt vor. Seinen Vortrag beginnt er wiederum mit: «E-kel-haft!» Dicht gefolgt von: «Hingehängt wie Christbaumschmuck! Ein so verdienter Mann!» Die Eingeseiften setzen sich aus den verlautbarten Bruchstücken in etwa Folgendes zusammen: Am frühen Morgen wurde im Schlosspark die Leiche eines bekannten Bankiers gefunden. «Geradezu obszön», wie der Referent sich empört, zwischen den Säulen des kleinen Teehauses im Norden des Parks aufgespannt wie ein großes, blutiges X.

«Nackt?», fragt einer.

«Spielt das eine Rolle?», blafft der Vorleser zurück, blättert aber sicherheitshalber noch mal nach und konstatiert dann: «Davon steht hier nichts. Aber blutverschmiert, das steht hier.»

Bei dem Toten handelt es sich um einen Freund des Reichskanzlers, ergänzt der Berichterstatter.

«Wusste gar nicht, dass der noch Freunde hat», murmelt einer von rechts, was ihm prompt ein weiteres «Ekelhaft!» vom Eingang einträgt.

Die Polizei, ergänzt der Berichterstatter hinter seiner Zeitung, tappe vollkommen im Dunkeln.

Genau an dieser Stelle wird Landow hellhörig. Ein prominentes Mordopfer, eine ratlose Polizei, offenbar kein simpler Mord aus Eifersucht oder ähnlich Profanem. Wer so einen Fall löst, wird bekannt und muss sich um neue Klienten keinen Kopf mehr machen.

Kurz darauf zahlt Landow mit strahlenden Wangen und geht, begleitet von einem letzten «Ekelhaft!». Der Februarwind schneidet ihm empfindlich in die gerötete Gesichtshaut. Mit diesem Fall könnte er sich die Lorbeeren verdienen, die das Schild ihrer Detektei bereits schmücken. Und wenn es ihm nicht gelänge, hätte er zumindest einen Grund, der ungewohnten Häuslichkeit mit seinem Kompagnon Orsini zu entfliehen. Landow schlägt den Kragen hoch und winkt einen Wagen heran. Seine Aussicht, zumindest von hier die regennasse Muskauer runter, ist absolut glänzend.

···

«Eine wirklich originelle Idee.»

Lüssem, zweiter Maßschneider bei Gern & Ehrhardt beim Spittelmarkt, sagt das bloß halblaut durch den geschlossenen Mund, weil zwischen seinen Vorderzähnen ein halbes Dutzend Nadeln steckt. Der Kunde reagiert nicht auf das Lob, obwohl Lüssem, die Schulter des Herrn links etwas straffer steckend, das genau so meint. In zwei Wochen ist Rosenmontag, die Saison der großen Faschingsbälle ist bereits in vollem Gang. Wer auf sich hält und das nötige Kleingeld besitzt, die Kunden des Hauses Gern & Erhardt etwa, nimmt dazu nichts mottenkugelig Müffelndes aus dem Verleih, sondern lässt sich auch für diese Gelegenheit etwas schneidern. Lüssem mag diese Jahreszeit, bietet sie ihm doch Gelegenheit, neben der handwerklichen Akkuratesse auch seine Phantasie spielen zu lassen, wenn Herren einen Lord Nelson, einen Nero oder Goethe wünschen. Da müssen Lexika und Bildbände befragt werden. Die sonst hier im Hause gängigen Modelle wie Frack, Abendanzug dreiteilig mit Wechselpantalon und Sportweste, Jagdanzug und dergleichen in allen Ehren, aber jetzt, in diesen Wochen, machen Lüssem und Kollegen jedem Gewandmeister in der Oper Konkurrenz. Der Schneider tritt rasch zurück und kontrolliert den neu fixierten Sitz der Schulterpartie. Tadellos. Der Fall des Stoffes ist vorbildlich. Der Mann ist wünschenswert schlank, der Teint tiefbraun. Zwei Wochen Capri erreichen dieses wie mit mehrschichtiger Lasur aufgetragene Haselnussige niemals, weiß Lüssem, denn zur Kundschaft des Hauses zählen auch Atlantikkapitäne und hohe Kolonialbeamte. Dieser Herr hier macht ganz den Eindruck eines wirklich Weitgereisten. Das leichte Zittern seiner Hand verrät dem erfahrenen Schneider, der eilig wieder auf Tuchfühlung geht, die Existenz einer zehrenden Tropenkrankheit. Wie dem auch sei: Dieser sattellederbraune Kunde hier hat einen ganz besonderen Kostümwunsch. Er will nicht Kaiser oder Dichterfürst sein, nicht Waldgeist oder Zeus als Stier, nein, er bekommt gerade eine orientalische Dienerlivree angepasst. Wirklich originell. Lüssem umrundet den abgesteckten Rohentwurf, heftet noch einen Stoffflecken wegen des schwer zu besorgenden Musters für die Weste dazu und überreicht dem Kunden dann die Quittung seines Auftrages. Dass der Herr noch kein Wort gesprochen hat, ignoriert Lüssem genauso wie den rastlosen und doch seltsam starren Blick des Mannes.

«Mein Herr, Lieferung wie besprochen nächste Woche Mittwoch vor 11 Uhr in Ihr Hotel König von Portugal,Burgstraße Numero 12. Ich übernehme das selbst, falls noch Details zu verändern sein sollten. Ich wünsche derweil einen guten Abend.»

Während das Klingeln der Ladentürglocke über seinem Kopf verstummt, sieht der Schneider dem Mann nach. Ein Herr geht als Diener. Verrückte Zeiten. Der Regen hat endlich aufgehört, und der safranfarbene Mantel des Tiefbraunen ist noch lang zwischen den hin und her huschenden Fahrzeugen auf dem schwarzglänzenden Platz zu sehen. Lüssem, die Türe für heute absperrend, befällt ein gewisses Fernweh. Er würde auch gern weitgereist sein. Aber bis über Göttingen hinaus zur Hochzeit seiner Schwester hat es noch nicht gereicht.

···

Landow hat die Abendblätter besorgt, aber kein Verlangen gehabt, nach Hause zu gehen. Nach Hause! Wie das schon klingt! Er hat jedenfalls keine Lust auf die Ritterstraße gehabt, diese immer noch befremdliche Art von Häuslichkeit, den Einrichtungswahn, den sein Kompagnon Orsini an den Tag legt, indem er ihre zweieinhalb kleinen Dachzimmer immer wieder neu umräumt und gestaltet. Dabei herausgekommen ist bisher ein vollgestelltes Möbellager mit schreienden Blumenmustern. Landow muss jetzt nachdenken. Er braucht Ruhe. Er spürt, dass an diesem toten Bankier vom Belvedere etwas dran ist. Er braucht nun kein Sehen Sie nur, wie finden Sie das, habe den Preis auf die Hälfte gedrückt.

Was er braucht, ist was zu trinken und eine stille Ecke. Die Restaurants in ihrer neuen Gegend sind ihm zu gediegen. In der Spindlerstraße bei Koestern in seinem alten Kiez, da trank man im Stehen. In der bürgerlichen Ritterstraße, zwischen Jerusalemkirche und Kammergericht, trinkt man sitzend und muss dazu etwas essen.

Ein paar Minuten später hat er sein stilles Eck ohne Mahlzeit gefunden und geht die Meldungen durch. In Ermangelung handfester Informationen ergeht sich die Presse vorerst in wilder Spekulation. Die wirren Hauptthesen sind: Der Tote wurde wie ein X aufgehängt, um einen Hinweis auf die Weltausstellung in Paris zu geben. Der Tote war ein international tätiger Bankier. Die Exposition mitsamt dieses neuen, gigantischen Turms, diesem nackten Eisengerippe des Ingenieurs Eiffel, ist eigenfinanziert, von Frankreich. Zumindest offiziell. Aber natürlich hängen große Banken mit drin. Auch große deutsche Banken. Banken hängen überall mit drin, wo sie Profit wittern. Und Profit kennt keine Grenzen. Auch die Bank des ermordeten Bankiers Breitkopf, steht zu lesen, war intensiv in der Finanzierung der Exposition engagiert, die von modernen Zeitgenossen gern Expo oder noch kürzer Xpo genannt wird. Ist also die Xpo der Grund für den X-Toten am Belvedere? Etwa zwei Drittel der Zeitungen zumindest sind dieser Meinung.

Eine ganz andere Theorie, liest Landow weiter, vermutet in dem so speziell hingehängten Toten ein Kreuz und folgert daraus, das Ganze sei ein Hinweis auf den Orden der Rosenkreuzer.

Die Rosenkreuzer hatten seinerzeit bereits den preußischen König Friedrich Wilhelm Zwo in betrügerischer Absicht getäuscht, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu bekommen, und dazu genau jenes Teehaus im Schlosspark benutzt.

Und der junge jetzige Kaiser ist (neben vielem, was er nicht ist) ein glühender Okkultist, hört man allenthalben.

Eine Zeitung zeigt sogar ein Foto vom Tatort. Nur sehr verschwommen. Das Bild könnte auch ein Schiff im Küstennebel zeigen. Aber genau das macht es so unheimlich. «Blutiger Mord im Schlosspark. Das elegante Belvedere am frühen Freitagmorgen», erklärt die Bildunterschrift sicherheitshalber. Wahrscheinlich, denkt Landow, haben sie das aus großer Entfernung fotografieren müssen, vermutlich vom Wasser aus. Meistens landen die Fotos, die die Polizei macht, auf unsichtbaren Wegen direkt bei der Presse. Hier nicht. Eine Nachrichtensperre für das prominente Opfer? Das würde auch erklären, weshalb die blutigen Schlagzeilen erst am Abend gebracht wurden.

Landow nimmt einen Schluck aus der Flasche, die er mitgebracht hatte. Stechender Weizenkorn vom Bahnhof. Besser als nichts. Er sieht zu der Gestalt im Fenster vor sich auf. Weil draußen schwarze Nacht ist, kann er jetzt nur die Umrisse des bemalten Glasfensters über der kleinen Seitenkapelle erkennen. Aber er kennt das Bild. Es zeigt einen Engel.

«Gabriel», sagt einer links von ihm.

«Ja, bitte?»

Landow hat den Priester neben sich nicht bemerkt. Der zeigt zu dem Fenster hinauf, das Landow betrachtet.

«Dort oben. Das ist der Erzengel Gabriel. Er verkündete Maria ihre Rolle als zukünftige Mutter Jesu. Sie sind öfter hier in letzter Zeit, kommt mir vor. Neu in der Gegend? Ich bin Pastor Hensch.»

«Landow. Gabriel Landow.»

«Ah, ich verstehe. Stille Zwiesprache mit Ihrem Namenspatron?»

«Nein, ja, eher nicht, ich weiß nicht.»

Der Blick des Pfarrers wandert von den Zeitungen zur Flasche in Landows Hand.

«Das Haus Gottes steht jedermann offen», sagt der Pastor leise, «aber das Trinken ist in der Kirche nicht erlaubt.»

«Wahrscheinlich bin ich deshalb so selten hier», knurrt sich Landow in den Kragen. Er steckt den Korn ein, schiebt immerhin ein «Verzeihung» hinterher und schlüpft wie ein ertappter Dieb aus der Kirchenbank heraus. Er macht dabei mehr Lärm als nötig, erntet dafür die bösen Blicke zweier Frauen, die ganz vorn knien und beten.

Beim Ausgang steht eine kleine Figur, die um Spenden für die Missionarsarbeit in Afrika bittet. Landow fummelt eine Münze aus der Jacke und steckt sie durch den Geldschlitz in deren hohlen Kopf. Die Figur, ein Mohr mit Lendenschurz, nickt dankbar, als das Geldstück laut in seinen Körper hinabklappert. Landow sieht zum Erzengel im Glasfenster und zum Nickneger direkt vor sich und geht. Stille Zwiesprache! Wär’ ja noch schöner.

···

Der Regen ist des Taschendiebs natürlicher Feind. Bei den ersten Tropfen ziehen die Leute die Köpfe in ihre Mantelkrägen wie Schildkröten. Dann sind sie zwar abgelenkt und unaufmerksam, gehen allerdings schneller, was ihm, Orsini, die Arbeit erschwert. Noch dazu, da er einarmig ist. Bei Licht besehen: Ein einarmiger Bandit. Ein Bonmot von Landow. Bei starkem Regen allerdings, und davon haben sie seit Wochen jede Menge, pressen die Leute die Aktenmappen an ihre Körper, weil eine Hand den Mantel zuhält und die andere mit dem Schirm kämpft. Im starken Regen verschließt sich der Mensch vollkommen unkooperativ dem Zugriff. Orsini ist dennoch nicht unzufrieden mit seiner abendlichen Runde, als er die Räume in der Ritterstraße erreicht. Allein der Klang. Nicht Metzger. Nicht Schuhmacher. Ritter. Fünfter Stock nur und Rückgebäude, aber bezahlbar. Zumindest für ihn. Wie Landow seinen Anteil zur Miete beisteuert, ist Orsini rätselhaft. Es sei denn, man bekäme inzwischen Geld fürs Trinken und Schlechtelaunehaben. Oben angekommen, schält er sich die regennassen Kleider vom Leib und geht nackt wie Adam durch die Wohnung. Diese zwei Zimmer mit Küche und Bad, denkt er dabei einmal mehr, sind wie sie selbst, Landow und Orsini: nichts Besonderes, ein wenig schäbig, aber zu allem bereit, dabei vielseitig verwendbar und ausgestattet mit dem Ausblick auf Höheres, den Himmel über Berlin. Im Moment ist der allerdings eher finster.

 

Die Kirchturmuhr in der Jerusalemer Straße schlägt zehn Uhr am Abend. Oder schon elf? Orsini hat nicht mitgezählt. Er hat die beiden Ledersessel in Landows Bereich zu einer Liegefläche zusammengeschoben. Seitdem trinkt er dort abwechselnd Tee wie der Detektiv in dem englischen Roman, den er am Vormittag versehentlich irgendwem als Beifang aus der Tasche gezogen hat, und blättert in Landows Englisch-Wörterbuch. Er blättert oft, denn sein Englisch ist schlecht, im Grunde nicht vorhanden. Not there. Man spricht das th lispelnd, weiß er immerhin. Soweit Orsini das verstanden hat, geht es in diesem englischen Buch mit dem Titel A Study in Scarlet um eine Studie in Scharlachrot und einen Doktor, der aus dem Krieg zurückgekehrt ist und jetzt eine Wohnung sucht. Jemand macht diesen Arzt gerade, Orsini ist erst auf Seite sechs angelangt, mit einem gewissen Herrn Holmes bekannt, der ebenfalls auf Wohnungssuche ist. Die ständigen Unterbrechungen zum Nachschlagen unbekannter Wörter – das erbeutete Buch ist voll davon – bremst seine Spannung zwar, dennoch hat Orsini das Klopfen an der Tür überhört.

«Entschuldigung? Ich hatte geklopft.» Es ist die schöne Frau aus der Beletage, die schon in der Tür steht. Jesus, was führt denn die hierher? Sie trägt einen durchnässten Mantel, und ihr Haar ist vom Wind ganz zersaust. Sie sieht noch schöner aus als sonst in dieser Derangiertheit, findet er.

«Entschuldigen Sie. Ich habe gelesen.» Etwas Blöderes fällt Orsini nicht ein. Er könnte es ergänzen mit: Entschuldigen Sie, dass ich nur Unterwäsche anhabe. Stattdessen wickelt er sich in die graue Wolldecke und steht reichlich verloren im Zimmer herum.

«Fehlt Ihnen etwas?» Sie meint seinen rechten Arm, merkt er, der trocknet mit den Schuhen.

«Ach, das, ich bin daran gewöhnt. Bitte kommen Sie, nehmen Sie Platz. Willkommen in der Detektei Orlando. Wie können wir helfen?»

«Wir?»

«Ich bin nur das Or von Orlando. Orsini mein Name. Der Rest, das Lando von Orlando kommt noch. Müsste jeden Moment hier sein. Herr Landow, mein Geschäftspartner, observiert gerade in einem Fall.»

«Ist das der große Herr? Den habe ich schon mehrmals im Teppenhaus gesehen, glaube ich», sagt sie fahrig. Landow nimmt prinzipiell das vordere, das bessere Treppenhaus, das eigentlich nur der Beletage und der ersten Etage vorbehalten ist.

«Genau der. Er wirkt oft etwas verschlossen, ist aber ein feiner Kerl. Tee?»

Kurz darauf sitzen die schöne Frau Phillipi und Orsini, der rasch in seine klamme Hose zurückgestiegen ist, sich gegenüber und trinken englischen Tee. Wäre nicht der Geruch nach feuchten Kleidern, könnte es gemütlich wirken.

«Wollen Sie sich nicht ausziehen? Ehm, den Mantel?»

Sie schüttelt rasch den Kopf. Eine Strähne ihres ebenholzfarbenen Haars wippt dabei malerisch um sie herum.

«Ich muss wieder hinab. Ich war nur … ich dachte … was lesen Sie gerade?»

«Ach, das. Ein englischer Roman.»

«Dickens?»

Orsini hat noch nie Dickens gelesen, aber er weiß, dass das ein Schriftsteller ist.

«Nein, nicht Dickens», sagt er gedehnt und versucht, unauffällig auf das Titelblatt des Buches zu sehen. Der eine Mann in der Handlung heißt Watson, der andere Holmes, aber der Autor ist ihm entfallen. «Scarlet! Scarlet Doyle», erfindet er deshalb.

«Ist es gut?»

«Ich hoffe es. Immerhin habe ich für die ersten Seiten zwei Stunden gebraucht.»

Sie lächelt flüchtig, und das, dieses Lächeln und die verwegene Haarsträhne und der verregnete Mantel und der ganze schöne Rest bewirken, dass Orsini auf der Stelle bereit wäre, sich für diese ihm vollkommen unbekannte Dame zu duellieren.

«Also, noch einmal gefragt: Wie können wir helfen?»

«Es ist, unser Sohn, Samuel, er ist acht. Ich habe ihn gerade überall gesucht. Er ist noch nicht zurückgekommen. Um fünf ist sein Geigenunterricht aus. Selbst wenn er bummelt, braucht er für den Weg zurück hierher nicht länger als eine halbe Stunde. Spätestens, allerspätestens um sechs ist er immer zu Hause. Jetzt ist es schon elf durch. Ich mache mir Sorgen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Mann ist auf Geschäftsreise. Ich bin schon den ganzen Weg bis zur Wohnung von Herrn Brentano abgegangen. Brentano ist sein Geigenlehrer in der Amalienstraße oben bei der Börse. Nichts. Und Herr Brentano sagt, Samuel ist heute gar nicht zum Unterricht erschienen.»

«Wann haben Sie Ihren Samuel zum letzten Mal gesehen? Gegen Mittag?»

«Ja, gegen zwei Uhr, denke ich.»

Orsini sucht einen Block, um sich Notizen zu machen, findet aber keinen.

«Gegen zwei Uhr heute Mittag also», wiederholt er.

«Gestern Mittag», kommt es da ganz leise aus ihr heraus. «Samuel ist ein sehr selbständiges Kind. Er ist daran gewöhnt. Er geht allein zur Schule. Unser Mädchen macht ihm die Mahlzeiten. Gestern Mittag habe ich ihn zuletzt gesehen. Dann war ich in der Stadt unterwegs, habe eine Freundin getroffen, und am Abend habe ich lang gelesen. Ich dachte natürlich, er sei bereits im Bett.»

Orsini, die Decke um den Körper geschlungen wie ein Römer, sieht die Frau aus der Beletage forschend an.

«Aber Sie wissen, dass Sam heute früh in der Schule war?»

Sie schluckt und schüttelt den Kopf.

«War er in der letzten Nacht überhaupt zu Hause? Hat das Mädchen ihn gesehen?»

Frau Phillipi sieht ihn verzeifelt an und dann auf ihre gekrampften Hände.

«Ich weiß es nicht. Das Mädchen hat heute frei. Ich bin keine schlechte Mutter, Herr Orlando, es ist nur, ich dachte ja, Sam ist sehr selbständig. Ich bin keine schlechte Mutter.»

«Es ist richtig, dass Sie gekommen sind. Ihr Fall ist bei uns in guten Händen.» Sagt’s, sieht auf die einzige Hand, die das Schicksal ihm gelassen hat, und dann lieber wieder in ihr schönes Gesicht hinauf. Sie ist größer als er, das sind die meisten Frauen, aber sie hat nicht nur zwei Handbreit mehr weiches Fleisch und Knochen als andere. Sie hat auch innere Größe, das spürt er. Zumindest wünscht er sich das. Und ausgerechnet einer solchen Dame können sie nun helfen.

«Waren Sie eventuell schon bei – Verzeihung, ich muss das fragen – bei der Polizei? Wenn Ihr Kind einen Unfall hatte, dort wüsste man davon. Andererseits: Kinder! Über ein Abenteuer, eine kleine Ablenkung die Zeit vergessen und dann kommt die Angst vor der Schelte zu Hause dazu.»

Sie kämpft mit den Tränen. Orsini ist kurz davor, sie in den Arm zu nehmen. Aber dazu, die aufgewühlte Frau Phillipi zu beruhigen, kommt er nicht mehr. Mit einem Schlag fliegt die Bürotür auf und knallt ungebremst vor die Wand. Landow steht im Raum. Wankt. Er hat wieder getrunken. Wie zum Beweis erreicht Landows saure Bierfahne jetzt die übrigen Anwesenden.

«Orsini! Alter Drachentöter! Ich bin spät. Schuldigung. Aber haben Sie die Abendzeitungen gelesen?»

Landow rupft eine Rolle zusammengedrehter Zeitungen aus der Manteltasche, lässt die Hälfte davon fallen, bückt sich grunzend und klaubt das nassgeregnete Papier umständlich vom Boden auf. Dass Orsini nicht allein ist, entdeckt Landow, wieder senkrecht, aber noch leicht schwankend, erst jetzt. «Oh. Besuch? Verdammt. Pardon. Gnädige Frau, willkommen. Was dürfen wir … können wir … hat er Ihnen einen Cointreau angeboten? Nicht?»

Orsini bemüht sich um Schadensbegrenzung. «Es geht um den Sohn von Frau Phillipi. Er ist am Abend nicht von der Geigenstunde zurückgekehrt.»

«Ich war schon auf der Wache an der Schützenstraße», ergänzt sie schnell, «aber dort konnte man mir nicht helfen. Mein Mann kennt ein paar Herren im Präsidium, aber ich kann ihn nicht erreichen. Er ist geschäftlich unterwegs. Hamburg.» Sie sagt das irgendwie fragend, gedankenverloren. Verloren allemal.

Orsini hat Gabriel Landow in den letzten zehn Monaten, seit damals, als er ihn zuerst beklaut und danach seine Bekanntschaft gemacht hat, in ganz unterschiedlichen Verfassungen erlebt. Verschwitzt, verzweifelt, veränstigt, verschlossen, verbissen, versoffen und verstörend. Aber dieser Kerl ist immer wieder in der Lage, ihn neu zu verblüffen. Wie ein Schrankenwärter die Weichen umlegt, ist Landow auf einen Schlag nicht mehr sturzbetrunken. Er schweigt, hört zu, regungslos, dann strafft er sich, pfeffert das nasse Zeitungspapier auf seinen Schreibtisch, geht kerzengerade zu der bedauernswerten Frau Phillipi, sieht sie ernst an, gibt ihr einen Handkuss und sagt mit der Verbindlichkeit des Ersten Heldenschauspielers vom Deutschen Theater, dieses Josef Kainz’: «Gnädige Frau, im Gegensatz zu meinem bedauernswerten Auftritt, der unentschuldbar ist, den ich Sie dennoch in aller Form zu entschuldigen bitte, tut unsere Detektei nicht nur, was sie kann. Sie kann auch, was sie tut. Seien Sie versichert, dass wir uns, sobald es da draußen über dieser wunderbaren Stadt hell geworden ist, auf die Suche nach Ihrem Sohn machen werden. Haben Sie eventuell eine Fotografie von ihm?» Sie nickt und kramt in ihrer Manteltasche. Sie ist vorbereitet, Orsini lobt still ihre Umsicht.

«Ah, sehr schön, das hilft ungemein. Ich weiß, dass es müßig wäre, Sie, gnädige Frau, als liebende Mutter dazu aufzufordern, jetzt ruhig zu sein. Das können Sie in einer solchen Situation gar nicht. Aber versuchen Sie bitte, etwas Kraft zu finden. Mit dem ersten Hahnenschrei geht es los. Ich kenne auch einige Leute im Präsidium. Es wird uns eine Ehre sein, Ihnen zu helfen.»

Frau Phillipi klebt an seinen Lippen, obwohl ihn noch immer Kneipendunst umgibt. Fast würde es den sprachlosen Orsini nicht wundern, wenn Landow und sie sich nun küssten. Sie lässt sich stattdessen von Landow zur Tür bringen. Er sieht ihr nach, wie sie die unkommod steilen Treppen im hinteren Stiegenhaus hinabgeht, dann schließt er betont leise die Bürotür.

«Schöne Frau, finden Sie nicht, Orsini? Wie auch immer. Morgen kümmern wir uns. Vermutlich ist der Sohn dann ohnehin wieder da. Hat im Grunewald mit Freunden Räuber und Gendarm gespielt.»

«Im Februar?»

«Wir können jetzt sowieso nichts tun.»

«Sie kennen Leute im Präsidium?»

«Zwei Pförtner. Wir duzen uns.»

«Sie sind spät.»

«Für die Wahrheit ist es nie zu spät. Ich musste die Zeitungen erst lesen. Ich habe das Gefühl, dass das hier unser erster Fall sein könnte. Wer so was löst, ist auf einen Schlag berühmt. Ich fasse es für Sie zusammen, denn Sie haben ja offensichtlich eine Vorliebe für englische Romane entwickelt und den ganzen Tag verschmökert, was?»

«Nein, mein Lieber, ich habe rund ein Drittel unserer nächsten Monatsmiete zusammengesammelt und mir dabei nasse Füße geholt. Erst danach habe ich begonnen zu lesen.»

«Schon gut, schon gut. Hier, schauen Sie selbst. Wie auch immer: Ich gehe gleich morgen früh los und werde versuchen, mehr herauszubekommen.»

«Und der Junge?», ruft Orsini ihm hinterher.

Wieder erinnert Landow an einen dieser Staatsschauspieler, als er sich, groß und durchaus beeindruckend, in der geöffneten Durchgangstüre zu Orsini herumdreht und sagt: «Ist es nicht wunderbar? Erst haben wir keinen Fall. Jetzt haben wir zwei. Wissen Sie, Orsini, wie die Mohikaner jagten? Sie teilten sich auf. Genau wie wir. Sie kümmern sich um den verschwundenen Jungen und ich um den toten Bankier. Beide Fälle dulden keinen Aufschub. Wir ermitteln das wie die Mohikaner. Gute Nacht. Nein, bleiben Sie nur hier, Orsini, ich schlafe nebenan auf ihrer üppigen Pfingstrosenwiese.»

Landow lässt die nassen Zeitungen auf dem ansonsten leeren Schreibtisch liegen, streift im Gehen die Hosenträger ab und wankt, ohne Licht zu machen, in den Nebenraum. Einen Moment später tut es von dort einen gewaltigen Schlag. Nach einer Tirade halblauter Flüche geht drüben das Licht an, dann steht schwarz der Schatten Landows in der Durchgangstüre.

«Wo zum Teufel sind die ganzen Stühle hin? Die mit dem schönen Blumenmuster. Das müssen doch ein Dutzend gewesen sein. Was ist hier geschehen? Der Raum ist komplett leer. Wo soll ich schlafen? Kann man nicht einmal ein paar Stunden weg sein, ohne dass Sie alles auf den Kopf stellen?»

Orsini klappt gekonnt mit wenigen Handgriffen den Schreibtisch zu einem Bett auseinander und legt sich auf die dadurch freigelegte Matratze.

Erst dann sieht er erschöpft zu dem noch immer in der Tür wartenden Landow herüber.

«Ich kam noch nicht dazu, das zu erwähnen. Ich hatte den Eindruck, dass Ihnen das Muster und die Anzahl der Sitzmöbel nebenan nicht gefielen. Als ich heute Mittag am Spittelmarkt tätig war, entdeckte ich einen ganz wunderbaren Möbelstoff, schlicht, elegant, ganz ohne Blüten, wie gemacht für diese Räume. Ich habe den Stoff kurzerhand gekauft und die Stühle vorhin schon zum Polsterer bringen lassen. Alle. Montag sind sie wieder da. Gute Nacht. Stört es Sie, wenn ich hier noch ein wenig das Licht anlasse? Diese englische Geschichte ist wirklich tremendously interesting. Auch wenn es nicht Dickens ist.»

2

Samstag, 16. Februar 89

Er hat bisher bewusst vermieden hierherzukommen. Er hat den Schmerz gefürchtet, den es ihm bereiten würde. Zu Recht. Der Schmerz ist bereits da. Das gesamte Gelände ist noch heruntergekommener, als er erwartet hat. Das hier ist ein Friedhof. Ein totes, verfallenes Stück seiner Vergangenheit. Das Einzige, was von all dem noch lebt, ist sein Hass. Wenn der stirbt, stirbt er auch. Spätestens dann. Trotz der kühlen Temperaturen lastet ein Geruch von Tod über diesen Gebäuden. Als würden die geschwärzten Ziegelmauern, die eingesunkenen Dächer und gähnenden Fensterlöcher so etwas wie ihren eigenen steinernen Verwesungsgeruch ausdünsten. Dabei liegt ihr Tod doch schon Jahre zurück. Der einsame Besucher steht eine Zeitlang auf dem mit Schutt übersäten Hof herum. Die Überreste des Abtransports. Die Reste eines Lebens. Das Tor zur Gießerei haben sie mit zwei gekreuzten Bohlen zugenagelt wie ein mannshohes X. Aus dem Loch einer zersplitterten Scheibe wächst ein Birkenast heraus und scheint ihm zuzuwinken. Willkommen zurück! Da hinten waren die Büros, dort die Buchhaltung, weiter rechts das Atelier seines Vaters. Die Kinder haben mit ihren Steinen keine Scheibe mehr ganz gelassen, außer einigen von den ganz schmalen, schießschartenförmigen in den Lagern. Der Mann auf dem Hof fährt herum, als eine nasskalte Bö eine Tür aufreißt und vor das Mauerwerk krachen lässt. Sein flackernder Blick tastet über das alles hier. Er zittert. Ihn friert. Und das liegt nicht am Februar allein. In der Montagehalle liegen noch zwei umgestürzte Werkbänke wie die Barrikaden eines verlorenen Kampfes. Durch die wieder und wieder laut schlagende Tür pfeift scharf der Wind in die Halle hinein und fegt Staubwolken auf. Gelben Staub. Wie bestellt, kommt jetzt sogar eine kraftlose, leichenblasse Sonne zum Vorschein. Sie lässt den aufgewirbelten Dreck für einen Moment goldgelb aussehen wie den Sand dort. Gugelhupfgelber Sand, der ungefragt in sämtliche Körperöffnungen drang, sodass man nach wenigen Tagen das Gefühl hatte, inwendig zu knirschen wie eine vernachlässigte Maschine. Die Trostlosigkeit der Ruinen hier nimmt fast ein wenig ab, als er entdeckt, dass hinten, in der zweiten Halle, da, wo das Dach noch unversehrt scheint, offenbar Leute leben. Leben? Gestalten erheben sich dort und schleichen jetzt, Bündel und Decken auf dem Arm, zu den hinteren Türen hinaus wie ertappte Diebe. Fast möchte er ihnen nachlaufen und sagen: «Bleiben Sie nur. Ich gehe. Ich wollte es nur einmal noch sehen, bevor …»

Aber dann sagt er nichts. Geht einfach so. Selbst der Staub, der nun nicht mehr schimmert, hat sich gelegt. Bald würde sich vielleicht auch seine Wut legen können. Als er das Gelände der verlassenen Manufaktur durch den Torbogen zur Straße hin verlässt, blickt er sich ein letztes Mal um. Wenigstens das Schild ist fort, die große Holztafel, die einmal stolz Auskunft gab über die Bestimmung dieses Ortes. Das Namensschild, das jedes Jahr um genau diese Zeit herum fein säuberlich nachgemalt wurde. Ihn friert entsetzlich. Er geht. Er hat noch viel zu tun.

···

Erwischt! Verdammt! Wie das?! Der Schreck fährt in ihn wie ein Blitz. Kein Zweifel, der langhalsige Mann im Tweedmantel direkt vor ihm sieht ihn an, nicht zufällig und nicht freundlich. Kein Wunder: Orsinis Finger stecken noch tief in dessen Manteltasche. Bevor die Miene des Herrn noch wütender werden kann, zieht Orsini seine Hand samt Geschäftskarte der Detektei Orlando wieder aus dem Tweed heraus, hält sie dem Mann unter den drahtigen Schnauzbart und flüstert ihm zu: «Erstklassige Referenzen. Werbeaktion.» Dann – endlich – taucht Orsini ab in der Menschenmenge auf dem Alex, schlüpft haarscharf zwischen zwei sich kreuzenden Pferdebahnen durch, schlägt Haken wie ein Hase und wagt dann erst, die Jannowitzbrücke schon im Blick, schwer atmend in einer Nische stehen zu bleiben. Er! Wischt! Auf frischer Tat ertappt. Das ist ihm zuletzt in seiner Anfängerzeit passiert, als er seine Fingerfertigkeit noch an Besoffenen und alten Frauen geschult hat. Nicht mal das schlechte Wetter kann als Ausrede herhalten, die Hauptstadt präsentiert sich für einen Februarsamstag in geradezu freundlicher Beschaffenheit. Bunte Papierluftschlangen von Besuchern der Faschingsbälle der letzten Nacht hängen noch in den schrundigen Platanen herum und tun gerade so, als sei schon Mai. Orsini, wieder zu Atem gekommen, reiht sich flink in den Strom der Fußgänger ein. Er weiß sehr wohl, weshalb ihm dieser Fehler unterlaufen ist. Er ist abgelenkt. Er ist auf geradezu haarsträubende Weise unkonzentriert. Weil er unablässig Ausschau hält nach einem Achtjährigen mit goldblonden Locken, nach einem Rauschgoldengel in dunkelblauem Mantel und mit dunkelbraunem Geigenkoffer, der, aus welchen Gründen auch immer, nicht nach Hause zu seiner ausnehmend schönen Mutter geht. Orsini weiß sehr wohl, dass seine Chance, den kleinen Phillipi zu finden, gleich null ist. Aber was, außer Ausschau halten, kann er sonst tun? Zum Beten fehlt ihm das Talent. Am Morgen, kurz nachdem Landow das Haus verlassen hat, ist Orsini zur Polizeiwache in der Französischen Straße gegangen. Er schaffte es kaum, die fünf Stufen zum Eingang hochzugehen. Ein professioneller Taschendieb hat in einer Polizeistation nichts verloren. Es gibt kaum einen unpassenderen Ort für jemanden seiner Profession. Schwimmbäder und Nudistentreffpunkte vielleicht noch. Aber er schaffte es bis zum Tresen des Wachhabenden, zeigte die Fotografie des kleinen Phillipi und erkundigte sich, ob man eventuell …

«Ist das Ihr Junge?», unterbrach ihn der Wachtmeister.

Bei der Vorstellung wurde Orsini kurz angenehm warm ums Herz, denn wenn der Kleine sein Sohn wäre, hätte er ja in einer biologischen Notwendigkeit mindestens ein Mal mit der stattlichen Frau Phillipi …

«Leider nein», entfuhr es ihm. «Der Sohn einer guten Freundin aus unserem Haus in der Ritterstraße. Phillipi-Ginsberg. Der Vater, ein Bankier, ist auf Geschäftsreise, und die Mutter bat mich um Hilfe. Sie ist natürlich außer sich. Der Junge ist kein Streuner.» Und, als beweise das etwas: «Er spielt Geige.»

Da hat der Wachtmeister zum ersten Mal von den Papieren aufgesehen, die er konzentriert gelocht und zu drei Stapeln geordnet hat, während Orsini auf ihn einredete. Dazu knickte er je drei Blätter an der langen Kante in der Mitte und schob die Papiere dann exakt an der entstandenen Knickstelle in das Lochgerät. «Die meisten kommen wieder. Die meisten von den Kindern, die Tag für Tag und Nacht für Nacht verschwinden. Versuchen Sie, es einmal positiv zu sehen. Wenn ich den Jungen mit dem langen Namen bereits hier drin verzeichnet hätte, könnte das auch etwas Ungutes bedeuten. Sehen Sie, jetzt sehen Sie’s sofort positiver. Es ist nicht immer leicht in diesen modernen Zeiten, aber sich den optimistischen Geist zu bewahren, ist enorm wichtig. Ich selbst erreiche das durch fernöstliche Meditationstechniken, die … he, wo wollen Sie denn so schnell hin?!» Fernöstlich beseelt, rief der Wachhabende dem davoneilenden Orsini immerhin noch ein «Viel Glück!» hinterher. Bevor er sich, ahnte Orsini zu Recht, wieder der ganz und gar meditativen Tätigkeit widmete, die abzuheftenden Protokollseiten an der Kante exakt in der Mitte zu knicken.

···

Er ist nicht der Einzige, der die Abendblätter gelesen hat. Im Schlosspark vor der etwas kraftlos wirkenden Absperrung der Polizei stehen sie schon am frühen Samstag in kleinen Gruppen beieinander, starren auf die Säulen der ersten Etage des fast zierlich wirkenden, eleganten Gebäudes und stellen sich vor, dass er dort hing. Der Bismarckfreund. Der Erfolgsmensch. Landow sieht immer wieder einige mit abgespreizten Armen und Beinen ein X bilden.

Die Schlossverwaltung hatte mit polizeilicher Erlaubnis bereits am Vorabend mittels Schrubbern und Seifenlauge die blutigen Streifen am Schwanenweiß der Säulen entfernen lassen. Der Ort bot den gierigen Blicken jetzt also nichts mehr, befeuerte aber gerade mit dieser zur Schau getragenen Unschuld die Phantasien umso heftiger. Feldherren gleich, schritten Herren mit raumgreifenden Gesten um das Teehaus herum und erläuterten ihrem Gefolge, zur Not auch bloß einem gelangweilten Hund, die Ereignisse der vorletzten Nacht. So musste es gewesen sein. Schrecklich. Unfassbar. Ekelhaft. Mitten in Berlin. Auf nachgerade geheiligtem Hohenzollerngebiet. Und noch dazu völlig rätselhaft.

Der Parkwächter, der etwas abseits stand, hat Landows angebotene Zigarette gern genommen. Außer Rauch war aber nur aus ihm herausgekommen, dass er schon viel erlebt habe, aber so etwas noch nicht.

Der getötete Bankier wahrscheinlich auch nicht, hatte Landow still gedacht und diese vorübergehende Sehenswürdigkeit zügig wieder verlassen. Die Art, wie die Täter ihr Opfer hier der Öffentlichkeit präsentiert haben, ist bizarr. Der Bankenvorstand Breitkopf war stadtbekannt, eine öffentliche Person also, und sie hatten ihn dort hingehängt wie ein Denkmal. Eine menschliche Figur weithin sichtbar auf Stein gestellt. Das hier sollte ein Zeichen sein, keine Frage, das war ein Fanal. Aber für was genau? Mit ähnlich großem Risiko hätte man Breitkopf auch an eine Brücke oder das Portal seiner Bank knüpfen können. Weshalb ausgerechnet hier? Das Rätsel blieb außerdem, wie die Täter ihr Opfer auf den Balkon des Teehauses im ersten Stock und dann von dort an den Säulen hinaufgezogen hatten. Während er sich vor dem Schlossplatz einen Wagen heranwinkte, stellte er sich vor, wie drei bis vier Männer den toten Breitkopf mit Flaschenzügen, die sie oben an den Säulen befestigt haben, da wie ein geschlachtetes Tier hinaufziehen. Sie könnten eine von außen angestellte Leiter als Rampe benutzt haben. Oben angekommen, also immerhin – Landow schätzte die Geschosshöhe auf jeweils vier Meter – in fast acht Metern Höhe, binden sie den toten Bankier an den Handgelenken an die Säulen, entfernen die Flaschenzüge, spannen seine Beine zu einem X und binden seine Fußgelenke ebenfalls fest. Sie haben dazu mindestens eine Leiter, zwei Flaschenzüge, mehrere Laternen benötigt. Und Zeit! Schließlich war finstere Nacht, die Augenzeugen, irgendein junges Liebespaar, entdeckten den blutigen Fassadenschmuck erst in der frühen Dämmerung gegen Viertel vor sieben. Wie lange dauert so etwas, fragte er sich. Und selbst wenn die Täter – Landow glaubte, dass man für so etwas mindestens zu zweit sein muss – sehr leise waren: Warum wurden sie nicht von den Schlossparkwachen entdeckt?

 

Keine halbe Stunde später. Die Tür zum Untergeschoss der Charité war versperrt. «Kurzfristig wegen Krankheit geschlossen», verkündete ein großes Schild. Ein Satz, der vor einer Pathologie nicht einer gewissen Ironie entbehrt, fand Landow. Dann ist also offenbar auch der gute Pfeiffer von der grassierenden Erkältungswelle niedergestreckt worden. Neben der verschlossenen Türe saß trotzdem ein schmaler Kerl mit wüst vorspringender Nase am Boden und blickte melancholisch vor sich hin.

«Wollen Sie auch da rein?», fragte Landow ihn.

«Ja, ich arbeite hier. Ich bin der Assistent», antwortete der andere, und dabei huschte so etwas wie ein Lächeln über sein knochiges Gesicht.

«Ach, der vom Pfeiffer?»

«Klar. Herr Pfeiffer ist mein Chef.» Der Kleine sagte das mit hörbarem Stolz.

«Aber auf was warten Sie dann? Kann vermutlich dauern, bis das hier weitergeht.»

«Montag um sieben geht es wieder los. Ich spüre das.»

«Und bis dahin bleiben Sie hier?»

«Macht mir nichts aus. Ich hab sonst nichts vor.»

«Na, ich schon. Ich komme am Montag wieder vorbei. Mein Name ist übrigens Landow. Herr Pfeiffer und ich sind befreundet.»

Da ist der Kerl aufgestanden, hat die schäbige Mütze vom Kopf genommen und sich linkisch verbeugt.

«Mein Name ist Hans. Ich bin der Assistent.»

«Dann bis Montag, Hans.»

«Ich werde hier sein, Herr Landow.»

 

Halbe Stunde weiter südlich. Die Menschentraube vor der Breitkopf-Villa in der Sternstraße draußen in Lichterfelde ist deutlich kleiner als die im Schlosspark. Nur etwa zehn Leute lungern dort vor dem geschlossenen Gittertor herum. Ausschließlich Presse, so wie’s aussieht. Vor dem Tor zur Einfahrt ist ein Wachtmeister in Uniform postiert, die Journalisten stehen in kleinen Grüppchen auf dem gegenüberliegenden Trottoir zusammen und rauchen. An der rechten Gartenseite ist eine Tür geöffnet, sieht Landow durch die dichten Sträucher, die das Anwesen zur Straße hin abschirmen. Der Uniformierte am Tor überlegt eine Sekunde, ob er die kleine Ledermappe mit dem blitzenden Reichsadler-Relief darin, die Landow erst dicht vor dessen Gesicht aufspringen lässt, genauer betrachten soll. Aber dann knurrt Landow: «Sonderermittlung.» Da nickt der Wachtmeister und winkt ihn durch. Um nicht am Eingang abgewiesen zu werden, geht Landow forsch rechts ums Haus herum auf die immer noch offene Seitentür zu. Ein Dienstmädchen bürstet hier Teppiche aus. Sie schaut kurz zu ihm herüber und macht dann weiter. In Totenhäusern ist man dankbar für geregelte Aufgaben und Pflichten, denkt er. Landow tritt sich sorgsam die Schuhe ab, bevor er das stille Haus von der Seite betritt.

Pietätlosigkeit, Hausfriedensbruch, Amtsanmaßung kann man ihm dafür vorwerfen. Ist das eine Schnapsidee, hier einfach so reinzuspazieren? Nein, er fühlt sich weitgehend nüchtern. Außerdem ist es die einzige Idee, die er hatte. Er hat den Tatort gesehen, das Opfer noch nicht, die Hinterbliebenen zu begutachten, liegt also nahe. Er hat keine Ahnung, was ihn hier drinnen erwartet. Eine trauernde Familie? Eine champagnerschlürfende Schwarze Witwe? Außer dass das Opfer wohlhabend und einflussreich war, weiß er nichts über den toten Breitkopf. Das Haus empfängt ihn mit absoluter Stille. Die Bibliothek ist stattlich, standesgemäß bestückt und sieht so aus, als würde sie tatsächlich regelmäßig benutzt. Außerdem ist sie menschenleer. Der starre Blick des Hundes bremst Landows Fortkommen allerdings empfindlich. Noch steht der Dobermann regungslos da, etwa zehn Meter von Landow entfernt, aber beides kann sich schnell ändern. Und so, wie der Bursche aussieht, wird der sich von Landows geklautem Ausweis nicht beeindrucken lassen. Landow lässt den Hund nicht aus den Augen, als irgendwo neben den Bücherregalen eine Tür aufgeht.

«Rothschild, Platz.»

Die Sanftheit der Stimme, die das sagt, steht in starkem Kontrast zum Gehorsam des Hundes. Gerade noch sprungbereit, entspannt sich das Tier augenblicklich und trottet zu seinem Liegeplatz neben einem schmalen Kaminofen an der Stirnseite des Raumes zurück. Die Witwe. Nicht in Schwarz. Kein Champagner.

«Ich bin überrascht, positiv überrascht, dass Sie schon da sind», sagt die sanfte Stimme, und, tatsächlich, sie meint damit Landow. Der will keinen Fehler machen, deutet einen Diener an und murmelt: «Mein Beileid.»

Die Witwe Breitkopf, denn niemand anderes kann das sein, bietet Landow mit einer kleinen Geste Platz in einem der schmalen Ledersessel an, die beinahe salopp im Raum verteilt herumstehen wie in einem Herrenclub oder einer Hotellobby.

«Ihr Hund heißt Rothschild?»

«Ja, und Rothschilds Hund heißt Breitkopf. Ein Spaß, den die beiden sich machten. Mein Mann und Alphonse de Rothschild haben zusammen studiert.»

Die Witwe des toten Bankiers ist eine kleine, dralle Person. Auch jetzt, mit wahrscheinlich Ende vierzig, ist sie eine anziehende Frau, was weniger an ihren körperlichen Vorzügen liegt, sondern eher an etwas, das man Ausstrahlung nennt. Das hier ist keine jammernde Witwe, sondern eine auch in der Trauer, die man ihr deutlich ansieht, sehr selbstbewusste und bestimmte Frau. Entsprechend souverän mustert sie Landow, dem der Sessel zu klein zu werden scheint. Spätestens jetzt müsste er sich vorstellen, denkt er. Lässt es aber. Überlässt ihr, das Gespräch zu eröffnen.

«Ich habe gestern Abend», sagt sie ruhig, «nachdem mir die Herren der Polizei die Fotografien gezeigt haben, den Herrn Reichskanzler angerufen und um Unterstützung gebeten. Verstehen Sie mich recht, ich wollte diese Bilder sehen. Diese Barbarei. Ich musste sie sehen. Wer im Leben steht, muss auch mit dem Tod umgehen können. Auch mit einem solchen Tod. Aber ich halte den Tod meines Mannes für eine politische Tat. Und ich hege deshalb Zweifel, ob die normalen Ermittlungsmethoden Ihrer Kollegen ausreichen werden, das herauszufinden», sagt sie fast beiläufig mit dieser sehr angenehmen, warmen Stimme.

Landow begreift: Er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie hält ihn für den Spezialisten, den sie verlangt hat.

Sie zeigt auf ein Beistelltischchen, auf dem eine Mappe liegt. «Mein Mann erhielt regelmäßig Drohbriefe und Schmähungen per Post. Sogar Päckchen mit Exkrementen und Bombenattrappen. Viel Feind, viel Ehr, sagte er dann. Allerdings scheint es so, dass die gewisse, mein Mann nannte es gern Volatilität, im Deutschen klingt es ungleich unseriöser, Flatterhaftigkeit, dass die latente Instabilität, in die unser Land durch den Tod zweier Kaiser im letzten Jahr und einige andere Dinge mehr geraten ist, dazu geführt hat, dass – lassen Sie es mich so drastisch formulieren – zwielichtiges Gesindel seine Schlupflöcher verlässt. Die Ermordung meines Mannes ist ein geschmackloses Fanal, nichts weniger als das, davon bin ich überzeugt, Herr …»

Ein Fanal, genau, sie sieht das ähnlich wie er, denkt Landow und hört sich gleichzeitig auf ihre Frage nach seinem Namen antworten:

«Orsini.»

Eine blödere Antwort hätte er nicht geben können. Doch, noch blöder wäre gewesen, ihr seinen richtigen Namen zu verraten. Aber wieso ausgerechnet Orsini, hadert er mit sich. Doch sie fragt nur beiläufig: «Ah, mit den Orsinis in Lugano verwandt?»

«Nein», sagt Landow, froh, nicht wieder lügen zu müssen. Stattdessen vertieft er sich konzentriert in die erwähnte Mappe mit Drohbriefen. Er liest mit ungelenker Hand verfasste Ansammlungen von Rechtschreibfehlern, Flüchen, Beleidigungen jedweder Couleur und überlegt gleichzeitig: Wenn die Reichskanzlei einen Spezialisten geschickt hat, könnte der jeden Moment hier sein. Dann wandert sein Blick von den Anarchisten-Flugblättern nachdenklich zum Dobermann und wieder zurück. Ein überstürzter Abgang könnte schmerzhaft werden.

Zwischen den raumhohen Bücherwänden an der Längsseite der Bibliothek entdeckt er auf einem Tischchen das Modell dieses eisernen Turmes, der in Paris, hört man, schon kurz vor der Vollendung steht. Die Witwe Breitkopf hat Landows Blick bemerkt.

«Ja, das ist auch meine Vermutung, Herr Orsini. Die instabile Lage unserer Gesellschaft in Kombination mit dieser geradezu kindischen Euphorie, die überall im Land wegen der Exposition», sie spricht es französisch aus, nicht, weil es modern ist, sondern, weil sie es so gewohnt ist, «der Weltausstellung in Paris in zwei Monaten herrscht, ist, das sagte auch mein … verstorbener Gatte mehrfach, das ist politischer Sprengstoff. Ein Turm nur aus Stahlträgern erbaut, doppelt so hoch wie der Kölner Dom, da reden doch viele von einem babylonischen Turm, auch in diesen Drohbriefen. Ich bin überzeugt, dass mein Mann Opfer von politischen oder religiösen Extremisten geworden ist. Er kannte den Ingenieur Eiffel persönlich, das blieb bei seinem beruflichen Radius nicht aus.»

Landow schließt die Mappe und legt sie ruhig zurück. Dann steht er auf und wandert im Zimmer herum. Der Blick des Hundes folgt ihm Schritt für Schritt. Der Blick der Witwe wahrscheinlich auch.

«Der Zeitpunkt für diese Frage ist denkbar ungünstig, gnädige Frau, aber ich muss das fragen: Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen? Kam er Ihnen verändert vor? So, als fühle er sich bedroht oder Ähnliches?»

Sie sieht für einen kurzen Moment nachdenklich auf den Boden vor sich, und Landow befürchtet, sie könne nun die Fassung verlieren. Aber gleich darauf sieht sie ihn wieder direkt an: «Mein Mann hatte vorgestern Abend, am Donnerstag also, noch einen späten Termin in der Stadt. Mit wem, weiß ich nicht. Ersparen Sie mir die Impertinenz Ihres Blickes, Herr Orsini. Wenn er eine Affäre hatte, wusste ich davon.»

Die Witwe Breitkopf hat ihr Anliegen deutlich vorgetragen und sieht ihn nun erwartungsvoll an. Landow ist gerade dabei, sich in Windeseile Platituden zum Thema politischer Extremismus zusammenzusuchen, da klopft es an der Tür. Landow schätzt, dass er von hier aus die Seitentür nach draußen erreichen kann, bevor Rothschild zuschnappt, wenn jetzt der echte Sonderermittler eintrifft. Aber es ist nur das Dienstmädchen, dasselbe, das vorhin auf der Veranda die Teppiche pflegte, das jetzt mit zwei großen Kleidersäcken auf dem Arm hereinkommt.

«Gnädige Frau, Verzeihung, aber der Fahrer wollte es nicht zurücknehmen.»

«Was denn, Annemarie?» Selbst tadelnd klingt ihre Stimme warm wie ein Teller guter Suppe.

«Das sind die Kostüme für den Ball heute Abend. Und die brauchen Sie … ich meine … Sie werden doch nicht … allein … oder?»

Frau Breitkopf ist aufgestanden und betrachtet die Kleiderhüllen, sie liest die angesteckten Lieferzettel, und zum ersten Mal verliert sie die Fassung. Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und winkt das Mädchen mit den Faschingskostümen fort. Dann verlässt sie wortlos den Raum, vermutlich in den hinteren Teil der riesigen Villa, um das zu tun, was frischgebackene Witwen tun. Trauern. Weinen. Verzweifelt sein. Rothschild folgt ihr. Seine Krallen klackern hell auf dem Parkett davon. Fragend sieht das Mädchen Landow an.

«Als was wollten denn Herr und Frau Breitkopf den Ball besuchen?», fragt der leise.

Jetzt bricht auch das Mädchen in Tränen aus, und aus ihrem gurgelnden Schluchzen glaubt Landow zu verstehen: «Als Alice aus dem Wunderland und der Hutmacher.» Tatsächlich, außen auf dem einen Kostümsack ist ein großer, bunter Herrenzylinder angeheftet.

Landow verlässt die Villa, wie er kam, durch den stillen Seiteneingang. Als er neben der Remise vorbei Richtung bewachtes Tor geht, hört er einen Mann, der sich gerade an der Eingangstür dem Butler vorstellt, sagen: «Graff, Sonderermittlung, die Reichskanzlei schickt mich.»

Bevor man ihm Rothschild hinterherhetzen kann, verlässt Landow das Grundstück durch ein malerisch umranktes Heckentörchen.

···

Es geht nicht ohne ihn! Ohne Fortschritt. Darin zumindest sind sich alle einig. Aber ob der unverzichtbare Fortschritt erst noch kommt oder eventuell schon da ist, darin scheiden sich bereits die Geister. Einzig festzustehen scheint, dass der Fortschritt röhrenförmig ist. Das Rohrpost-System unter der Stadt, die Gasleitungen bis hoch in die Häuser, die armdicken Kabel für die neue Elektrizität: Die Zukunft hat Form. Röhrenform! Neben den zahllosen Baugruben, die manchen Straßenzug aussehen lassen wie ein granattrichterbedecktes Feld nach der Schlacht, sieht man praktisch zu jeder Tageszeit Menschen unterschiedlichen Alters und gesellschaftlicher Zugehörigkeit irgendwo zusammenstehen und in die Röhren gucken. Manche Begutachter haben dabei nachdenklich die Hand ans Kinn gelegt wie Philosophen, andere erklären wildfremden Dritten mit Kennerblick, was dort vergraben wird. Und vor allem: weshalb. Auch hier, an der Dauerbaustelle am Alexanderplatz, wo seit Jahren das neue Polizeipräsidium entsteht, gibt es verschiedene Ansammlungen von Röhrenbetrachtern. Die Leute haben dem Bau wegen der massiven Ziegelfassade und den Türmen auf dem Dach schon vor der offiziellen Eröffnung kurzerhand den Namen Rote Burg verliehen. Das riesige Gebäude, sollte es irgendwann fertig werden, würde gespickt sein mit den modernsten Vorrichtungen zur Verbrechensaufklärung. Vorbild war den Planern dabei der Londoner Scotland Yard, insgeheim schwebte Polizeipräsident von Richthofen und seinen obersten