Eises Kälte - Klaus Kormann - E-Book

Eises Kälte E-Book

Klaus Kormann

0,0

Beschreibung

Die Kommissarin Karen Leymann kann sich keinen Reim darauf machen: Der Tote, den man im historischen Eiskeller von Altenberge gefunden hat, ist schon seit mindestens 140 Jahren tot. Dennoch ist seine Leiche nahezu unverwest. Karen kehrt in den Keller zurück und wird Zeugin von Ereignissen, die sich um 1860 in Altenberge abgespielt haben. Zusammen mit ihren Kollegen will sie das Mysterium verstehen und den Mord aufklären. Ein spannender Krimi rund um den größten Eiskeller Europas in Altenberge / Münsterland, in dem bis 1930 eine Bierbrauerei betrieben wurde. 1996 wurde die Anlage zum Baudenkmal erklärt und unter Denkmalschutz gestellt. Seitdem besuchen in den wärmeren Monaten des Jahres jährlich mehrere tausend Menschen das Bauwerk, während es im Winter zur Schlafstätte für verschiedene Fledermausarten wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 213

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



4. Oktober, Keller
4. Oktober, Präsidium
5. Oktober, Eiskeller
6. Oktober
8. Oktober, Karens Wohnung
9. Oktober, Präsidium
10. Oktober
11. Oktober
12. Oktober
13. Oktober
14. Oktober
17. Oktober
17. Oktober, abends
19. Oktober
28. Oktober
28. Oktober, abends
Epilog
Namen

Eises Kälte

Klaus Kormann

Mystery – Roman

Über den Autor:

Klaus Kormann wurde 1958 in Elmshorn bei Hamburg geboren. Er ist seit 1981 verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt seit 2001 mit seiner Frau im Münsterland. Erst im Alter von 50 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben.

2010 veröffentlichte er seinen ersten Roman »Ebene 17 - Der Untergrund«, eine Science-Fiction-Satire (Schüppler Verlag).

2012 erschien »Eises Kälte«. Sein zweites Werk spielt in seiner neuen Heimat im westlichen Münsterland (Oldigor Verlag).

Ebenfalls 2012 ist mit »Samanthas Traum« ein Fantasyroman erschienen, der die globale Erderwärmung zum Thema hat (Nepa Verlag).

Einige Kurzgeschichten des Autors sind 2015 in der Anthologie »Das Ende? Der Anfang!« veröffentlicht worden (Verlag Beyond Affinity).

2022 hat Silke Siegel das »Regentagebuch« für ihren Podcast »www.wasliestdieda.de« eingesprochen.

Weitere Hinweise, auch zum Filmprojekt »Eises Kälte – Frozen in Time«, finden Sie am Ende.

Deutschsprachige Erstausgabe März 2012 verlegt durch Oldigor Verlag

Copyright © 2011 Klaus Kormann

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung

Covergestaltung: Feiyr.com

Lektorat Matthias Kramm

Eises Kälte

Klaus Kormann

4. Oktober, Keller

Karen Leymann fror. Seit über einer halben Stunde war sie jetzt in dieser verdammten Halle und hatte immer noch keine Idee, was vorgefallen war. Zum xten Mal ging sie in die Hocke und besah die kleine, fast schwarze Lache im fahlen Gegenlicht, das aus der schmalen Öffnung zu dem höher liegenden Gewölbe in den Raum fiel. Ihre Taschenlampe hatte schon nicht mehr richtig funktioniert, als sie beim Fundort angekommen war. Jetzt war sie nahezu erloschen. Der schwach rot glühende Draht hinter der kleinen Glasscheibe schien ihr höhnisch mitzuteilen, dass sie die Batterien rechtzeitig hätte wechseln sollen. Dennoch versuchte Karen, die Szenerie mit der Lampe etwas zu erhellen.

»Warum dauert das so lange, bis die mit dem Licht hier aufschlagen?« 

Sie vernahm den leichten Hall ihrer eigenen Worte, die sie wohl halblaut ausgesprochen haben musste. Das Unbehagen, das sie an manchen Tatorten spürte, war für sie fast greifbar. So hatte sie es noch nie gespürt. Im Geheimen ärgerte sie sich darüber, dass sie darauf beharrt hatte, die Männer vom Heimatverein in die Eingangshalle zurückzuschicken. Dort sollten sie bis zur Vernehmung warten. Jetzt hätte ihr sicherlich jemand mit einer Lampe ausgeholfen. Aber sie hatte Erfahrungen mit Zuschauern am Tatort. Entweder zertrampelten sie die Beweismittel oder der Anblick der Toten beschäftigte sie so sehr, dass letztlich ihre Aussagen beeinflusst wurden. Nach einigen Minuten hörte sie ein Poltern und das Geräusch von rollenden Metallkisten. Endlich kam die Spurensicherung. ›Wieso lassen sich die Kollegen von der SpuSi immer so viel Zeit?‹, ärgerte sich Karen. Wenigstens hatten sie funktionierende Taschenlampen dabei.

»Wo wart ihr so lange? Hier ist es schweinekalt!«

»Moin Schatz, ja danke, mir geht es auch gut. – Du hättest uns ja einfach helfen können, das Zeug hier runter zu schleppen. Dann wär dir sicher warm geworden.«

Hansens Stimme war tief und ruhig, wie immer. Wahrscheinlich grinste er auch noch durch seinen Stoppelbart. Karen konnte es im bewegten Licht der Lampen nicht erkennen.

»Ich habe dir ne Jacke mitgebracht.«

»Danke.« Überrascht nahm sie die Jacke aus der Hand des Mannes, der von seiner ganzen Erscheinung und Art des Auftretens hundertmal eher einen Seebären abgegeben hätte als einen Kriminaltechniker. »Woher wusstest du …?«

»Hör mal, wenn wir in nen Eiskeller gerufen werden, gehe ich davon aus, dass es da kalt ist. Und wenn ich dann höre, dass du da bist, gehe ich davon aus, dass du da nicht dran gedacht hast«, sagte er grinsend.

»Du bist ein echter Charmebolzen«, erwiderte die junge Frau. »Aber du hast übersehen, dass dieser Eiskeller seit hundert Jahren oder so außer Betrieb ist. Wieso ist es hier immer noch so kalt?«

»Wird schon gleich warm werden, wenn die Jungs das Licht einschalten. Sind ein paar tausend Watt, mit denen wir ein bisschen Licht und ganz viel Wärme machen.«

Vier weitere Kriminaltechniker waren Hansen in die Halle gefolgt. Sie hatten Karen nur kurz begrüßt und sekundenkurze Blicke auf Leiche und Umfeld geworfen. Dann waren sie routiniert an ihre Arbeit gegangen. Schnell wurden mehrere starke Scheinwerfer auf ihre Stative gestellt und eine Kabelverbindung durch den Raum gezogen. Wenige Sekunden später erklang ein dumpfes Geräusch, als der Kippschalter umgelegt wurde. Gleißendes Licht erfüllte den Raum. Karen musste die Augen zusammenkneifen, sie sah fast gar nichts mehr. Aber sie hörte jemanden die Leiter herunterkommen und nur Augenblicke später vernahm sie das Quietschen von Ledersohlen auf dem mit dunklen Holzbohlen ausgelegten Boden. Gregor kam.

»Gott sei Dank, endlich können wir anfangen«, sagte sie.

»Ich hab denen gesagt, dass ich nicht brauche ohne Licht hier runterzugehen.«

Gregor McNamara grüßte nie, wenn er einen Tatort betrat. Eine seiner unerklärlichen Eigenarten. Niemand wusste, was den Pathologen aus dem schottischen Hochland zur Kriminalpolizei Münster verschlagen hatte, aber seine Kollegen waren froh darüber. Dieser Mann hatte ihnen auch bei den kniffligsten Fällen schon häufig die richtigen Analysen und Tipps gegeben, und gelegentlich ließ sein skurriler Humor sie herzhaft lachen. Gregor hatte eine Aussprache wie ein geborener Westfale, verdrehte aber immer noch den Satzbau. Jetzt wandte er sich direkt dem Toten zu und ging vor ihm in die Hocke. Blitzschnell hatte er Einweghandschuhe übergestreift und einen Finger in die dunkle Blutlache getaucht. Die Haut, die sich darauf gebildet hatte, platzte und ein dünnes Rinnsal floss zäh auf Gregors Fußspitzen zu.

»Vorsicht!« Einer der Techniker hatte offensichtlich Angst, dass der Schotte Spuren verwischen könnte, aber Hansen winkte ab.

»Lass ihn, Gregor weiß, was er tut.«

»Das ist erstaunlich, nicht wahr?«, murmelte McNamara vor sich hin. Dann zog er die Lider des Toten hoch und leuchtete mit einer kleinen Stablampe in die erstarrten Augäpfel. »Erstaunlich!«

»Kannst du mir schon sagen, wie lange der Mann tot ist?«, wollte Karen wissen.

»Nein, es ist zu früh für das. Aber es ist erstaunlich. Das Blut ist noch flüssig. Und jemand hat ihm zugedrückt die Augen. Und es ist hier kalt wie Schweine, nicht wahr?«

»Schweinekalt heißt es«, sagte die Kommissarin. Sie hockte sich neben den Schotten und sah sich den Toten jetzt erstmals genauer an. »Das mit den Augen ist mir auch aufgefallen. Als ob der Täter oder jemand anderes ihm noch einen letzten Dienst erwiesen hat. Merkwürdig. Weißt du, was das für Flecken auf seinem Gesicht und am Hals sind? Das sieht mir sehr ungewöhnlich aus. Hämatome sind es nicht. Leichenflecken auch nicht.«

»Die Haut sieht aus sehr trocken. Fast wie Papier. Sehr komisch, nicht wahr? Und die Flecken? Ich glaube, es sind Trockenflecken. Wie bei Gefrierbrand.«

»Es ist hier zwar kalt, aber doch kein Frost«, meinte Hansen.

»Zwei Grad«, erwiderte Gregor nach einem kurzen Blick auf ein digitales Thermometer. Er wandte sich wieder der Leiche zu. »Und der Tote hat auch zwei Grad.«

»Aber dann muss er doch schon mindestens zwei oder drei Tage hier liegen, wenn der Körper komplett die Umgebungstemperatur angenommen hat. Wieso ist dann das Blut noch nicht geronnen? Und warum hat er diese Verkleidung an? Ist ein Mittelaltermarkt oder so was in der Nähe?«

McNamara sah Karen schräg von unten an.

»Also, die Kleidung nicht ist Mittelalter. Da man hat mehr verwendet grobes Leinen und Leder und so. Das hier ist wesentlich neuer. Und ich weiß nicht wie lange schon er ist tot, aber mehr als zwei oder drei Tage garantiert. Und auch mehr als zwei oder drei Jahre, wenn du fragst mich. Eher so zwei oder drei Jahrzehnte, ich glaube.«

Karen schaute den Pathologen ungläubig an. »Aber das Blut? Du spinnst. Das Blut ist doch noch flüssig. Das bedeutet doch, dass der Mord erst vor Kurzem passiert sein kann. Wenn der Mann schon so lange tot ist, dann …?«

Sie sah McNamaras Blick und verstummte. Er hatte recht, sie sollte sich nicht in Spekulationen ergehen. Es war die Aufgabe der Pathologen und der Spurensicherung, erstes Licht auf diesen Todesfall zu werfen. Dennoch konnte sie sich nicht zurückhalten und musste noch einmal nachfragen.

»Du glaubst wirklich, er war eingefroren?«

»Könnte sein! Ich kann es nicht erklären anders.«

»Und das Blut?«

»Vielleicht irgendwie chemisch behandelt? Verflüssigt? Wer weiß?«

Der Pathologe beugte sich wieder über den Körper und beäugte die Wunden des Mannes genau.

Karen wandte sich an ihren anderen Kollegen. »Wie ist er hier rein gekommen? Ich konnte keinen weiteren Eingang entdecken.«

»Keine Ahnung«, meinte Hansen. »Aber wir werden den schon finden. Vielleicht gibt es da oben irgendwo eine Luke oder eine Geheimtür.«

»Wie ist er getötet worden?«, fragte Karen. »Bis jetzt habe ich keine Waffe entdecken können, die diese Wunden hervorgerufen haben könnte. Die Verletzungen sehen recht böse aus, ich habe so etwas noch nicht gesehen.«

»Den Tatgegenstand werden wir mit ziemlicher Sicherheit bald identifiziert haben. Gibt ja gar nicht so viele Möglichkeiten, scheint irgendetwas Stumpfes gewesen zu sein.«

»Ja, war ein reichlich stumpfer Gegenstand«, ergänzte Gregor. »Reichlich stumpf und geschlagen mit ordentlicher Gewalt. Hier quer gerissen den Hals entlang, dem Rissmuster folgend die Waffe muss geführt worden sein von vorne nach hinten. Und um dieses Loch in der Brust hinzukriegen, hat derjenige, der diesen Mann vom Leben zum Tode hat befördert, ganz schön Kraft gebraucht. Oder ziemlich in Rage gewesen sein, nicht wahr? Es müssten eigentlich Partikel in der Wunde geblieben sein zurück, ich werde untersuchen es nachher genau.«

Er ging mit seinem Gesicht ganz nah an die klaffenden, mit schwarzem Blut umrandeten Wunden heran und besah sich die Verletzungen lange. Zentimeter für Zentimeter fuhr er mit dem Lichtkegel einer kleinen Stablampe ab.

»So ich kann nichts entdecken, außer etwas Wasser. Wie kommt Wasser in die Wunde, das ist komisch, nicht wahr? Und wieso blutet es? Müsste sein getrocknet alles längst, da hast du recht. Wie die Haut, die ist auch ganz trocken. – Na ja, wir werden herausfinden es.«

McNamara stand auf und blickte sich aufmerksam in dem Kellergewölbe um. Fernab der aufgestellten Scheinwerfer bemerkte er ein Glitzern auf dem Fußboden. Neugierig ging er hinüber und besah sich die Ursache.

»Kann ich bitte haben etwas mehr Licht?«, rief er. Einer der Männer drehte eine der Lampen in seine Richtung.

»Interessant«, sagte Gregor und ging wieder in die Hocke. Vor ihm glänzte eine etwa 40 cm lange Lache auf den rauchgeschwärzten Holzbohlen, mit denen der ganze Raum ausgelegt war. Wie eben tauchte er einen Finger in die Pfütze und besah sich die Flüssigkeit genau, indem er seinen handschuhbewehrten Finger dicht vor die Augen führte. Ein durchsichtiger Tropfen glitzerte im Licht. Dann leckte der Schotte daran.

»Interessant!«

»Iih!« Karen schüttelte sich. »Du hast doch noch Blut am Finger. Wie kannst du den ablecken?«

»Nun, ich dachte, ihr deutschen Polizisten habt eine bessere Beobachtungsgabe«, grinste Gregor. »Der Finger, den ich getaucht habe in das Blut, ist mein Zeigefinger. Und der, den ich eben habe abgeleckt, mein kleiner. Das hier ist übrigens Wasser, wenn ich nicht irre mich.«

Er ließ sich von einem der Spurensicherer eine Pipette geben und zog sie schnell mit der Flüssigkeit voll.

»Wenn ihr seid fertig, bringt ihn mir nach Münster. Ich sehe ihn mir an noch heute, nicht wahr.« Damit ging er grußlos aus der Halle.

»Irgendwie ist Gregor im Dienst ziemlich kauzig«, meinte Karen. »Aber privat ganz nett. Was hat er gesagt? Der war Jahrzehnte eingefroren! Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Außerdem hat den jemand hier abgelegt. Der muss Spuren hinterlassen haben. Wo ist der reingekommen?«

Sie hielt die Taschenlampe auf die Ecke des Raumes gerichtet, die ohnehin taghell ausgeleuchtet war. Hansen nahm ihr die Lampe aus der Hand und leuchtete ihr direkt in die Augen. Karen sah nur ein ganz schwaches Glimmen hinter dem runden Glas.

»Mit der jagst du jedem Verbrecher ganz bestimmt Angst ein. Werden ja alle geblendet von dem Lichtkegel. Gibts jetzt keine Batterien mehr? Sparmaßnahme oder was?«

»Mach dich ruhig lustig über mich, ich hab auch schon heftig geflucht. Immer geht das Scheißding nicht, wenn ich es brauche. Aber im Ernst, ihr müsst doch was finden. Der Eingang da oben wurde erst vor ein paar Stunden geöffnet und einen zweiten habe ich noch nicht entdeckt. Außerdem wiegt der Tote doch mindestens 90 Kilo. Den hat ja keiner locker hier reingetragen und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen abgelegt.«

»Wir werden Spuren finden und wir werden den Eingang finden.« Hansen sah sich nach seinen in weiße Overalls gehüllten Männern um, die gerade den Fundort und den Toten fotografierten. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.

»Bisher fast nichts, Chef. Da hinten in der Ecke haben wir einen Gürtel gefunden, Machart und Stil wie der Rest seiner Klamotten. Da, bei drei!« Er zeigte auf den Fundort, der mit einem kleinen Plastikschild markiert war. »Außerdem einen Knopf. Bei vier. Sieht alles ziemlich aus der Mode gekommen aus, wenn du mich fragst«, sagte einer der Männer. »Vielleicht finden wir unter der Leiche mehr, wenn wir sie abtransportieren können. Ich glaube fast nicht. Der ganze Raum wirkt irgendwie klinisch rein, ich dachte, das ist hier ein Museum oder so was. Es gibt nicht mal Spuren von Besuchern. Vielleicht bringt uns der Wasserfleck weiter.«

»Diese Halle ist erst vor ein paar Stunden entdeckt worden. Hier waren noch keine Besucher«, erklärte Karen. »Bitte fotografiert die Wasserlache und nehmt auch eine Probe mit.«

»Wo ein Knopf abreißt, findet man meistens auch noch Stofffasern. Nehmt euch nachher noch mal die Ecke gründlich vor«, sagte Hansen.

»Ja, Chef!«

»Und sucht nach dem verdammten zweiten Eingang. Es muss einen geben.«

»Ja, Chef!«

»Wie hat man ihn gefunden?«, wollte Hansen wissen.

»Die haben angeblich einen Hohlraum hinter der Mauer bemerkt, den ersten Stein rausgenommen und hinein geleuchtet. Da haben sie entdeckt, dass dahinter ein riesiger Raum lag. Als sie dann das Loch etwas vergrößert hatten, hat sich einer der Männer mit dem Oberkörper durchgezwängt und mit einer Taschenlampe reingeleuchtet. Er wunderte sich zuerst über die Holzleiter, die unter der Öffnung stand. Und als er sich weiter umsah, bemerkte er den Umriss des Toten hier hinten in der Ecke. Er konnte wohl nicht genau erkennen, worum es sich handelte. Sie haben dann die Steine so weit entfernt, dass man einigermaßen durchkommt. Dann ist der Mann runter und hat sich der Leiche genähert. Angeblich ist er aber nicht bis zu ihr gegangen, sondern nur so weit, bis er erkannte, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelte und nicht um eine Puppe oder Ähnliches. ›Ich wollte ja keine Spuren zerstören‹, meinte er. Danach haben sie uns angeblich sofort gerufen.«

»Die haben nicht nachgesehen, ob der Mann tot ist oder nur verletzt? Ich kann es nicht glauben.«

»Ich werde mir die Leute nachher noch einmal vornehmen.«

Hansen ging langsam in Richtung der alten Holzstiege. »Komm Schatz, es ist hier wirklich ›kalt wie Schwein‹, Gregor hat recht. Die Jungs machen das schon. Wenn sie fertig sind, lassen sie ihm die Leiche zur Obduktion bringen. Du kriegst unseren Bericht so schnell wie irgend möglich, die Fundstücke und die Wasserprobe lasse ich zur KTU[Fußnote 1] bringen. So wie ich ihn kenne, findet Gregor den Fall Klasse und wird sich sofort an die Autopsie machen.«

4. Oktober, Präsidium

Es war fast zehn Uhr abends. Karen Leymann blätterte in den Unterlagen, die sie noch spät erhalten hatte. Vor ihr auf dem Tisch lagen über vierzig Fotos der Spurensicherung und weitere von der Obduktion.

Der endgültige Obduktionsbericht war zwar noch nicht fertig, aber aus den Unterlagen, die Gregor ihr auf den Tisch gelegt hatte, ging hervor, dass der Tod des Mannes durch zwei Stichverletzungen hervorgerufen worden war, von denen jede einzelne tödlich gewesen wäre. Ansonsten war er von kräftiger Gestalt und augenscheinlich gesund gewesen. Lediglich eine leicht vergrößerte Leber hätte ihm in den nächsten Jahren Probleme bereiten können. Doch das Gewicht der Leiche passte nicht zu ihrem kräftigen Erscheinungsbild: Der Leichnam, den jeder auf achtzig bis neunzig kg geschätzt hätte, brachte tatsächlich nur achtundsechzig kg auf die Waage. Anstatt der für einen erwachsenen Menschen normalen fünfundsechzig bis siebzig Prozent hatte der Tote nur noch einen Wassergehalt von einundfünfzig Prozent. Daraus erklärte sich das fehlende Gewicht. Gregor war sicher, dass der Tote bereits vor mehreren Jahrzehnten ums Leben gekommen war und seitdem irgendwo eingefroren die Zeit überdauert hatte. Nur so ließ sich seiner Meinung nach die Austrocknung der Leiche und die teils merkwürdige Hautstruktur erklären. Vorsichtshalber hatte der Pathologe Zellproben entnommen und an ein forensisches Institut zur genaueren Untersuchung geschickt. Außerdem hoffte er auf eine Erklärung für die merkwürdige Fließfähigkeit des Blutes, das normalerweise längst geronnen wäre.

Danach hatte er sich die ungewöhnliche Kleidung des Mannes vorgenommen, obwohl dies zu den Aufgaben der kriminaltechnischen Untersuchung gehörte. Karen besah sich die Bilder, die er aufgenommen hatte. Jedes einzelne Kleidungsstück war genauestens dokumentiert, kein einziges war Massenware. Die Nähte waren grob geheftet und unregelmäßig, es sah nach Handarbeit aus. Und die Kleidung war großteils abgewetzt und abgetragen. Uralt, gebraucht.

›Das sind nicht die Requisiten eines Schauspielers‹, dachte Karen. ›Ich schau mir die Sachen nachher noch mal im Original an. Vielleicht stammen sie aus einem Museum?‹

Sie hatte am Nachmittag noch mit Franz Berning, dem Leiter des Eiskellers, gesprochen. Das Gewölbe, in dem der Tote aufgefunden worden war, hatte man erst am Morgen bei Renovierungsarbeiten entdeckt. Niemand hatte eine Ahnung gehabt, dass es existierte. In den erhalten gebliebenen Bauplänen war es nicht erwähnt und der Übergang zu den bekannten Räumen war damals offensichtlich so sorgfältig mit rotem Ziegelmauerwerk verschlossen worden, dass man ihn bisher nicht bemerkt hatte. Nur einem Zufall und der Aufmerksamkeit eines Bauarbeiters war es zu verdanken, dass der Eingang offengelegt werden konnte. Dahinter befand sich eine hölzerne Leiter, über die man die acht mal achtundzwanzig Meter große Halle erreichen konnte. Wie Berning versichert hatte, war die Polizei sofort nach Entdeckung des Toten informiert worden. Seiner Einschätzung nach schien dieser Raum niemals in Betrieb genommen worden zu sein.

»Achten Sie auf die Holzbohlen, Frau Leymann«, hatte er gesagt, »sie erwecken nicht den Anschein, als hätten sie längere Zeit im Wasser oder unter dem Eis gelegen. Es sieht eher so aus, als hätte man den Raum für die Eiseinlagerung vorbereitet und als wäre dann etwas dazwischen gekommen.« Mehr wisse er auch nicht über das mysteriöse Gewölbe, er wolle aber noch einmal die Aufzeichnungen durchsehen, ob irgendetwas über diesen Keller vermerkt wäre. Vielleicht hätte man etwas übersehen. Karen hatte dem Mann mitgeteilt, dass die Kriminalpolizei das gesamte Gebäude bis auf Weiteres versiegeln würde.

Die Spurensicherung hatte vorsichtshalber Mörtel- und Gesteinsproben genommen, um auszuschließen, dass der Zugang erst vor Kurzem zugemauert worden war. Nach erster Inaugenscheinnahme sah es so aus, als wäre alles uralt und über Jahrzehnte durchgetrocknet.

›Warum haben die sich nur die Steine vorgenommen? Die sollen auch Proben von dieser komischen Leiter und den Holzbohlen auf dem Boden nehmen und zur KTU bringen. Da muss man doch das Alter bestimmen können? Wie heißt das noch? C-14-Methode?‹ Karen machte sich eine Notiz, sie würde Hansen morgen fragen.

Die Kommissarin hatte immer noch keine Idee, was es mit dem unbekannten Toten auf sich hatte. Der Mann dürfte um die fünfzig Jahre alt gewesen sein, die gesamte Erscheinung war mehr als auffällig. Ein dicker, gezwirbelter Schnauzbart zierte sein Gesicht, die restliche Bartbehaarung war unregelmäßig geschnitten und bestand aus millimeterlangen Stoppeln. Aber die konnten auch nach dem Tod des Mannes noch gewachsen sein. ›Quatsch!‹, schalt Karen sich selbst. ›Alter Irrglaube, nichts wächst mehr nach dem Tod.‹ Gregor hatte sie vor einigen Wochen aufgeklärt. »Durch die postmortale Dehydratation die Haut zieht sich zurück und dadurch die Haare sehen länger aus als vorher und auch bei den Fingernägeln das Nagelbett trocknet ein. Deshalb die Nägel wirken länger ebenfalls. Bei flüchtiger Betrachtung sieht es so aus tatsächlich, als wäre das Wachstum nicht gestoppt worden sofort. Aber das ist nicht richtig. Ganz interessant: Im Mittelalter hat man Hexen nach der Hinrichtung häufig ausgegraben nach einigen Tagen noch einmal, um zu sehen, ob die Haare und die Nägel sind gewachsen weiter. Wenn das der Fall war, und das war er immer, das ein Beweis dafür war, dass die Frau tatsächlich war eine Hexe und das Urteil natürlich korrekt. Obwohl – wenn es das nicht wäre gewesen, hätte es für die Hexe auch keinen wirklichen Unterschied gemacht, nicht wahr?«

Gregor zog oft seine Zuhörer mit diesen kleinen Geschichten in den Bann. Der unbestreitbare Vorteil war, dass Karen überhaupt keine Probleme hatte, sich die von Gregor vorgetragenen Theorien zu merken. Wie Filme brannten sich die Erzählungen bei ihr ein und waren jederzeit abrufbar. Sie selbst würde niemals wieder daran glauben, dass die Haare eines Menschen auch nach dem Tod weiterwachsen. Und sollte sie irgendwann einmal Kinder haben, die dumme Fragen zu diesem Thema hatten, könnte sie es ihnen sehr plastisch erklären. Die Story mit den Hexen würden sie jedenfalls nicht vergessen.

5. Oktober, Eiskeller

Die Nacht war fürchterlich. Nach knapp vier Stunden unruhigen Schlafes stand Karen völlig durchgeschwitzt und entnervt auf. Sie nahm eine ausgiebige Dusche. Das heiße Wasser erfrischte ihren Körper, doch ihre Gedanken hingen weiterhin ihren Träumen nach. Sie hatte das Gesicht des Toten die ganze Nacht vor sich behalten, und auch jetzt konnte sie es nicht abschütteln. Sie ärgerte sich einerseits über ihre unzureichende Professionalität, andererseits wunderte sie sich über sich selbst. Tote zu sehen war Teil ihres Jobs. Wieso berührte sie gerade dieser Mann so sehr? Sie hatte Kinder und Frauen gesehen, denen Fürchterliches angetan worden war. Oft hatte sie sich abwenden und um Fassung ringen müssen, bevor sie dazu übergehen konnte, die jeweiligen Täter dingfest zu machen.

Doch dieser Fall war anders. Ohne Frage handelte es sich um eine brutale Gewalttat, doch Karen hatte ein unbestimmtes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Dies war kein gewöhnlicher Mord oder eine Beziehungstat. Irgendetwas passte nicht. In Gedanken ging sie noch einmal durch, was sie bisher an Erkenntnissen über den Fall gewonnen hatten. Viel war es nicht. Die Sache war ungewöhnlich und rätselhaft; die Leiche ein unbekannter, kräftiger Mann mittleren Alters. Die beiden Wunden waren ihm offensichtlich mit großer Gewalt beigebracht worden. Entweder war der Täter sehr stark oder sehr, sehr wütend gewesen. Sie würde es herausfinden. Der Fundort, vielleicht war es sogar der Tatort, war bis auf die kleine Blutlache sauber gewesen. Hansens Leute hatten bisher nichts an verwertbaren Spuren entdecken können: Einen Gürtel, vermutlich der des Toten; eine unerklärliche Schramme im Mauerwerk, etwa auf einhundertfünfzig cm Höhe; ein paar Stofffasern und einen Knopf in einer Ecke des Raumes. Das war alles. Vor allem aber hatten sie keinen Eingang gefunden, durch den man die Leiche hätte hineinbringen können. Das Einstiegsloch, durch das die Entdecker und auch die Kriminalisten in den Keller gelangt waren, war erst einige Stunden zuvor aus dem Mauerwerk gebrochen worden. Selbst Karen, wahrlich keine Fachfrau auf diesem Gebiet, hatte erkennen können, dass der verwendete Mörtel staubtrocken war und somit sicherlich schon einige Zeit abgebunden hatte. Doch wie hatte der Tote in diesen abgeschlossenen Raum gelangen können? Wie konnte sein Zustand erklärt werden? Wenn er so alt war, wie Gregor behauptete, hätte er längst verwest sein müssen. Warum ist er es nicht? Konnte die Theorie stimmen, dass man den Mann über Jahrzehnte eingefroren hatte? Wer macht so etwas? Wer war der Tote? Verzweifelte Angehörige hatten sich bislang nicht gemeldet, ein erster Check in den Computern der Polizeidirektion Münster hatte ergeben, dass auch niemand aus der Gegend vermisst wurde. Ein Abgleich mit der bundesweiten Vermisstendatenbank war ebenfalls ohne Ergebnis geblieben. Niemand, dessen Beschreibung auch nur im Entferntesten auf den Toten gepasst hätte, war in den Polizeisystemen erfasst.

Was an diesem Fall beschäftigte sie so? Gut, der Sachverhalt war unerklärlich, es waren einfach zu viele Ungereimtheiten mit dem Leichenfund verbunden. ›Wir müssen etwas übersehen haben! Es muss einen Schlüssel zu dem Fall geben!‹ Mitten in der Nacht beschloss Karen, sich den Fundort des Toten noch einmal anzusehen.

Auf dem Weg nach Altenberge überlegte sie, in ihrer Dienststelle anzurufen.

›Quatsch, es ist noch nicht mal fünf. Ich bin ja sowieso wieder vor den anderen im Präsidium.‹

Eine gelb blinkende Leuchtreklame riss sie aus ihren Gedanken. Zwei belegte Brötchen 2,40 Euro. Auch ihr Magen hatte das Schild offensichtlich gesehen und begehrte auf. ›Hunger!‹, schien er zu rufen. Sie bog auf die Tankstelle ein und kaufte zwei Käsebrötchen. ›Irgendwann musst du doch mal lernen, ordentlich und in Ruhe zu frühstücken!‹, schalt sie sich, während sie das Geld abgezählt in die Plastikschale auf dem Tresen legte.

Zehn Minuten später bog sie auf den kleinen Parkplatz vor dem historischen Eiskeller ein und stellte den Motor ab. Sie sah an sich herunter. Unzählige Frühstückskrümel hatten sich in dem dicken Wollpullover verfangen und auf ihrer Jeans lag ein Stückchen Käse.

›Das musst du dir echt abgewöhnen‹, sagte sie sich halblaut, dann griff sie nach ihrer Jacke auf dem Rücksitz. ›Hansen soll noch mal sagen, dass ich nicht selber daran denken kann.‹ Sie ging die paar Schritte hinüber zu der gläsernen Eingangstür. Die Schlüssel hatte sie gestern von Herrn Berning bekommen, dem Leiter des Heimatvereins, der das Baudenkmal verwaltete. Jetzt brach sie das Siegel, das die Spurensicherung an der Tür angebracht hatte, und ging in den wie eine Eisscholle gestalteten Vorraum. Sie tastete nach dem Lichtschalter und tauchte den Raum in unwirkliches Licht, dann stieg sie die Stahltreppe hinab in die alten Gewölbe des Eiskellers. Es war kalt, feucht und muffig. Etwas Wasser sickerte aus einer Wand und lief über den Steinboden.