Eisiges Geheimnis - Karin Salvalaggio - E-Book

Eisiges Geheimnis E-Book

Karin Salvalaggio

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie gibt nicht auf Ein eiskalter Wintermorgen im verlassenen Norden Montanas. Blutüberströmt bricht eine Frau vor dem Haus von Grace zusammen. Beim Versuch, sie zu retten, erkennt Grace in der Toten ihre vor vielen Jahren spurlos verschwundene Mutter. Die hochschwangere Polizistin Macy Greeley übernimmt den Fall. Sie kehrt zurück in die raue, eingeschworene Gemeinschaft nahe der kanadischen Grenze. Vor elf Jahren hat sie vergeblich versucht, Grace' Mutter aufzuspüren. Grace ist in großer Gefahr. Jemand verfolgt sie. Im Krankenhaus wird auf sie geschossen. Dennoch lässt sie Macy zunächst nicht an sich heran. Bis die beiden Frauen dem Mörder immer näher kommen … »Salvalaggio ist eine beeindruckende neue Stimme in der Spannungsliteratur, und ihre Heldin, Detective Macy Greeley, eine starke und vielschichtige Figur. Ich kann es kaum erwarten, mehr von ihr zu lesen.« Deborah Crombie

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Buch

Detective Macy Greeley ist hochschwanger. Vom Vater des Kindes hat sie sich getrennt. Eigentlich sollte sie längst in Mutterschutz sein, doch ein alter Fall holt sie wieder ein.Elf Jahre zuvor ist im einsamen Norden Montanas eine Frau spurlos verschwunden. Erst nach drei Tagen wurde ihre Tochter Grace aus dem heruntergekommenen Wohnwagen der Vermissten gerettet. Nun taucht die Frau wieder auf – und wird vor den Augen ihrer inzwischen erwachsenen Tochter niedergestochen. Beim Versuch, sie zu retten, erfriert Grace fast in einem einsetzenden Schneesturm.

Macy Greeley kehrt zurück in die raue Gegend nahe der kanadischen Grenze. In der eingeschworenen Gemeinschaft kennt jeder jeden, doch keiner will mit ihr reden. Auch die gefährdete Grace verschweigt etwas. Zugleich kämpft Macy mit ihren eigenen Problemen. Der Gedanke, das Kind allein aufzuziehen, macht ihr Angst. Ihre Verletzlichkeit hilft ihr, Zugang zu Grace zu finden. Als Grace endlich beschließt, sich zu öffnen, ist es fast zu spät.

Die Autorin

Karin Salvalaggio wurde in den USA geboren und ist in Alaska, Florida, Kalifornien und im Irak aufgewachsen. Seit zwanzig Jahren lebt und schreibt sie in London. Sie hat zwei Kinder und einen Schnauzer namens Seamus. Eisiges Geheimnis ist ihr Debüt. Sie schreibt bereits am zweiten Buch der Serie.

Weitere Informationen finden Sie auf

www.karinsalvalaggio.com

Karin Salvalaggio

EISIGES GEHEIMNIS

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Gabriel

Marion von Schröder

Besuchen Sie uns im Internetwww.ullstein-buchverlage.de

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel Bone Dust Whitebei Minotaur Books, New York

ISBN 978-3-8437-0944-6

© 2014 by Karin Salvalaggio© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenUmschlagabbildung: © Einar Oli Einarsson/plainpicture/Mira

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für meine Kinder,Daniela und Matteo

A final comfort that is small, but not cold:The heart is the only broken instrument that works.T. E. Kalem

KAPITEL 1

»Er hat ihr wehgetan, sie blutet.«

Das Telefon am Ohr, trat Grace aus dem trüben Licht, das durch die Küchenfenster fiel. Sie drückte sich an die Kühlschranktür, wo die Familienfotos hingen. Die umgeknickten Ecken bohrten sich ihr in den Rücken.

»Grace Adams«, sagte sie in die knisternde Leere und wickelte sich die Telefonschnur um die Finger. »153 Summit Road.«

Grace wartete. Ihre Fingerspitzen wurden dunkel über der Schnur und fingen an zu pochen. Schmal und zerbrechlich, wie sie war, ertrank sie beinahe in den seidenen Wogen von Karpfen, die über ihren viel zu großen Kimono schwammen. Ihr rundes Gesicht war blass wie die Wand, und ein einzelner Streifen Weiß schimmerte in ihrem glatten schwarzen Haar. Sie atmete flach. Immer wieder schaute sie nach draußen, sah sich plötzlich um, verfing sich im Saum des Kimonos. Sie biss an ihren Fingernägeln herum, bis Blut seitlich ins Nagelbett lief und sie ihren Daumen daraufdrücken musste, um es zu stoppen.

»Ja, hinter dem Haus.« Sie hatte das Gefühl, erdrückt zu werden, schnappte bei jedem Wort nach Luft. »Ich habe ihn gesehen«, sagte sie, »ich habe gesehen, wie er es getan hat.«

»Versuchen Sie, ruhig zu bleiben«, sagte die Stimme am Telefon. »Solange Sie im Haus sind, sind Sie sicher.«

Grace zog sich in den Schatten der Wand zurück, die die Küche vom Flur trennte, und sah in die dunkle Ecke vor der Eingangstür. Die Sicherheitskette war nicht vorgelegt.

»Ich fühle mich aber nicht sicher«, flüsterte sie.

»Hauptsache, Sie bleiben ruhig. Hilfe ist unterwegs.«

Als Grace jetzt an der Telefonschnur zog, kamen die Porzellanfigürchen auf der Glasablage ins Wanken. Ihre zittrigen Hände konnten nichts mehr ausrichten, laut klappernd fielen einige Figuren um. Sie versuchte sie wieder aufzustellen, stieß dabei aber nur noch mehr um, eine fiel auf den Boden. Sie hob die kleine Ballerina auf und starrte sie an. Ihre perlweißen Schultern waren von einer Staubschicht bedeckt.

Die Stimme am Telefon fragte etwas, und Grace schaute aus dem Küchenfenster. »Weiß ich nicht. Ich glaube schon. Ich sehe ihn nicht mehr.«

Grace war oben in ihrem Schlafzimmer gewesen, als sie gemerkt hatte, dass sich etwas zwischen den Bäumen bewegte. Sie hatte sich zwischen ihren übervollen Schreibtisch und das Schlafzimmerfenster geschoben, um es besser zu sehen. Eine Frau war langsam den Pfad entlanggegangen, der sich hinter dem Haus durch den Wald schlängelte. Grace sah sie näher kommen. Selbst aus der Entfernung war zu erkennen, dass es ihr nicht gutging. Als sie fast das Tor am unteren Ende des Gartens erreicht hatte, tauchte der Mann auf. Sie begrüßte ihn wie einen alten Freund. Doch der Ausdruck ihres Gesichts, das Grace nicht vertraut vorkam, änderte sich. Sie sprachen miteinander. Ihr Mund stand in stummer Überraschung offen, ihre Augen flehten. Dann wich sie zurück und rief nach Grace. Grace wusste nicht, was sie tun sollte, sie duckte sich so, dass niemand sie sehen konnte. Unter ihrem hektischen Atem beschlug das Fenster. Erst als sie die Scheibe mit dem viel zu langen Ärmel des Kimonos abwischte, sah sie das Messer in der Hand des Mannes. Er stach auf die Frau ein, sie taumelte zurück und griff sich an die Seite. Dann verschwanden sie oben am Hang im Farnkraut, und Sekunden später tauchte er allein wieder auf. Ohne innezuhalten, ging er über die Kuppe, die sich entfernende Gestalt nur eine Silhouette im fahlen Licht. Grace wartete, die Fingerspitzen gegen die Scheibe gedrückt, doch er kehrte nicht zurück.

Grace wurde plötzlich schlecht, und das Telefon rutschte ihr aus der Hand. Es schlug auf dem Boden auf, die Schnur zog sich zusammen, der Hörer sprang über den Teppich wie ein flacher Stein übers Wasser und blieb erst unter dem Frühstückstresen liegen. Grace rannte ins Badezimmer, der Kimono glitt von ihren weißen Schultern, und ein rotes Babydoll kam zum Vorschein. Sie griff mit beiden Händen nach dem Toilettenbecken. Sie musste sich übergeben, bis ihre Kehle wund war und ihr Magen sich hohl anfühlte. Auch der Spiegel meinte es nicht gut mit ihr. Bläuliche Schatten lagen um ihre Augen, in denen rote Äderchen zu sehen waren. Sie ließ das Wasser laufen, bis es warm war, und presste sich einen feuchten Lappen aufs Gesicht. Schluchzend sank sie auf den Boden des Badezimmers, doch aus der Küche hörte sie das Telefon nach ihr rufen. Erst nur ganz schwach, aber als Grace sich darauf konzentrierte, schien es immer lauter zu werden.

»Hallo, Grace?«, rief es. »Ist alles in Ordnung?«

Sie schob sich über den Teppich zum Telefon hin. Ihre Hände zitterten, und sie konnte den Hörer kaum halten. »Bitte beeilen Sie sich«, sagte sie und zog sich an der Couch auf die Füße hoch. Sie schwankte, innerlich völlig leer und fast wie von Sinnen. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, warum sie überhaupt angerufen hatte.

»Ja, ich bleibe im Haus«, sagte sie und hielt das Telefon jetzt fest umklammert.

Die Siedlung in den Bergen am Rand von Collier, wo sie mit ihrer Tante Elizabeth lebte, war nahezu verlassen. Kaum ein Haus war fertiggestellt gewesen, als die Bauherren in Konkurs gingen. Die Betonfundamente waren von Efeu überwuchert, und Holzgerüste standen ungeschützt im Freien. Jedes Jahr im Winter brachen weitere Dächer unter den Schneelasten ein, Brandstifter erledigten den Rest. Von Zeit zu Zeit ließen sich Obdachlose hier nieder, aber auch sie blieben nie lange. Dafür war man hier zu weit weg von der Stadt. Und so gab es hier oben auch keine Nachbarn, die sie aus ihrem nachgebauten Tudorschloss anrufen konnte.

Grace lehnte an dem Tresen, auf dem sich ausgeschnittene Coupons und Formulare von der Krankenversicherung türmten, und schaute wieder aus dem Küchenfenster. Hinter dem verschlossenen Tor und der hohen Gartenmauer wirkte der bewaldete Abhang unter dem immer düsterer werdenden Himmel an diesem stillen Wintermorgen nahezu flach. Farblose Bäume standen dort wie Wachen, reglos und kahl.

Auf der anderen Seite der Gartenmauer erstreckte sich der Wald meilenweit bis zur Landesgrenze. Als ihr Onkel Arnold noch lebte, war Grace einmal mit ihm dort gewesen. Auf einem abgeschiedenen Pfad war er ganz plötzlich stehen geblieben und hatte Grace aufgefordert, anzuhalten, wo sie gerade war. »Jetzt geh weiter«, sagte er, nachdem er sich zu ihr umgedreht hatte. »Übertrete die Linie.« Sie hatte Angst, es könne irgendein Trick sein, und zögerte. Aber er bestand darauf, und sie war jung und tat, was er ihr gesagt hatte, hob sogar das Bein hoch, als er ihr die genaue Stelle zeigte. Er grinste und hieß sie in Kanada willkommen. Sie fragte sich, was ihr Onkel wohl jetzt tun würde, denn nun könnte sie mit ihrem neuen Herzen bis zur unsichtbaren Grenze rennen, wenn sie es nur wollte. Seit der Transplantation fühlte sie sich viel kräftiger. Nach all den Jahren der Unsicherheit war sie allerdings misstrauisch, ob es so bleiben würde.

Grace lief zu den Türen an der Hinterseite des Hauses und drückte ihre Stirn gegen die Scheibe.

Die Frau im Wald kannte ihren Namen.

Unterdessen rief das Telefon sie in die Küche und in den trüben Wintermorgen zurück. »Grace, sind Sie noch da?«

Sie bejahte leise.

»Sie sind aufgehalten worden. Ein Laster hat sich auf der Route 93 quer gestellt. Sie versuchen alles, um so schnell wie möglich bei Ihnen zu sein.«

Grace strich über ihren Kimono und hielt inne, als sie durch den dünnen Stoff der Tasche ein Schlüsselbund ertastete. Vorsichtig legte sie das Telefon auf den Küchentresen. Ein Schwall kalter Luft strömte ins Haus, als sie die Glastüren öffnete. Die Pflastersteine auf der Terrasse waren wie Eis unter ihren nackten Füßen. Ihre Augen wurden groß vor Schreck.

Sie stellte sich unsichtbare Dinge vor, die sie in die Zehen zwickten, und trat hinaus auf den ungepflegten Rasen, den langen Kimono hinter sich herschleifend wie eine Schleppe. Auf halbem Wege trat sie auf einen Stein und zuckte zusammen. Sie bückte sich, hob ihn auf und umschloss ihn mit den Fingern. Er war so glatt wie ihre Handfläche.

Grace spähte durch das Tor auf den bewaldeten Hügel. Außer ihrem Atem war kein Geräusch zu hören. Kein Wind, kein Vogel. Nichts.

Eine Hand hatte sie sich auf die Brust gelegt, ihre Finger zitterten, kleine Bewegungen, die das aufgeregte Klopfen ihres Herzens nachempfanden. Grace rief sich die Schreie der Frau ins Gedächtnis und wich zurück. Doch als sie sich umdrehte, um zum Haus zurückzugehen, hörte sie etwas aus dem Wald – leise und eindringlich.

Ein Stöhnen.

Ihr Blick folgte dem Geräusch den Hang hinauf. Die Frau musste dort irgendwo im Unterholz liegen. Grace wollte vergessen, aber in ihrem Kopf hallte noch immer dumpf die Stimme der Frau wider. Sie musste herausfinden, woher sie ihren Namen kannte. Sie nahm das Bund mit den Schlüsseln aus der Tasche und schob einen davon in das Schloss des Gartentors. Als die ungeölten Schließzylinder sich knirschend gegeneinanderbewegten, zuckte sie zusammen. Ihr Herz raste schon in ihrer Brust, als sie losrannte, ihre Beine waren wie Gummi und gaben unter ihr nach. Nach wenigen Metern den Hang hinauf musste sie stehen bleiben und sich an einem Baumstamm festhalten.

Grace lauschte. Sie wollte sichergehen, dass er nicht zurückgekommen war.

Sie lief wieder los, und die kalte Luft brannte ihr in der Kehle. Ihr Herz pumpte kräftig, und sie legte sich abermals die Hand auf die Brust, erstaunt, denn das war sie nicht gewohnt. Der Hang stieg steil an, niedrige Zweige schnappten nach ihr wie Wölfe.

Grace fand die Frau auf einer kleinen Lichtung. Sie lag verdreht auf dem Boden, eines ihrer Beine war unnatürlich nach hinten gebogen, das andere ausgestreckt und ohne Schuh. Grace konzentrierte sich auf den abgestreiften Schuh und den dicken Teppich aus Kiefernnadeln, der den Waldboden bedeckte, schaute überallhin, nur nicht auf die Frau. Doch die Frau streckte die Arme nach ihr aus, fasste nach ihr, bis ihre Hände kraftlos wegglitten.

»Grace«, sagte die Frau. »Hilf mir.«

Vor Grace’ Augen verschwamm alles. Sie fühlte sich schwach nach dem Laufen und konnte nicht mehr klar denken. Forschend blickte sie die Frau an, versuchte herauszufinden, wer sie war. Der Hut der Frau war heruntergefallen, und ihr graues Haar breitete sich in einem wirren Knäuel aus, herbstliche Blätter und Kiefernnadeln hatten sich darin verfangen. Sie war viel zu dünn. Die Haut spannte sich über ihrem ausgezehrten Gesicht, und um ihre blassen Lippen lagen tiefe Furchen. Weiße Härchen wuchsen auf ihrem ausgeprägten Kinn. Ihr Blick wirkte nervös, huschte über Grace’ Gesicht wie ein Kolibri auf der Suche nach Nektar.

»Bitte, Grace«, sagte die Frau.

Grace zögerte. Sie hatte nicht daran gedacht, etwas mitzubringen, hatte nur ihren Kimono. Sie schaute zum Himmel hoch. Sie wusste, dass es schneien würde. Es war so kalt. Sie war barfuß, und ihre kleinen Hände zitterten. Mit ihren Augen ging sie die Hangkuppe ab, auf der Suche nach dem Mann mit dem Messer. Sie dachte daran, die Frau zurück zum Haus zu ziehen, aber es war zu weit. Sie würden es niemals schaffen. Grace löste den Gürtel des Kimonos, und ein Meer von kirschfarbenen Karpfen glitt beiseite. Sie drückte die Seide fest auf den Oberkörper der Frau und spürte, wie das Blut in den dünnen Stoff sickerte. Die dunkle Flut schluckte die Karpfen in Sekundenschnelle.

Die Frau sprach so leise, dass ihre Worte ohne Gewicht durch die Luft schwebten wie grauflügelige Nachtfalter. Grace sammelte sie alle ein. Und es formte sich eine Geschichte, die Grace ihr beinahe vergeben konnte. Sie sagte, dass es ihr leidtue, so lange fortgeblieben zu sein. Dann verlor sie das Bewusstsein, und Grace schüttelte sie wieder wach.

Erstaunt blickte sie zu Grace hoch. »Du bist ja erwachsen«, sagte sie und berührte Grace’ Wange.

Grace drückte den Kimono fester auf die Wunden. Ihre Bemühungen erschöpften sie. Ihre Mutter blutete aus zu vielen Wunden.

»Pscht, Mama.« Grace drehte sich in Richtung Haus, spitzte die Ohren, um nach dem Krankenwagen zu lauschen. Aber da war nichts. »Du musst dich jetzt ausruhen. Hilfe ist unterwegs.«

Ihre Mutter reckte ihr Kinn zum dunkler werdenden Himmel. »Du weißt, warum ich gegangen bin. Du weißt, warum ich nicht zurückkommen konnte.«

»Ich habe es nie verstanden.«

Ihre Mutter gab so etwas wie ein Lachen von sich. »Ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen.«

Grace beugte sich nah zu ihr herunter und sprach mit fester Stimme: »Sag mir, wer mein Vater ist.«

Ihre Mutter schloss die Augen. »Du musst vorsichtig sein. Sie sind immer noch hinter dem Geld her.«

Grace packte ihre Mutter an den Schultern und sagte so laut, wie sie es sich nur traute: »Ich verstehe dich nicht.«

Die Stimme ihrer Mutter wurde schwächer, war nur noch ein Flüstern.

Die Stimme ihrer Mutter stockte, und Grace gab die Hoffnung auf.

Die Stimme ihrer Mutter verklang, und Grace war allein.

Die Kälte legte sich ihr auf die Brust wie ein Stein. Sie kniete sich hin, verschränkte ihre Hände mit denen ihrer Mutter, als ob sie gemeinsam beten wollten. Der Wald schien näher heranzurücken, und der tiefhängende Himmel hüllte den Vormittag in einen blaugrauen Umhang. Aus ihrem Nest mitten im Wald konnte Grace beobachten, wie die ersten Schneeflocken langsam und träge herabschwebten. Sie schmolzen auf ihrer nackten Haut, doch das Laub um sie herum wurde allmählich weiß. Grace hielt ihre Mutter in den Armen, fühlte spitze Knochen, wo einst Rundungen gewesen waren. Die Mutter, an die sie sich erinnerte, hatte einen rot angemalten Mund und mit Kajal betonte Augen, das Gesicht eingerahmt von dunklen Locken. Ein Hauch von Zigarettenrauch. Das Klirren von Eiswürfeln im Whiskeyglas. Ein Lachen, das noch zu hören war, nachdem alle im Raum verstummt waren.

Grace’ Lippen waren so kalt wie ihre Fingerspitzen, doch sie zitterte nicht. Sie lag in ihrem roten Babydoll einfach nur zusammengerollt da.

Am Fuße des Hanges umfing der Winter ihr Haus. Die Schneeflocken fielen so dicht wie in einer Schneekugel, doch unter ihren feuchten Wimpern konnte sie direkt in die Küche und das Esszimmer schauen. Alles war hell erleuchtet. Es sah aus wie auf einer Bühne. Sie ließ den Blick höher schweifen und schaute in das Fenster ihres Schlafzimmers. Das Deckenlicht blinzelte ihr ein paarmal zu, dann ging es aus. Krampfhaft starrte sie in das schummerige Innere, versuchte, unter ihren schweren Lidern vertraute Umrisse auszumachen. Neben ihr verschmolz ihre Mutter mit dem kalten, kalten Boden. Alles um Grace herum wurde langsamer, passte sich dem Rhythmus des versagenden Herzens ihrer Mutter an.

Ein Rettungswagen kam unter lautem Sirenengeheul die Straße herauf und bremste abrupt. Türen knallten, und hinter Grace flog ein aufgestörter Vogel hoch. Der dunkle Schatten der Krähe zog über sie hinweg, die Flügel flatterten schneller als ihr Herz. Aus dem Wipfel eines Baumes rief der Vogel nach anderen, doch der fallende Schnee dämpfte seinen aufgeregten Ruf.

Grace stellte sich vor, so klein zu sein, dass sie verschwand. Sie driftete gerade in diese neue Wirklichkeit, als sie Hilfe den Hang hinaufkommen hörte. Durch ihre halbgeschlossenen Lider konnte sie sie zwischen den Bäumen sehen. Mit einer ganzen Armee hatte sie gerechnet, aber es waren nur zwei Männer, die sich die Anhöhe hinaufkämpften. Sie stapften durch tiefes Laub und frischgefallenen Schnee, wirkten mit ihren schweren Taschen verletzlich und klein. Sie wollte ihnen etwas zurufen, aber ihre Stimme saß in ihrer Kehle wie festgefroren. Nur die Funkgeräte an den Gürteln der Männer knisterten laut, das Geräusch scheuchte noch mehr Krähen auf.

Eine Stimme fragte über Funk, ob sie schon irgendetwas gefunden hätten. Die beiden Männer blieben stehen und ließen den Blick schweifen. Sie sahen nichts außer verschneitem Wald. Grace wollte sich bewegen, aber ihr war zu kalt. Angst kroch in ihr hoch, haftete an ihr wie der Schnee, und sie hatte das Gefühl, ihre Kehle wäre durchtrennt. Sie wollte nach oben fassen und die unsichtbare Wunde berühren, doch ihre Hände bewegten sich nicht. Ihre Stummheit machte sie verrückt. Noch mehr Vögel riefen jetzt. Kroh, kroh, kroh, hallte es zwischen den hohen Bäumen. Die Funkgeräte knisterten wieder, als die Männer Grace und ihre Mutter endlich fanden. Der ältere Sanitäter wäre beinahe auf sie getreten.

»Verdammt«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die an Donnergrollen erinnerte, und beugte sich über sie. »Das sieht nicht gut aus.«

Hinter ihm versuchte sein Partner, das Funkgerät vom Gürtel zu ziehen, schaffte es aber nicht, da er den Blick nicht von den beiden Körpern abwenden konnte. Und dann zitterten seine Hände so sehr, dass er nicht in der Lage war, das Gerät zu bedienen.

»Wo um alles in der Welt bleiben die Cops?«, brüllte er in das Mikrophon. Sein Blick irrte über die winterliche Landschaft. »Wir haben zwei Leichen hier draußen! Sie sind mit Schnee bedeckt, um Himmels willen … Nein, nur ich und Jared … Wo ihr gesagt habt, aber eure Leute müssen hinten durch den Garten.«

Jared zog seine Handschuhe aus und schnappte sich Grace’ Handgelenk. »Carson, beruhig dich gefälligst. Vielleicht atmet eine der beiden noch.«

Grace spürte, wie ihre Augenlider flatterten; sie war neugierig, wollte sehen, wem diese Stimme gehörte. Sie spürte, wie er ihr Handgelenk umfasste und nach dem Puls fühlte, ein vertrauter Griff. Seine Knie knackten, und sie konnte Kaffee in seinem Atem riechen, Zigaretten und Alkohol.

Er schlug ihr leicht auf die Wange, der Schreck ließ sie die Augen öffnen. Sein Gesicht war ihrem viel zu nahe, und Panik erfasste sie. Seine Lippen formten Worte, die sie nicht verstand, da sie ihren Mund zum Schreien weit aufgerissen hatte. Ihr Körper bäumte sich auf, und sie warf sich hin und her, folgte dem Willen ihres neuen Herzens, das wie ein wildes Tier in ihrer Brust pumpte. All das Blut, das durch ihre Adern raste – es war mehr, als sie ertragen konnte. Sie wollte wieder laufen, ihre Füße bewegen wie Flügel, aber er setzte sich rittlings auf sie, hielt ihre beiden Handgelenke mit einer Hand fest und drückte ihren Kopf mit der anderen nach unten. Jetzt konnte sie ihn hören.

»Ich habe Sie«, wiederholte Jared wieder und wieder, und dann schließlich: »Sie sind in Sicherheit.«

Was Grace bisher zusammengehalten hatte, wickelte sich nun ab wie eine Spule, und ihr Körper wurde unter Jareds Gewicht ganz schlaff.

Carson, sein Partner, kniete neben ihrer Mutter. Sein Erste-Hilfe-Koffer lag offen im Schnee, der Inhalt quoll heraus. Er zog sich Einmalhandschuhe über und riss mit seinen Zähnen die Plastikfolie von einer Spritze.

Grace dachte an das Blut. Den Blutfluss stoppen zu wollen war, als wollte man den Winter aufhalten. Ihre Zähne klapperten so stark, dass ihr ganzes Gesicht zitterte. Sie flüsterte: »Wird sie es schaffen?«

Jared saß neben ihr im Schnee und atmete tief durch, als ob gegen ihre knapp hundert Pfund anzukämpfen einem Mann seiner Größe überhaupt etwas hätte anhaben können. »Wir tun, was wir können.« Er sah besorgt aus.

Grace’ Babydoll war verrutscht, aber als ihre Finger an den Spitzenträgern zogen, waren da wieder Jareds Hände, die sie davon abhielten. In seiner Neugierde vergaß er sich beinahe, fast hätten seine Finger ihre verletzte Haut berührt, doch er zog seine Hand gerade noch rechtzeitig zurück.

Peinlich berührt streifte Jared seine schwere Winterjacke ab und wickelte sie darin ein. Er konnte sie nicht länger ansehen. »Sie müssen jetzt ganz ruhig bleiben.«

Grace wusste, was Jared gesehen hatte. Die lange wilde Narbe, eine gezackte Linie ihr Brustbein hinunter. Wie frisches Fleisch, immer noch roh. »Mir ist so kalt«, sagte sie, und jetzt fielen ihr auch ihre blutigen Hände auf. Sie waren klebrig. Sie spreizte die Finger vor sich und starrte sie an.

Seine Stimme klang wieder ganz normal. »Wir kriegen euch schon warm.«

Grace war so zierlich, dass seine Jacke ihr bis zu den Knien reichte. Jared öffnete einen Koffer und rollte eine silberne Thermodecke aus. Er hob Grace hoch und setzte sie darauf ab, wickelte ihre Beine in die Decke. Dann fiel ihm etwas ein, und er nahm seine Strickmütze ab und zog sie ihr über die Ohren.

Er schaute ihr in die Augen. »Sie schaffen das. Versuchen Sie jetzt vor allem, ruhig zu bleiben. Ich muss nach Ihrer Freundin sehen.«

Grace schluchzte, schnappte immer wieder nach Luft. »Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist meine Mutter.«

Sein Ausdruck hatte sich verändert, als er sich zu ihr umwandte. Er wirkte verwirrt. Er grub die Finger in sein dunkles Haar. »Ihre Mutter?«

Grace verkroch sich tiefer in den Mantel und wandte den Blick ab. Sie lachte nervös. »Sie ist vor so langer Zeit fortgegangen, dass ich sie nicht erkannt habe. Ich habe meine eigene Mutter nicht erkannt.«

Ihre feuchten Wangen waren rot vor Scham. Er legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn, vielleicht fieberte sie. Sie lehnte sich in seine Hand, bog ihren Hals durch wie eine kleine Katze.

»Wir tun, was in unserer Macht steht«, versprach er ihr. »Sie bleiben jetzt einfach ganz ruhig.«

Grace saß zitternd unter steifgefrorenen Farnen und beobachtete die beiden Männer bei ihrer Arbeit. Ihre Stimmen klangen hektisch, ihr Tun wirkte verzweifelt. Sie sah ihren Kimono, achtlos beiseitegeworfen im Schnee. Er war ruiniert, nur noch ein Knäuel aus feuchter Seide und Blut.

Die Anhöhe war in dem dichten Schneetreiben nicht mehr zu erkennen. Sie konzentrierte sich auf die dunklen Baumstämme und versuchte Gestalten auszumachen.

Noch mehr Stimmen. Rufe. Krankentragen und das Schwirren von Helikopterrotoren. Es schien, als ob die Armee, die sie erwartet hatte, nun doch zwischen den Bäumen auftauchte. Sie schaute erneut zu ihrer Mutter und wusste, dass sie zu spät kamen. Sie rollte sich wieder zusammen, schlief sofort ein und verlor sich in Träumen.

KAPITEL 2

Detective Macy Greeley trat von dem Empfangstresen an der Eisbahn zurück und breitete die Arme aus. »Ist das Ihr Ernst? Sehe ich aus, als ob ich ein Paar Schlittschuhe ausleihen wollte?« Ihr schwerer Wintermantel war offen und gab den Blick auf einen dicken Schwangerschaftsbauch frei. Sie legte ihre Hände auf die Wölbung und runzelte die Stirn. Irgendetwas an diesem jungen Mann da irritierte sie außerordentlich. Sie beschloss, es seiner Jugend zuzuschreiben, die er ganz offensichtlich verschwendete.

Vielleicht dachte er, sie wäre auf Schlittschuhen vom Parkplatz hereingelaufen, denn jetzt teilte er seine lange Haarmähne und lehnte sich vor, um ihre Füße zu begutachten. »Na ja, wenn Sie eislaufen wollen, brauchen Sie die aber.«

»Schon klar.«

»Also, wollen Sie eislaufen?«

»Nein!«, sagte sie und nahm ihre lilafarbene Strickmütze ab. Knallrotes Haar fiel um ein kantiges Gesicht. Außer einem farblich passenden Lippenstift trug sie kein Make-up. Sie hob eine sauber gezupfte Augenbraue und zückte ihre Polizeidienstmarke. »Wie ich eben schon gesagt habe, ich treffe mich mit einem Kollegen. Ich will nicht eislaufen.«

»Stimmt ja, haben Sie gesagt.« Er sah sich nach dem Öffner für die Schranke um.

Aber Macy rührte sich nicht. Sie hielt ihre Dienstmarke immer noch hoch und versuchte, seinen Blick einzufangen. Als sie seine Aufmerksamkeit wiederhatte, beugte sie sich zu ihm nach vorn. »Sind Sie immer so begriffsstutzig, oder sind Sie high?«

Er hielt inne, lustlos, lachte dann aber, als er sah, wie sie ihm zuzwinkerte. »Begriffsstutzig, denke ich mal.« Dann erst fiel ihm auf, was Sache war. »Sie sind schwanger. Sie sollten nicht eislaufen.«

»Volltreffer«, sagte sie, steckte die Dienstmarke ein und trat durch die offene Schranke. »Der Kandidat hat hundert Punkte!«

Ihr Boss Ray Davies spielte in seiner Lunchpause immer Eishockey. Diese Zeit war ihm heilig, und niemand, nicht einmal seine Frau wagte es, ihn dabei zu stören. Mit der Mütze in der Hand ging Macy die hohe Plexiglaswand entlang, die die Eisbahn von den Zuschauerbänken trennte, zum Café, wo er sich mit ihr in Ruhe auf ein Wort treffen wollte. Sie hatten schon im Büro neben der Kaffeemaschine in Ruhe ein Wort gewechselt, als er ihr sagte, dass er sie hier treffen wollte. Warum er nicht einfach noch ein paar Worte mehr gesagt hatte, blieb ihr ein Rätsel. Macy setzte ihre Mütze wieder auf. Drinnen in der Eishalle war es genauso kalt wie draußen. Die Stadt Helena lag unter einer frischen weißen Schneedecke vergraben, und die Luft war klar und knackig kalt, was Macy immer gute Laune machte.

Ein paar Hockeyspieler krachten neben ihr gegen die Bande, und da war auch Ray, der die Nase gegen die Abtrennung drückte. Er grinste wie ein Idiot und zeigte dabei seinen roten Zahnschutz.

Macy ging weiter, und Ray folgte ihr auf der anderen Seite der Abtrennung, glitt auf seinen Schlittschuhen langsam dahin. In seiner Montur war er sicher bald zwei Meter groß und ließ Macy wie eine Zwergin aussehen. An der Schranke zog er die Handschuhe aus und nahm den Helm ab. Sein dunkles Haar war feucht und klebte ihm an der Stirn. Er wischte es beiseite und blickte sich nach seiner Sporttasche um. »Noch mal vielen Dank, dass du hergekommen bist«, sagte er und bückte sich, um die Kufenschoner anzulegen.

Macy deutete auf ein paar leere Tische hinten im Café. »Bestell uns doch etwas zu essen. Ich muss mal verschwinden.«

Als Macy zurückkam und sich zu Ray an den Tisch setzte, stand ein grüner Salat an ihrem Platz. Sie schaute zu Rays Burger und Pommes hinüber und kniff die Augen zusammen. Ray wusste nur zu gut, dass mit Macy nicht zu spaßen war, wenn sie Hunger hatte. »Was soll das sein?«, fragte sie, nahm sich eine Pommes von seinem Teller und tunkte sie in den Ketchup.

»Das ist ein Salat. Ist gesund.«

»Das sehe ich.« Sie tauschte die Teller aus. »Nun ist es dein gesunder Salat.«

Ray lachte, bestellte bei dem Mädchen am Tresen einen weiteren Burger und nahm sich noch ein paar Pommes. Den Salat rührte keiner von ihnen an.

»Jetzt sag schon, Ray, worum geht es?«, fragte Macy und schaute auf die Eisbahn, wo Rays Teamkollegen weitertrainierten.

Ray wischte sich den Mund mit einer Ecke seiner Serviette ab und fasste nach hinten in seine Sporttasche. Wortlos legte er eine Akte auf den Tisch und fuhr mit dem Zeigefinger über den Namen.

Macy zuckte mit den Achseln. »Arnold Lamm ist doch tot.«

»Und seit heute Morgen auch seine Schwägerin Leanne Adams.« Er griff nach der Akte, blätterte sie durch und reichte Macy einen vorläufigen Bericht vom Sheriffrevier in Collier.

Sie überflog die Informationen. »Leanne Adams ist also wiederaufgetaucht.«

»Und wurde am selben Tag ermordet.«

Macy unterdrückte ein Gähnen. »Hier steht, dass ihre Tochter den Mörder gesehen hat.«

»Da steht auch was über ein Babydoll, einen Strauß Rosen in einer Mülltonne und Hinweise auf einen verunreinigten Tatort. Die Sanitäter waren zu spät vor Ort, Leanne war nicht mehr zu helfen, aber sie kamen noch vor den Cops. Ich möchte, dass du die Sanitäter befragst, und Grace Adams, bevor das Sheriffrevier von Collier eingreift und alles versaut.«

»Ray, ich gehe in drei Wochen in Mutterschutz.«

»Es sind noch genau vier Wochen, ich habe es überprüft.«

»Ich bin nicht in der Verfassung, durch den halben Staat zu kurven.«

»Es geht um eine Fahrt von zwei Stunden. Das ist doch wohl kaum zu weit. Und davon mal abgesehen, außer mir bist du die Einzige, die schon damals dabei war.«

»Das ist elf Jahre her. Die Akte kann jeder lesen.« Macy fasste den Fall zusammen, während sie weiteraß, und immer wenn sie etwas betonen wollte, pikste sie mit einer Pommes in die Luft. »Die Leichen von vier osteuropäischen Mädchen werden auf einem Rastplatz an einer Straße abgeladen. Unser Informant verweist uns auf Arnold Lamms Spedition. Wir ermitteln. Die Fahrerlisten gehen in einem mysteriösen Feuer verloren. Ein mysteriöses Bremsversagen tötet unseren Informanten. Kurz darauf wird Leanne Adams knapp vor der kanadischen Grenze wegen Geschwindigkeitsübertretung angehalten. Dem Polizisten zufolge hatte sie vier Beifahrerinnen. Elf Jahre lang wird Leanne nicht mehr gesehen, und als sie zurückkehrt, wird sie ordnungsgemäß umgebracht.« Sie steckte sich eine Pommes in den Mund und griff gleich nach der nächsten. »Das ist doch wirklich nicht so kompliziert, Ray.«

Er klopfte auf die Akte. »Leanne muss etwas gewusst haben.«

Macy schob ihren Teller beiseite und griff sich wieder den Polizeibericht. »Natürlich wusste sie etwas. Deshalb ist sie jetzt tot.«

»Aber wenn die Tochter den Mörder identifizieren kann, dann ist unser Verdacht gegen Cross Border Trucking noch nicht tot«, murmelte Ray und fügte lauter hinzu: »Vielleicht sind sie ja noch im Geschäft, Macy.« Er hielt ein Foto vom jüngsten der Mädchen hoch, die sie auf dem Rastplatz gefunden hatten. »Katja war erst fünfzehn, sie war sexuell missbraucht worden, und zum Sterben hat man sie einfach liegenlassen. Kannst du dir vorstellen, wie verängstigt sie gewesen sein muss?«

Macy lehnte sich zurück. Einige Mädchen tauchten zusammen mit ihren Müttern auf, die Mädchen waren alle wie Ballerinas angezogen, nur mit Schlittschuhen anstelle der Ballettschuhe. Die Kleinste lächelte Macy an. Macy winkte ihr zu, bevor sie sich wieder Ray zuwandte.

»Ich entsinne mich, dass irgendwas mit Leannes Tochter nicht in Ordnung war«, sagte sie und dachte an das junge Mädchen mit dem unvorteilhaften Haarschnitt.

»Grace Adams hatte eine ganze Reihe von gesundheitlichen Problemen. Ihre Tante und ihr Onkel haben sie adoptiert, nachdem Leanne verschwunden ist.«

Sie sah den erbärmlichen kleinen Wohnwagen hinter der Fernfahrerkneipe noch vor sich, in dem Leanne und Grace damals gewohnt hatten. Die Polizei hatte nicht mitbekommen, dass Leanne ihre Tochter zurückgelassen hatte. Erst durch einen anonymen Anruf wurden sie darauf aufmerksam und brachen den Wohnwagen auf, drei Tage nachdem Leanne aus Collier verschwunden war.

Macy blätterte den Bericht durch. »Wie alt ist Grace jetzt?«

»Fast achtzehn.«

»Das Mädchen muss traumatisiert sein.«

»Das denke ich auch.«

»Erzähl mir doch noch mal, was unser Informant damals über Arnolds Frau Elizabeth gesagt hat. Wusste sie, was ihr Mann trieb?«

»Er war sich nicht sicher, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie etwas gewusst haben muss.«

Macy trank durch ihren Strohhalm. »Wahrscheinlich hat sie einfach weggeschaut.«

»Unser Informant hat damals von vier oder fünf Männern gesprochen, mit denen Arnold Lamm eng befreundet war.«

»Haben wir nicht eine Liste zusammengestellt?«

»Ja, es waren ursprünglich ein paar Dutzend Namen, aber die meisten haben wir dann wieder aussortiert, aus allen möglichen Gründen.«

Macy trommelte mit den Fingerkuppen auf die Tischkante. »Und wir können noch zwei streichen. Scott Pearce sitzt acht Jahre für bewaffneten Raubüberfall, und Walter Nielson ist vor sieben Jahren in Boise ermordet worden.«

»Ich kümmere mich um Scott Pearce. Er könnte vorzeitig entlassen worden sein.« Ray zögerte. »Und ich möchte, dass du nach Collier fährst und die Ermittlungen im Mordfall Leanne Adams leitest. Vielleicht erzählst du ihnen nicht gleich, dass du am alten Fall mitgearbeitet hast. Es dürfte die Dinge vereinfachen.«

Macy schob ihren leeren Teller zur Seite. Während der damaligen Ermittlungen waren sie und Ray in Collier überall auf Widerstand gestoßen. Niemand hatte mit ihnen zusammenarbeiten wollen, die Polizei eingeschlossen. Sie sah Ray eindringlich an. »Collier ist ein Drecksloch. Ich will da nicht hin.«

»Tut mir leid«, erwiderte er und starrte zurück. »In diesem Fall muss ich darauf bestehen. Du weißt, ich würde es selber machen, wenn ich könnte.«

Macy verschränkte die Arme über ihrem Bauch. »Und was ist für mich drin?«

»Ist dir meine ewige Dankbarkeit etwa nicht genug?«

Ray stand auf, um Kaffee zu holen, kam aber mit zwei Stücken Pekannusskuchen und reichlich Schlagsahne zurück. »Zur Aufheiterung.«

Macy nahm sich eine Gabel. »Du weißt, wie man ein Mädchen glücklich macht.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.«

Macy zog ihre Gabel durch die Schlagsahne. »Warum hast du mir das alles nicht vor einer Stunde im Büro erzählt?«

Ray wartete mit der Antwort, bis die Serviererin ihnen Kaffee eingeschenkt hatte. Macy spürte unter dem Tisch sein gutgepolstertes Knie an ihrem Bein. »Ich dachte, es wäre nett, sich mal wieder zu treffen.«

»Dachtest du, ja?« Sie spießte ihren Kuchen mit der Gabel auf. »Es ist wirklich schade, aber wenn ich es noch im Hellen nach Collier schaffen will, muss ich jetzt los.«

Macy parkte den Streifenwagen auf der langen gerundeten Auffahrt ihres Zuhauses aus Kindertagen. Sie war ziemlich schnell und unter Sirenengeheul quer durch die Stadt gefahren, hatte den Alarm allerdings abgestellt, als sie die geschlossene Wohnanlage erreichte. Seit sieben Monaten, seit ihr eigenes Auto bei einem Unfall in einen Totalschaden verwandelt worden war, fuhr sie immer im Polizeifahrzeug. Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Mutter Ellen es nicht gern sehen würde, einen Polizeiwagen vor dem Haus stehen zu haben, aber sie und auch die Nachbarn mochten es. Nachts fühlten sie sich dann offenbar sicherer. Rein theoretisch gab es in dieser Ecke der Stadt so gut wie keine Verbrechen, deshalb war sich Macy nicht ganz im Klaren darüber, wovor sie sich eigentlich fürchteten. Sie stapfte den schneebedeckten Gehweg hoch und winkte Ellen zu, die an die Tür gekommen war, um sie zu begrüßen. Auf ihrem Weg quer durch die Stadt hatte Macy ihre Anweisungen kurz gehalten. Mama, bitte pack mir eine Tasche. Sei nicht albern, du weißt, was ich gern anziehe. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich bleibe. Ja, ich werde mich vorsehen.

Ellen bestand darauf, Macy den Koffer zum Auto zu tragen. »Willst du wirklich nichts essen? Ich könnte dir schnell noch etwas zum Lunch machen. Von gestern Abend ist noch was da.«

»Danke, Mama, aber ich habe schon gegessen.«

Ellen hob den Koffer hinten in den Wagen und holte tief Luft. »Dein Bruder hat heute Morgen angerufen. Ich fürchte, er kommt zu Weihnachten allein. Charlotte will mit den Kindern zu ihren Eltern fahren.«

Macy drückte die Hände ihrer Mutter. »Es war nicht gerade ein gutes Jahr für die Greeleys.«

»Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn du nicht hier bei mir geblieben wärst.«

Macy brachte ein Lächeln zustande. »Du weißt, dass das für mich genauso gilt.«

Ellen schaute zum Haus zurück. »Nachdem dein Vater gestorben ist, habe ich mich hier völlig verloren gefühlt. Es war zu ruhig.«

Macy strich sich über den Bauch. »Es wird nicht lange so ruhig bleiben.«

»Hast du schon entschieden, ob du nach Weihnachten noch bleibst?«

»Ich wäre doch verrückt, wenn ich gehen würde.« Macy öffnete die Fahrertür. »Ich habe keine Ahnung von Babys.«

»Zusammen kriegen wir das schon hin.«

Richtung Norden erstreckte sich das Flathead Valley zu beiden Seiten der Route 93. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Winterhimmel hing tief, dichter Dunst lag über Bäumen und Hängen. Macys Handy klingelte, und sie schaute kurz aufs Display. Ray. Sie legte das Telefon wieder beiseite. Es war schon das zweite Mal, dass er anrief, seit sie ihn am Tisch an der Eisbahn hatte sitzenlassen. Sie hatte nach dem Kuchen genug von seiner Gesellschaft gehabt, sich nur noch kurz verabschiedet, sich die Akte, die er mitgebracht hatte, unter den Arm geklemmt, und war zum Ausgang geeilt.

Macy fuhr durch Walleye Junction und hielt an einem Diner, um einen Kaffee zu trinken. Von ihrem Tisch aus konnte sie die anderen Gäste über den Mord reden hören. Sie war erleichtert, dass niemand Leanne Adams beim Namen nannte. Das Sheriffrevier von Collier war nicht gerade für Diskretion bekannt, aber bis jetzt hatten sie es wohl geschafft, den Namen des Opfers aus der Presse herauszuhalten.

Obwohl Macy protestierte, schenkte die Serviererin ihr Kaffee nach. »Tut mir leid, Schätzchen«, sagte sie und zeigte auf Macys Streifenwagen. »Du siehst aus, als solltest du besser zu Hause bleiben und die Füße hochlegen.«

Macy lächelte sie über ihren Becher Kaffee an. »Ich lasse meine Füße machen, was sie wollen. Ehrlich gesagt, hab ich sie seit Wochen nicht gesehen.«

Die Serviererin lachte los, schrill und hemmungslos, es klang, als würde mehr als eine Persönlichkeit in ihrem Kopf hausen. Macy rückte ein wenig ab und bat um die Rechnung.

Im oberen Bereich des Flathead Valley lagen nur drei Städte: Collier im Norden, Wilmington Creek weiter westlich, aber noch zentral, und Walleye Junction im Süden, wo das Valley allmählich breiter wurde. Im Osten waren am Horizont die Gipfel der Whitefish Range zu sehen, einer Gebirgskette, die sich bis zur kanadischen Grenze zog.

In Collier wurde zurzeit gegen das Sheriffrevier ermittelt – Ray hatte sie noch auf der Eisbahn über die Situation dort auf den neuesten Stand gebracht. Es hatte einen Skandal um den aus dem Amt scheidenden Sheriff gegeben. Ray brauchte gar keine Einzelheiten zu schildern, Macy hatte von den schicken Autos und ungerechtfertigten Reisespesen in der Zeitung gelesen, dazu kam noch der dreistöckige Anbau an der Rückseite des ansonsten bescheidenen Heims des Sheriffs.

»Der neue Sheriff, Warren Mayfield, ist ein guter Kerl«, hatte Ray zwischen zwei Bissen seines Kuchens gesagt. »Er hat nur unendlich viel zu tun.«

Macy war neun Meilen vor Collier, als sie Mayfield anrief. Er schlug vor, dass sie erst in ihrem Hotel eincheckte, bevor sie mit der Arbeit begannen.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sheriff Mayfield«, sagte sie und steckte sich einen Kaugummi in den Mund. »Aber der Collier Motor Lodge reicht meine Reservierung aus. Ich möchte gern sofort anfangen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Sie lauschte der abgehackten Stimme des Sheriffs aus der Freisprechanlage, und ihr Mund verzog sich missmutig. Er schlug vor, sie in der Pathologie zu treffen, aber das lehnte sie ab. Ihrer Meinung nach war die Pathologie das Revier des Rechtsmediziners. Ihr reichten dessen Berichte in schwarz auf weiß, mit Fotos, wenn es denn sein musste. Aber auch die schaute sie sich nur höchst ungern an.

»Hören Sie«, Macy klopfte ungeduldig aufs Lenkrad. »Es ist erst kurz nach drei. Ich würde mir gern noch den Tatort ansehen, bevor es dunkel wird.« Sie griff nach dem Bericht auf dem Beifahrersitz. »Ich würde auch gern die Zeugin und die beiden Sanitäter befragen.«

Es wurde still am anderen Ende, und für ein paar Sekunden fragte sich Macy, ob Warren aufgelegt hatte. Sie wollte gerade die Nummer noch einmal aufrufen, als er etwas sagte.

»Grace Adams hatte eine Herztransplantation. Die Ärzte wollen uns noch nicht zu ihr lassen. Sie soll sich erst ein paar Tage erholen, bevor wir sie befragen.«

Macy wühlte in den Papieren und versuchte gleichzeitig, auf die Straße zu achten. »Wann um Himmels willen hatte sie denn eine Herztransplantation?«

»Jetzt gerade erst. Sie ist vor ein paar Wochen aus dem Krankenhaus gekommen.«

Macy trommelte jetzt mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Ich komme gerade in Collier an. Wir treffen uns in zwanzig Minuten am Haus in der Summit Road.«

Der Flathead River wand sich um Collier wie eine Schlange. Durch den heftigen Schneefall in den höheren Lagen war der Fluss aufgewühlt und sein Wasser milchig grau. Macy überquerte ihn auf einer breiten, baufällig wirkenden Brücke, bevor sie durch das Industriegebiet der Stadt fuhr. Von den Fabriken und Sägemühlen von einst waren nur Ruinen geblieben. Gezeichnet von Wetter, Brandstiftung und Graffiti, waren sie eine ständige Erinnerung daran, was Collier einst ausgemacht hatte. Die Parkplätze waren leer, sah man vom Müll einmal ab. Die ganze Gegend wirkte eher wie ein Schrottplatz. Zwangsversteigerte Häuser hatte man Plünderern und dem Verfall überlassen. Alte Sofas, aufgeweichte Matratzen und anderer Müll waren an Feuerstellen geschoben worden, ausgeschlachtete Autos vervollständigten das verstörende Bild.

Macy nahm die Umgehungsstraße, um dem Verkehr im Süden der Stadt zu entgehen. Da an der Straße gebaut wurde, musste sie auf halber Strecke allerdings einer Umleitung zurück auf die Main Street folgen, wo sie prompt in einen Stau geriet. Sie schaltete die Sirenen ein und zog auf die Überholspur, um die Autos und Lkws beiseitezuscheuchen, die ihr im Weg waren. Vor einer weiteren Brücke, die den nördlichen Bogen des Flathead Rivers überquerte, kam Macy in eine Straßensperre. Anstatt sie durchzulassen, winkte der zuständige Polizist sie raus auf den Seitenstreifen.

Sie war ihm schon einmal begegnet, aber sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. »Detective Greeley«, sagte er und grinste. »Kommen Sie etwa zu spät zu Ihrem Geburtsvorbereitungskurs?«

Macy zeigte ihm ihre Dienstmarke, um ihn an seine Manieren zu erinnern. »Das ist vollkommen richtig, mein Süßer. Mein Freund hat mir seinen Streifenwagen geliehen, damit ich es noch rechtzeitig schaffe.«

Er schaute über die Schulter zu seinem Kollegen. »Was meinst du, Gareth? Sollen wir sie durchlassen?«

Statt einer Antwort drehte Gareth ihnen den Rücken zu und sprach weiter mit dem Motorradfahrer, den er angehalten hatte.

»Ich will zum Haus der Lamms.« Sie griff nach einem Zettel und las die Adresse vor. »Muss am nördlichen Ende der Stadt sein.«

»Die Stadt dünnt da oben im Norden ziemlich aus. Fahren Sie einfach auf der Route 93 weiter, da kommen dann immer wieder Serpentinen. Die Abfahrt für die Northridge-Siedlung liegt an der dritten Serpentine, die können Sie nicht verfehlen.«

Macy wollte ihm eigentlich nicht danken, tat es aber doch, schloss das Fenster und fluchte leise vor sich hin, als er sich bemüßigt fühlte, sie in den vorbeirauschenden Verkehr hineinzuwinken. Sie hob die Hand zum Gruß und sagte freundlich lächelnd »Verpiss dich«, ohne dass er es gehört hätte. Es war erst halb vier, und es wurde schon dunkel.

Sheriff Mayfield lehnte in der Summit Road vor der Nummer 153 an seinem Streifenwagen und wartete auf sie. Sein Wagen war der erste, den sie in der ganzen Wohngegend sah. Er trug einen schweren Mantel und Hut und hatte eine Taschenlampe dabei. Es war unmöglich, seine Miene zu deuten, aber er war schon älter, stand vielleicht kurz vor der Pensionierung. Macy nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Sie deutete auf das Haus und versuchte nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Das Gebäude hätte auch in einem Themenpark stehen können. Vor den unteren Fenstern waren schmiedeeiserne Gitter angebracht, und die zweiflügelige Eingangstür bestand aus dicken Eichenbalken. Es sah aus wie eine Festung und hatte sogar Ecktürme.

»Mir war nicht klar, dass es in Collier Schlösser gibt.«

Der Sheriff schüttelte ihr freundlich die Hand. »Nur das eine.« Er stellte sich vor und fasste kurz zusammen, was sie bisher herausgefunden hatten. Sie gingen seitlich an der Garage vorbei, denselben Weg wie die Polizei und die Sanitäter am Morgen. »Wir haben einen Wagen mit kanadischen Kennzeichen gefunden, ein Stück weiter die Straße hinauf. Er ist nicht auf Leanne zugelassen, aber wir wissen, dass sie ihn gefahren hat. Den Besitzer haben wir noch nicht ermittelt.«

Macy blickte wieder zum Haus hoch. Sie brauchte einen Vorwand, um in das Büro von Arnold Lamm zu kommen. »Bisher war niemand im Haus?«

»Elizabeth erlaubt es nicht.«

»Das ist nicht gerade entgegenkommend.«

»Es ist hinter dem Haus im Wald passiert. Sie sieht nicht ein, warum wir durch ihr Wohnzimmer trampeln sollten.«

Macy entdeckte etwa fünfzig Meter weiter ein anderes großes Haus, das sich noch im Rohbau befand. »Was ist das hier überhaupt für ein Viertel?«

»Ein gescheitertes. Irgendein Spinner hatte die großartige Idee, dass Collier eine Golfgemeinschaft braucht. In der Wirtschaftskrise haben die Bauherren dann buchstäblich ihr letztes Hemd verloren.«

Macy hatte auf der Fahrt hierher nicht ein einziges fertiggestelltes Haus gesehen. »Und wie viele Menschen leben hier oben?«

»Zwei.«

Sie blieb stehen und legte ihre Hand an einen Baumstamm. Das Land stieg vor ihnen an. Sie folgten einem gut ausgetretenen Pfad durch den Schnee, von dem in alle Richtungen Fußspuren abgingen. Es war windstill und vollkommen ruhig. »Zwei Haushalte oder zwei Menschen?«

»Zwei Menschen. Grace Adams und ihre Tante Elizabeth Lamm. Es waren mal drei, aber Arnold Lamm ist letzten Winter an einem Herzanfall gestorben.«

Neben ihnen erhob sich eine gemauerte Wand von etwa drei Metern Höhe. Darüber konnte Macy die dunklen Fenster der oberen Stockwerke ausmachen. Im Schatten des Hanges war es so düster, dass sie ihre Taschenlampe anschaltete. Sie richtete den Lichtstrahl auf eins der Fenster.

»Grace Adams, die Zeugin, stand da oben?«

»Ja, Ma’am«, antwortete Mayfield und führte sie weiter den Hang hinauf. Er bot ihr seinen Arm an, als sie den Pfad verließ und in den Schnee einsank. »Grace’ Zimmer ist unter dem Dachvorsprung. Von dort hatte sie einen direkten Blick auf den Tatort.«

Sie duckten sich unter gelbem Absperrband durch und liefen weiter den Hang hinauf.

»Und sie hatte keine Ahnung, dass es ihre Mutter war.«

»Ich kann nur sagen, was der Sanitäter mir erzählt hat. Grace hat erst erkannt, dass es ihre Mutter war, als sie hinausging, um zu helfen.«

Macy schaute zu dem schmiedeeisernen Tor in der Gartenmauer hinunter. Es war ein ausgesprochen abgelegener Ort, und Grace war ohne jeden Schutz gewesen, als sie die Sicherheit des Hauses hinter sich gelassen hatte. »Dass sie hier hochgekommen ist … Ganz schön verrückt.«

Warren Mayfield nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. Er hatte so gut wie keine Haare mehr, und seine Haut war voller Sommersprossen. »Das habe ich auch gedacht.«

»Also muss sie mit ihrer Mutter gesprochen haben.«

»Keine Ahnung.«

»Wann, glauben Sie, können wir mit ihr reden?«

»Wir hoffen morgen, aber das hängt von ihrem Zustand ab. Vielleicht auch erst in ein paar Tagen. Das Mädchen ist hier draußen fast erfroren.«

»Sie hatte nur ein Nachthemd an. Ein rotes Babydoll?«

Warren hatte es nicht gesehen. »Aber wie Sie schon gesagt haben, ziemlich verrückt von ihr.«

Sie kamen zu einer kleinen Lichtung, wo der Weg flach verlief, um dann steil bis zur Hangkuppe anzusteigen. Absperrband war zwischen die Bäume gebunden, es sah wie String Art aus. Von einer Fläche von der Größe eines Doppelbetts hatte man den Schnee weggekratzt, hier lag bloße feuchte Erde frei. Nirgendwo war Blut zu sehen, dafür aber jede Menge Fußabdrücke. Es war unmöglich festzustellen, welche zu dem Mörder gehörten.

»Pech mit dem Schnee«, sagte er und betrachtete den zertrampelten Boden. »Da ist nichts mehr mit Beweisen.«

»Als die Leiche weggebracht wurde, haben Sie da den Schnee aus der unmittelbaren Umgebung mitgenommen?«

»Wir haben ein paar Mülltüten voll im Tiefkühler in der Stadt.«

Macy kniete sich hin. »Die Sanitäter haben gesagt, dass die Körper mit Schnee bedeckt waren.«

»Ja, Ma’am. Es hat heftig geschneit. Wenig später, und sie wären völlig unter dem Schnee begraben gewesen.«

»Diese Stelle ist nicht abgesichert.« Von ihrem Standort aus konnte sie direkt in Grace’ Fenster blicken. Sie schritt den Tatort ab, ließ ihre Taschenlampe auf die unzähligen Fußabdrücke scheinen. »Wann sind Ihre Männer abgezogen?«

»Ungefähr vor einer Stunde.«

Macy runzelte die Stirn. Es war nicht zu beschönigen: An diesem Tatort gab es kaum noch etwas sicherzustellen. Sie richtete ihren Blick auf den dunkler werdenden Wald und leuchtete zwischen den Bäumen in eine Schneise. »Ist das eine Straße?«

»Es ist ein Feuerschutzstreifen.«

»Wo führt der hin?«

»Es gibt eine ganze Reihe von denen hier draußen. Einige führen im großen Bogen um das Viertel, während andere, so wie dieser hier, irgendwo an der Dray Creek Lane enden.«

Macy schaute zum Himmel hoch. Es war fast dunkel. »Was sagt der Wetterbericht?«

»Noch mehr Schnee am Morgen.«

»Dann mal auf zur Dray Creek Lane.«

Am Straßenrand vor dem Haus blieb Macy bei den Mülltonnen stehen. »Hier haben Sie die Rosen gefunden?«

»Ja, da war ein Preisschild von Olsen’s Landing dran.«

»Was ist Olsen’s Landing?«

»Ein Angelcamp am nördlichen Ende der Stadt. Da draußen gibt es eine Tankstelle und einen Minimarkt. Wir haben heute Nachmittag mit der Besitzerin gesprochen. Es existiert kein Kaufbeleg. Die Blumen stehen in Kübeln neben dem Eingang. Sie könnten gestohlen worden sein.«

»Gibt es da irgendwelche Überwachungskameras?«

»So was brauchen die nicht.«

Macy schaute die Straße hinunter. Straßenbeleuchtung gab es nicht. »Hat die Stadtreinigung den Müll heute Morgen abgeholt? Da könnte doch jemand etwas beobachtet haben.«

»Heute müsste Abholtag sein. Sonst würden die Tonnen noch in der Garage stehen.«

»Wir müssen herausfinden, wann sie hier waren.«

»Ich rufe dort an, wenn wir rüber zur Dray Creek Lane fahren.«

»Sie sagten, Sie hätten Leannes Wagen hier in der Nähe gefunden?«

»In einer Auffahrt ein paar Häuser weiter. Grace’ Adresse stand auf einen Zettel gekritzelt, der auf dem Beifahrersitz lag. Leanne hatte die Schlüssel in ihrer Manteltasche.«

Macy wollte erst vorschlagen, sich die Stelle anzusehen, wo sie den Wagen gefunden hatten, entschied dann aber anders. »Wenn Leanne von Kanada hier runtergefahren ist, wäre sie nicht noch in die Stadt gefahren, um für Grace Blumen zu holen. Das hätte sie eine gute halbe Stunde gekostet.«

»Es wäre doch auch merkwürdig, der Tochter Rosen mitzubringen. Das sieht eher nach einer romantischen Geste aus, wenn Sie mich fragen.«

»Schön und gut, aber es war auch nicht die typische Mutter-Tochter-Beziehung. Wir können es also nicht ausschließen.«

Sie ließen ihre Wagen am Abzweig zur Dray Creek Lane stehen und gingen zu Fuß mit ihren Taschenlampen die Straße hinauf.

»Der Müll ist heute Morgen so gegen halb zehn abgeholt worden«, sagte Warren.

»Das war, bevor Grace Adams den Notruf absetzte.«

»Ja, und zu früh, als dass die Müllleute etwas hätten sehen können. Aber ich werde den Trupp morgen befragen.«

Macy deutete auf die parallel verlaufenden Furchen, die im Abstand von ungefähr eineinhalb Metern durch den Schnee führten. Bedauerlicherweise waren die Reifenspuren von einer frischen Schneeschicht bedeckt. Macy und der Sheriff gingen seitlich daneben her, leuchteten mit ihren Lampen nach rechts und links. Nach ungefähr einer halben Meile deutete Warren auf eine Biegung in der Straße.

»Der Schutzstreifen müsste hier einmünden.«

»Was gibt’s hier draußen eigentlich sonst noch?«

Warren wirkte frustriert. »Heutzutage nicht viel mehr als ein paar illegale Drogenlabore. Während der Jagdsaison ist ein bisschen was los, aber abgesehen davon, gibt es eigentlich keinen Grund hierherzukommen. Die Straße endet auch in ungefähr einer Meile.«

Macy bat ihn, stehen zu bleiben. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. »Sehen Sie das?« Sie fuhr mit dem Strahl ihrer Taschenlampe den Umriss eines Rechtecks nach, wo der Schnee nicht ganz so tief war. Es hatte ungefähr die Größe eines Autos. »Hier hat heute irgendwann ein Wagen geparkt.«

Der Sheriff führte sie zu einer rostigen Metallkette, die zwischen zwei Pfosten hing. »Ich lasse meine Männer das morgen früh überprüfen, aber wenn ich richtig sehe, ist das der Schutzstreifen, den Sie gesucht haben.«