Eiskalte Verbrechen - Ulrike Braune - E-Book

Eiskalte Verbrechen E-Book

Ulrike Braune

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Beschreibung

Ist die böse Schwiegermutter wirklich Schneewittchens einziges Problem? Wird die Nichte vom Erbe ihrer verstorbenen Tante assimiliert? Führt ein Todeskuss zum letzten Schlaf in den Tiefen des Winterwaldes und warum versetzen verkohlte Fotos eine Polizistin in Panik? Kann sich ein Mörder auf einem ablegen-den Schiff in Sicherheit wiegen, während eine Hundebesitzerin im kalten November einschlägige Maßnahmen ergreift? Eisige Angelegenheiten werden einen Angestellten ganz schön ins Schwitzen bringen, während ein Katzenermittlerduo sich auf die Pirsch begibt. Möglicherweise werden ihre gewonnenen Erkenntnisse Sie verstört zurücklassen, vielleicht werden Sie Ihnen auch Ihre Auszeit versüßen. Entscheiden Sie selbst und begleiten Sie die Autoren in ihrem zweiten Sammelband auf eine Reise zu frostigen Kriminalfällen.

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Eiskalte Verbrechen

teilweise tödlich - Bd. 2

Kurzkrimis

Michael Kracht (Hrsg.)

Erstausgabe im August 2017

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © 2017

Fehnland-Verlag

D-26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

www.fehnland-verlag.de

Cover: Scandals under Cover

CoverImage: GraphicStock

Lektorat: Roland Blümel + Michael Kracht

Satz und Layout: Michael Kracht

Inhalt

Vorwort

Eisblau

Ulrike Braune

Der Fluch der Eishexe

Geli Grimm

Sechs Grad minus

Sabine Groene

Eiskalte Rache

Sabine Hennig-Vogel

Der Streuner

Marc Pain

Novembermord

Sabine Petersen

Eisblumen

Martina Schiller-Rall

Heißkalte Berechnung

Neal Skye und Cherry Loster

Leben und Sterben lassen

Katinka Weisenheimer

Die Autoren

Vorwort

Das, was En­de 2015 in einer Grup­pe von Au­to­ren als »spin­ner­te Idee« be­gann und im Herbst 2016 in die Ver­öf­fent­li­chung des Ban­des »teil­wei­se töd­lich« mün­de­te, hat mitt­ler­wei­le zur Ent­ste­hung einer Au­to­ren­grup­pe im Inter­net und zum Auf­tritt auf einer Buch­mes­se ge­führt. Die »Au­to­ren-Grup­pe Töd­lich« – die­sen Na­men hat uns ein ame­ri­ka­ni­sches On­line-Por­tal un­ge­fragt ver­lie­hen – legt hier den zwei­ten Band der Kurz­kri­mis vor. Die meis­ten Au­to­ren des ers­ten Ban­des sind wie­der mit da­bei – es sind aber auch ei­ni­ge Kri­mi­au­to­ren mit Er­fah­rung da­zu­ge­kom­men, die sich unse­rer Grup­pe an­ge­schlos­sen ha­ben.

Ein­zi­ge Vor­ga­be war dies­mal die Aus­rich­tung »Eis­kal­te Ver­bre­chen« – jetzt se­hen Sie selbst, was dar­aus ge­wor­den ist. Und wenn Sie Spaß dar­an ge­fun­den ha­ben – der nächs­te Band unter dem Mot­to »Fins­te­re Ab­grün­de« folgt un­mit­tel­bar!

Mi­chael Kracht

im Au­gust 2017.

Eisblau

Ulrike Braune

Ju­lia hielt die fi­li­gra­ne Tas­se gegen das Licht, um sie auf Sprün­ge zu unter­su­chen. Dann leg­te sie sie mit einem Seuf­zen zu den an­de­ren in die Schach­tel. War­um hat­te ihre Tan­te nur so eine Vor­lie­be für Ramsch ge­habt? Al­lein mit dem Ge­schirr könn­te sie oh­ne Pro­ble­me einen Stand auf dem Floh­markt fül­len. Nie­der­ge­schla­gen be­trach­te­te sie die Vi­tri­ne im Wohn­zim­mer. Da lag noch ei­ni­ges an Arbeit vor ihr.

»Hal­lo, je­mand zu Hau­se?«, hör­te sie eine ver­trau­te Stim­me im Flur ru­fen.

»Nur der Geist von Tan­te Kar­la!«, ant­wor­te­te sie la­chend.

Adam steck­te den Kopf her­ein. »Es sieht aus, als ob du den gan­zen Tag Kaf­fee ge­trun­ken hät­test. Woll­test du die Tas­sen nicht ein­pa­cken?«

»Sehr wit­zig«, er­wi­der­te sie und ver­pack­te einen Tel­ler. »Ich ha­be den Schrank da drü­ben schon leer. Jetzt sind die gu­ten Stü­cke aus der Vi­tri­ne dran.«

Adam leg­te sei­ne Ta­sche ab und kam zum Wohn­zim­mer­tisch, wo Ju­lia die zer­brech­li­chen Schät­ze aus­ge­brei­tet hat­te. Auch er hob das Por­zel­lan an. Dann stieß er einen Pfiff aus. »Wow, das ist ja ech­tes Meiss­ner!«

Sei­ne Freun­din nick­te. »Ja, Tan­te leg­te im­mer Wert dar­auf, dass sie sich mit hoch­wer­ti­gen Din­gen um­gab. Das meis­te hier­von ist sünd­haft teu­er – oder sehr alt – oder bei­des.«

»Scheint, als hät­te sie eine Vor­lie­be für Blau ge­habt«, be­merk­te Adam, der sich im Raum um­sah. Sein Blick blieb an dem gro­ßen Ge­mäl­de über dem Ka­min hän­gen. Eine jun­ge Frau reck­te ihr Kinn stolz dem Be­trach­ter ent­gegen. Das Blau ihrer Au­gen wur­de nur über­strahlt von dem präch­ti­gen Sa­phir-Col­lier um ihren Hals. Ihr durch­drin­gen­der Blick schien ihn zu ver­fol­gen. »Ist das dei­ne Tan­te?«, frag­te er, um sich ab­zu­len­ken.

Ju­lia sah auf. »Das? Nein, das ist mei­ne Ur-Ur-Ur-Groß­mut­ter vä­ter­li­cher­seits: Bea­trix von Kühn­heim«, und mit ver­schwö­re­ri­schem Unter­ton füg­te sie hin­zu: »Ost­preu­ßi­scher Land­adel.«

Ihr Freund schüt­tel­te ver­wun­dert den Kopf. »Von Kühn­heim? Ich wuss­te ja gar nicht, dass ich mit dir Zu­gang zur bes­se­ren Ge­sell­schaft ha­be«, schmun­zel­te er.

Sie lach­te auf. »Mit mir be­stimmt nicht«, er­wi­der­te sie. »Mit mei­ner Tan­te viel­leicht. Aber ich bin die Toch­ter mei­nes Va­ters und kann mit die­sem bla­sier­ten Ge­ha­be nichts an­fan­gen. Al­so bit­te wei­ter­hin Ju­lia Kühn­heim.«

»Ha­ben sie sich des­halb ge­strit­ten; dein Va­ter und dei­ne Tan­te?«

Sie er­starr­te mit­ten in der Be­we­gung. »Tut mir leid, ich woll­te nicht …«, be­gann Adam, doch sie fiel ihm ins Wort. »Nein, ist schon gut«, be­ru­hig­te sie ihn und fuhr fort. »Si­cher­lich hat es da­zu bei­ge­tra­gen, dass sie in unter­schied­li­chen Wel­ten leb­ten. Und ich kann mich dar­an er­in­nern, dass sie mei­ne Mut­ter nicht be­son­ders moch­te. Tan­te fand, mein Va­ter hät­te unter sei­nem Stand ge­hei­ra­tet.« Sie schüt­tel­te den Kopf. »Aber was ge­nau der Grund für ihren Streit war, hat er mir nie ver­ra­ten. Ich glau­be, es ging um ir­gend­ein Fa­mi­lien­erb­stück.«

Adam run­zel­te die Stirn. »Ich kann mir kaum vor­stel­len, dass dein Va­ter Wert auf ir­gend­wel­che Tas­sen ge­legt hat«.

»Nein, si­cher­lich nicht«, stimm­te ihm sei­ne Freun­din zu und schloss den De­ckel des Kar­tons. Sie stell­te die Kis­te zu den an­de­ren in die Ecke des Rau­mes. »So, das war’s für heu­te. Ich muss gleich noch mal aufs Poli­zei­re­vier.«

»Ich dach­te, sie hät­ten dei­ne Aus­sa­ge be­reits.«

»Wahr­schein­lich hof­fen sie, dass mir noch et­was ein­ge­fal­len ist.« Sie seufz­te. »Aber ich ha­be Tan­te Kar­la so lan­ge nicht mehr ge­se­hen …«

Adam nahm sie in sei­ne Ar­me. »Das ist doch nicht dei­ne Schuld.«

Sie mach­te sich los. »Nicht? Ich hät­te schon seit Jah­ren mit ihr Kon­takt auf­neh­men kön­nen. Erst recht seit Va­ters Tod.«

»Mei­ne Gü­te, Ju­lia, die Be­erdi­gung ist kaum zwei Wo­chen her«, er­in­ner­te sie ihr Freund. »Du hat­test viel um die Oh­ren, da wä­re nie­mand auf die Idee ge­kom­men, nach ver­schol­le­nen Tan­ten zu su­chen. Außer­dem war sie nicht mal auf dem Fried­hof, um dir Bei­leid zu wün­schen.« Und et­was ru­hi­ger füg­te er hin­zu: »Selbst dei­ne Mut­ter hat­te so viel An­stand.«

»Red’ nicht schlecht über Ma­ma«, ta­del­te ihn sei­ne Freun­din. »Das ist mein Pri­vi­leg.«

Er hob sanft ihr Kinn und sah ihr in die Au­gen. »Was ich da­mit sa­gen will: Dei­ne Tan­te hat­te selbst ge­nug Ge­le­gen­hei­ten dich zu tref­fen. Sie hat kei­ne da­von ge­nutzt. Und selbst wenn ihr die bes­ten Freun­din­nen ge­we­sen wärt, hät­test du ihren Tod wahr­schein­lich nicht ver­hin­dern kön­nen. Al­so hör bit­te auf, dir Din­ge vor­zu­wer­fen, die nicht zu än­dern sind.«

Ju­lia nick­te stumm. Doch nichts, was Adam jetzt sag­te, wür­de ihr Ge­wis­sen be­ru­hi­gen kön­nen.

Kom­mis­sar Mi­chael Nau­mann be­ob­ach­te die jun­ge Frau, die auf der an­de­ren Sei­te des Schreib­tischs saß und durch ei­ni­ge Fotos blät­ter­te. Sie war groß, Mit­te drei­ßig und hat­te eine sport­li­che Fi­gur – mit an­de­ren Wor­ten: durch­aus at­trak­tiv. Den­noch wä­re sie ihm nicht auf­ge­fal­len, wenn er sie auf der Stra­ße ge­trof­fen hät­te.

»Tut mir leid, aber von die­sen Leu­ten ken­ne ich nur ihn.« Sie schob ein Foto zum Kom­mis­sar und leg­te den Rest bei­sei­te. »Das ist Herr Krau­se, der Nach­bar mei­ner Tan­te.«

Nau­mann nick­te. Im­mer­hin et­was. »Hat sie sich gut mit ihm ver­stan­den?«, woll­te er wis­sen.

Ju­lia zuck­te mit den Schul­tern. »Sie hat­ten we­nig mit­ein­an­der zu tun. Herr Krau­se hat wohl mal in der Vil­la ge­wohnt, als mei­ne Fa­mi­lie sie ver­mie­tet hat­te. Spä­ter, als mei­ne Groß­eltern und mei­ne Tan­te dort ein­ge­zo­gen sind, muss­te er mit dem Haus neben­an vor­lieb­neh­men. Ich glau­be, das hat ihn im­mer ge­är­gert und er moch­te mei­ne Tan­te des­halb nicht. Aber von einem of­fe­nen Kon­flikt weiß ich nichts. Sie hat ihn und sei­ne schlech­te Lau­ne ein­fach igno­riert. »

»Hat­te sie sonst mit je­man­dem Streit?«

Die jun­ge Frau lach­te bit­ter. »Mit mei­nem Va­ter«, ant­wor­te­te sie, »aber da er selbst seit ei­ni­gen Wo­chen tot ist, hat er wohl nichts mit dem Ab­le­ben mei­ner Tan­te zu tun.«

»Das tut mir leid«, ver­si­cher­te der Poli­zist schnell. Um die ent­ste­hen­de Stil­le zu über­brü­cken, leg­te er drei wei­te­re Fotos auf den Schreib­tisch. »Viel­leicht kön­nen Sie uns noch hier­mit hel­fen.«

Ju­lia be­trach­te­te die Bil­der. Sie zeig­ten den Sa­lon in der Vil­la ihrer Tan­te: Den klei­nen Tisch, auf dem noch die Tas­se und das Milch­känn­chen stan­den, die bei­den Le­der­ses­sel da­ne­ben. Wei­ße Um­ris­se zeig­ten, wo die Lei­che ge­le­gen hat­te. »Wie ist sie ge­stor­ben?«, frag­te sie, oh­ne den Blick ab­zu­wen­den.

»Bis­her deu­tet al­les dar­auf hin, dass sie un­glück­lich ge­stürzt ist.«

»Ein Un­fall, al­so?«

Statt auf ihre Fra­ge ein­zu­ge­hen, deu­te­te der Kom­mis­sar auf die Fotos. »Fällt Ih­nen ir­gend­et­was Un­ge­wöhn­li­ches auf?«

Sie schüt­tel­te den Kopf, zö­ger­te dann aber. »Was ist?«, frag­te der Poli­zist et­was zu has­tig.

»Ich kann es nicht sa­gen.« Sie kniff die Au­gen zu­sam­men und unter­such­te er­neut die Fotos in ihrer Hand. »Et­was scheint nicht zu pas­sen, aber ich weiß nicht, was es ist.« Als sie auf­sah, be­geg­ne­te sie Nau­manns ent­täusch­tem Blick. »Tut mir leid«, mur­mel­te sie.

»Schon gut«, er­wi­der­te der Kom­mis­sar ge­fass­ter. »Dan­ke, dass Sie es ver­sucht ha­ben.« Er ge­lei­te­te sie zur Tür. »Falls Ih­nen noch et­was ein­fällt, ru­fen Sie mich ein­fach an.«

Sie nick­te und ver­ab­schie­de­te sich.

Mi­chael sah ihr eine Wei­le nach, dann ging er zu sei­nem Schreib­tisch zu­rück und ließ sich auf den Stuhl fal­len. »Lief nicht so gut?« Sein Kol­le­ge schau­te zur Tür her­ein.

Nau­mann schüt­tel­te den Kopf.

Der an­de­re stell­te eine damp­fen­de Tas­se auf den Schreib­tisch und nahm auf dem Stuhl gegen­über Platz. »Ach, Mike, was hast du er­war­tet? Das Mä­del hat ihre Tan­te seit 20 Jah­ren nicht ge­se­hen.«

»Du hast ja recht«, gab der Kom­mis­sar zäh­ne­knir­schend zu. »Aber sie ist, außer der Nach­ba­rin, die die Lei­che ge­fun­den hat, die ein­zi­ge Zeu­gin.«

»Zeu­gin wo­für?«, fiel ihm der an­de­re ins Wort. »Es deu­tet doch al­les auf einen Un­fall hin.«

Mi­chael stand auf und sah aus dem Fens­ter. »Wann hast du je­mals ge­hört, dass eine ein­sa­me, rei­che Da­me ein­fach so durch einen Un­fall stirbt? Zu­mal sich die Nach­ba­rin si­cher war, dass Frau von Kühn­heim abends nie Kaf­fee ge­trun­ken hat. Außer­dem sind da noch die feh­len­den Sei­ten im Ta­ge­buch.«

»In dem Fal­le hät­test du gra­de die Mör­de­rin lau­fen las­sen. Die Nich­te ist die Al­lein­erbin und pro­fi­tiert am meis­ten vom Tod der Tan­te.«

»Sie ist kei­ne Mör­de­rin.« Dar­in war sich Nau­mann si­cher.

Sein Kol­le­ge pflich­te­te ihm bei. »Das kann ich mir auch nicht vor­stel­len. Des­halb ist der Ge­dan­ke an ein Ver­bre­chen ja so ab­surd.« Er trat zu Mi­chael und leg­te ihm eine Hand auf die Schul­ter. »Lass gut sein, Mike. Viel­leicht hat sich die Al­te einen Kaf­fee ge­macht, um die Wie­der­ho­lung vom Tat­ort nicht zu ver­pas­sen. Sie hat das Kof­fe­in zur un­ge­wohn­ten Zeit nicht ver­tra­gen, ihr wur­de schwin­de­lig und sie ist ge­stürzt. Sol­che Din­ge pas­sie­ren; auch bei rei­chen Tan­ten.«

»Viel­leicht hast du recht«, er­wi­der­te Nau­mann und nipp­te nach­denk­lich an sei­nem Kaf­fee.

Ju­lia hat­te es kaum er­war­ten kön­nen, nach Hau­se zu kom­men. Wie einen Schatz drück­te sie das Päck­chen an sich, das ihr Kom­mis­sar Nau­mann über­reicht hat­te: die Ta­ge­bü­cher ihrer Tan­te. Da Adam Nacht­schicht hat­te, be­schloss sie, heu­te frü­her ins Bett zu ge­hen und noch ein biss­chen dar­in zu schmö­kern.

Sie ent­schied sich für ein Ex­em­plar aus der Zeit ihres letz­ten Be­suchs. Tat­säch­lich muss­te sie nicht lan­ge blät­tern, um fol­gen­den Ein­trag zu fin­den:

›Klei­ne Prin­zes­sin ist heu­te an­ge­kom­men; »klein« trifft es kaum noch; ha­ben auf dem Dach­bo­den nach Schät­zen ge­sucht und uns ver­klei­det; Groß­mut­ters Klei­der ste­hen ihr gut; be­zau­bernd! Sie wird bald eine Frau.‹

Ju­lia schmun­zel­te. Sie er­in­ner­te sich noch ge­nau, wie sie im­mer so ge­tan hat­ten, als wür­den sie auf einen Ball ge­hen. Da­zu hat­ten sie die al­ten Klei­der an­ge­zo­gen und ihre Tan­te hat­te ihr so­gar Schmuck ge­lie­hen. Zur Mu­sik der Schall­plat­ten hat­te Ju­lia ihre ers­ten Tanz­schrit­te ge­lernt. Manch­mal hat­te Kar­la da­bei die Sa­phir­hals­ket­te ge­tra­gen. Dann schien das Zim­mer in blau­es Licht ge­taucht und Ju­lia bil­de­te sich ein, die tan­zen­den Schat­ten wä­ren die Geis­ter ihrer Vor­fah­ren, die ih­nen Bei­fall spen­de­ten.

Als sie die nächs­te Sei­te auf­schlug, fiel ihr ein Foto ent­gegen. Es zeig­te sie, im Al­ter von 14 Jah­ren, und ihre Tan­te auf dem Dach­bo­den der Vil­la. Auch die­ser Tag war ihr im Ge­dächt­nis ge­blie­ben. Kar­la hat­te einen ziem­li­chen Auf­wand be­trie­ben, das Sta­tiv der Ka­me­ra mit hin­auf ge­schleppt und zahl­lo­se Ein­stel­lun­gen pro­biert, bis sie si­cher sein konn­te, ein brauch­ba­res Bild zu be­kom­men.

Ge­dan­ken­ver­lo­ren strich Ju­lia über die Foto­gra­fie. Sie hat­te fast ver­ges­sen, was für eine schö­ne Frau ihre Tan­te ge­we­sen war: groß, schlank und mit wal­len­dem brau­nen Haar. Doch das be­ein­dru­ckends­te an ihr wa­ren ihre eis­blau­en Au­gen ge­we­sen, mit denen sie je­den in ihren Bann zie­hen konn­te. Al­le Frau­en der Fa­mi­lie hat­ten sol­che Au­gen ge­habt, an­ge­fan­gen von ihrer Ur-Ur-Ur-Groß­mut­ter. Ju­lia seufz­te. Nur sie hat­te na­tür­lich die lang­wei­lig grü­nen Au­gen ihrer Mut­ter ge­erbt.

Der nächs­te Ta­ge­buch­ein­trag da­tier­te ein paar Ta­ge spä­ter:

›Mit der klei­nen Prin­zes­sin im Hei­mat­ver­ein ge­we­sen; hat gu­te Vor­schlä­ge für das Stadt­fest ge­macht; For­mi­da­bel! Soll­te sie im nächs­ten Jahr im Ver­ein an­mel­den; wahr­schein­lich stellt sich Pe­ter quer; muss es heim­lich ge­sche­hen; al­ter Holz­kopf! Lässt sich von der Le­thar­gie sei­ner Pro­le­ten­frau an­ste­cken.‹

»Sie konn­te Ma­ma wirk­lich nicht aus­ste­hen«, dach­te Ju­lia und war ver­blüfft, wie klar ihre Er­in­ne­run­gen dies­be­züg­lich wa­ren. Ihre Mut­ter und ihre Tan­te wa­ren sich im­mer aus dem Weg ge­gan­gen. Ihr Va­ter hat­te sie je­des Jahr zu Be­ginn der Fe­rien zu Kar­la ge­fah­ren und am En­de wie­der ab­ge­holt. Ge­mein­sa­me Fa­mi­lien­fei­ern hat­te es nie ge­ge­ben, bes­ten­falls hat­ten sich Va­ter und Tan­te zu Ge­burts­ta­gen an­ge­ru­fen.

»Et­was, das ich nie ver­ste­hen wer­de«, stell­te Ju­lia fest, die die Auf­ent­hal­te bei ihrer Tan­te im­mer sehr ge­nos­sen hat­te. Mit zit­tern­den Fin­gern blät­ter­te sie ein paar Sei­ten wei­ter. Bald fand sie den Ein­trag, den sie such­te:

›Wie kann er es wa­gen? Wie kann er An­sprü­che stel­len? Er, der al­les, was den von Kühn­heims et­was be­deu­tet, stets ver­leug­net hat. Ich wer­de nicht zu­las­sen, dass er sie be­kommt. Ich wer­de nicht zu­las­sen, dass SIE sie be­kommt. Der Ge­dan­ke macht mich krank, dass die Sa­phi­re von Bea­trix von Kühn­heim den Hals die­ser Un­wür­di­gen schmü­cken könn­ten. Sie ge­hö­ren mir, mir al­lein – und der klei­nen Prin­zes­sin.‹

Nach einer Nacht vol­ler un­ru­hi­ger Träu­me über ihre Tan­te, Sa­phi­re und Ur-Ur-Ur-Groß­mut­ter Bea­trix schlepp­te sich Ju­lia ins Bü­ro. Doch es fiel ihr schwer, sich zu kon­zen­trie­ren.

So­bald der An­stand es zu­ließ, ver­ab­schie­de­te sie sich ins Wo­chen­en­de und hol­te ihren Freund ab, um ge­mein­sam zu der al­ten Vil­la zu fah­ren. Stärker noch als bei den Ma­len zu­vor, hat­te sie das Ge­fühl nach Hau­se zu kom­men. Am liebs­ten wä­re sie wie da­mals als Kind den Weg mit dem schö­nen Pflas­ter­stein­mus­ter hin­auf ge­hüpft. Ge­ra­de als sie den Schlüs­sel ins Schloss ste­cken woll­te, er­klang eine kräch­zen­de Stim­me hin­ter ihr. »Tun Sie das nicht, Fräu­lein Kühn­heim!«

Ju­lia wand­te sich um und schau­te in das Ge­sicht des Nach­barn. Un­will­kür­lich reck­te sie ihr Kinn nach oben. »Es heißt ›von Kühn­heim‹.«

Das Ge­sicht des Al­ten ver­fins­ter­te sich. »Ich woll­te Sie nur war­nen. Die­ses Haus ist ver­flucht! Sie soll­ten es so schnell wie mög­lich los­wer­den.«

»An Sie viel­leicht?«, frag­te Ju­lia spitz.

Herr Krau­se schnaub­te ver­ächt­lich. »Ich bin viel zu alt, um noch ein­mal um­zu­zie­hen. Aber Sie soll­ten mir glau­ben. Es ge­hen selt­sa­me Din­ge vor da drin­nen.«

»Mir ist nichts Un­ge­wöhn­li­ches auf­ge­fal­len«, er­wi­der­te die jun­ge Frau und öff­ne­te die Tür.

»Das hat Ihre Tan­te auch ge­sagt«, rief ihr der Nach­bar hin­ter­her, »Sie se­hen ja, was es ihr ge­bracht hat.«

Ju­lia fuhr her­um. Sie schritt die Trep­pe hin­unter, bis sie nur noch eine Stu­fe über dem al­ten Mann stand. Ihr Ge­sicht war ganz nah an sei­nem, als sie zisch­te: »Was wis­sen Sie über den Tod mei­ner Tan­te?«

»Nur, dass sie sich mit Mäch­ten ein­ge­las­sen hat, die sie of­fen­sicht­lich nicht kon­trol­lie­ren konn­te«, raun­te er, be­vor er sich um­dreh­te und zu sei­nem Grund­stück hum­pel­te. »Sei­en Sie ge­warnt, Fräu­lein von Kühn­heim! Sei­en Sie ge­warnt!«

»Von Kühn­heim?«, frag­te Adam lä­chelnd, der ge­ra­de mit Kis­ten auf dem Arm zu Ju­lia auf­schloss. »Ich dach­te, du kannst mit die­sem bla­sier­ten Ge­ha­be nichts an­fan­gen?«

»Kann ich auch nicht«, er­wi­der­te sie, »aber die­sem Holz­kopf ge­hö­ren ein paar Ma­nie­ren bei­ge­bracht.« Sie stemm­te die Hän­de in die Hüf­ten. »Ein biss­chen ver­quer war der Al­te schon im­mer und das scheint sich mit den Jah­ren nicht un­be­dingt ver­bes­sert zu ha­ben.« Nach­denk­lich sah sie zum an­de­ren Grund­stück. »Was, wenn er Tan­te be­droht hat?«

Adam trat durch die of­fe­ne Tür ins Haus und stell­te die Kis­ten ab. »Glaubst du, er hat et­was mit ihrem Tod zu tun?«

Ju­lia zuck­te mit den Schul­tern. »Schwer vor­stell­bar«, gab sie zu, »aber der Wahn­sinn ver­leiht manch­mal un­ge­ahn­te Kräf­te.«

Für den Nach­mit­tag hat­te sich Ju­lia vor­ge­nom­men, die Klei­der­schrän­ke ihrer Tan­te zu ent­rüm­peln – zu­min­dest den, der sich im Schlaf­zim­mer be­fand. Die schie­re Men­ge der Sa­chen ließ sie je­doch an ihrem Ta­ges­ziel zwei­feln. Adam hat­te sich da­für aus­ge­spro­chen, den ge­sam­ten In­halt ein­fach in die Klei­der­samm­lung zu ge­ben, doch Ju­lia hat­te dar­auf be­stan­den, aus­zu­sor­tie­ren – und sie hat­te sich durch­ge­setzt.

Ge­ra­de hat­te sie ein blau­es Kos­tüm mit dem da­zu pas­sen­den Hut ge­fun­den. Wahr­schein­lich wa­ren die Schu­he, die zum En­sem­ble ge­hör­ten, nicht weit. Lä­chelnd plat­zier­te die jun­ge Frau die Sa­chen auf dem Sta­pel für die Klei­der­spen­de. Es wür­de da draußen si­cher je­man­den ge­ben, der so viel Mo­de­be­wusst­sein zu schät­zen wuss­te. Ihr war eine be­que­me Jeans je­doch tau­send mal lie­ber.

Sie woll­te ge­ra­de nach dem nächs­ten Rock grei­fen, als ihr das Bett­la­ken auf dem Bo­den des Schranks auf­fiel. Das schien gar nicht zu ihrer Tan­te zu pas­sen, bei der sonst al­les sei­nen ge­nau de­fi­nier­ten Platz hat­te. Vor­sich­tig hob sie das Tuch an. Dar­unter kam Kar­las Ge­sicht zum Vor­schein, dann ihre nack­ten Schul­tern und schließ­lich mehr. Ver­blüfft ließ Ju­lia den Stoff fal­len. Sie hol­te das Bild aus dem Schrank, stell­te es aufs Bett und be­trach­te­te es aus ei­ni­ger Ent­fer­nung. Es war gar nicht schlecht. In einem Mu­seum hät­te Ju­lia kei­nen Mo­ment dar­an ge­zwei­felt, dass es ein Künst­ler er­schaf­fen ha­ben muss­te. Aber ihre Tan­te als Mu­se?

Die jun­ge Frau trat einen Schritt nä­her und in­spi­zier­te die Si­gna­tur. »A.K. ´71«, ent­zif­fer­te sie. Im­mer­hin eine Jah­res­zahl. Mit Si­cher­heit stand da­zu et­was in den Ta­ge­bü­chern ihrer Tan­te. Auf­ge­regt lief sie in die Bi­blio­thek und war zum ers­ten Mal froh dar­über, dass Adam die Bü­cher in die al­te Vil­la ver­bannt hat­te.

Mit zit­tern­den Fin­gern fuhr sie über die Buch­rü­cken auf der Su­che nach dem rich­ti­gen Jahr­gang. End­lich ent­deck­te sie ihn und bald dar­auf den da­zu­ge­hö­ri­gen Ein­trag.

›Al­bert war heu­te wie­der da. Traum­haf­ter Tag. Könn­te ihm stun­den­lang zu­se­hen, wie er malt. Zum Ab­schied hat er mir das Bild ge­schenkt. Wer­de es auf dem Dach­bo­den vor Man­fred ver­ste­cken.

Wann se­he ich Al­bert wie­der? Fährt mor­gen nach Peru. Soll ich mit?‹

Ju­lia muss­te die Wor­te zwei­mal le­sen, um sie zu be­grei­fen. So ein Lie­bes­aben­teu­er hät­te sie ihrer Tan­te nicht zu­ge­traut, die das Le­ben zwar im­mer in vol­len Zü­gen ge­nos­sen, doch stets auf ihr An­sehen in der Ge­sell­schaft ge­ach­tet hat­te. Aber wer war die­ser Al­bert? Die Ant­wort fand sie am An­fang des Bu­ches.

›Kann es kaum glau­ben. Al­bert stand heu­te im Gar­ten. Zum Glück ist Man­fred mal wie­der auf Ge­schäfts­rei­se. Ha­ben ge­plau­dert, uns an al­te Zei­ten er­in­nert. Er ist char­mant wie eh und je und als Ma­ler er­folg­reich. Wenn ich das nur Va­ter noch auf die Na­se bin­den könn­te.‹

Und ein paar Sei­ten wei­ter:

›Al­bert be­sucht mich jetzt fast je­den Tag. Hat­te ganz ver­ges­sen, wie es ist, von je­man­den be­gehrt zu wer­den. War­um war ich da­mals so mut­los? Hät­te mich ge­nau­so stur stel­len kön­nen wie Pe­ter. Aber bei­de Kin­der in die bür­ger­li­che Welt ver­lo­ren – wä­re der Sarg­na­gel für die El­tern ge­we­sen.‹

»Was machst du denn hier?« Adams Stim­me riss sie aus dem Le­ben ihrer Tan­te. »Woll­test du nicht das Schlaf­zim­mer ent­rüm­peln? Wie sol­len wir je­mals fer­tig wer­den, wenn du nur in die­sen blö­den Bü­chern schmö­kerst.« Er riss ihr den Band aus der Hand und schleu­der­te ihn quer durch die Bi­blio­thek. Das Ge­räusch des Le­ders, das über den Bo­den rutsch­te, ver­misch­te sich mit einem be­droh­li­chen Zi­schen, das Adam Schau­er über den Rü­cken jag­te. Wo kam das her?

Ju­lia, die sich be­eil­te, das Ta­ge­buch auf­zu­he­ben, schien es nicht zu be­mer­ken. »Was soll das?«, fauch­te sie und stell­te es zu­rück ins Re­gal.

»Das soll­te ich eher dich fra­gen«, ent­geg­ne­te Adam und ver­such­te, sei­nen Schreck zu ver­ber­gen. »Seit du die­ses Haus be­tre­ten hast, dreht sich al­les nur um dich und dei­ne Tan­te. Du bist rich­tig be­ses­sen von ihr.«

Ju­lia ver­ließ kopf­schüt­telnd das Zim­mer und wür­dig­te ihn kei­ner Ant­wort. »Was willst du über­haupt hier oben? Woll­test du dir nicht das Wohn­zim­mer vor­neh­men?«

»Ich su­che das Kle­be­band«, er­klär­te er. »Hast du es?«

»Ich ha­be es auf die An­rich­te ge­legt«, ent­geg­ne­te sie knapp, als sie den Flur ent­lang lie­fen.

»Da ist es nicht«, wi­der­sprach Adam.

Sie kniff die Au­gen zu­sam­men. »Wol­len wir wet­ten?«

»Bit­te«, er­wi­der­te er und folg­te ihr die Trep­pe hin­unter.

Kaum im Sa­lon an­ge­kom­men, ging sei­ne Freun­din ziel­stre­big auf die An­rich­te zu, nahm das Kle­be­band und drück­te es ihm in die Hand. »Män­ner!«, be­merk­te sie au­gen­rol­lend, als sie sich wie­der auf den Weg nach oben mach­te.

Adam be­trach­te­te die Rol­le in sei­ner Hand. Unter den arg­wöh­ni­schen Bli­cken von Bea­trix von Kühn­heim hum­pel­te er zur An­rich­te. Er hät­te schwö­ren kön­nen, dass es dort vor ein paar Mi­nu­ten kein Kle­be­band ge­ge­ben hat­te.

Am Abend sa­ßen die bei­den auf der Couch im Wohn­zim­mer und be­trach­te­ten das Er­geb­nis des Nach­mit­tags. Im Kel­ler hat­te Ju­lia Kar­las Wein­vor­rä­te ent­deckt, wo­von sie sich nun ein Gläs­chen ge­neh­mig­te. Adam, der dar­auf be­stan­den hat­te, dass sie heu­te Abend noch zu­rück in die Woh­nung fuh­ren, sah ihr un­ge­dul­dig da­bei zu.

»Wir soll­ten lang­sam los«, be­merk­te er mit einem sor­gen­vol­len Blick zum Ge­mäl­de über dem Ka­min. Die Da­me dar­auf wur­de ihm im­mer un­heim­li­cher.

»Ent­spann dich doch ein biss­chen«, ent­geg­ne­te sei­ne Freun­din und trank einen Schluck Wein. »Im­mer­hin ha­ben wir heu­te viel ge­schafft.«

Adam nick­te. »Das stimmt, aber lei­der ist das nur die Spit­ze des Eis­bergs. Un­glaub­lich, wie vie­le Din­ge dei­ne Tan­te an­ge­häuft hat. Wir wer­den es kaum schaf­fen, bis zum Mak­ler­ter­min al­les durch­zu­se­hen. Schon gar nicht, wenn du dich mehr mit ihren Ta­ge­bü­chern, als mit ihrem Haus­halt be­schäf­tigst«, füg­te er mür­risch hin­zu. »Willst du nicht lie­ber eine Fir­ma mit der Haus­halts­auf­lö­sung be­auf­tra­gen?«

Ju­lia schüt­tel­te ve­he­ment den Kopf. »Ich sor­tie­re die Sa­chen ger­ne aus. Mit vie­len von Ih­nen ver­bin­det mich eine Ge­schich­te.« Sie nahm einen wei­te­ren Schluck Wein. »Kön­nen wir den Ver­kauf des Hau­ses nicht ver­schie­ben? Ich ha­be die­ses Stück Kind­heit ge­ra­de erst wie­der­ge­fun­den. Ich will es nicht so schnell wie­der auf­ge­ben müs­sen.«

»Es wä­re gut, wenn wir we­nigs­tens einen Teil des Haus­rats bald ver­kau­fen könn­ten«, er­wi­der­te Adam. »Wir soll­ten uns nicht mit so viel al­tem Zeug be­las­ten.« Als er je­doch ihren Blick be­merk­te, leg­te er sei­nen Arm um sie. »Na schön, wir kön­nen den Ver­kauf noch et­was schie­ben.« Mit einem Grin­sen füg­te er hin­zu: »Zu­min­dest bis wir al­le wert­vol­len Erb­stü­cke ge­fun­den ha­ben.«

»Du meinst die Sa­phir­hals­ket­te?« Sie seufz­te. »Tan­te hat mir lei­der nie ver­ra­ten, wo sie sie auf­be­wahrt. Wahr­schein­lich in einem Bank­schließ­fach oder so.« Sie nipp­te an ihrem Glas. »Aber viel­leicht be­hal­ten wir ein paar von den an­de­ren Din­gen.«

Er zö­ger­te kurz. »Was schwebt dir vor?«

»Ein paar Tas­sen, zum Bei­spiel.« Auf den ver­wun­der­ten Blick ihres Freun­des hin er­klär­te sie: »Du hast selbst ge­sagt, dass sie wert­voll sind. War­um soll­ten wir sie dann weg­ge­ben?«

»Sie ge­fal­len dir doch nicht ein­mal«, warf Adam ein. »Ich ha­be dich mehr­fach flu­chen hö­ren, das sei nur teu­rer Plun­der.«

Die jun­ge Frau zuck­te mit den Schul­tern. »Die meis­ten schon. Aber ei­ni­ge sind wirk­lich be­zau­bernd.«

»Be­zau­bernd?« Er schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf. »Na schön, wenn du un­be­dingt willst, kön­nen wir ein paar die­ser Staub­fän­ger mit­neh­men.«

»Du bist der Bes­te!« Sie küss­te ihn und ku­schel­te sich an sei­ne Schul­ter. Ge­dan­ken­ver­sun­ken be­trach­te­te sie den Raum. »Hier ha­ben Tan­te und ich häu­fig den Abend ver­bracht«, er­in­ner­te sich Ju­lia. »Wir ha­ben Rommé ge­spielt oder ge­mein­sam ge­lesen.«

»Ich wet­te, du hast dir den ge­müt­li­chen Ses­sel ge­si­chert«, wit­zel­te Adam und deu­tet auf das gro­ße Mö­bel­stück gegen­über der Tür.

»Nein, das war Tan­te Kar­las Platz«, lach­te sei­ne Freun­din, »Da gab es gar kei­ne Dis­kus­sion. Sie woll­te näm­lich im­mer …« Plötz­lich rich­te­te sie sich auf.

»Was hast du?«

Statt einer Ant­wort stell­te Ju­lia ihr Wein­glas ab und ging in den Sa­lon. Ihr Freund folg­te ihr ver­wun­dert. »Was ist denn auf ein­mal los?«

Als sie sich zu ihm um­dreh­te, lag ein grim­mi­ges Lä­cheln auf ihrem Ge­sicht. »Ich muss un­be­dingt Kom­mis­sar Nau­mann an­ru­fen!«

»Bist du si­cher, dass das eine gu­te Idee ist?« Adam lief un­ru­hig im Flur auf und ab.

»Was ha­ben wir denn zu ver­lie­ren?«, rief Ju­lia aus der obe­ren Eta­ge her­unter. »Viel­leicht bringt es uns einen Schritt wei­ter.«

Das Klin­geln an der Hau­tür hielt Adam von einer Ant­wort ab. Er öff­ne­te sie und be­grüß­te den Kom­mis­sar. »Dan­ke, dass Sie es ein­rich­ten konn­ten.« Er nahm dem Poli­zis­ten die Ja­cke ab. »Ju­lia kommt gleich. Sie sucht noch das pas­sen­de Out­fit für ihre Rol­le.«

In die­sem Mo­ment er­schien die jun­ge Frau am obe­ren Ab­satz der Trep­pe. Den bei­den Män­nern ver­schlug es die Spra­che. Nichts er­in­ner­te mehr an das un­schein­ba­re We­sen, das Nau­mann vor ein paar Ta­gen ge­trof­fen hat­te. Sie trug ein mo­di­sches Kos­tüm mit da­zu pas­sen­den Schu­hen und Hut. Ihre Haa­re hat­te sie dar­unter ge­schickt hoch­ge­steckt. Ele­gant schritt sie die Trep­pe hin­unter und reich­te dem Kom­mis­sar die Hand. »Ge­stat­ten? Kar­la Aga­the von Kühn­heim« Sie deu­te­te einen Knicks an und zwin­ker­te den bei­den zu. »Dann fan­gen wir gleich an, oder?«

Die jun­ge Frau ging in den Sa­lon und die bei­den Män­ner folg­ten ihr. »Ich ha­be mir ein paar Ge­dan­ken zum Tod mei­ner Tan­te ge­macht«, be­gann sie, »und ich bin über­zeugt, dass sie an dem Abend nicht al­lein ge­we­sen ist: Ers­tens hät­te sich mei­ne Tan­te zum Kaf­fee trin­ken nicht in den Sa­lon ge­setzt. Das tat sie stets im Wohn­zim­mer. Die ein­zi­ge Aus­nah­me war, wenn sie Gäs­te emp­fing.«

Ju­lia deu­te­te auf den klei­nen Tisch, auf dem sie das Ge­schirr wie auf den Poli­zei­fotos dra­piert hat­te. »Zwei­tens«, fuhr sie fort, »stand die Tas­se hier. Das be­deu­tet, dass der­je­ni­ge, der dar­aus ge­trun­ken hat, mit dem Rü­cken zur Tür saß.« Sie ging her­um und stell­te sich hin­ter den an­de­ren Ses­sel. »Das wä­re mei­ner Tan­te nie in den Sinn ge­kom­men. Sie woll­te im­mer se­hen, wer den Raum be­tritt.«

»Gut«, unter­brach sie der Kom­mis­sar. »Neh­men wir mal für einen Au­gen­blick an, es gibt die­sen Gast. An wen ha­ben Sie ge­dacht?«

»Es muss je­mand ge­we­sen sein, den sie kann­te oder den sie zu­min­dest er­war­te­te. Mei­ne Tan­te hät­te sonst nie die Tür ge­öff­net – schon gar nicht abends.« Wie­der deu­te­te sie auf den Tisch. »Außer­dem war die Per­son Nicht­rau­cher.«

»Wie kommst du denn dar­auf?«, frag­te Adam ver­blüfft.

»Tan­te hat frü­her schon ge­raucht und dem Ge­ruch ihrer Klei­der nach zu urtei­len, hat sie die­ses Las­ter nicht auf­ge­ge­ben. Sie hat dem Un­be­kann­ten mit Si­cher­heit Zi­ga­ret­ten an­ge­bo­ten und hät­te auch selbst zu­ge­grif­fen.«

Nau­mann be­griff, wor­auf sie hin­aus woll­te. »Es steht kein Aschen­be­cher auf dem Tisch.«

»Ge­nau. Wahr­schein­lich hat sie ihn zu­rück in die Kü­che ge­räumt, als ihr Gast ab­ge­lehnt hat.« Ju­lia ging aus dem Raum.

Der Kom­mis­sar schloss sich ihrer Über­le­gung an. »In dem Fall hät­te der Un­be­kann­te Zeit ge­habt, sich um­zu­se­hen.« Er schlen­der­te durch den Raum, vor­bei an einer Vi­tri­ne, bis zum Se­kre­tär an der Wand gegen­über. Die jun­ge Frau tauch­te wie­der auf. »Mehr Zeit hät­te er nicht ge­habt.«

Nau­mann dreh­te sich zu ihr um und sein Är­mel ver­fing sich an einem der Schlüs­sel des Se­kre­tärs. Er mach­te sich los, stutz­te und ging dann in die Ho­cke. Als er sich auf­rich­te­te, hat­te er ein Ta­schen­tuch in der Hand. »A.K.«, las er die In­itia­len, »Achim Krau­se.«

Ju­lia sah ihn mit of­fe­nem Mund an. »Oder Al­bert, der ver­schmäh­te Lieb­ha­ber.«

Als Ju­lia am dar­auf­fol­gen­den Nach­mit­tag ihre Woh­nung be­trat, wur­de sie be­reits er­war­tet. »Ma­ma, was für eine Über­ra­schung!«, be­grüß­te sie sie. »Weih­nach­ten ist doch erst in einem hal­ben Jahr.«

Ihre Mut­ter über­hör­te den Vor­wurf. »Det­lev ist ge­ra­de auf Mon­ta­ge in der Ge­gend, al­so dach­te ich, ich schaue mal bei mei­ner Toch­ter vor­bei. Adam hat mich rein ge­las­sen. Er muss­te al­ler­dings gleich auf Spät­schicht.« Sie setz­te dem skep­ti­schen Blick ihrer Toch­ter eine ex­tra Po­tion gu­te Lau­ne ent­gegen. »Wir könn­ten doch einen Mä­del­sa­bend ma­chen: Et­was trin­ken ge­hen und mal wie­der so rich­tig quat­schen.«

Ob­wohl sich Ju­lia nicht si­cher war, ob sie ge­nug The­men für einen gan­zen Abend hat­ten, stimm­te sie zu. »Klar, wie­so nicht.« Sie häng­te ihre Ja­cke auf und kam ins Wohn­zim­mer.

»Du siehst aber schick aus.« Aus der Stim­me ihrer Mut­ter klan­gen Be­wun­de­rung und Un­ver­ständ­nis. »Willst du noch zu einer Fei­er?«

Die Toch­ter dreh­te sich vor ihr. »Nein, ich hat­te heu­te ein­fach kei­ne Lust auf Jeans und T-Shirt. Die Sa­chen ha­be ich in Tan­te Kar­las Klei­der­schrank ge­fun­den und sie pas­sen mir wie an­ge­gos­sen.«

»Du bist in letz­ter Zeit ziem­lich oft in dem al­ten Haus, oder?« Ihre Mut­ter ver­such­te, bei­läu­fig zu klin­gen.

Die jun­ge Frau zuck­te mit den Schul­tern. »Es gibt eben viel zu tun.«