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Ist die böse Schwiegermutter wirklich Schneewittchens einziges Problem? Wird die Nichte vom Erbe ihrer verstorbenen Tante assimiliert? Führt ein Todeskuss zum letzten Schlaf in den Tiefen des Winterwaldes und warum versetzen verkohlte Fotos eine Polizistin in Panik? Kann sich ein Mörder auf einem ablegen-den Schiff in Sicherheit wiegen, während eine Hundebesitzerin im kalten November einschlägige Maßnahmen ergreift? Eisige Angelegenheiten werden einen Angestellten ganz schön ins Schwitzen bringen, während ein Katzenermittlerduo sich auf die Pirsch begibt. Möglicherweise werden ihre gewonnenen Erkenntnisse Sie verstört zurücklassen, vielleicht werden Sie Ihnen auch Ihre Auszeit versüßen. Entscheiden Sie selbst und begleiten Sie die Autoren in ihrem zweiten Sammelband auf eine Reise zu frostigen Kriminalfällen.
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Seitenzahl: 230
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Eiskalte Verbrechen
teilweise tödlich - Bd. 2
Kurzkrimis
Michael Kracht (Hrsg.)
Erstausgabe im August 2017
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2017
Fehnland-Verlag
D-26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Cover: Scandals under Cover
CoverImage: GraphicStock
Lektorat: Roland Blümel + Michael Kracht
Satz und Layout: Michael Kracht
Vorwort
Eisblau
Ulrike Braune
Der Fluch der Eishexe
Geli Grimm
Sechs Grad minus
Sabine Groene
Eiskalte Rache
Sabine Hennig-Vogel
Der Streuner
Marc Pain
Novembermord
Sabine Petersen
Eisblumen
Martina Schiller-Rall
Heißkalte Berechnung
Neal Skye und Cherry Loster
Leben und Sterben lassen
Katinka Weisenheimer
Die Autoren
Das, was Ende 2015 in einer Gruppe von Autoren als »spinnerte Idee« begann und im Herbst 2016 in die Veröffentlichung des Bandes »teilweise tödlich« mündete, hat mittlerweile zur Entstehung einer Autorengruppe im Internet und zum Auftritt auf einer Buchmesse geführt. Die »Autoren-Gruppe Tödlich« – diesen Namen hat uns ein amerikanisches Online-Portal ungefragt verliehen – legt hier den zweiten Band der Kurzkrimis vor. Die meisten Autoren des ersten Bandes sind wieder mit dabei – es sind aber auch einige Krimiautoren mit Erfahrung dazugekommen, die sich unserer Gruppe angeschlossen haben.
Einzige Vorgabe war diesmal die Ausrichtung »Eiskalte Verbrechen« – jetzt sehen Sie selbst, was daraus geworden ist. Und wenn Sie Spaß daran gefunden haben – der nächste Band unter dem Motto »Finstere Abgründe« folgt unmittelbar!
Michael Kracht
im August 2017.
Julia hielt die filigrane Tasse gegen das Licht, um sie auf Sprünge zu untersuchen. Dann legte sie sie mit einem Seufzen zu den anderen in die Schachtel. Warum hatte ihre Tante nur so eine Vorliebe für Ramsch gehabt? Allein mit dem Geschirr könnte sie ohne Probleme einen Stand auf dem Flohmarkt füllen. Niedergeschlagen betrachtete sie die Vitrine im Wohnzimmer. Da lag noch einiges an Arbeit vor ihr.
»Hallo, jemand zu Hause?«, hörte sie eine vertraute Stimme im Flur rufen.
»Nur der Geist von Tante Karla!«, antwortete sie lachend.
Adam steckte den Kopf herein. »Es sieht aus, als ob du den ganzen Tag Kaffee getrunken hättest. Wolltest du die Tassen nicht einpacken?«
»Sehr witzig«, erwiderte sie und verpackte einen Teller. »Ich habe den Schrank da drüben schon leer. Jetzt sind die guten Stücke aus der Vitrine dran.«
Adam legte seine Tasche ab und kam zum Wohnzimmertisch, wo Julia die zerbrechlichen Schätze ausgebreitet hatte. Auch er hob das Porzellan an. Dann stieß er einen Pfiff aus. »Wow, das ist ja echtes Meissner!«
Seine Freundin nickte. »Ja, Tante legte immer Wert darauf, dass sie sich mit hochwertigen Dingen umgab. Das meiste hiervon ist sündhaft teuer – oder sehr alt – oder beides.«
»Scheint, als hätte sie eine Vorliebe für Blau gehabt«, bemerkte Adam, der sich im Raum umsah. Sein Blick blieb an dem großen Gemälde über dem Kamin hängen. Eine junge Frau reckte ihr Kinn stolz dem Betrachter entgegen. Das Blau ihrer Augen wurde nur überstrahlt von dem prächtigen Saphir-Collier um ihren Hals. Ihr durchdringender Blick schien ihn zu verfolgen. »Ist das deine Tante?«, fragte er, um sich abzulenken.
Julia sah auf. »Das? Nein, das ist meine Ur-Ur-Ur-Großmutter väterlicherseits: Beatrix von Kühnheim«, und mit verschwörerischem Unterton fügte sie hinzu: »Ostpreußischer Landadel.«
Ihr Freund schüttelte verwundert den Kopf. »Von Kühnheim? Ich wusste ja gar nicht, dass ich mit dir Zugang zur besseren Gesellschaft habe«, schmunzelte er.
Sie lachte auf. »Mit mir bestimmt nicht«, erwiderte sie. »Mit meiner Tante vielleicht. Aber ich bin die Tochter meines Vaters und kann mit diesem blasierten Gehabe nichts anfangen. Also bitte weiterhin Julia Kühnheim.«
»Haben sie sich deshalb gestritten; dein Vater und deine Tante?«
Sie erstarrte mitten in der Bewegung. »Tut mir leid, ich wollte nicht …«, begann Adam, doch sie fiel ihm ins Wort. »Nein, ist schon gut«, beruhigte sie ihn und fuhr fort. »Sicherlich hat es dazu beigetragen, dass sie in unterschiedlichen Welten lebten. Und ich kann mich daran erinnern, dass sie meine Mutter nicht besonders mochte. Tante fand, mein Vater hätte unter seinem Stand geheiratet.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber was genau der Grund für ihren Streit war, hat er mir nie verraten. Ich glaube, es ging um irgendein Familienerbstück.«
Adam runzelte die Stirn. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass dein Vater Wert auf irgendwelche Tassen gelegt hat«.
»Nein, sicherlich nicht«, stimmte ihm seine Freundin zu und schloss den Deckel des Kartons. Sie stellte die Kiste zu den anderen in die Ecke des Raumes. »So, das war’s für heute. Ich muss gleich noch mal aufs Polizeirevier.«
»Ich dachte, sie hätten deine Aussage bereits.«
»Wahrscheinlich hoffen sie, dass mir noch etwas eingefallen ist.« Sie seufzte. »Aber ich habe Tante Karla so lange nicht mehr gesehen …«
Adam nahm sie in seine Arme. »Das ist doch nicht deine Schuld.«
Sie machte sich los. »Nicht? Ich hätte schon seit Jahren mit ihr Kontakt aufnehmen können. Erst recht seit Vaters Tod.«
»Meine Güte, Julia, die Beerdigung ist kaum zwei Wochen her«, erinnerte sie ihr Freund. »Du hattest viel um die Ohren, da wäre niemand auf die Idee gekommen, nach verschollenen Tanten zu suchen. Außerdem war sie nicht mal auf dem Friedhof, um dir Beileid zu wünschen.« Und etwas ruhiger fügte er hinzu: »Selbst deine Mutter hatte so viel Anstand.«
»Red’ nicht schlecht über Mama«, tadelte ihn seine Freundin. »Das ist mein Privileg.«
Er hob sanft ihr Kinn und sah ihr in die Augen. »Was ich damit sagen will: Deine Tante hatte selbst genug Gelegenheiten dich zu treffen. Sie hat keine davon genutzt. Und selbst wenn ihr die besten Freundinnen gewesen wärt, hättest du ihren Tod wahrscheinlich nicht verhindern können. Also hör bitte auf, dir Dinge vorzuwerfen, die nicht zu ändern sind.«
Julia nickte stumm. Doch nichts, was Adam jetzt sagte, würde ihr Gewissen beruhigen können.
Kommissar Michael Naumann beobachte die junge Frau, die auf der anderen Seite des Schreibtischs saß und durch einige Fotos blätterte. Sie war groß, Mitte dreißig und hatte eine sportliche Figur – mit anderen Worten: durchaus attraktiv. Dennoch wäre sie ihm nicht aufgefallen, wenn er sie auf der Straße getroffen hätte.
»Tut mir leid, aber von diesen Leuten kenne ich nur ihn.« Sie schob ein Foto zum Kommissar und legte den Rest beiseite. »Das ist Herr Krause, der Nachbar meiner Tante.«
Naumann nickte. Immerhin etwas. »Hat sie sich gut mit ihm verstanden?«, wollte er wissen.
Julia zuckte mit den Schultern. »Sie hatten wenig miteinander zu tun. Herr Krause hat wohl mal in der Villa gewohnt, als meine Familie sie vermietet hatte. Später, als meine Großeltern und meine Tante dort eingezogen sind, musste er mit dem Haus nebenan vorliebnehmen. Ich glaube, das hat ihn immer geärgert und er mochte meine Tante deshalb nicht. Aber von einem offenen Konflikt weiß ich nichts. Sie hat ihn und seine schlechte Laune einfach ignoriert. »
»Hatte sie sonst mit jemandem Streit?«
Die junge Frau lachte bitter. »Mit meinem Vater«, antwortete sie, »aber da er selbst seit einigen Wochen tot ist, hat er wohl nichts mit dem Ableben meiner Tante zu tun.«
»Das tut mir leid«, versicherte der Polizist schnell. Um die entstehende Stille zu überbrücken, legte er drei weitere Fotos auf den Schreibtisch. »Vielleicht können Sie uns noch hiermit helfen.«
Julia betrachtete die Bilder. Sie zeigten den Salon in der Villa ihrer Tante: Den kleinen Tisch, auf dem noch die Tasse und das Milchkännchen standen, die beiden Ledersessel daneben. Weiße Umrisse zeigten, wo die Leiche gelegen hatte. »Wie ist sie gestorben?«, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden.
»Bisher deutet alles darauf hin, dass sie unglücklich gestürzt ist.«
»Ein Unfall, also?«
Statt auf ihre Frage einzugehen, deutete der Kommissar auf die Fotos. »Fällt Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auf?«
Sie schüttelte den Kopf, zögerte dann aber. »Was ist?«, fragte der Polizist etwas zu hastig.
»Ich kann es nicht sagen.« Sie kniff die Augen zusammen und untersuchte erneut die Fotos in ihrer Hand. »Etwas scheint nicht zu passen, aber ich weiß nicht, was es ist.« Als sie aufsah, begegnete sie Naumanns enttäuschtem Blick. »Tut mir leid«, murmelte sie.
»Schon gut«, erwiderte der Kommissar gefasster. »Danke, dass Sie es versucht haben.« Er geleitete sie zur Tür. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich einfach an.«
Sie nickte und verabschiedete sich.
Michael sah ihr eine Weile nach, dann ging er zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Lief nicht so gut?« Sein Kollege schaute zur Tür herein.
Naumann schüttelte den Kopf.
Der andere stellte eine dampfende Tasse auf den Schreibtisch und nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz. »Ach, Mike, was hast du erwartet? Das Mädel hat ihre Tante seit 20 Jahren nicht gesehen.«
»Du hast ja recht«, gab der Kommissar zähneknirschend zu. »Aber sie ist, außer der Nachbarin, die die Leiche gefunden hat, die einzige Zeugin.«
»Zeugin wofür?«, fiel ihm der andere ins Wort. »Es deutet doch alles auf einen Unfall hin.«
Michael stand auf und sah aus dem Fenster. »Wann hast du jemals gehört, dass eine einsame, reiche Dame einfach so durch einen Unfall stirbt? Zumal sich die Nachbarin sicher war, dass Frau von Kühnheim abends nie Kaffee getrunken hat. Außerdem sind da noch die fehlenden Seiten im Tagebuch.«
»In dem Falle hättest du grade die Mörderin laufen lassen. Die Nichte ist die Alleinerbin und profitiert am meisten vom Tod der Tante.«
»Sie ist keine Mörderin.« Darin war sich Naumann sicher.
Sein Kollege pflichtete ihm bei. »Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Deshalb ist der Gedanke an ein Verbrechen ja so absurd.« Er trat zu Michael und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein, Mike. Vielleicht hat sich die Alte einen Kaffee gemacht, um die Wiederholung vom Tatort nicht zu verpassen. Sie hat das Koffein zur ungewohnten Zeit nicht vertragen, ihr wurde schwindelig und sie ist gestürzt. Solche Dinge passieren; auch bei reichen Tanten.«
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte Naumann und nippte nachdenklich an seinem Kaffee.
Julia hatte es kaum erwarten können, nach Hause zu kommen. Wie einen Schatz drückte sie das Päckchen an sich, das ihr Kommissar Naumann überreicht hatte: die Tagebücher ihrer Tante. Da Adam Nachtschicht hatte, beschloss sie, heute früher ins Bett zu gehen und noch ein bisschen darin zu schmökern.
Sie entschied sich für ein Exemplar aus der Zeit ihres letzten Besuchs. Tatsächlich musste sie nicht lange blättern, um folgenden Eintrag zu finden:
›Kleine Prinzessin ist heute angekommen; »klein« trifft es kaum noch; haben auf dem Dachboden nach Schätzen gesucht und uns verkleidet; Großmutters Kleider stehen ihr gut; bezaubernd! Sie wird bald eine Frau.‹
Julia schmunzelte. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie immer so getan hatten, als würden sie auf einen Ball gehen. Dazu hatten sie die alten Kleider angezogen und ihre Tante hatte ihr sogar Schmuck geliehen. Zur Musik der Schallplatten hatte Julia ihre ersten Tanzschritte gelernt. Manchmal hatte Karla dabei die Saphirhalskette getragen. Dann schien das Zimmer in blaues Licht getaucht und Julia bildete sich ein, die tanzenden Schatten wären die Geister ihrer Vorfahren, die ihnen Beifall spendeten.
Als sie die nächste Seite aufschlug, fiel ihr ein Foto entgegen. Es zeigte sie, im Alter von 14 Jahren, und ihre Tante auf dem Dachboden der Villa. Auch dieser Tag war ihr im Gedächtnis geblieben. Karla hatte einen ziemlichen Aufwand betrieben, das Stativ der Kamera mit hinauf geschleppt und zahllose Einstellungen probiert, bis sie sicher sein konnte, ein brauchbares Bild zu bekommen.
Gedankenverloren strich Julia über die Fotografie. Sie hatte fast vergessen, was für eine schöne Frau ihre Tante gewesen war: groß, schlank und mit wallendem braunen Haar. Doch das beeindruckendste an ihr waren ihre eisblauen Augen gewesen, mit denen sie jeden in ihren Bann ziehen konnte. Alle Frauen der Familie hatten solche Augen gehabt, angefangen von ihrer Ur-Ur-Ur-Großmutter. Julia seufzte. Nur sie hatte natürlich die langweilig grünen Augen ihrer Mutter geerbt.
Der nächste Tagebucheintrag datierte ein paar Tage später:
›Mit der kleinen Prinzessin im Heimatverein gewesen; hat gute Vorschläge für das Stadtfest gemacht; Formidabel! Sollte sie im nächsten Jahr im Verein anmelden; wahrscheinlich stellt sich Peter quer; muss es heimlich geschehen; alter Holzkopf! Lässt sich von der Lethargie seiner Proletenfrau anstecken.‹
»Sie konnte Mama wirklich nicht ausstehen«, dachte Julia und war verblüfft, wie klar ihre Erinnerungen diesbezüglich waren. Ihre Mutter und ihre Tante waren sich immer aus dem Weg gegangen. Ihr Vater hatte sie jedes Jahr zu Beginn der Ferien zu Karla gefahren und am Ende wieder abgeholt. Gemeinsame Familienfeiern hatte es nie gegeben, bestenfalls hatten sich Vater und Tante zu Geburtstagen angerufen.
»Etwas, das ich nie verstehen werde«, stellte Julia fest, die die Aufenthalte bei ihrer Tante immer sehr genossen hatte. Mit zitternden Fingern blätterte sie ein paar Seiten weiter. Bald fand sie den Eintrag, den sie suchte:
›Wie kann er es wagen? Wie kann er Ansprüche stellen? Er, der alles, was den von Kühnheims etwas bedeutet, stets verleugnet hat. Ich werde nicht zulassen, dass er sie bekommt. Ich werde nicht zulassen, dass SIE sie bekommt. Der Gedanke macht mich krank, dass die Saphire von Beatrix von Kühnheim den Hals dieser Unwürdigen schmücken könnten. Sie gehören mir, mir allein – und der kleinen Prinzessin.‹
Nach einer Nacht voller unruhiger Träume über ihre Tante, Saphire und Ur-Ur-Ur-Großmutter Beatrix schleppte sich Julia ins Büro. Doch es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.
Sobald der Anstand es zuließ, verabschiedete sie sich ins Wochenende und holte ihren Freund ab, um gemeinsam zu der alten Villa zu fahren. Stärker noch als bei den Malen zuvor, hatte sie das Gefühl nach Hause zu kommen. Am liebsten wäre sie wie damals als Kind den Weg mit dem schönen Pflastersteinmuster hinauf gehüpft. Gerade als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, erklang eine krächzende Stimme hinter ihr. »Tun Sie das nicht, Fräulein Kühnheim!«
Julia wandte sich um und schaute in das Gesicht des Nachbarn. Unwillkürlich reckte sie ihr Kinn nach oben. »Es heißt ›von Kühnheim‹.«
Das Gesicht des Alten verfinsterte sich. »Ich wollte Sie nur warnen. Dieses Haus ist verflucht! Sie sollten es so schnell wie möglich loswerden.«
»An Sie vielleicht?«, fragte Julia spitz.
Herr Krause schnaubte verächtlich. »Ich bin viel zu alt, um noch einmal umzuziehen. Aber Sie sollten mir glauben. Es gehen seltsame Dinge vor da drinnen.«
»Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen«, erwiderte die junge Frau und öffnete die Tür.
»Das hat Ihre Tante auch gesagt«, rief ihr der Nachbar hinterher, »Sie sehen ja, was es ihr gebracht hat.«
Julia fuhr herum. Sie schritt die Treppe hinunter, bis sie nur noch eine Stufe über dem alten Mann stand. Ihr Gesicht war ganz nah an seinem, als sie zischte: »Was wissen Sie über den Tod meiner Tante?«
»Nur, dass sie sich mit Mächten eingelassen hat, die sie offensichtlich nicht kontrollieren konnte«, raunte er, bevor er sich umdrehte und zu seinem Grundstück humpelte. »Seien Sie gewarnt, Fräulein von Kühnheim! Seien Sie gewarnt!«
»Von Kühnheim?«, fragte Adam lächelnd, der gerade mit Kisten auf dem Arm zu Julia aufschloss. »Ich dachte, du kannst mit diesem blasierten Gehabe nichts anfangen?«
»Kann ich auch nicht«, erwiderte sie, »aber diesem Holzkopf gehören ein paar Manieren beigebracht.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ein bisschen verquer war der Alte schon immer und das scheint sich mit den Jahren nicht unbedingt verbessert zu haben.« Nachdenklich sah sie zum anderen Grundstück. »Was, wenn er Tante bedroht hat?«
Adam trat durch die offene Tür ins Haus und stellte die Kisten ab. »Glaubst du, er hat etwas mit ihrem Tod zu tun?«
Julia zuckte mit den Schultern. »Schwer vorstellbar«, gab sie zu, »aber der Wahnsinn verleiht manchmal ungeahnte Kräfte.«
Für den Nachmittag hatte sich Julia vorgenommen, die Kleiderschränke ihrer Tante zu entrümpeln – zumindest den, der sich im Schlafzimmer befand. Die schiere Menge der Sachen ließ sie jedoch an ihrem Tagesziel zweifeln. Adam hatte sich dafür ausgesprochen, den gesamten Inhalt einfach in die Kleidersammlung zu geben, doch Julia hatte darauf bestanden, auszusortieren – und sie hatte sich durchgesetzt.
Gerade hatte sie ein blaues Kostüm mit dem dazu passenden Hut gefunden. Wahrscheinlich waren die Schuhe, die zum Ensemble gehörten, nicht weit. Lächelnd platzierte die junge Frau die Sachen auf dem Stapel für die Kleiderspende. Es würde da draußen sicher jemanden geben, der so viel Modebewusstsein zu schätzen wusste. Ihr war eine bequeme Jeans jedoch tausend mal lieber.
Sie wollte gerade nach dem nächsten Rock greifen, als ihr das Bettlaken auf dem Boden des Schranks auffiel. Das schien gar nicht zu ihrer Tante zu passen, bei der sonst alles seinen genau definierten Platz hatte. Vorsichtig hob sie das Tuch an. Darunter kam Karlas Gesicht zum Vorschein, dann ihre nackten Schultern und schließlich mehr. Verblüfft ließ Julia den Stoff fallen. Sie holte das Bild aus dem Schrank, stellte es aufs Bett und betrachtete es aus einiger Entfernung. Es war gar nicht schlecht. In einem Museum hätte Julia keinen Moment daran gezweifelt, dass es ein Künstler erschaffen haben musste. Aber ihre Tante als Muse?
Die junge Frau trat einen Schritt näher und inspizierte die Signatur. »A.K. ´71«, entzifferte sie. Immerhin eine Jahreszahl. Mit Sicherheit stand dazu etwas in den Tagebüchern ihrer Tante. Aufgeregt lief sie in die Bibliothek und war zum ersten Mal froh darüber, dass Adam die Bücher in die alte Villa verbannt hatte.
Mit zitternden Fingern fuhr sie über die Buchrücken auf der Suche nach dem richtigen Jahrgang. Endlich entdeckte sie ihn und bald darauf den dazugehörigen Eintrag.
›Albert war heute wieder da. Traumhafter Tag. Könnte ihm stundenlang zusehen, wie er malt. Zum Abschied hat er mir das Bild geschenkt. Werde es auf dem Dachboden vor Manfred verstecken.
Wann sehe ich Albert wieder? Fährt morgen nach Peru. Soll ich mit?‹
Julia musste die Worte zweimal lesen, um sie zu begreifen. So ein Liebesabenteuer hätte sie ihrer Tante nicht zugetraut, die das Leben zwar immer in vollen Zügen genossen, doch stets auf ihr Ansehen in der Gesellschaft geachtet hatte. Aber wer war dieser Albert? Die Antwort fand sie am Anfang des Buches.
›Kann es kaum glauben. Albert stand heute im Garten. Zum Glück ist Manfred mal wieder auf Geschäftsreise. Haben geplaudert, uns an alte Zeiten erinnert. Er ist charmant wie eh und je und als Maler erfolgreich. Wenn ich das nur Vater noch auf die Nase binden könnte.‹
Und ein paar Seiten weiter:
›Albert besucht mich jetzt fast jeden Tag. Hatte ganz vergessen, wie es ist, von jemanden begehrt zu werden. Warum war ich damals so mutlos? Hätte mich genauso stur stellen können wie Peter. Aber beide Kinder in die bürgerliche Welt verloren – wäre der Sargnagel für die Eltern gewesen.‹
»Was machst du denn hier?« Adams Stimme riss sie aus dem Leben ihrer Tante. »Wolltest du nicht das Schlafzimmer entrümpeln? Wie sollen wir jemals fertig werden, wenn du nur in diesen blöden Büchern schmökerst.« Er riss ihr den Band aus der Hand und schleuderte ihn quer durch die Bibliothek. Das Geräusch des Leders, das über den Boden rutschte, vermischte sich mit einem bedrohlichen Zischen, das Adam Schauer über den Rücken jagte. Wo kam das her?
Julia, die sich beeilte, das Tagebuch aufzuheben, schien es nicht zu bemerken. »Was soll das?«, fauchte sie und stellte es zurück ins Regal.
»Das sollte ich eher dich fragen«, entgegnete Adam und versuchte, seinen Schreck zu verbergen. »Seit du dieses Haus betreten hast, dreht sich alles nur um dich und deine Tante. Du bist richtig besessen von ihr.«
Julia verließ kopfschüttelnd das Zimmer und würdigte ihn keiner Antwort. »Was willst du überhaupt hier oben? Wolltest du dir nicht das Wohnzimmer vornehmen?«
»Ich suche das Klebeband«, erklärte er. »Hast du es?«
»Ich habe es auf die Anrichte gelegt«, entgegnete sie knapp, als sie den Flur entlang liefen.
»Da ist es nicht«, widersprach Adam.
Sie kniff die Augen zusammen. »Wollen wir wetten?«
»Bitte«, erwiderte er und folgte ihr die Treppe hinunter.
Kaum im Salon angekommen, ging seine Freundin zielstrebig auf die Anrichte zu, nahm das Klebeband und drückte es ihm in die Hand. »Männer!«, bemerkte sie augenrollend, als sie sich wieder auf den Weg nach oben machte.
Adam betrachtete die Rolle in seiner Hand. Unter den argwöhnischen Blicken von Beatrix von Kühnheim humpelte er zur Anrichte. Er hätte schwören können, dass es dort vor ein paar Minuten kein Klebeband gegeben hatte.
Am Abend saßen die beiden auf der Couch im Wohnzimmer und betrachteten das Ergebnis des Nachmittags. Im Keller hatte Julia Karlas Weinvorräte entdeckt, wovon sie sich nun ein Gläschen genehmigte. Adam, der darauf bestanden hatte, dass sie heute Abend noch zurück in die Wohnung fuhren, sah ihr ungeduldig dabei zu.
»Wir sollten langsam los«, bemerkte er mit einem sorgenvollen Blick zum Gemälde über dem Kamin. Die Dame darauf wurde ihm immer unheimlicher.
»Entspann dich doch ein bisschen«, entgegnete seine Freundin und trank einen Schluck Wein. »Immerhin haben wir heute viel geschafft.«
Adam nickte. »Das stimmt, aber leider ist das nur die Spitze des Eisbergs. Unglaublich, wie viele Dinge deine Tante angehäuft hat. Wir werden es kaum schaffen, bis zum Maklertermin alles durchzusehen. Schon gar nicht, wenn du dich mehr mit ihren Tagebüchern, als mit ihrem Haushalt beschäftigst«, fügte er mürrisch hinzu. »Willst du nicht lieber eine Firma mit der Haushaltsauflösung beauftragen?«
Julia schüttelte vehement den Kopf. »Ich sortiere die Sachen gerne aus. Mit vielen von Ihnen verbindet mich eine Geschichte.« Sie nahm einen weiteren Schluck Wein. »Können wir den Verkauf des Hauses nicht verschieben? Ich habe dieses Stück Kindheit gerade erst wiedergefunden. Ich will es nicht so schnell wieder aufgeben müssen.«
»Es wäre gut, wenn wir wenigstens einen Teil des Hausrats bald verkaufen könnten«, erwiderte Adam. »Wir sollten uns nicht mit so viel altem Zeug belasten.« Als er jedoch ihren Blick bemerkte, legte er seinen Arm um sie. »Na schön, wir können den Verkauf noch etwas schieben.« Mit einem Grinsen fügte er hinzu: »Zumindest bis wir alle wertvollen Erbstücke gefunden haben.«
»Du meinst die Saphirhalskette?« Sie seufzte. »Tante hat mir leider nie verraten, wo sie sie aufbewahrt. Wahrscheinlich in einem Bankschließfach oder so.« Sie nippte an ihrem Glas. »Aber vielleicht behalten wir ein paar von den anderen Dingen.«
Er zögerte kurz. »Was schwebt dir vor?«
»Ein paar Tassen, zum Beispiel.« Auf den verwunderten Blick ihres Freundes hin erklärte sie: »Du hast selbst gesagt, dass sie wertvoll sind. Warum sollten wir sie dann weggeben?«
»Sie gefallen dir doch nicht einmal«, warf Adam ein. »Ich habe dich mehrfach fluchen hören, das sei nur teurer Plunder.«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Die meisten schon. Aber einige sind wirklich bezaubernd.«
»Bezaubernd?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Na schön, wenn du unbedingt willst, können wir ein paar dieser Staubfänger mitnehmen.«
»Du bist der Beste!« Sie küsste ihn und kuschelte sich an seine Schulter. Gedankenversunken betrachtete sie den Raum. »Hier haben Tante und ich häufig den Abend verbracht«, erinnerte sich Julia. »Wir haben Rommé gespielt oder gemeinsam gelesen.«
»Ich wette, du hast dir den gemütlichen Sessel gesichert«, witzelte Adam und deutet auf das große Möbelstück gegenüber der Tür.
»Nein, das war Tante Karlas Platz«, lachte seine Freundin, »Da gab es gar keine Diskussion. Sie wollte nämlich immer …« Plötzlich richtete sie sich auf.
»Was hast du?«
Statt einer Antwort stellte Julia ihr Weinglas ab und ging in den Salon. Ihr Freund folgte ihr verwundert. »Was ist denn auf einmal los?«
Als sie sich zu ihm umdrehte, lag ein grimmiges Lächeln auf ihrem Gesicht. »Ich muss unbedingt Kommissar Naumann anrufen!«
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?« Adam lief unruhig im Flur auf und ab.
»Was haben wir denn zu verlieren?«, rief Julia aus der oberen Etage herunter. »Vielleicht bringt es uns einen Schritt weiter.«
Das Klingeln an der Hautür hielt Adam von einer Antwort ab. Er öffnete sie und begrüßte den Kommissar. »Danke, dass Sie es einrichten konnten.« Er nahm dem Polizisten die Jacke ab. »Julia kommt gleich. Sie sucht noch das passende Outfit für ihre Rolle.«
In diesem Moment erschien die junge Frau am oberen Absatz der Treppe. Den beiden Männern verschlug es die Sprache. Nichts erinnerte mehr an das unscheinbare Wesen, das Naumann vor ein paar Tagen getroffen hatte. Sie trug ein modisches Kostüm mit dazu passenden Schuhen und Hut. Ihre Haare hatte sie darunter geschickt hochgesteckt. Elegant schritt sie die Treppe hinunter und reichte dem Kommissar die Hand. »Gestatten? Karla Agathe von Kühnheim« Sie deutete einen Knicks an und zwinkerte den beiden zu. »Dann fangen wir gleich an, oder?«
Die junge Frau ging in den Salon und die beiden Männer folgten ihr. »Ich habe mir ein paar Gedanken zum Tod meiner Tante gemacht«, begann sie, »und ich bin überzeugt, dass sie an dem Abend nicht allein gewesen ist: Erstens hätte sich meine Tante zum Kaffee trinken nicht in den Salon gesetzt. Das tat sie stets im Wohnzimmer. Die einzige Ausnahme war, wenn sie Gäste empfing.«
Julia deutete auf den kleinen Tisch, auf dem sie das Geschirr wie auf den Polizeifotos drapiert hatte. »Zweitens«, fuhr sie fort, »stand die Tasse hier. Das bedeutet, dass derjenige, der daraus getrunken hat, mit dem Rücken zur Tür saß.« Sie ging herum und stellte sich hinter den anderen Sessel. »Das wäre meiner Tante nie in den Sinn gekommen. Sie wollte immer sehen, wer den Raum betritt.«
»Gut«, unterbrach sie der Kommissar. »Nehmen wir mal für einen Augenblick an, es gibt diesen Gast. An wen haben Sie gedacht?«
»Es muss jemand gewesen sein, den sie kannte oder den sie zumindest erwartete. Meine Tante hätte sonst nie die Tür geöffnet – schon gar nicht abends.« Wieder deutete sie auf den Tisch. »Außerdem war die Person Nichtraucher.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Adam verblüfft.
»Tante hat früher schon geraucht und dem Geruch ihrer Kleider nach zu urteilen, hat sie dieses Laster nicht aufgegeben. Sie hat dem Unbekannten mit Sicherheit Zigaretten angeboten und hätte auch selbst zugegriffen.«
Naumann begriff, worauf sie hinaus wollte. »Es steht kein Aschenbecher auf dem Tisch.«
»Genau. Wahrscheinlich hat sie ihn zurück in die Küche geräumt, als ihr Gast abgelehnt hat.« Julia ging aus dem Raum.
Der Kommissar schloss sich ihrer Überlegung an. »In dem Fall hätte der Unbekannte Zeit gehabt, sich umzusehen.« Er schlenderte durch den Raum, vorbei an einer Vitrine, bis zum Sekretär an der Wand gegenüber. Die junge Frau tauchte wieder auf. »Mehr Zeit hätte er nicht gehabt.«
Naumann drehte sich zu ihr um und sein Ärmel verfing sich an einem der Schlüssel des Sekretärs. Er machte sich los, stutzte und ging dann in die Hocke. Als er sich aufrichtete, hatte er ein Taschentuch in der Hand. »A.K.«, las er die Initialen, »Achim Krause.«
Julia sah ihn mit offenem Mund an. »Oder Albert, der verschmähte Liebhaber.«
Als Julia am darauffolgenden Nachmittag ihre Wohnung betrat, wurde sie bereits erwartet. »Mama, was für eine Überraschung!«, begrüßte sie sie. »Weihnachten ist doch erst in einem halben Jahr.«
Ihre Mutter überhörte den Vorwurf. »Detlev ist gerade auf Montage in der Gegend, also dachte ich, ich schaue mal bei meiner Tochter vorbei. Adam hat mich rein gelassen. Er musste allerdings gleich auf Spätschicht.« Sie setzte dem skeptischen Blick ihrer Tochter eine extra Potion gute Laune entgegen. »Wir könnten doch einen Mädelsabend machen: Etwas trinken gehen und mal wieder so richtig quatschen.«
Obwohl sich Julia nicht sicher war, ob sie genug Themen für einen ganzen Abend hatten, stimmte sie zu. »Klar, wieso nicht.« Sie hängte ihre Jacke auf und kam ins Wohnzimmer.
»Du siehst aber schick aus.« Aus der Stimme ihrer Mutter klangen Bewunderung und Unverständnis. »Willst du noch zu einer Feier?«
Die Tochter drehte sich vor ihr. »Nein, ich hatte heute einfach keine Lust auf Jeans und T-Shirt. Die Sachen habe ich in Tante Karlas Kleiderschrank gefunden und sie passen mir wie angegossen.«
»Du bist in letzter Zeit ziemlich oft in dem alten Haus, oder?« Ihre Mutter versuchte, beiläufig zu klingen.
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Es gibt eben viel zu tun.«