El Gustario de Mallorca und der tödliche Schatten - Brigitte Lamberts - E-Book
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Brigitte Lamberts

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Beschreibung

„Das war es!“, sagt Sven, als die doppelläufige Pistole auf ihn gerichtet ist. Wieder einmal musste er seine Nase in Sachen stecken, die ihn nichts angehen. Er wollte nur einem guten Freund helfen. Wer konnte denn ahnen, in das dunkelste Kapitel der jüngsten mallorquinischen Geschichte hinein zu geraten, in eine Familienfehde um Ansehen, Geld und Macht, die ihre Wurzeln im spanischen Bürgerkrieg hatte? Für Mallorca-Liebhaber ein Krimi mit historischer Dimension. Lesen Sie den Kriminalroman als Reiseführer mit Gastrotipps oder als packende Urlaubslektüre.

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Ähnliche


El Gustario de Mallorca

und der tödliche Schatten

Brigitte Lamberts

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Nachbemerkung

Akteure des Krimis

Stammbaum Esteban Muñoz

Stammbaum Álvaro Muñoz

Quellen zum historischen Hintergrund

Karte mit den Handlungsorten

Danksagung

Menü-Vorschläge

Dank an die LeserInnen

Brigitte Lamberts & Co.

Impressum

Für die Menschen, die mir wichtig sind und denen ich nicht genug danken kann für ihre Zuneigung und Unterstützung. Und für meinen Freund René, der mir zeigt, wie wertvoll und schön das Leben ist.

Prolog

Porreres. Friedhof. 1936. Die Abenddämmerung zog auf und legte sich über die gespenstische Stille. Das Flehen um Erbarmen, die Angstschreie und die Gebete der Verzweifelten waren längst verhallt. Die Erde zwischen den Gräbern war mit Toten übersät – Kommunisten, Sozialisten und weitere Franco-Gegner, aus den mallorquinischen Gefängnissen geholt, um sie hier zu erschießen.

Italienische Milizionäre in Kampfhosen und schwarzen Oberhemden hatten ein riesiges Loch mitten auf dem Gottesacker gegraben. Nun schoben sie mit Schaufeln die Toten hinein, geschundene Körper in groben Wollhosen und grauen Unterhemden. Keine Regung zeigte sich auf den Gesichtern der Schwarzhemden. Gegen den bestialischen Gestank, ein Gemisch aus Fäkalien, geronnenem Blut und Schweiß, hatten die meisten ein Baumwolltuch über Mund und Nase geschlungen. An ihrer Seite standen junge Mallorquiner der faschistischen Bewegung ‚Falange‘, denen Erschöpfung und Abscheu anzusehen waren. Aber auch Fanatismus sprach aus ihren Augen. Die Gefangenen waren Verräter, sie hatten sich gegen Franco gestellt. Sie hatten es nicht verdient zu leben, so die klaren Worte ihres Kommandeurs Conde Rossi. Die jungen Männer kannten viele von den Ermordeten, sie waren alle zusammen aufgewachsen, waren Verwandte, Schulkameraden, Nachbarn oder Lehrer. Mit ihnen hatten sie die Prozessionen zu ‚Semana Santa‘, der Karwoche, begangen oder Christi Geburt gefeiert.

Das war jetzt alles nichts mehr wert. Es ging um ein höheres Ziel, um Franco, den Heilsbringer. Nicht nur für Mallorca, sondern für ganz Spanien. Und Rossi hatte den mallorquinischen Helfern versprochen, auf der Insel aufzuräumen. Viel hatte er schon erreicht: Das Militär der zweiten Spanischen Republik war nach wenigen Wochen auf dem Rückzug. Die freiwilligen Kämpfer Mussolinis, dessen Vertrauter Rossi war, und die italienischen Kampfflugzeuge würden es zusammen mit den nationalistischen Anhängern schaffen, Mallorca unter Francos Herrschaft zu zwingen. Es müsse nur noch die Laus im Pelz beseitigt werden, so die Worte des selbst ernannten Grafen, des Faschisten Rossi, der mit seinen Anhängern, den ‚Dragones de la Muerte‘, den Todesdrachen, äußerst brutal vorging.

Mateo Muñoz zählte die Toten nicht, die er in das Massengrab schob. Seine Landsleute lagen mit verrenkten Gliedmaßen kreuz und quer in der Grube übereinander. Einige stierten ihn mit weit aufgerissenen, toten Augen an. Mateo wandte seinen Blick ab und schaute zur Friedhofskapelle hinüber, die als dunkles Gemäuer zu sehen war. Er streckte sich und fasste sich mit den Händen an den schmerzenden Rücken. Dann nahm er erneut die Schaufel zur Hand. Sie stieß an einen weiteren Körper. Er drehte den Leichnam um und sah in das Gesicht seines Cousins Adrián. Mateo würgte. »Du Idiot.« Er blickte sich um, ob ihn jemand gehört hatte. Sein Bruder Raúl stand nur wenige Meter hinter ihm und schob eine nächste Leiche in die Grube. Mateo zischte zu ihm hinüber. Raúl schaute auf und ging zu ihm.

»Was ist?« Mateo zeigte auf den Toten zu seinen Füßen.

»Das ist Adrián«, flüsterte er.

Raúl zuckte nur mit den Schultern.

»Das ist unser Cousin Adrián!«, wiederholte Mateo, darauf bedacht, dass niemand ihr Gespräch hörte.

»Na und?«

Mateo stieß Raúl mit beiden Händen vor die Brust.

»Was hat er hier gemacht?«, fuhr Mateo ihn an.

»Da waren noch andere.«

»Was für andere?«

»Die wollten die Erschießung der Gefangenen verhindern.«

Mateo schluckte. »Warst du dabei?«

Sein Bruder wandte sich wortlos um und ging auf eine weitere Leiche zu. Mateo sah ihm nach. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines Unterhemdes über das Gesicht und nahm die Schaufel. Als Adriáns Leiche in das Erdloch fiel, ballte Mateo die Hand zur Faust.

Kapitel 1

Cas Català. Gemeinde Calvià. Die Sonne hat sich bereits verabschiedet, die Carretera Andratx ist in sanftes Licht getaucht. Sven Ruge gleitet in den tiefen Schalensitz seines alten Porsches, startet den Motor und fährt los, Richtung Peguera. Sein Ziel ist das kleine, aber exklusive Strandrestaurant seines Freundes Manuel Muñoz in der Cala Illetes im Südwesten der Insel. Die überschaubare, halbrunde Bucht zählt zu einer der schönsten Mallorcas: klares türkises Wasser und ein wunderschöner weißer Sandstrand. Er ist neugierig, was sich Manuel für den heutigen Abend ausgedacht hat. Seine Speisekarte ist zwar übersichtlich, aber abwechslungsreich. Morgens kauft Manuel auf dem Markt in Santa Catalina frische Zutaten ein und lässt sich davon inspirieren. Man weiß also nie, was er mittags und abends seinen Gästen anbietet.

Für Sven waren die letzten Wochen ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Immer wieder hatte er sich gefragt, ob er es wirklich riskieren sollte, sein bisheriges Leben aufzugeben und auf Mallorca einen Neuanfang zu wagen. Er hat Freunde gefunden, auf die er sich verlassen kann. Das hat ihm die Suche nach einem alten Fläschchen Patxaran gezeigt. Es hatte sich einst im Besitz von Blanka von Navarra befunden und dem Inhalt wurde eine heilsame Wirkung nachgesagt. Das Auffinden des Fläschchens vor seinen Kontrahenten hatte er fast mit dem Leben bezahlt. Lange wusste er nicht, dass ein steinreicher Oligarch und ein vermögender Schweizer Sammler ihre Leute auf den alten Likör angesetzt hatten. Doch er hatte Glück und kam mit einer Schussverletzung am Bein davon.

Der heutige Tag hat seinen Entschluss, auf Mallorca zu bleiben, gefestigt. Denn Sven hat mit seinen Vermietern, dem alten Ehepaar Sergio und Consuelo Sánchez, gesprochen. Sie sind sich einig geworden: Sie kommen ihm für die kleine Wohnung mit dem Blick auf die Bucht von Palma und den Marivent-Palast im Preis entgegen. Die beiden liebenswürdigen Senioren haben einen langfristigen Mieter und Sven spart ein paar Euro. Das ist wichtig für ihn, denn die Entscheidung, sich auf Mallorca niederzulassen, ist nicht einfach. Als Journalist und Gastrokritiker war er in Düsseldorf gut etabliert, aber hier auf Mallorca ist er noch ein unbeschriebenes Blatt, auch wenn er einen kulinarischen Reiseführer über die Insel geschrieben hat, der sich in Deutschland gut verkauft. Jetzt muss er sich auf Mallorca einen Namen machen. Und vor allem muss er Aufträge akquirieren. Sein Erspartes reicht für drei Monate, wenn er gut haushaltet, das wäre dann Dezember. Bis dahin muss er es geschafft haben. Eine Möglichkeit wäre eine freie Mitarbeit bei der Mallorca-Zeitung und beim Mallorca-Magazin. Auch die spanischen Medien könnte er bedienen, da sein Spanisch ganz passabel ist. Immerhin hat er schon einige vielversprechende Telefonate geführt. Das wird schon, denkt er, ich brauche nur etwas Geduld. Doch Geduld ist nicht gerade seine Stärke. Das Angebot, in der Villa von Alejandro de Calderón zu wohnen, hat er abgelehnt. Das hätte die Freundschaft zum Marquis wahrscheinlich verändert, denn das Gefühl, abhängig zu sein, ist für Sven unerträglich. Schon als Schüler und später als Student hat er sich immer etwas dazuverdient, um seine Eltern nicht mehr als unbedingt nötig finanziell zu belasten. Nun ist er glücklich, weil er die Entscheidung endgültig getroffen hat. Es war immer schon sein Traum, auf Mallorca zu leben.

Am Kreisverkehr biegt Sven Richtung ses Illetes ab. Die Laternen werfen spärliche Lichtpunkte auf die Straße. Die Umgebung versinkt in Dunkelheit, ab und an sieht er auf den Felsen eine erleuchtete Villa. Zwischen den Häusern am Straßenrand kann er das Meer nur erahnen. Es ist fast schwarz. Lediglich der Mond entlockt ihm an manchen Stellen einen silbernen Glanz. Sven kurbelt das Seitenfenster herunter und lehnt sich etwas hinaus. Die warme Nachtluft umspielt sein Gesicht. Unter den intensiven, harzigen Duft der Pinien mischt sich das süßliche Aroma der hohen Oleandersträucher, die hier überall wachsen.

Die Straße führt steil nach unten, erste mehrgeschossige Wohnhäuser und Hotels tauchen auf. Sven muss sich konzentrieren, um bei der schummrigen Beleuchtung die Abzweigung auf den kleinen Parkplatz nicht zu verpassen. Dieser ist voll besetzt, doch Sven weiß: Zwischen der kleinen Mauer und den Mülltonnen ist für seinen Porsche Platz. Er steigt aus und geht die schmale Steintreppe hinab. Über die auf den Sand gelegten Holzbohlen erreicht er sein Ziel. Auf einem großen Schild steht in roten Lettern: Manuel’s. Restaurant und Strandbar.

Von der Terrasse aus blickt er ins Innere. Wie jeden Abend ist das Restaurant gut besucht. Es ist nach 22 Uhr, Zeit für die Mallorquiner, ihr Nachtessen einzunehmen. Das Ambiente ist stilvoll, ein interessanter Mix aus alten mallorquinischen Möbeln und modernen, abstrakten Bildern an den Wänden, auf jedem Tisch stehen brennende Kerzen und tauchen den Raum in ein gemütliches Licht. Weiße Tischdecken unterstreichen die gediegene Atmosphäre. Noch bevor er die Tür aufzieht, umfängt ihn der Duft von Knoblauch, Rosmarin, Thymian und Oregano. Ein Hauch von Grillaroma liegt in der Luft. Manuel schaut gerade aus der Küche und winkt ihm zu. Der Mallorquiner verkörpert genau das, was sich Sven von einem guten Gastronomen wünscht. Er ist mit Herzblut dabei und ein exzellenter Koch. Aber er ist auch ein Mensch, der seinen Gästen das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein, der Freundlichkeit und Begeisterung ausstrahlt. Und er behandelt seine wenigen Angestellten wie Familienmitglieder.

»Ich komme gleich«, ruft Manuel und ist schon wieder in der Küche verschwunden. Sven schaut sich um. Sein Blick fällt auf eine alte Dame, die in letzter Zeit häufiger bei Manuel zu Gast ist. Meist kommt sie allein, doch gelingt es ihr immer, schnell Anschluss zu finden. Auch Sven hat sich schon mit ihr unterhalten und erfahren, dass sie erst seit einigen Monaten auf Mallorca lebt, in einer Seniorenresidenz in der Nähe von Santanyí. Er nickt ihr zu und setzt sich dann an den letzten freien Tisch am geöffneten Fenster. Das Einzige, was er in der Dunkelheit auf dem Meer erkennen kann, ist ein hell erleuchteter, mehrstöckiger Luxusliner, der langsam Richtung Hafen fährt.

»Morgen werden wieder tausende Touristen von den Kreuzfahrtschiffen ausgespuckt und spazieren dann durch Palma«, seufzt er.

»Was murmelst du da?«, will Manuel wissen und reicht seinem Freund die Hand.

»Ach, nichts Besonderes«, erwidert Sven und schaut in dessen dunkle, fröhlich strahlende Augen.

»Puh, ist das warm in der Küche.« Manuel wischt mit einem Geschirrtuch über sein Gesicht, dann nimmt der kräftige Mann Sven gegenüber Platz.

»Hast du Zeit?«, fragt Sven.

»Natürlich, für dich immer.«

»Und, was hast du heute Leckeres für mich?«

»Meinst du den Nachtisch oder die Abendkarte?«

»Beides.«

Manuel lacht. »Als Nachtisch gibt es heute ganz klassisch Fresas con chocolate blanco, das ist erfrischend und wird immer gerne genommen.«

»Darauf hätte ich auch Lust, Erdbeeren mit weißer Schokolade … Und was hast du dir als Hauptgericht ausgedacht?«

»Das wird dich freuen: rote Gambas.«

»Manuel, beim besten Willen, die kann ich mir nicht leisten«, stöhnt Sven.

»Nimm halt eine kleine Portion, ich mache dir auch einen Sonderpreis. Die sind wirklich gut! Nur mit ein wenig Knoblauch und Zitrone angemacht, sodass sie viel Eigengeschmack entwickeln können.«

»Sind die nicht eigentlich auf Tauchstation gegangen?«

»Ja, in den Fanggründen zwischen Sóller und Port d’Andratx, aber im Raum Cala Rajada und vor Menorca gibt es noch genügend.«

»Das würde mich schon reizen«, Sven legt den Kopf leicht schräg, »aber was hast du noch zu bieten?«

»Caldereta, meinen Langusteneintopf mit Tomaten und Zwiebeln, eine mallorquinische Fischsuppenspezialität, wie du sicherlich weißt.«

»Du bist heute aber sehr auf Meeresfrüchte aus.« Sven grinst seinen Freund an.

»Und du bist ein Fischgourmet, das passt doch prima. Außerdem hat es sich so ergeben. An den Fischständen auf dem Markt musste ich einfach zugreifen. Die Qualität ist hervorragend.«

»Das kann ich verstehen.«

»Ich habe aber auch ganz klassisch Frito mallorquín und eine Käseplatte, du kannst wählen zwischen mantecoso, semicurado oder curado.« Manuel schaut ihn erwartungsvoll an.

»Okay, zuerst nehme ich deine roten Gambas, dann die Innereien, aber bitte beides nur als kleine Portion.« Sven schmunzelt, denn viele seiner Landsleute würden das zweite Gericht garantiert nicht bestellen. Aber Frito mallorquín ist ausgesprochen schmackhaft, wenn es gut zubereitet ist, und da hat er bei Manuel keine Bedenken. »Und bitte den semicurado, den halbreifen Käse, und dazu ein Glas trockenen mallorquinischen Weißwein.«

»Kommt sofort.« Schon eilt Manuel wieder zurück in die Küche.

Sven lehnt sich entspannt zurück. Er schaut erneut auf das Meer und betrachtet die Lichter auf der gegenüberliegenden Seite der großen Bucht, der Cala Blava. Er spürt eine große Zufriedenheit. Dass es einer seiner letzten sorgenfreien Abende bei Manuel sein wird, ahnt er nicht.

Kapitel 2

Cala Illetes. Gemeinde Calvià. Manuel öffnet nacheinander die drei großen Kühlschränke in der Abstellkammer neben der Küche. Konzentriert geht er die Fächer durch: Gemüse, Fleisch, Obst, Fisch und Käse. Er greift nach dem Bleistift hinter seinem Ohr und notiert auf einem Zettel, was er dringend an Grundzutaten auffüllen muss. Dann wendet er sich einem tiefen Regal zu, in dem Körbe und Tontöpfe stehen, und inspiziert auch dort seine Vorräte. Frische Kräuter, notiert er, Eier, Nudeln, Kartoffeln und Knoblauch. Er steckt den Zettel in die Brusttasche seines Hemdes, hängt seine Tasche um, nimmt die Autoschlüssel von der Anrichte im Eingangsbereich und schließt die Tür des Restaurants hinter sich zu. Die Temperaturen sind angenehm, doch spätestens, wenn der morgendliche Dunst sich verzogen hat, wird die Sonne mit voller Kraft brennen. Die Luft jetzt im September ist frisch und riecht nach Meer und Pinien. So intensiv duftet es nur in den Morgenstunden und manchmal spätabends.

Er wendet sich um und steuert auf seinen alten Kastenwagen zu, der auf dem kleinen Parkplatz oberhalb des Restaurants steht. Sein Ziel sind die Markthallen in Santa Catalina, dem ehemaligen Fischmarkt von Palma. Immer wieder reibt er seine müden Augen. Gestern ist es wieder spät geworden. Gut, dass er nicht zur Fischbörse Lonja oder zum Großmarkt Mercapalma muss, dann würde der Wecker noch früher klingeln. In den Markthallen von Santa Catalina, der kleinen Schwester des Mercat de lʼOlivar, bekommt er alles, was sein Herz begehrt: fangfrischen Fisch, ausgezeichnetes Fleisch und Gemüse. Diesen Markt haben die Touristen noch nicht entdeckt. Hauptsächlich Einheimische aus dem Viertel tummeln sich dort, und natürlich die Smutje der größeren Segeljachten und Motorboote, die für die Passagiere an Bord und die Crew einkaufen. Noch hat er keinen Schimmer, was er seinen Gästen heute auftischen wird, aber er will sich wie immer von dem reichhaltigen Angebot anregen lassen. Muränen kommen ihm in den Sinn, die sind köstlich und schnell zubereitet. Vielleicht als Suppe zum Entrée oder in kleinen Stücken in der Pfanne goldbraun gebraten.

Nach knapp zwanzig Minuten erreicht Manuel den Markt und ergattert einen Parkplatz in den engen Straßen des Szeneviertels. Noch vor rund zehn Jahren war das ehemalige Fischerdorf ziemlich heruntergekommen. Hier sollen sogar Banden ihr Unwesen getrieben haben, die sich in den unterirdischen Tunneln des Viertels verschanzt hatten. Heute erstrahlt Santa Catalina in neuem Glanz und hat sich doch den dörflichen und etwas morbiden Charme erhalten. Neben drei- bis vierstöckigen Mehrfamilienhäusern gibt es Straßenzüge mit ehemaligen, kleineren Fischerhäusern, deren Fassaden in bunten Farben gehalten sind.

Er betritt die Markthalle durch die runde, gläserne Eingangstür. Sofort spürt er die Kühle. Links ist ein großer Gemüsestand. Salate, Kohlsorten, Zucchini und Auberginen sind kunstvoll drapiert und werden von einer Sprinkleranlage befeuchtet. Die Auberginen schimmern fast schwarz und die grünen Salate sehen aus wie gemalt. Er geht den breiten Gang weiter. Rechts ist eine Kaffeerösterei. Der Duft nach frisch gemahlenen Bohnen steigt ihm in die Nase. Am liebsten würde er dort in Ruhe einen cortado trinken, doch die Zeit drängt. An der ersten Ecke biegt er nach links und steuert auf den größten Fischstand des Marktes zu. Schon umgibt ihn der Geruch nach Meer und frischem Fisch. Auf gut fünfzehn Metern werden Berge von Fischen und unzählige andere Meerestiere auf Eis präsentiert. Manuel hat den Stand kaum erreicht, da wird er vom Besitzer bereits freundlich begrüßt, wie fast jeden Morgen.

»Was kannst du mir heute anbieten?«, ist auch sofort seine Frage. Emilio lächelt, fährt sich mit der Hand über seine Bartstoppeln und lässt den Blick über die lange Theke schweifen.

»Du liebst die Abwechslung und dank meines guten Gedächtnisses weiß ich genau, was du die letzten Tage geordert hast.« Manuel grinst. Emilio verhält sich immer gleich: dieselben Gesten, der identische Dialog, im Stakkato folgen die Empfehlungen.

»Ganz ausgezeichnet der Rote Drachenkopf, die Seezungen, die Muränen und die Riesengambas.« Heute ergänzt er: »Da ist den Fischern ein vorzüglicher Schwarm in die Netze gegangen.« Manuel stutzt. »An Muränen habe ich auch schon gedacht.«

Emilio greift nach dem aalartigen Knochenfisch und hält ihn Manuel hin. »Letzte Nacht schwamm der noch im Mittelmeer«, schmunzelt er. Manuel tastet den Fisch fachmännisch mit den Händen ab. Festes Fleisch, geschmeidige Haut und die Augen noch klar. Er nickt. Dann geht er an der Theke entlang, wählt Gambas und Sepia aus. Schnell sind sie sich einig.

»Setz die Bestellung wie immer auf die Monatsrechnung und mach mir die Muränen bitte küchenfertig.« Emilio grummelt.

»Ist dir wohl zu viel Arbeit, sie von der festen Haut zu befreien.« Manuel lacht. »Genau. Und du bist da sowieso unschlagbar.« Emilio zeigt mit dem Finger auf ihn. »Gib zu, die besonders finsteren Meeresbewohner packst du nicht so gerne an, obwohl die am schmackhaftesten sind.« Manuel nickt.

»Da magst du recht haben. Aber solange du sie mir filetierst, ist alles gut. Außerdem erinnert mich eine Muräne leider sehr an eine Schlange.« Emilio schüttelt mit einem Augenzwinkern den Kopf und reicht seinem Kunden die Hand.

Zielstrebig geht Manuel den Gang weiter, vorbei an den Marktkneipen, die zu dieser frühen Zeit schon gut besucht sind. Hier wird cortado getrunken und die eine oder andere Auster geschlürft. Zwei Stände muss er noch ansteuern, im nächsten Gang gleich rechts den Gemüse- und Obststand und die Fleischtheke des Metzgers seines Vertrauens. Auch hier wird er mit lautem »Hola« begrüßt. Nach wenigen Minuten hat er seine Wahl getroffen und ist schon wieder auf dem Weg zum Auto. Schwer bepackt lässt er erst den stattlichen Jamón Ibérico von seiner Schulter in den Kastenwagen gleiten, dann lädt er die große Tüte mit Lammfleisch ein und zum Schluss schiebt er die Kiste mit Gemüse und Obst auf die Ladefläche, die ihm ein Standmitarbeiter bis ans Auto getragen hat.

Ein paar Stunden später – für den Mittagstisch ist alles vorbereitet – wartet Manuel auf die Fischlieferung. Den Luxus der Anlieferung gönnt er sich, denn es würde zu lange dauern, im Markt auf die filetierten Fische zu warten. Und bei den heißen Temperaturen ist es ihm sehr recht, die Ware in einem Kühlwagen des Marktes zu wissen und nicht in seinem alten Transporter.

Endlich biegt ein Lieferwagen auf den kleinen Parkplatz. Manuel ist erstaunt, es ist nicht einer der Transporter mit der bekannten Aufschrift ‚Merçat Santa Catalina‘. Ein schwergewichtiger Mann steigt aus. Er ist um einiges kräftiger als Manuel. Der Mann grüßt kurz, öffnet die zwei Türen zum Laderaum und wuchtet eine Kiste heraus. Manuel schaut entsetzt, die Fische liegen ohne Eis übereinander gestapelt. Er betrachtet den Inhalt genauer: Doraden und kleine Seezungen. Das hat er nicht bestellt. Wäre nicht schlimm, er ist ja flexibel. Aber diese Fische sind alles andere als fangfrisch. »Das ist die falsche Kiste, haben Sie noch anderen Fisch dabei?«

»Nein, Sie sind mein letzter Kunde.«

»Den Fisch können Sie gleich wieder mitnehmen, das ist nicht meine Order«, antwortet Manuel und ist froh, dass seine Bestellung nicht im hinteren Teil des Transporters liegt, den Fisch hätte er auch nicht mehr gewollt.

»Was soll das, Sie haben bestellt!«, schnauzt ihn das Schwergewicht an.

»Ja, aber keine Doraden und keine Seezunge und schon gar nicht in dem Zustand. Die sind vergammelt.« Der massige Mann tritt bedrohlich einen Schritt auf Manuel zu. »Pass auf, was du sagst!« Er zieht die Augenbrauen zusammen und starrt sein Gegenüber an. »Ich habe den Auftrag, das hier abzuliefern, nicht mehr und nicht weniger.«

Manuel will die Situation nicht eskalieren lassen, aber andererseits lässt er sich auch nicht einschüchtern. Auch er geht einen Schritt auf den anderen zu. Sie stehen sich direkt gegenüber.

»Ich nehme diese mangelhafte Ware nicht an.« Plötzlich kippt ihm der Mann den Inhalt der Kiste vor die Füße. Hastig springt Manuel zur Seite. Die Doraden rutschen über den Asphalt, die Seezungenfilets bilden einen kleinen Haufen. Rasch wirft der Mann die leere Kiste in den Transporter, reißt die Fahrertür auf und rast davon.

Manuel ist sprachlos. Er weiß nur eins: Der Fisch muss weg, bevor die Gäste kommen. Schon dreht er sich zum Restaurant um und brüllt: »Héctor, komm schnell! Und bring einen großen Sack mit!« Kaum ist der junge Auszubildende bei ihm, greifen die beiden nach den Fischen und packen sie ein.

»Danke«, stößt Manuel hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Während Héctor ratlos überlegt, wo er den Sack entsorgen soll, hat sein Chef schon das Handy gezückt und ruft Emilio an.

»Ich rufe gleich zurück«, schreit dieser ins Telefon und beendet das Gespräch abrupt. Manuel schaut verwundert auf das Display. Er hat den Fischhändler noch nie so außer sich erlebt.

»Stell das Zeug hinter das Restaurant, den Fisch verbrennen wir später«, gibt Manuel Anweisung. Dann setzt er sich auf die kleine Mauer vor dem Parkplatz und atmet einmal tief durch. Was soll das alles? Sein Handy klingelt. Atemlos ruft Emilio: »Es hat einen Unfall gegeben! Der Transporter ist im Graben gelandet. Eine neue Lieferung ist zu dir unterwegs. In einer Stunde hast du sie.« Manuel will noch etwas fragen, da hat Emilio schon aufgelegt. Er ist erleichtert, das Menü für den Abend ist gerettet. Doch woher kam die Fischlieferung?

Kapitel 3

Cas Català. Gemeinde Calvià. Sven hat Consuelo Sánchez das Frühstückstablett schon am Treppenabsatz abgenommen. Es behagt ihm nicht, wenn die alte Frau die steile Treppe zu seiner Wohnung hinaufsteigt, ohne sich festhalten zu können. Sie lässt sich jeden Morgen etwas anderes Leckeres einfallen und Sven genießt das sehr. Natürlich könnte er sich das Frühstück auch selber zubereiten, aber es ist im Preis inbegriffen und er glaubt, dass es seiner Vermieterin Freude macht, ihn ein bisschen zu bemuttern.

Er stellt das Tablett auf dem Terrassentisch ab und spannt den großen Sonnenschirm auf. Bevor er sich setzt, geht er zur Balustrade, schaut auf das blaue Meer und streckt sich. Die Sonne ist schon jetzt so intensiv, dass er seine Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Hemdes zieht und aufsetzt. Erstaunlich. Er nimmt die Brille ab, schaut wieder aufs Wasser, dann setzt er sie erneut auf. Bisher ist ihm das nicht aufgefallen. Durch die getönten Gläser wirkt das Meer natürlich dunkler, aber die Farbe ist auch intensiver. Er blickt nach links zu den Felsen, wo er den Turm des Marivent-Palastes sehen kann. Auch hier: Die Farben der Sträucher auf den Felsen und selbst die Färbung des Kalksandsteins der Palastmauern sind eindringlicher, haben mehr Tiefe.

Er schüttelt den Kopf.

Als Sven mit dem Frühstück fertig ist, wischt er sich den Mund mit der Serviette ab, trinkt den letzten Schluck Café con leche, dann greift er nach seinem Handy. Er sucht die Kontaktdaten von seinem Kollegen Wolfgang Spitzly von der ‚Neuen Züricher Zeitung‘ und drückt auf ‚Wählen‘.

»Grüß dich, Sven. Wie geht es dir?«

»Woher weißt du, dass ich es bin?«

»Ich habe deine Telefonnummer sofort wiedererkannt. Wer ruft mich schon mit einer 00 34 an, das kannst nur du sein. Bist du auf Mallorca?«

»Ja, ich lebe jetzt hier.«

»Wie jetzt, für immer?« Das überraschte Gesicht seines Kollegen kann er sich gut vorstellen.

»Na, zumindest ausprobieren will ich es.« Sven merkt, wie fröhlich er klingt, nachdem er sich endlich entschieden hat zu bleiben.

»Klasse, das wolltest du doch schon seit einigen Jahren. Und was ist aus deinem Abenteuer mit dem Likörfläschchen geworden?«

»Frag nicht.«

»Also nix geworden.«

Sven grinst in sich hinein. Spitzly hatte ihn damals gewarnt, seine Zeit nicht zu verplempern, da er einer Legende hinterherlaufen würde. Wenn der wüsste. Doch er sagt nichts. Schließlich hat er sich entschieden, die Geschichte um die Patxaran-Fläschchen von Blanka von Navarra so zu lassen, wie sie ist, eine Legende.

»Ich bleibe trotzdem hier. Ihr braucht nicht zufällig einen guten Gastrokritiker für die Insel?«, schiebt Sven schnell nach.

»Oh, bist du im Akquise-Modus?«

»Klar, von nichts kommt nichts. Ich bin hier halt noch nicht so bekannt wie in Düsseldorf.«

»Ich frage gern mal in der Redaktion nach. Wir bringen immer mal etwas über die Balearen. Aber ich kann dir nichts versprechen.«

»Ich weiß, trotzdem vielen Dank, Wolfgang. Und wenn du mal wieder auf Mallorca bist, zeige ich dir gern meine Insel, so wie ich sie kenne.«

»So machen wir das. Ich melde mich, wenn ich mit der Redaktion gesprochen habe.«

»Prima, vielen Dank und bis die Tage.« Sven weiß, er kann sich auf Spitzly verlassen, aber ob die Redaktion Interesse hat, ist mehr als fraglich, die haben ihre eigenen Kontakte. Immerhin hat er es versucht. Und vielleicht hat er ja Glück und sie brauchen jemanden vor Ort.

Mitten in seine Gedanken hinein meldet sich das Handy. Sven schaut auf das Display und nimmt das Gespräch an.

»Hola, Manuel. Was gibt es?«

»Du bist der Erste, den ich anrufe«, jubelt Manuel ins Telefon.

Sven zieht eine Augenbraue hoch. »Was ist passiert?«

»Ich wurde zur ‚Tour de Menue‘ eingeladen.« Ein lauter Freudenschrei ist zu hören.

»Klasse, was für eine tolle Neuigkeit!«

So viel weiß Sven über den Wettbewerb: Gleich mehrere Restaurants treten mit ihren Menüvorschlagen an ausgewählten Abenden gegeneinander an. Allein die Einladung ist eine Auszeichnung.

»Ist das nicht fantastisch? Vielleicht ist das endlich der Durchbruch.«

»Was heißt hier Durchbruch? Es läuft doch super bei dir.«

»Ja, ich weiß. Meinen Gästen schmeckt es und mein Restaurant ist jeden Tag gut besucht. Aber mehr Renommee als Koch, das wäre klasse.«

»Will das nicht jeder gute Koch?« Sven lacht und freut sich für seinen Freund.

»Eben, und jetzt habe ich die Chance dazu.« Manuel kann sich kaum beruhigen. »Was meinst du, soll ich einen Austernabend als Beginn der Tour planen?«

»Wann beginnt die Tour denn?«

»In einer Woche, wenn ich das richtig verstanden habe. Jedenfalls muss ich bald einreichen, was ich in den vierzehn Tagen der ‚Tour de Menue‘ kochen will.«

»Oh, das will wohlüberlegt sein. Mach es doch wie bisher.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, bei dir gibt es sehr gute und original mallorquinische Küche.«

»Du meinst, ich soll nicht zu abgehoben daherkommen?«

»Genau!«

»Wie kommst du darauf, ich könnte abheben?«

Sven druckst herum. »Gestern rote Gambas und jetzt die Idee mit den Austern …«

»Mein lieber Sven, wenn du es noch nicht wissen solltest: Austern gehören, wie Muscheln auch, zur mallorquinischen Esskultur.«

»Jawohl, Herr Lehrer«, witzelt Sven zurück. »Aber wäre das nicht etwas für den Winter?«

»So ein Quatsch, Austern sind besonders erfrischend, wenn es wärmer ist. Und das Problem mit der Kühlung haben wir schon lange nicht mehr. Du kannst Austern sogar mehrere Tage im Kühlschrank aufbewahren.«

»Das meine ich nicht. Ich hatte gedacht, dass Muscheln in der kälteren Jahreszeit aromatischer sind.«

Manuel lacht. »Mag sein, dass dies bei Muscheln der Fall ist, aber nicht bei Austern. Bei denen kommt es alleine darauf an, woher sie kommen, ob sie klein oder groß sind, ob sie aus einer Zucht stammen oder nicht und wie die Wasserqualität ihres Lebensraumes war.«

Einen Moment herrscht Stille. Dann fragt Sven: »Soll ich vorbeikommen? Wir könnten zusammen überlegen.«

»Sofort?«

»Sofort!«

Schon hat Sven den Sonnenschirm zugeklappt, seinen Autoschlüssel vom Esstisch gegriffen und ist auf dem Weg zu seinem alten Porsche.

Kapitel 4

Cala Illetes. Gemeinde Calvià. Die beiden Freunde sitzen auf der Terrasse vor dem Restaurant. Manuel hat seine erst wenige Monate alte Tochter Gloria auf dem Arm, sie schläft. Er zeigt auf die Weinflasche auf dem Tisch. »Zur Feier des Tages habe ich uns einen besonders guten Tropfen aus dem Keller geholt.« Sven betrachtet das Etikett.

»Bodegas Xaloc Rosat, von 2016«, liest er.

»Ein leichter Rosé mit einem schönen Abgang«, erläutert Manuel und streichelt seiner Tochter über den Kopf.

Sven zieht den Korken mit einem leisen Geräusch aus der Flasche, dann füllt er die Gläser. Er riecht, probiert und lässt den Wein im Mund kreisen. Dann nickt er anerkennend. »Ein tolles Aroma, schmeckt nach reifer Himbeereund ist trotzdem trocken.«

Manuel bestätigt nach einem ersten Schluck seinen Eindruck: »Ja, frisch und fruchtig.«

Sven lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. »Wer macht denn die Küche startklar für heute Abend?«

»Héctor und Carlotta und natürlich meine bessere Hälfte, Christina. Die müssen jetzt zusätzlich mit anpacken. Wehe, die Küche ist nachher nicht blitzsauber.«

»Die kriegen das schon hin, du Pingel.«

»Sauberkeit ist das A und O in der Küche, das muss ich dir nicht sagen«, ereifert sich Manuel und schaukelt das Kind in seinen Armen.

»Nee, musste nicht, aber sei nicht so streng. Héctor und Carlotta hätten eigentlich jetzt Pause. Ist doch super, dass sie einspringen.«

»Ja, ich finde es auch prima, dass sie sich so ins Zeug legen.«

»Die erkennen in der ‚Tour de Menue‘ auch eine Chance für das Restaurant.«

»Natürlich, und sie sind mit Begeisterung dabei.« Er betrachtet seine Tochter mit einem zärtlichen Blick. »Wer weiß. Wenn alles gut läuft, kann ich die beiden nach ihrer Ausbildung vielleicht sogar übernehmen.«

Sven hebt sein Glas und prostet ihm zu: »Auf eine erfolgreiche ‚Tour de Menue‘.«

Dann dreht er sich um und schaut zum Strand. Viele junge Familien haben ihre bunten Strandmuscheln aufgebaut, um die Kleinkinder vor der Sonne zu schützen. Sein Blick verweilt noch einen Augenblick auf dem türkisen Wasser, bevor er sich wieder Manuel zuwendet. Der betrachtet lächelnd das entspannte Gesicht seiner Tochter.

»Wie läuft das eigentlich mit der Bewertung?«, fragt Sven.

Manuel schaut auf. »So wie ich das verstanden habe, erhalten die Gäste mit der Rechnung einen Fragebogen, den müssen sie ausfüllen und beim Organisationsbüro abgeben.«

»Machen das denn alle?«, wundert sich Sven.

»Ja, fast alle.« Manuel grinst. »Die ‚Tour de Menue‘ ist folgendermaßen organisiert: Du meldest dich an, bezahlst eine Gebühr und bekommst eine Karte. Mit der Karte kriegst du als Teilnehmer der Tour auf das jeweilige Essen einen kleinen Rabatt. Du musst sie aber vom Restaurant abstempeln lassen. Gibst du deine Bewertung ab, erhältst du einen zweiten Stempel. Nur wer zwei Stempel pro Restaurant und pro Menü-Abend auf der Karte hat, ist weiter mit von der Partie und kann am Ende auf einen ausgelobten Gewinn hoffen.«

»Geschickt gemacht. Und spielt es eine Rolle, wie viele Restaurants ich besuche?«

»Ja. Je mehr Restaurants du als Gast bewertest, desto größer werden deine Chancen zu gewinnen. Und die Gewinne sind toll.«

»Was wird denn ausgelobt?« Sven beugt sich neugierig vor.

»Ach, das ist ganz unterschiedlich. Diesmal gibt es ein Wellness-Wochenende in einem 5-Sterne-Hotel hier auf Mallorca, eine eintägige Segeltour um die Insel und ein Candle-Light-Dinner beim Gewinner der Tour.«

»Und was bekommt das Restaurant, das den ersten Platz erreicht?«

»Presse, Aufmerksamkeit, Renommee und natürlich Geld.«

»Geld? Wie viel?«

»Du willst es aber auch genau wissen«, schmunzelt Manuel.

»Ja, das interessiert mich.« Sven betrachtet seinen Freund aufmerksam.

»Zwanzigtausend Euro.«

Sven pfeift. »Nicht schlecht.«

Manuel lacht. »Für mich und dich ist das eine Menge Geld, aber für andere Restaurantbesitzer ist das nur Kleingeld. Nein, es geht wirklich in erster Linie um den Titel. Kannst du Gewinner der ‚Tour de Menue‘ auf deine Speisekarte schreiben, ist das ein Vielfaches wert.«

Sven verzieht das Gesicht. »Ist es auf Mallorca also auch schon so weit.«

»Mensch, Sven, sei nicht naiv. Bestimmt ist es hier noch schlimmer als bei euch in Düsseldorf. Schau doch mal, was an Luxusjachten in Port d‘Andratx und in Portals Nous liegt. Der Geldadel ist schon seit Jahrzehnten auf Mallorca angekommen.« Er seufzt. »Du kannst noch so gut sein, wenn dein Restaurant nicht angesagt ist, kommen sie gar nicht auf die Idee, es auszuprobieren.«

»Ist das die Klientel, die du willst?«

Manuel nimmt einen Schluck Rosé. »Nein, es gibt immer noch das andere Mallorca. Aber ohne die wohlhabenden Gäste kann ich nicht überleben.« Er legt sich die Kleine über die Schulter und rutscht näher an den Tisch heran. »Aber komm, lass uns mal überlegen, wie ich vorgehen soll.« Schon ist Sven mit Feuereifer bei der Sache.

»Den Austernabend, den du vorgeschlagen hast, finde ich spannend, nur pass auf, dass es nicht heißt, der macht jetzt auf schickimicki. Das wäre fatal. Die wohlhabende Klientel fällt erst bei dir ein, alles läuft blendend, sobald ein anderes Restaurant hipp ist, ziehen sie sich zurück. Du stehst dann vor einem Scherbenhaufen. Das habe ich in Düsseldorf zur Genüge erlebt. So ruiniert man die besten Restaurants.«

»Schon klar, ist ja nur als Auftakt gedacht. Die meisten schlürfen ihre Austern, ohne überhaupt eine Ahnung zu haben. Mir schwebt vor, durch die Auswahl an Sorten und die unterschiedliche Art der Zubereitung den Gästen die Vielfalt zu zeigen. Auster ist eben nicht Auster, geschmacklich sind die ganz verschieden.«

»Hört sich gut an, aber deine Gäste sollten sich nicht vorgeführt vorkommen.«

»Das wäre ziemlich ungeschickt, aber wie kommst du darauf?«

»Na ja, hängt ganz davon ab, ob du ihnen etwas erklären willst.«

Manuel lacht erneut. »Du kennst mich echt schon ganz gut. Klar will ich meinen Gästen etwas über Austern vermitteln.« Er überlegt kurz. »Ich biete einfach eine kleine Auswahl an und du gibst eine Einführung.«

Fast hätte sich Sven am Rosé verschluckt. Ehe er aufbegehren kann, fährt sein Freund fort: »Ich habe mir das so vorgestellt: Ich stelle dich als den bekannten Düsseldorfer Gastrokritiker vor und du plauderst über Sorten, Zuchtgebiete und Geschmacksnuancen. Es gibt nur fünf Möglichkeiten der Zubereitung: frisch, gegrillt, in Butter geschwenkt, überbacken oder püriert.« Manuel grinst Sven an. »Und natürlich kommt es darauf an, was es dazu gibt. Klassisch werden frische Austern nur mit Zitronenschnitzen auf Eis serviert, aber du kannst sie auch mit Lauch, Meerrettich oder karamellisierten Zwiebeln reichen, da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.« Er hebt den Zeigefinger. »Und wenn wir Glück haben, dann kommt auch die mallorquinische Presse, und das wäre doch auch für dich gut.«

»Mal langsam.« Sven wehrt mit den Händen ab. »Ich soll hier den Clown geben?« Er blickt Manuel erstaunt an.

»Nein, nein, eher den Fachmann. Und mit deiner sympathischen Ausstrahlung kommst du bestimmt nicht überheblich rüber.«

Sven denkt kurz nach, dann ist er einverstanden. »Also erzähl mal etwas über Austern«, wirft er den Ball an Manuel zurück.

»Wenn du nachlesen möchtest, habe ich hier eine wunderbare Publikation über Austern.« Manuel greift nach dem Buch, das mit dem Titel nach unten auf dem Tisch liegt, und reicht es Sven.

»Nicht so schnell. Wenn ich das richtig verstanden habe, lieben die Mallorquiner auch Schnecken und Muscheln, da habt ihr eine riesige Auswahl. Mach einen Muschelabend, zeig deinen Gästen, wie man sie ganz unterschiedlich zubereiten kann.«

»Meinst du wirklich?« Manuel runzelt die Stirn.

»Ja, mit Muscheln kannst du doch auch die Vielfalt deiner Kochkünste beweisen, und dann ganz auf mallorquinische Art.«

Manuel nimmt seine kleine Tochter von der Schulter, die immer noch tief schläft, und steht auf. »Du hast recht. An den weiteren Abenden wird es original mallorquinische Küche geben: Lammschulter, Spanferkel, Gambas und Kaninchen. Aber jetzt muss erst mal Gloria ins Bett, damit sie in Ruhe weiterschlafen kann.« Schon ist er auf dem Weg zu seiner Wohnung über dem Restaurant verschwunden.

Sven betrachtet das Buch in seinen Händen. Das hat Manuel schlau eingefädelt. Da will man ein paar Tipps geben und was kommt dabei heraus: Arbeit! Okay, was macht man nicht alles für seine Freunde. Von den Austern habe ich ihn nicht abbringen können. Aber spannend ist das Thema allemal. Dann werde ich mich wohl auf Austern und Muscheln vorbereiten müssen, überlegt er, trinkt seinen letzten Schluck Wein und steht auf.

Den Mann, der seit einiger Zeit hinter dem Strandrestaurant herumschleicht und immer wieder durch die seitlichen Fenster späht, haben weder Sven noch Manuel bemerkt.

Kapitel 5

sʼAlqueria Blanca. Seniorenresidenz. Manuel Muñoz kurbelt das linke Seitenfenster herunter und lässt sich den warmen Fahrtwind um die Nase wehen. Die Melodie von ‚Despacito‘ kommt ihm in den Sinn. Sofort beginnt er das Lied zu summen und schlägt mit der Hand rhythmisch auf das Lenkrad seines Lieferwagens. Er freut sich darauf, Antonia Ruiz Delgado wiederzusehen. Vor etwa einem halben Jahr war sie zum ersten Mal bei ihm zu Gast gewesen. Sie hatten sich angeregt unterhalten. Sein mallorquinisches Essen und die Atmosphäre im Restaurant gefielen ihr so gut, dass sie seitdem regelmäßig kommt. Eine interessante Persönlichkeit, findet Manuel. Sie hat es geschafft, sich in kürzester Zeit in unsere Herzen zu schleichen, in meins und in das von meiner Frau Christina. Selbst Héctor und Carlotta genießen es, sie zu verwöhnen. Und natürlich erzählt Antonia so einiges über ihr Leben. Wie ihre Mutter ist sie in Madrid geboren und aufgewachsen. Ihre Ehe blieb kinderlos und so hat sie ihre ganze Kraft in ihren Beruf gesteckt. Sie war Hochschulprofessorin für Literatur an der ‚Universidad Autonoma de Madrid‘. Kurz nach dem Tod ihres Mannes ist sie von Madrid nach Mallorca übergesiedelt. Nun lebt sie in der Seniorenresidenz in sʼAlqueria Blanca, einem idyllischen Dorf im Südosten der Insel, nicht weit von Santanyí entfernt. Dort gibt es einige der schönsten Buchten der Insel und auch die Hafenstädtchen Portopedro, Portocolom und Porto Cristo sind schnell zu erreichen.

Vor zwei Wochen blieb sie eines Abends länger als gewohnt und wartete, bis alle anderen Gäste gegangen waren. Dann bat sie Manuel, ihr bei einem Digestif Gesellschaft zu leisten. Ruiz und Delgado sind gängige spanische Nachnamen, doch als sich Antonia als Tochter von Carla Morell, verwitwete Muñoz, vorstellte, horchte Manuel auf. Als sie dann lächelnd verkündete, sie sei die Cousine seines Vaters, hatte er sie nur angestarrt. Er hatte eine Großcousine! Bevor er fähig war, eine Frage zu stellen, erhob sie sich aus dem Korbstuhl, verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihm, tätschelte seine Wange und nahm ihm das Versprechen ab, sie bald zu besuchen. Es sei wichtig, schob sie nach, und schaute ihm dabei fest in die Augen. Manuel verspürte in diesem Moment eine große Zuneigung für sie, eine Art Seelenverwandtschaft. So etwas hatte er bisher noch nicht erlebt. Und das hatte nichts damit zu tun, dass Antonia Ruiz Delgado mit ihm verwandt ist. Heute löst er sein Versprechen ein und ist auf dem Weg zu ihr. Christina wäre gerne mitgekommen, doch Manuel erschien es besser, allein zu fahren. Er hat den Eindruck, dass Antonia mit ihm unter vier Augen sprechen möchte. Nur so ein Bauchgefühl, aber auf seine innere Stimme kann er sich meistens verlassen.

Die Landstraße Ma-19 führt Manuel geradewegs nach sʼAlqueria Blanca, das knapp fünf Kilometer östlich von Santanyí liegt. Langsam steigt die Straße an: links kleine Häuser, gerade einmal zwei Stockwerke hoch, rechts nach einer Tankstelle das Es Clos, ein seit Jahren beliebtes Restaurant. Manuel sieht im Vorbeifahren den neuen Namenszug über dem Eingang: Jade by Es Clos. Erstaunt schüttelt er den Kopf. Da hat wohl der Besitzer gewechselt. Er hat zwar zu einigen Kollegen gute Kontakte, aber er ist nicht so vernetzt, dass er umfassend informiert ist über die sich ständig verändernde Gastrolandschaft auf Mallorca. Diejenigen, die Bescheid wissen, spielen in einer ganz anderen Liga.

Kaum hat er die Anhöhe geschafft, erblickt er schon die Dorfkirche Iglesia San Jose, hinter der sich der Marktplatz mit der Dorfbäckerei und der Tapas-Bar Sa Plaça befindet. Noch bevor er den Platz erreicht, biegt er scharf nach rechts ab in eine kleine, schmale Straße. Ein Schild gibt ihm Gewissheit, richtig zu sein: Sa Residència Restaurant-Bar. Er fährt weiter und gelangt nach kurzer Zeit auf eine breite, neu angelegte Straße, ohne Häuser oder Geschäfte, die von beiden Seiten mit stattlichen Palmen begrünt ist, dahinter erstrecken sich nach Südosten weite Felder. »Verrückt«, murmelt er. Auf einmal hat er das Gefühl, sich auf einem Boulevard zu befinden, der ins Nirgendwo führt. Nicht ganz, denn am Ende der Straße ist ein Parkplatz. Er hat sein Ziel erreicht: die Seniorenresidenz. Ein moderner, gepflegter Bau, verputzt in hellem Beige, mit großen Balkonen und einer über die ganze Front reichenden Terrasse. Er steigt aus, dreht sich um, blinzelt in die Sonne und schaut über die Felder bis nach Cala d’Or. Die weißen Häuser des Ferienortes bilden einen schönen Kontrast zu dem dahinter liegenden blauen Meer. Er genießt kurz den Anblick, dann steuert er die Treppe zur Terrasse der Seniorenresidenz an und nimmt zwei Stufen auf einmal. Schon von Weitem erkennt er Antonia, die unter einem Sonnenschirm an einem kleinen Tisch sitzt und ihm zuwinkt.

»Schön, dass du gekommen bist«, begrüßt sie ihn.

Manuel beugt sich zu ihr herab und nimmt sie in den Arm. Dann schaut er in ihr von vielen Falten durchzogenes freundliches Gesicht.

»Geht es dir nicht gut?«, fragt er, denn sie ist etwas abgemagert und wirkt nicht ganz so vital wie noch vor einigen Tagen.

»Ich bin schnell müde, und es stimmt, irgendwie fühle ich mich nicht wohl.« Sie deutet mit einer Handbewegung auf den Stuhl ihr gegenüber. »Lass uns erst einmal etwas essen, ich lade dich ein. Das Essen ist vorzüglich, wenn auch nicht für körperlich schwer arbeitende Menschen gedacht. Aber hier speisen eh nur Senioren, und viele kommen aus der näheren Umgebung, meist Residenten, die nicht jeden Tag kochen wollen.«

»Dann muss die Küche wirklich etwas zu bieten haben.«

»Das hat sie.« Antonia lächelt.

»Möchtest du nicht erst einmal erzählen? Es ist noch früh und essen können wir auch später.«

Sie bejaht und bestellt bei einer jungen Bedienung eine große Flasche Wasser mit zwei Gläsern.

Kaum hat sie ihren Wunsch geäußert, fragt Manuel auch schon: »Kannst du dir erklären, warum es dir so schlecht geht?«

»Keine Ahnung. Seit Wochen fühle ich mich immer schwächer. Mir ist oft übel und häufig habe ich Kopfschmerzen. Das kenne ich sonst gar nicht.«

»Warst du beim Arzt?«

»Ja, aber er sagt, das ist altersbedingt.«

»Was für ein Quatsch. Morgen gehst du sofort zu einem anderen Arzt. Kennst du einen guten hier in der Gegend?«

»Nein, aber sie haben mir an der Rezeption jemanden empfohlen.«

»Gut. Versprichst du es? Du suchst ihn sofort morgen auf.«

»Ja«, antwortet sie und beendet das Thema mit einer Handbewegung.

Manuel betrachtet Antonia. Er schätzt sie auf Anfang achtzig. Trotz ihres Alters sind ihre kurzen, dunklen Locken mit nur wenigen grauen Haaren durchzogen. Sie ist braun gebrannt, aber ihre Augen blicken müde und sie wirkt auf ihn irgendwie zerbrechlich.

»Ich bin dein Großcousin und ich darf mir Sorgen machen.«

»Ja, das darfst du.« Sie tätschelt seine Hand. »Ich hätte es dir früher sagen sollen«, seufzt sie.

»Du wirst deine Gründe haben.«

Sie schaut ihn an. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich habe Zeit.«

Sie lächelt erneut, dann blickt sie über die Felder. Nach einer Weile, sie ist immer noch in Gedanken versunken, fragt er: »Wen hat deine Mutter aus unserer Familie geheiratet?«

»Adrián Muñoz.«

Manuel ist erstaunt. »Adrián? Das ist der Bruder meines Großvaters Ramón, also mein Großonkel.«

Antonia nickt.

»Ich muss dir gestehen, ich weiß nicht sehr viel über unsere Familiengeschichte. Aber das kann sich ja jetzt ändern.« Er greift nach der Wasserflasche und schenkt die Gläser voll. Nachdem er einen Schluck getrunken hat, ergänzt er: »Vielleicht ist es an der Zeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ich weiß nur, dass wir einmal wohlhabend gewesen sein müssen, aber dann gab es schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Familie.«

»Hat dir dein Vater gesagt, warum?«, fragt Antonia neugierig.

»Nein, er hat nur angedeutet, dass es unterschiedliche politische Einstellungen gegeben hat. Das ist aber sehr lange her.«

Antonias dunkle Augen blitzen auf. »Der Bürgerkrieg hat deine Familie zerstört, viele Familien sind daran zerbrochen. Blanker Hass wurde geschürt. Brüder wurden zu erbitterten Feinden, Söhne kämpften gegen ihre Väter.«

Manuel ist irritiert. So wütend kennt er Antonia nicht. Sie bemerkt seine Reaktion und hält inne. »Entschuldige, ich habe dich unterbrochen.« Manuel räuspert sich.

»Ist schon gut. Weißt du, mein Vater hat selten über die Familie gesprochen. Das Thema war tabu. Mir war schon früh klar, dass ich keine weiteren Verwandten habe, obwohl es noch einige Cousins geben müsste.« Er macht eine kurze Pause. »Es war wohl so, dass der Zweig der Familie, der Franco unterstützte, sein Vermögen und seinen Einfluss behielt. Der andere, zu dem mein Urgroßvater gehörte, stellte sich im Bürgerkrieg gegen Franco und verlor alles. Mein Urgroßvater Álvaro wurde verhaftet, enteignet, aus dem Familienunternehmen ausgeschlossen, das es damals gab, und mit Arbeitsverbot belegt.«

»Wie hat er das überlebt?«, fragt Antonia.

»Er saß einige Jahre im Gefängnis, danach hat er sich durchgeschlagen. Doch ohne meine Urgroßmutter, die in einer Schuhfabrik arbeitete, hätten sie es wohl nicht geschafft.« Antonia zieht die Luft scharf ein. Mein Gott, denkt sie, als Arbeiterin schuftete sie in der Fabrik der eigenen Familie. »Das müssen sehr schwere Zeiten gewesen sein.«

»Ja, das glaube ich auch. Aber irgendwann normalisierten sich die Zustände ein wenig und Großvater konnte die kleine Strandbar kaufen, die mein Vater nach seinem frühen Tod weiterführte. Damals, Ende der 1960er-Jahre, legte der Tourismus wieder zu, und irgendwie ist es ihm gelungen, sich zu etablieren. Wir haben nie viel Geld gehabt, aber Vater war glücklich und er konnte uns ernähren.«

»Wann ist dein Vater gestorben?«

»Auch recht früh. Mitte der 1980er-Jahre. Er ist nicht einmal fünfzig Jahre geworden.«

»Und du ein kleiner Junge.«

»Ja, eine traurige Zeit für meine Mutter, aber sie hat sich durchgebissen.« Er lacht. »Mein Vater war so beliebt, dass seine Freunde meine Mutter unterstützt haben. Alleine hätte sie es vielleicht nicht bewältigt. Als ich alt genug war, die Strandbar zu übernehmen, hat sie die Augen geschlossen und ist Vater gefolgt. Sie war schwer krank.« Er greift nach dem Glas und leert es in einem Zug. Es schmerzt immer noch, nach all den Jahren. Antonia lässt ihm Zeit, sich zu sammeln, dann fragt sie: »Warst du da schon mit Christina zusammen?«

»Nein, Christina hat meine Mutter nicht mehr kennengelernt. Ich bin ihr erst später begegnet.«

»Schade, sie hätte Christina bestimmt gemocht.«

»Ja, und sie wäre beruhigt gewesen, mich in guten Händen zu wissen.« Manuel lächelt, dann holt er ein Taschentuch aus der Hosentasche seiner Jeans und schnäuzt sich. »Sie hätte leichter gehen können.«

Antonia fragt nicht nach, sie weiß, was Manuel ihr damit sagen will.

»Warum bist du nach Mallorca gezogen?«, will er nun wissen.

Sie lächelt ihn an. »Ich wollte meiner Mutter nahe sein, deren Asche ich hier verstreut habe.« Nach einer kurzen Pause sagt sie: »Und ich habe hier auf Mallorca noch etwas zu erledigen.«

»Wegen Adrián?«

Sie nickt.

Für einen Moment schweigen beide. Dann legt Manuel seine Hand auf ihren Arm.

»Nach deinem letzten Besuch im Restaurant habe ich im Internet recherchiert.« Er streicht sachte über ihren Arm, dann nimmt er seine Hand weg. »Du hast dich in den letzten sechs Monaten sehr für die Aushebung des Massengrabes auf dem Friedhof von Porreres engagiert. Sogar in der Zeitung bist du mehrmals abgebildet und kommst zu Wort.«

»Ja, auch deshalb lebe ich jetzt hier. Ich will, dass die Mallorquiner sich mit diesem Abschnitt ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.«

»Glaubst du denn, die Aushebung des Massengrabes ist der richtige Weg?«

»Ich denke schon. Es ist ein Anfang. Sie werden noch viele Gräber finden.« Manuel schüttelt den Kopf.

»Die Meinungen unter den Mallorquinern sind konträr, die Diskussionen teilweise heftig. Die einen wollen den Toten ihren Seelenfrieden erhalten und die Vergangenheit ruhen lassen, die anderen verlangen nach Gewissheit, sie wollen endlich erfahren, wer dort verscharrt wurde.«

»Seelenfrieden«, Antonia spukt das Wort hervor. »Diese Leute lehnen es auch heute noch ab, sich mit den Verbrechen des Franco-Regimes zu befassen. Niemand weiß, wer dort liegt und wie viele es sind. Es gibt genügend Familien auf Mallorca, die immer noch nicht wissen, was aus ihren nächsten Angehörigen geworden ist. Sind sie tot, geflüchtet oder leben sie womöglich noch?«

»Dass noch jemand lebt, ist unwahrscheinlich«, bemerkt Manuel.

»Ja, unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

---ENDE DER LESEPROBE---