ELASPHERA - Der Fall des Kaisers - Jannis Raptis - E-Book

ELASPHERA - Der Fall des Kaisers E-Book

Jannis Raptis

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Beschreibung

Elasphera. Ein Mythos, der Wirklichkeit wird. Die Prophezeiung erfüllt sich. Seit jeher war das Kaiserreich im Osten ein Symbol von Macht. Doch der Kaiser wird älter. Sein Sohn ist nicht zum Regieren geboren, und die Aasgeier des Senats kreisen bereits über das einst so stolze Reich. Elasphera erbebt im Schatten einer drohenden Gefahr. Aus der Asche des Goldenen Kerindai erhebt sich die Schwarze Schlange. Alles verändert sich … "Die Kaiserstadt blühende Metropole 'Heil dem Kaiser' war die Parole Jeder hier hatte ein schönes Leben So etwas wird es niemals mehr geben. Weideländer, fruchtbare Felder Karge Steppen, endlose Wälder Das Kaiserreich war die Mutter im Osten Versprach jedem Reichtum und Wohlstand zu kosten. Es kamen vom Osten und weit übers Meer Vor langem die Sippen der Kaisersleut her Sie waren voll stolz und voll Anmut im Blick Und trugen das Goldene Kerindai mit." Liedtext aus: "Das Kerindai" von Jannis Raptis

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IMPRESSUM

AUTOR:

Jannis Raptis

LEKTORAT:

Steffen Lotz

ILLUSTRATIONEN BUCHCOVER & ARTWORK:

Odysseus Stamoglou

ALTE SPRACHE:

Patrick Johann Schmidt

GESTALTUNG & SATZ:

Gerhard Mohler

VERLAG:

edition federleicht, Frankfurt am Main

www.edition-federleicht.de

1. Auflage 2020

© edition federleicht

ISBN 978-3-946112-48-8

E-Book ISBN 978-3-946112-65-5

JANNIS RAPTIS

ELASPHERA

Der Fall des Kaisers

ROMAN

Für meinen Onkel Paschalis

INHALTSVERZEICHNIS

ERSTER TEIL – DAS GOLDENE KERINDAI

WA1 EP9 J9982gegen Mitte des achten Mondes

Prolog

Der Schlaf des Gerechten

Ein heikles Entkommen

Der Schöne und sein Kammerdiener

Süßes Katzi

Die Liebenden

Die erste Erscheinung

Elfenfest

Die Relvan-Affäre

Auf der Flucht

Der Unfassbare

Der neue Politiker

Viele Entschlüsse

Seltsame Morde

Die Gesandtschaft

Das Lager der Rebellen

Der Beginn einer Reise

Mysterien

Der Entschluss des Kaisers

Leibesübungen und Gespräche

Die Last der Kaiserkrone

Kanthara

Zu Hause

Sechs J’hirwaar auf Abwegen

Die Reisfelder von Tush

Der Glanz des Goldenen Ordens

Für die Vision

Der erste Sklave

Der Weg des Avishay

Gromoll

In den Krieg

Auf hoher See

Der Rubin

Freude und Verblüffung

Der Schrecken am Hauptplatz

Unterwegs zum Berg Plendir

Vag Pen

Ein unerwartetes Wiedersehen

Zum Silbernen Haken

Keine Stellungnahme

Sarana erhebt sich

In einer Zwergenstadt

General Okase

Das Große Riff

Kohalam

Die Hilfe der Vier Magier

Die Gefängnisse der Kaiserstadt

Ein Fest im Berg

Fremde Heimat

Kein Zurück

Keine Wahl

Thrandeler

Das erste Geschenk

Wegelagerer

Skarn

Roter Himmel

An der Front

Der Verrückte

Die Bibliothek von Ragosash

Aengalath

Der Traum

Der falsche Pass

Fendoka

Stein und Nebel

Der Halbgott und das Schwein

Ein Zeichen aus Hirluth

Ein bekanntes Gesicht

Ein verlorener Traum von Rache

Die Jagd

Im Herzen des Feindeslandes

Die Blaue Kugel

Verbündete

Rückkehr

Die Kopfgeldjäger von Sinxorin

Die Falle schnappt zu

Ein fairer Tausch

Zwei Mütter

Drai

ZWEITER TEIL – DIE SCHWARZE SCHLANGE

WA1 EP9 J9982gegen Mitte des elften Mondes

Vorkehrungen

Eine eigenartige Bekanntschaft

Freund oder Feind?

Die Stimme der Fithírìnes

Eine trauernde Mutter

Der Rote Drache

Hasuf Pen

Die Fäden des Bewusstseins

Der irre Kaiser

Der barmherzige Kaiser

Der Krüppel und sein Kammerdiener

Azam-Ybt

Mit dem Tode bestraft

Surund Major

Die Wespe und der Vogel

Über den Wolken

Iarumis Wiederkehr

Die Verschwörung

Der Kaiser und der Elf

Hen Maar, Heimat der J’hirwaar

Durch die Wüste

Der Schöne und seine Mutter

Das zweite Geschenk

Der Kaiser und der Drache

Futter für die Skorpione

Der Weg nach Vaal Hur

Alte Freunde

Die erste Anklage

Ioshiba stellt eine Falle

Im Kreuzfeuer

Goldtatze

Vernünftige Wege

Plirandurs Rückkehr

Ein großes Treffen

Dreifacher Mord

Teramyths Macht

DRITTER TEIL – DER FALL DES KAISERS

WA1 EP9 J9983gegen Anfang des ersten Mondes

Hörner und Fanfaren

Freunde

Die Frau seines Lebens

Operation Firlandur

Sarana

Die Blockade

Das Kind Baragas

Die Versammlung der Nymphen

Der Tempel von Gutabur

Hauptmann Cassiran

Fedrosils Entschluss

Die Segnung der Toten

Seletods Stimme

Der Wille der Göttin

Die Dreg’Nas

Die Diener Thengarus

Die Schlacht um Vaal Hur

Der Sturz des Ardenjar

Gefangen

Der letzte Kaiser

ANHANG

Alphabet

Í Phleràs dihtinâ – Die Alte Sprache

Anmerkungen

Í Pa’fithrìa

â Phleràs’nîth

Bâs thén Phidròn ga tō

Bhara isthén ga’r

Isthén sadhròn slo tō

Speïra gath’nís kâ í Thō.

Í Kâan vâish pâ ôn

mistrâ lithîs smû

Kâanpheìras Giàs ga tō

â Hôrhma tō

â Hôrhma tō.

Í Kâangiàn vâish Tohrnôs

okh ghò kâ í Lâhim

í bhara Eîra kâ í Bhýrrî

Kâanpheìras’mui

Kâanpheìras’mui.

Sheléitôde!

Sheléitôde!

Sheléitôdos thârtin tō

Râ’vi ga tō

Râ’vi ga slō

Râ’vi to sheléigân.

Ephìs’ethôn dîar Râpâan misis

Vhâl’ethôn ì gìr’vâar’ethôn â Arhûn

thâr’ethôn ì Eîra’Khorágôn â sheléigân

Thō â Pâania· athlê giàn!

GENAUE ÜBERSETZUNG

Die Geheime Rede

in Bogensprache

Bevor dieses Ende soll kommen

jene Nacht (Finsternis) soll sein

jene(ns) Ankunft soll umwälzen

was der Schöpferin (Schöpfung) Werkstück war und (das) ihre(r) Kinder.

Die Drei wissen zu sagen, ob

passiert was ewig(lich) sie fürchten

Der Menschgewordene Sohn soll kommen

die Rache kommt

die Rache kommt.

Die Vier wissen Richter zu sein (zu richten)

mit (der) Waffe und der Kraft

das schwarze Feuer und die Hölle

die dem Menschgewordenen gehört

die dem Menschgewordenen gehört.

O Tod!

O Tod!

Der Tod kommt am Tag des Mutes (morgen)

Ein Teil des Göttlichen soll kommen

Ein Teil des Göttlichen soll sich niederwerfen

Ein Teil des Göttlichen verschwindet.

Schlechtes Schicksal (Unglück) ist dem(n) lange(n) Leben(s) allein

schlechter Heimat sind die schlecht Bestechung annehmenden aus dem Stein

schlechten Mutes sind die Feuerherzen in Sterblichkeit

Kinder der Mutter: Werdet Eins!

LYRISCHE ÜBERSETZUNG

Die Prophezeiung

in der Alten Sprache

Noch vor dem Dämmern der Welten

Noch vor dem Grauen der Nacht

Des Einen Einzug werd’ zerbersten

Was die höchste Mutter gemacht,

Stets ihrer Sprössling’ bedacht.

Drittlings ward das Orakel

Es geschehe, was ihrer Furcht

Gewordener Mensch, ein Sohn, ein Makel,

Er vollzöge, das keiner horcht –

Es nahet: die Rache.

Es nahet: sobald.

Vierlings ward die Stärke

Zum Richten ward das Ziel

Mit Waffe blank und Kühnheit viel

Auf dass das Höllentor sich merke:

Der Fleischerne gehört zu dir.

Der Fleischerne, er lebt in dir.

O Verdammnis!

O Tod!

Wo Mut und Trost nicht mehr sind

Werd’ Göttliches herniedergehen,

Doch Göttliches werd’ übergehen

In die Welt danach.

Einzig dem, wer lange lebt, Unheil sei anheim,

Einzig dem, wer steinern’ Blut, Mickerigkeit werd’ sein

Und Haus und Hof sei nimmermehr,

Und einzeln dem, wer brennend’ Herz, sei die Sterblichkeit

Mutlos seine Schwäche, tödlich sei sein Leid.

Dies Dunkel ward das Lied des Seins,

Nun, Kinder der Mutter, werdet Eins!

Am Anfang waren das Chaos und die Dunkelheit. Aus der Paarung von Chaos und Dunkelheit entsprangen zwei Götter:

Sphira und Seletod.

Nackt erhoben sie sich aus der kosmischen Masse, tanzten in wildem Entzücken und liebten einander. Mit vereinten Händen schufen sie die Welt Baraga. Hier sollten die Erde und das Feuer entstehen.

Doch die große Hingabe zur Dunkelheit verdarb Seletods Verstand und veranlasste ihn dazu, Sphira zu betrügen und sich zum Schöpfer der Welt zu erklären. Sphira geriet in schrecklichen Zorn, trat ihm mit der Ferse auf den Kopf und schlug ihm dabei die Zähne aus. Ein heftiger Streit entbrannte und die Götter kämpften in den Feuern und Steinen Baragas und als ihre Waffen sich kreuzten, fielen Blitze herab. Doch in ihrer Unsterblichkeit war es ihnen nicht möglich, einen Ausweg zu finden und so verließ Sphira Seletod, verdammte ihn auf alle Ewigkeit und überließ Baraga den Feuern und der Finsternis.

Seletod jedoch fuhr fort, sich der Dunkelheit hinzugeben und brachte Dämonen und dunkle Wesen hervor. Sphira stattdessen schuf die stille Welt Draga, wo sie sich ihrerseits niederließ und Pläne schmiedete. Gleichwohl brachte der Dunkelheit Einfluss auf Seletod den Gott dazu, Rache zu schwören und Sphira den Krieg zu erklären.

Und so geschah es, dass Sphira eine dritte Welt gestaltete, um das Leben zu gebären: Elasphera.

Mit ihrem Gesang trennte sie Erde, Meer und Himmel. Aus ihren Tränen erschuf sie Sonne, Mond und Sterne, aus drei Strähnen ihres Haares Wälder, Wiesen und Täler, aus den Wassern ihrer Weiblichkeit entsprangen die Flüsse, aus der Muttermilch ihrer Brust erhoben sich die Berge und aus ihrem Atem entstanden die Wüsten.

Und als die Göttin ihr Werk vollbracht hatte, gebar sie Kinder, die die lebenden Wesen rufen sollten, verließ Elasphera und verweilte in Draga. Ihre Kinder jedoch führten das Werk der Mutter zu Ende. Sie schufen Tiere, Vögel und Fische, Asseln, Muscheln und Insekten.

Als Nächstes erweckten sie die Nymphen, die jungfräulichen, weisesten Schönheiten, und die Vier Magier, die Elasphera in Zeiten der Not beschützen sollten. Auf dem Gipfel des höchsten Berges Belfear errichteten sie den Tempel ihrer Mutter, Azam-Ybt, den Diamanttempel. Zuletzt aber brachten sie die sterblichen Völker hervor – die langlebigen Elfen, später die Zwerge und die Menschen. Und viele andere gab es noch, die in den Weiten Elaspheras ein Zuhause fanden und von denen manche nun vergessen sind. Auf diese Weise vollendeten sie Mutter Sphiras Werk und wurden eins mit den Wassern, den Bäumen und den Bergen. Doch ihre Geister wachten weiterhin über Elasphera und versorgten die Vier Magier mit Wissen. Es waren die Nymphen, durch deren Münder sie das Wort der Kinder sprachen. So geschah es auch, dass die Vier Magier den Roten Drachen, den Wächter des Diamanttempels, riefen und Ravigato fanden – die Waffe, die Seletod fernhalten sollte, wenn er käme. Die Blaue Kugel.

Und alles wird sich so zutragen, wie Sphira gesprochen und die Nymphen seit Anbeginn der Zeit vorausgesagt haben:

Seletod und die Dunkelheit werden ihr Kind aus Baraga senden. Die Rache wird kommen. Und mit ihr der größte Krieg, den diese Welt jemals sehen wird.

So steht es in Der Prophezeiung und so wird es geschehen.

Gängiger Schöpfungsmythos unter den Völkern Elaspheras. Älteste schriftliche Ausgabe auf etwa WAi, Mitte EP7 geschätzt. Aufbewahrt in der Großen Bibliothek von Elbothroë, der Heiligen Stadt.

ERSTER TEIL – DAS GOLDENE KERINDAI

WA1 EP9 J9982gegen Mitte des achten Mondes

PROLOG

Vaal Hur.

Die Kaiserstadt.

Seit zweitausend Jahren lebten und regierten hier die Kaiser. Hier, im Schmelztiegel des Imperiums, war jeder Kaiser von Gariadina aufgewachsen, durch die prachtvollen Palastgärten geschlendert und in den hohen Hallen gekrönt worden.

Hier, in der Stadt der Kaiser, standen Kultur und Tradition, Bildung und Kunst, Politik und Wohlstand im Mittelpunkt; für jedermann eröffneten sich grenzenlose Möglichkeiten, wenn er die breiten Tore von Vaal Hur durchschritt.

Heute, an einem äußerst heißen Sommertag, schlängelte sich ein kleines Wesen durch das südliche Torhaus. Niemand bemerkte den Neuankömmling, denn es herrschte ausgesprochen reges Treiben. Tausende und abertausende Menschen waren unterwegs, ihre Stimmen vermischten sich zu einem einzigen Gewirr, ihre Gerüche zu einem tausendschichtigen Parfum.

Das alles war für das kleine Wesen jedoch nicht von Belang. Unbeirrt schlängelte es sich zwischen den Füßen der Menschen und J’hirwaar hindurch, überwand jedes Hindernis, wurde mehrmals mit hysterischem Kreischen fortgetreten, wenn es die Fersen einer Frau streifte.

Dabei war diese kleine Schlange nicht einmal besonders auffällig. An ihren Schuppen hafteten noch die Überreste der Eierschale, welcher sie entsprungen. Alles in allem ähnelte sie einem schwarzen, zu groß geratenen Wurm. Mühelos bahnte sich der Schlüpfling seinen Weg durch die unteren Viertel Vaal Hurs, durch die Massen der ärmeren Leute und J’hirwaar, deren Begleiter kein Geringerer als der Tod war. Auch die Moral war in diesen Teilen der Kaiserstadt schon längst gestorben. Geopfert auf dem Altar des täglichen Kampfes ums Überleben.

Das Jungtier kroch und kroch, bis es schließlich die mittleren Ebenen erreichte, wo der Gestank nach Gülle und Verwesung nachließ und die Menschen buntere Gewänder trugen. Selbst die Gebäude waren hier farbiger, größer – und vor allem höher. Rote Dächer und Pflastersteine, Marmorsäulen, pflanzenbewachsene Terrassen und Brücken prägten diesen Teil der Stadt. Elitäre Weinschenken und bierüberschwemmte Kneipen, luxuriöse Bordelle und fast kostenlose Huren, teure Läden und billige Händler, Tempel, Schulen, Schmieden, Theater, Kasernen und Spielhallen; alles vermischte sich hier wie in einem Bilderbuch, das man den Kindern vorliest, wie in dem Farbengemisch eines entrückten, betrunkenen Malers.

Die kleine Schlange bewegte sich pausenlos fort. Sie kämpfte sich durch schmutzige Schaftstiefel, teure Schnabelschuhe, edle Stiefeletten, wertlose Sandalen oder nackte, wundgeriebene Füße. Gelegentlich donnerten ein Federhut oder eine prallgefüllte Handtasche neben ihr zu Boden, doch die Schlange ließ sich nicht aufhalten. Sie erreichte den Hauptplatz, wo das Gedränge am dichtesten war. Alle tummelten sich hier um die große Statue des Ardenjar, scharten sich wie Verdurstende um den heiligen Rauch und sandten dem Gott ihre Gebete. Ein Priester sprach in seinem monotonen Singsang Psalmen und Segnungen. Auch zwischen seinen Füßen flitzte die Schlange hindurch, brachte die Götterstatue hinter sich und verließ den Hauptplatz.

In einer Seitengasse bog sie ab. Hier wurde eine junge Frau belästigt. Schreiend und flehend versuchte sie sich zu wehren, während sie an die Mauer gedrängt wurde.

Die Schlange kroch.

An der nächsten Abzweigung verpasste die Stadtwache einem J’hirwaar die Prügel seines Lebens.

Die Schlange kroch.

Ein Hund strolchte herum und musterte sie neugierig. Kinder spielten mit Würfeln und geschliffenen Tierknochen. Ein Drogengeschäft wurde ausgetragen. Eine Dirne trank Wasser. Streunende Katzen fauchten einander an. Ein Schwein wurde gebraten. Schallendes Gelächter erklang.

Die Schlange kroch.

Vieles geschah in der Kaiserstadt – Gutes und Schlechtes. Und die Schlange kroch, weiter und weiter; nichts würde sie aufhalten.

Sie erreichte schließlich die Oberstadt von Vaal Hur, deren Höhepunkt der legendäre Kaiserpalast darstellte. Hier hielten sich nur wenige Menschen auf, von J’hirwaar ganz zu schweigen. Große prunkvolle Anwesen in vielen Farben, ein rundes Theater und ein besonders prächtiger Tempel waren für die Wenigen und Guten errichtet, kündeten von den Jahrhunderten, die sie überstanden hatten. Gepflasterte Wege trafen und trennten sich und führten allesamt zu den riesigen Kaiserlichen Gärten und schlussendlich zum Vorhof des Palastes, der vom Schatten des Turmes verdunkelt wurde. Bunt gekleidete Menschen, ihre Gesichter hinter viel zu dick aufgetragener Schminke verborgen, unterhielten sich mit verstellten Stimmen und hochgezogenen Augenbrauen, während sie mit ihren Gehstöcken und parfümierten Taschentüchern wedelten.

Zielsicher bahnte die kleine Schlange sich ihren Weg durch den Hof, folgte der marmornen Treppe und durchquerte das Palasttor.

Im Inneren des Kaiserpalastes herrschten angenehm frische Luft und Stille – die erhabene Stille des Adels. Nur das Kritzeln der Schreibfedern, das Knistern der Pergamentrollen und die leichten Schritte der Passanten waren zu hören. Als das Wesen weiterkroch, ging ein leises Zischen durch die Gänge, fast wie ein unverständliches Flüstern. Die Schlange kroch weiter und weiter, unaufhörlich. Sie schlängelte sich durch die Wendeltreppen des Palastturmes, wich den Kaiserlichen Gardisten aus, den Senatoren mit ihren ernsten Mienen und den zahllosen Dienern.

Und sie erreichte schließlich das Schlafgemach des Kaisers, des Herrn von Gariadina. Es fiel ihr leicht, sich durch das Schlüsselloch zu zwängen und in die Kammer zu gelangen. Sie fand nicht, wonach sie suchte, machte kehrt, verließ das Zimmer und begab sich zum Senatssaal.

Zahlreiche Männer hatten sich hier versammelt, saßen allesamt um einen langen Tisch und debattierten angeregt. Und an ihrer Spitze befand er sich. Jener, den die Schlange gesucht hatte, jener, dessentwegen sie hier war.

Der Kaiser von Gariadina.

Kaiser Ioshiba, hundertster Herrscher des Kaiserreiches im Osten und Erwählter des Goldenen Kerindai, Sohn des Takeda, Sohn des Torikaga, Träger der Kaiserkrone und des Roten Dreiecks und des Schwertes der Kaiser, geistliches Oberhaupt, oberster Heerführer und Herr des Volkes von Gariadina.

Die Schlange kroch unter den Tisch und kämpfte sich zwischen polierten Schuhen von Aristokraten hindurch. Als sie den Kaiser erreichte, glitt sie unter dessen gelbe Seidenrobe und schlängelte sich seine Beine entlang nach oben. Der Mensch sträubte sich. Er spürte ihre Ankunft, spürte das fremde Etwas, das ihn heimsuchte – und doch hätte er es nicht benennen, hätte nicht mehr erahnen können als einen zarten Sommerschnupfen, der ihn gefunden und so schnell verlassen hätte, wie er gekommen.

Mit der Geschwindigkeit eines Pfeils kroch die Schlange weiter, bis sie aus dem Kragen des Seidengewandes lugte. Sie hatte ihr Ziel erreicht: den Kopf des alten Mannes. Ohne dass irgendjemand im Senat sie hätte sehen, ohne dass selbst der Kaiser davon hätte Notiz nehmen können, schoss sie in sein linkes Nasenloch, kämpfte sich durch die Dunkelheit und nistete sich schließlich in sein Gehirn.

Hier würde sie bleiben.

DER SCHLAF DES GERECHTEN

Wie eine verwitterte Statue der Apostel Ardenjars stand Kaiser Ioshiba auf dem Balkon seines am höchsten gelegenen Schlafgemaches. Die gelben kaiserlichen Seidengewänder, in denen er tagtäglich durch den Palast schritt, flatterten sanft im Wind und streichelten seine knochigen Hände, die auf der Balkonbrüstung ruhten. Sein Blick schweifte über die in den rötlichen Schein der untergehenden Sonne getauchte Stadt, die zu jeder Stunde voller Leben war, und anschließend über die Weideländer jenseits der Stadtmauern.

Gariadina.

Das Kaiserreich. Sein Imperium.

Ein Vogelschwarm flog dicht am Turm vorbei, umkreiste die Kuppel, wurde wieder vom Abendrot verschlungen.

Er war so müde. Wie lange hatte er nicht geschlafen? Eine Nacht? Zwei?

Seufzend wandte der Alte den Blick von der fast künstlichen Kulisse und bemerkte, dass die rote Sonne noch ein Stückchen gewichen war. Wie gnadenlos schnell die Zeit nur verging! Und mit ihr schwanden seine Kräfte. Die Zeit eines neuen Kaisers nahte.

Dreißig Jahre des Herrschens lagen hinter ihm. Er wusste, dass solch eine Vergangenheit jeden anderen in seinem hohen Alter gebrochen hätte. Doch er stand noch. Aufrecht und würdevoll wie eh und je, die braunen Augen stets aufmerksam, der lange, dünne Bart zu jeder Stunde sorgfältig gewachst. Wie lange aber vermochte er noch zu stehen? Wie lange noch würde Ardenjar ihn stützen?

Ein letztes Mal für diesen Tag sättigte Ioshiba seinen Blick an den zahllosen Flaggen des Reiches, bevor er der untergehenden Sonne schließlich den Rücken kehrte und in das Zimmer trat. Auch das Schlafgemach war in den Schein der sommerlichen Abendsonne getaucht. Angenehme Ruhe beherrschte diesen Ort. Das Getöse der Metropole drang nicht bis hierher, wofür Ioshiba sehr dankbar war. Es tat gut, endlich allein zu sein. Den ganzen Tag lang war er von Leuten umgeben. Ob es nun sein Hofstaat, die Adligen und die Wachen waren, die Vögel in seinen Gärten, oder die echsenäugigen Kerindai, auf denen seine Boten ritten. Er war nie für sich.

Nur in seinem Bett lag er seit fast zwanzig Jahren allein. Sie war jung gestorben, die Frau des Kaisers. Eine üble Lungenkrankheit hatte sie binnen kürzester Zeit der Welt der Lebenden entrissen. Und Iarumi, Ioshibas einziger Sohn, hatte als Sechsjähriger mit einer verstorbenen Mutter und einem Vater im Kaiseramt fertigzuwerden gehabt. Ganz gleich, wie oft er Ioshiba enttäuscht hatte, tief in seinem Inneren konnte der Kaiser seinen Sohn verstehen; es ihm nicht verübeln, dass er sich zurückgezogen und dem eigenen Erbe – dem Dasein eines Kaisers! – abgeschworen hatte. Iarumi hatte den Frieden gewählt. Das Leben.

Und das ging nicht Hand in Hand mit dem Kaisersein.

Diese Bürde brach schlussendlich jeden noch so starken Körper und Geist. Und nun, am Ende seines Lebens, bekam Ioshiba das mehr als deutlich zu spüren. Was blieb zum Schluss? Außer der Erkenntnis, dass er – der Kaiser – tatsächlich der demütigste aller Diener Gariadinas war?

Seufzend setzte er sich auf die Bettkante.

„Fengolas“, sagte er und sofort öffnete sich die zweiflügelige Zimmertür.

„Erhabener“, begrüßte ihn sein Kammerdiener routiniert und machte sich daran, den Kaiser aus seinen Gewändern zu befreien. „Seid Ihr wohlauf, Erhabener?“

„Es geht mir gut“, antwortete ihm Ioshiba abwesend. „Aber frag mich morgen früh noch mal.“

„Ruht Euch aus, Erhabener, Ihr benötigt Schlaf.“

Ioshiba seufzte. Schweigsam wartete er ab, bis Fengolas seine Arbeit getan hatte, dann schickte er ihn fort, zog sich sein dünnes Schlafhemd an, um schließlich wie ein abgeschossener Soldat in die rosaroten Federn zu sinken. Er würde endlich wieder schlafen.

Den ganzen Tag, die vergangene Nacht und auch den Tag davor war er unaufhörlich auf den Beinen gewesen. Er war gleichzeitig Bürgermeister, Stratege, Anführer, Richter, geistliches Oberhaupt und eben: der Kaiser. Er war das Haupt eines ganzen Volkes, er war jener, vor dem sich die Menschen des Ostens verbeugten und den alle als Vater und Beschützer sahen. Er war jener, ohne den nichts mehr funktionieren würde und ohne den nichts so wäre, wie es jetzt war.

Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass viele ihn um sein Leben im Wohlstand beneideten. Konnte er doch tun und lassen, was er wollte. Unwissende Narren! Kein zehngängiges Bankett konnte die Schwäche, kein noch so teures Himmelbett die Erschöpfung mildern, die den Kaiser plagten. Und ihm blieb kaum Zeit zum Ruhen, keine Zeit zum Abschiednehmen und dem Alterstod ins Auge zu blicken. Noch immer waren etliche Aufgaben zu bewältigen, die eines klaren Verstandes und harter Ausdauer bedurften. Angelegenheiten, die Ioshiba zu bekämpfen hatte – und die ihn bekämpften. Die rostigen Glieder der Kette, die sorgfältig und gnadenlos entfernt werden mussten.

Sein Nachfolger musste dieses größte Werk mit Leidenschaft, Hingabe und geübtem Können fortführen.

Aber es gab keinen Nachfolger.

Iarumi würde das Reich wahrscheinlich ins Verderben stürzen, wenn ihm die Last der Krone aufgezwungen werden sollte. Dann wäre all die Arbeit, die Ioshiba und seine erlauchten Vorväter geleistet hatten, umsonst gewesen.

Nein, es musste jemand den Thron besteigen, der Gariadina liebte. Jemand, der … Wärmeschauer gingen durch Ioshibas Körper, als seine Nerven sich entspannten und sein Atem in gleichmäßiges Schnurren überging. Für die nächsten acht Stunden durften alle quälenden Fragen ihm gestohlen bleiben. Er gab sich ganz der Müdigkeit hin, ließ sich von der Matratze einsaugen und von den Kissen verschlingen. Er würde ruhen …

Heftiges Türklopfen ließ den Kaiser unvermittelt hochschrecken und schlug die absurden Bilderkombinationen, die in seinem Kopf umhergeisterten, jäh in die Flucht. Er war kurz davor gewesen, einzuschlafen!

Benommen setzte er sich auf, verließ seine weiche Bettstatt und schlurfte zur Tür.

Er würde wohl nie zur Ruhe kommen.

„Wer stört mich?“, brummte er und öffnete die Tür.

„Erhabener, hier ist jemand, der Euch sprechen möchte“, sagte der Gardist, der wie alle Angehörigen der Kaiserlichen Garde gänzlich in einer schwarzen Rüstung steckte. Ein Diener des Kaisertums, eine einzige Einheit unter hunderten, ein Mann ohne Persönlichkeit, ein Loyalist, den jeder als eine der Schwarzen Wachen kannte.

„Um diese Zeit?“, rief Ioshiba überrascht. „Wer ist es?“

Der Gardist trat einen Schritt zurück und unterstrich sein konsistentes Fehlen an Emotion, indem er wie eine Maschine den schwer gerüsteten Kopf wendete und auf eine Gestalt deutete, die noch während Ioshiba gesprochen hatte, eingetroffen war.

„Senator Relvan!“, begrüßte Ioshiba den Ankömmling. „Wie erklärt Ihr Euren unangemeldeten Besuch?“

„Ich hatte gehofft, Euch hier vorzufinden, Erhabener.“ Der schwarzhaarige Mittvierziger atmete aus, was ein formelles Lächeln darstellen sollte. Dann neigte er das Haupt. „Ich habe keinesfalls die Absicht gehegt, Euch in Euren Privatgemächern zu stören und ebenso wenig erstrebe ich sinnentleerte Spaziergänge durch den Palast, aber es handelt sich um eine dringliche Angelegenheit.“

„Eine dringliche Angelegenheit!“, wiederholte Ioshiba feierlich. „Sind sie das nicht alle! Senator, möge Ardenjar Eurer Seele gnädig sein, wenn Ihr keinen triftigen Grund habt, mich um diese Zeit aufzusuchen!“ Er atmete bebend aus und bemerkte, dass der Schwarze Gardist seine Patrouille fortsetzte.

Eine Maschine des Staates.

„Erhabener, er ist entkommen“, fuhr der Senator besorgt fort.

„Wer?“

„Der Gefangene. Heute Abend, keine halbe Stunde ist es her“, erklärte Relvan und eine tiefe Sorgenfalte nistete sich zwischen seine schwarzen Augenbrauen.

„Ihr meint den Staatsfeind?“

„Sehr wohl, Erhabener. Er sprach davon, dass er den Tod seines Bruders rächen würde. Für die Dreg’Nas.“ Relvan schluckte geräuschvoll und bohrte seine dunklen Augen in die des Kaisers. In dem Moment erweckte sein fahles, kantiges Gesicht zusammen mit dem öligen schwarzen Haar und dem dürren Körper einen geradezu grotesken Eindruck. „Er hätte uns viel über die momentane Lage der Widerständler sagen können. Ich beauftragte Hauptmann Cassiran, die Verfolgung umgehend aufzunehmen, aber, nüchtern betrachtet, suchen wir nach der Nadel im Heuhaufen.“

„Verdammt“, knurrte Ioshiba.

„Die Lage ist außer Kontrolle geraten, als der Irre mehrere der Kerkerwachen einfach zur Seite fegte und losrannte. Dabei war er so wichtig für uns! Er war tief im innersten Kreis der Rebellen, er …“

„Genug“, unterbrach ihn Ioshiba genervt und atmete aus. War das zu fassen? Seit Jahrzehnten war kein Insasse aus den Gefängnissen der Kaiserstadt geflohen!

„Erhabener, seid unbesorgt“, entgegnete Relvan. „Ich werde mich um alles kümmern.“

„Ihr wollt Euch um alles kümmern?“, sagte Ioshiba schneidend. „Und wie gedenkt Ihr, das zu tun, Senator?“

„Wen wollt Ihr sonst in Erwägung ziehen, Erhabener?“, antwortete Relvan und seine Stimme klang bedrohlich leise. „Senator Nethan? Seine zarten Finger schließen sich immer enger um die Kehle Eures Sohnes, während er die Klinge mit mir kreuzt. Oder etwa Euren Sohn selbst?“

„Untersteht Euch!“, entfuhr es Ioshiba. „Wagt es nicht noch einmal, den Namen meines Sohnes in den Schmutz zu ziehen, denn was auch immer er für eine Rolle spielt in diesem Reich, er ist und bleibt mein Sohn!“ Mit pochenden Schläfen und erhobenem Zeigefinger bohrte er seinen Blick in den Relvans. „Habt Ihr mich verstanden, Senator?“

Relvan neigte hastig das Haupt und Ioshiba erkannte, dass der Jüngere erschrocken war.

„Ich bitte um Vergebung, Erhabener“, sagte Relvan kleinlaut. „Ich hätte nicht die Gedanken Nethans übernehmen dürfen.“

„Und sprecht nicht schlecht von Senator Nethan, denn er ist ein Mann von Ehre, ohne den der Senat oft ein Haufen Wilder wäre“, fuhr Ioshiba fort und für einen Moment war die Müdigkeit gewichen.

Einige Herzschläge lang sah Relvan seinen Herrn mit angestrengt in Zaum gehaltener Überraschung an. „Ich muss mich entschuldigen, Erhabener“, antwortete er schließlich nüchtern. „Ich hätte meine Zunge hüten sollen. Bitte vergebt mir. Euch zu dienen, ist mein einzig Bestreben.“

Ioshiba seufzte und machte eine beschwichtigende Geste. Er wusste, was Relvan von ihm erwartete. Und er wusste, dass er nicht der Einzige war, den die Frage nach dem geeignetsten Nachfolger oder dem höchsten Diener Gariadinas beschäftigte. Relvan wollte seine Dienste einmal mehr unter Beweis stellen. Eine Weile herrschte Stille und der nervöse Senator schien seine Ungeduld nur mit Mühe zügeln zu können. Schließlich wagte er die Frage: „Wie lauten Eure weiteren Befehle, Erhabener?“

Ioshiba schluckte, ordnete seine Gedanken und deutete mit dem Finger auf Relvan. „Die Garde muss diesen Sträfling umgehend ausfindig machen und in das Kerkerloch zurückbringen, aus dem er ausgebrochen ist. Begebt Euch, wenn es sein muss, persönlich zu den Vertretern des Hauptmanns. Ich übergebe Euch, Senator Relvan, die volle Verantwortung für diese Operation. Kehrt erfolgreich zurück und niemand muss in der morgigen Ratssitzung davon erfahren.“

Der Senator machte eine übertrieben ergebene Verbeugung. „Habt Dank, Erhabener. Für das Kaiserreich!“

Dann machte er am Absatz kehrt, folgte dem Gang und verschwand in der Finsternis.

Ioshiba vertraute diesem Mann voll und ganz. Sein Ehrgeiz, seine Demut und der ständige Drang, etwas Gutes für sein Land zu tun, prägten Relvan. Tatsächlich schien er kaum nach der Macht des Thrones zu streben. Vielmehr wirkte er wie ein Fanatiker des Kaisertums, wie jemand, dessen ganzes Lebenswerk darauf fußte, zu dienen und zu arbeiten. Relvan war einer der wenigen. Innerhalb der Palastmauern spielte sich ein völlig eigenständiges Theaterstück ab, von dem das Volk, Ardenjar sei Dank, nichts mitbekam. Die Gerichtsverhandlungen häuften sich, das Misstrauen wuchs. Machtstreben, Karriere und Geld waren für viele der Politiker der Ansporn, so hart zu arbeiten und ihrer Nation zu dienen. Intrigen standen auf der Tagesordnung und kaum jemand wunderte sich mehr über das ehrlose Streben, das so viele der Männer antrieb. Unlängst waren von Baron Suboran bezahlte Giftmischer dabei ertappt worden, wie sie Senator Hyrosan hatten den Garaus machen wollen. Vergangenes Jahr waren zwei Kandidaten für die nächsten Gouverneurswahlen mit durchgeschnittenen Kehlen in ihren Gemächern aufgefunden worden.

Ioshiba fürchtete den Tag, an dem solche Schlangenbruten sich auch in den Senat schleichen würden – den ältesten Rat des Landes. Den Rat, in dem Ehrlichkeit, Vertrauen und Sicherheit herrschten. Wenn der Senat vergiftet wurde, dann schwebte Gariadina in unvorstellbar großer Gefahr.

Erschöpft drehte der Kaiser sich um, winkte der Wache zu, schloss die Tür und verriegelte sie mehrmals. In diesem Moment war es ihm gleich, ob der Staatsfeind eingefangen würde, ob er starb, oder ob er schon längst über alle Berge war.

Er wollte nur noch schlafen.

Zum zweiten Mal an diesem langen Tag legte er sich in sein Bett. Noch ehe er die Augen schloss, wurde er von zusammenhanglosen Bildern und Gesprächsfetzen überhäuft. Gedanken, Erinnerungen und Stimmen vermischten sich zu einem bizarren Schlaflied, das Ioshiba schließlich weit forttrug. Kurz bevor der Schlaf ihn packte, wurde dem Kaiser auf bedrohliche Art wieder klar, wie müde er war. Seine Hülle glich einem hohlen Apfel, den Würmer und Maden zerfressen hatten. Er konnte seit geraumer Zeit geradezu fühlen, wie ein schrecklicher Wurm in seinem Inneren wucherte und ihn langsam aber sicher zerfallen ließ. Plötzlich überkam ihn die letzte Stufe der Müdigkeit, übermannte ihn und ließ ihn endlich schlafen. Er war ein alter Mann. Ardenjar würde sich in absehbarer Zeit seiner Seele annehmen.

Es war bald Zeit für einen neuen Kaiser.

EIN HEIKLES ENTKOMMEN

Plirandur rannte um sein Leben.

Es gab kein Zurück. Jetzt hieß es: laufen oder sterben.

Ohne zurückzublicken, kämpfte der Dreg’Na sich durch die Menschenmassen am Hauptplatz. Wie lange rannte er schon? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er schwitzte in Sturzbächen, hustete Blut, lief sich die nackten Füße wund. Was wäre ihm auch für eine Wahl geblieben? Er hatte die Gelegenheit erkannt und beim Schopfe gepackt.

Wer eine halboffene Zellentür und einen komplett verlassenen Gefängnisgang ignorierte, der verdiente die Freiheit auch nicht.

Plirandur war in die Abenddämmerung hinausgeeilt, barfuß, abgemagert und mit dem Blick des gehetzten Tieres. Zu groß war sie gewesen, die Freude, die sommerliche Abendluft einzuatmen, anstatt sich über irgendetwas zu wundern. Dabei hätte er wissen müssen: Es war zu einfach gewesen.

Als die Stimmen der Gardisten ihn aus dem Taumel des Triumphes gerissen hatten, war Plirandur losgerannt. Mitten in die Nacht hinein, ohne den Hauch einer Ahnung, wohin er unterwegs war, außer: in die Freiheit. Er hatte einen Teil der Kaiserlichen Gärten durchquert, war durch die blitzblanken Straßen der Oberstadt gerast, über eine niedrige Umfassungsmauer geklettert und in eine Gasse abgebogen, bevor er schließlich in die mittleren Ebenen der Stadt ausgespuckt worden war, wo zu jeder Stunde reges Treiben herrschte. Dort hatte er sich instinktiv einer Gruppe betrunkener J’hirwaar angeschlossen. Fünf Minuten später waren die Stimmen der Kaiserlichen an sein Ohr gedrungen. Außer Atem und vollkommen entkräftet war er erneut losgerannt. Seitdem waren die Bluthunde des Kaisers ihm verdammt dicht auf den Fersen.

„Scheiße“, hörte er sich fluchen, als er nun eine alte Frau mit Krücken niederfegte und dabei selbst gefährlich ins Schleudern kam.

Es wurde eng. Allmählich begannen sich auch Zivilisten, Plirandur in den Weg zu stellen. Das Gedränge war Segen und Fluch zugleich. Es hätte ihm Schutz verschafft, wäre er nicht mit dem viel zu auffälligen Aussehen des entflohenen Gefangenen gestraft gewesen. Er war seit Wochen ungewaschen, trug nichts als die zerschlissenen Leinen der Inhaftierten. Haar und Bart vereinten sich zu einem struppigen Gewirr, das ihn mehr wie einen Waldmenschen aussehen ließ, denn wie einen Bürger der Kaiserstadt.

„Dort vorne ist er!“

Panisch zog Plirandur den Kopf ein, rannte in gebückter Haltung weiter. Es war die Hölle los. Nun, da die Sonne untergegangen war, erwachte das Nachtleben von Vaal Hur. Von allen Ecken erklang Musik, es roch nach gebratenem Essen und allerlei Süßigkeiten sowie nach Parfums, deren Ziel nur ein einziges war.

Der Fliehende zwängte sich zwischen zwei beleibte Dirnen, deren aufgedunsene, von Drogen und Exzess gezeichnete Gesichter unter billiger Schminke begraben lagen, und gelangte in eine rot beleuchtete Seitengasse, wo deutlich weniger los war. Räucherstäbchen und illegale Substanzen vermischten sich zu einem Duft, der ihn unter anderen Umständen benommen gemacht hätte. Aus einer der Bars drang das losgelöste Cembalospiel eines Alleinunterhalters. Überall standen Dirnen in kurzen Röcken und hohen Stiefeln – die jüngste unter ihnen mochte kaum älter als dreizehn Jahre zählen.

Plirandur verringerte sein Tempo, spuckte Blut. Er spürte die Blicke der Umstehenden. Vermutlich hätte er an ihrer Stelle auch verdutzt dreingeschaut. Dieser Ankömmling sah nicht aus wie jemand, der für Liebesdienste zahlen konnte. Um genau zu sein, sah er nicht einmal aus wie jemand, der sich daran erinnerte, wie das Liebesspiel funktionierte.

Eine Weile folgte der Entflohene der engen Gasse des Rotlichtviertels, zog sich dabei das Sträflingsgewand aus und warf es in eine brennende Mülltonne. Im selben Moment sah er eine Ratte zwischen seinen schwarz verfärbten Füßen hindurchflitzen. Aus einem offenen Fenster drang das gekünstelte Stöhnen einer Hure an sein Ohr. Vor einem der Lusthäuser spielte eine Gruppe abgehalfterter Kaiserlicher Karten und rauchte Wasserpfeife. Ein torkelnder J’hirwaar mit Augenklappe und Tätowierungen rempelte Plirandur an. Sein Panthergesicht war abgemagert, aus seinem halboffenen Raubkatzenmund stieg Plirandur der Geruch von Alkohol in die Nase.

„Pass auf, wo du hintrittst“, lallte der J’hirwaar mit seinem unverkennbaren Akzent, als er weiterging.

Von irgendwoher rief Plirandur eine Frauenstimme zu sich. Mehr und mehr der Straßendirnen boten ihm schöne Stunden für Spottpreise an. Als manche von ihnen seinen nackten Oberkörper mit gackerndem Gelächter betasteten, wehrte er sich nicht dagegen.

Langsam beruhigte sich sein Puls. Was nun? Wo steckte er? Wie konnte er diese Stadt verlassen, ohne erneut gefasst zu werden?

Er fuhr herum, als am Anfang der Gasse plötzlich der markante Gleichschritt der Kaiserlichen Garde auf sich aufmerksam machte.

Es gab kein Zurück mehr für Plirandur, den Dreg’Na.

„Du da“, rief er ein Mädchen an, das hinter einem Perlenvorhang stand und ihn aus großen Augen anblickte. „Dich nehm ich.“

Er befreite sich von den Händen, die ihn tätschelten und trat durch den Vorhang ins Innere des Gebäudes. Der Geruch von Duftkerzen, billigem Parfum und abgestandenem Schweiß umfing ihn. Nur drei Öllampen sorgten für schummriges Licht.

„Kannst du bezahlen?“, hörte Plirandur eine Frau hinter der Theke sagen. Ihre Stimme klang kalt und freudlos.

„Nicht bevor ich weiß, was ich krieg“, kam es aus Plirandur geschossen.

Das musste der Überlebensinstinkt sein, von dem er so oft gehört hatte.

„Die Kleine hat ’nen Arsch wie’n siebenjähriger Knabe und ihre Frucht duftet nach frischem Pfirsich“, schalt ihn die Barfrau genervt. „Was willst du da noch wissen?“

Zwei Mädchen in einer Ecke verfielen in verspieltes Kichern.

„Also, zwei Dukaten für die Kleine. Und wenn du’n großes Herz hast, lässt du noch einen für die alte Mühle hier springen. Renovierung und so.“

Plirandurs Herz machte einen Sprung, als er durch den Perlvorhang sah, wie die Straßendirnen von einem der Gardisten ausgefragt wurden. Kaum eine Sekunde später deutete eine von ihnen direkt in Richtung des Hurenhauses, in das er eingetreten war.

„Verdammt“, zischte er und ging sofort in Deckung.

„Da brat mir doch einer ’nen Storch“, kam es von der Theke. „Du bist auf der Flucht.“

Es klang wie ein Todesurteil. Gehetzt blickte Plirandur zur Barfrau. Ihr Gesicht schien einzig aus Falten zu bestehen, ihre silbernen Augen hatten jeden Glanz verloren, doch das konnte auch am unsteten Licht der Öllampen liegen. Eine Weile sah sie Plirandur ausdruckslos an, dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und sagte: „Tut mir leid, mein Hübscher.“

Im selben Moment sah er den Gesetzeshüter durch den Perlenvorhang treten. Instinktiv warf er der Barfrau einen flehenden Blick zu, doch die schien jeden Sinn für Mitleid schon lange verloren zu haben. Plirandur presste nur enttäuscht die Lippen zusammen, als er sie sagen hörte: „Er ist hier.“

Dann kam es. Das Brennen im Magen. Dieses eigentümliche Brennen, das sich vor jedem Kampf ankündigte.

Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, stürmte Plirandur aus seiner Deckung und packte den Geharnischten von hinten. Der Kaiserliche hatte keine Gelegenheit, sich zu wehren oder gar nach Verstärkung zu rufen. Plirandurs Unterarme schlossen sich um dessen Hals, drückten ihn so fest, dass der Helm von seinem Kopf glitt und klirrend auf dem Dielenboden landete. Sofort verfielen die Dirnen in hysterisches Kreischen.

Dann ließ Plirandur vom Kaiserlichen ab und stieß ihn von sich. Noch während der Gardist taumelnd um sich tastete, riss der Dreg’Na das Kurzschwert aus dessen Waffengurt und bohrte es seinem Feind in den rot angelaufenen Hals. Kein Laut kam über die Lippen des Sterbenden, als eine Fontäne aus Blut Plirandurs Gesicht in eine Maske des Schreckens verwandelte.

„Hier! Hier ist er!“, kreischte die Barfrau unkontrolliert und hämmerte wie besessen auf den Tresen.

„Halt dein Maul!“, schrie Plirandur, während er aus dem Affekt heraus die junge Dirne packte, die ihn hierhergelockt hatte. „Halt dein Maul, du dummes Weib, oder ich schneide der Kleinen die Kehle durch!“

Die Ältere verstummte und wich zurück, einer in Bedrängnis geratenen Spinnenmutter gleich. Wie sie Plirandur aus ihren glasigen Augen anstarrte, sah sie geradezu beängstigend aus. Auch die übrigen Mädchen schwiegen.

„Kein Wort mehr“, zischte Plirandur und verstärkte seinen Griff, während er die blutbesudelte Klinge an den zarten Hals der Jungen presste. „Ich lass sie ausbluten, wenn auch nur eine von euch Drecksschlampen einen Mucks von sich gibt.“

Mit weit aufgerissenen Augen suchte er das Hurenhaus nach einem Fluchtweg ab. Eine Treppe führte nach oben. Mehr gab es nicht. Als die Stimmen der Gardisten auf der Straße lauter wurden, wusste Plirandur, dass er keine Wahl hatte.

Er warf der Barfrau einen letzten Blick zu, dann ließ er von der jungen Dirne ab, stieß sie von sich und rannte los.

„Hier, hier ist er!“, hörte er, während er sich im Höllentempo des Gejagten in das Obergeschoss begab und in einen spärlich beleuchteten Gang gelangte.

Schon drangen die Schritte der Stadtwache an Plirandurs Ohr. Verdammt, diese Hunde waren schnell! Ohne nachzudenken, schlug der Gehetzte eine der Türen auf und stolperte in das Zimmer. Erschrockenes Geschrei antwortete ihm, als die schwarzhäutige Dirne und ihr fettleibiger Freier ihn erblickten – einen wildfremden Bärtigen, blutbesudelt, kaum bekleidet, mit dem triefenden Schwert in der Hand.

Doch Plirandur hatte keine Augen für sie. Er hörte die Schritte seiner Verfolger auf der Treppe, wusste, dass es keinen Ausweg mehr gab – außer einen. Mit dem Tunnelblick des Mannes, der nichts mehr zu verlieren hat, eilte er durch das Zimmer, öffnete das Fenster und kletterte hinaus.

„Dort ist er! Ergreift ihn!“, hörte er noch die Stimme eines Kaiserlichen.

Plirandur sprang ins Ungewisse. Eine Weile segelte er durch die Nacht, dann landete er auf einer Plane. Der Knauf des Schwertes bohrte sich in seinen Magen. Kurz bevor das Stofftuch seinem Gewicht nachgab, sah er die Männer des Kaisers am Fenster stehen.

Unter dem Knarren auseinanderfallender Pfeiler und dem Geräusch reißenden Stoffes landete Plirandur auf einer Amphore, die klirrend in tausend Scherben zerbarst. Die Landung war schmerzhaft. Sofort war der Dreg’Na auf den Beinen, sah sich um, stellte fest, dass er sich in einer verlassenen Seitengasse befand. Er rannte los.

Jetzt oder nie.

Er wusste nicht, wie lange er rannte. Er wusste nicht, wohin er rannte. Er wusste nur, dass er hier fort musste. Fort von dem Moloch namens Vaal Hur, fort von dem Nest der Schlangen, die ihn töten wollten, fort von jenen, die seinen Bruder auf dem Gewissen hatten.

Aus irgendeinem Grund, den er niemals erfahren würde, hatte er es geschafft, dem Gefängnis zu entfliehen. Sich nun wieder fassen zu lassen, kam nicht infrage.

Es gab nur mehr zwei Möglichkeiten: laufen oder sterben.

DER SCHÖNE UND SEIN KAMMERDIENER

„Dies war die letzte Serenade für Herrn Relvan! Es ist um ihn geschehen“, lachte Senator Nethan.

Morgendliches, grelles Sonnenlicht drang durch die weiten Fenster seiner Suite. Deutlich konnte er die wie durch Zauberei in der trockenen Luft tanzenden Staubkörner erkennen. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, saß nun im Erker auf der gepolsterten Bank und blickte auf die Kaiserlichen Gärten herab. Sein Kammerdiener hatte soeben das Frühstück gebracht: warmes Gebäck, Butter, Marmelade, Ei mit Speck und eine Kanne Schwarztee.

„Er ist ein Narr, ein unvorsichtiger Dummkopf ohne jegliches Fingerspitzengefühl. Weniger Verstand als ein J’hirwaar.“ Nethan schüttelte den Kopf. „Ein weiteres Mal drängt sich mir die Frage auf: Wie hat dieser Mensch es vor zwanzig Jahren in den Senat geschafft? Und wie, bei Ardenjar, hat er es so weit gebracht, vier Jahre lang den Posten des Außenministers zu belegen? Wie?!“

„Das frage ich mich auch, Herr!“, keuchte Nethans Kammerdiener Pereon, wobei er seine Halskrause mit Geifer benetzte.

„Keine Bange“, fuhr Nethan ausatmend fort. „Jetzt habe ich ihn. Dies ist die Stunde, in der seine korrupten Schweinereien Relvan den Garaus machen werden. Oh, wie ich diesen Tag herbeigesehnt habe!“

„Sehr wohl, mein Herr.“ Pereon neigte das Haupt.

Jeder, der den Kammerdiener des jüngsten Senators jemals zu Gesicht bekommen hatte, würde dessen Erscheinung wohl nie vergessen. Pereon war geradezu ein Krüppel von einem Mann, eine bucklige, zwerggroße Kreatur mit kahlem Schädel, dauernd geschürzten Lippen, wachsamem Blick und der schmeichlerischen Flüsterstimme des Opportunisten.

„Bei aller Abscheu, die ich vor Iarumi habe: Der Prinz spuckt zumindest nicht auf das Goldene Kerindai“, sagte Nethan. „Es ist ihm einfach völlig egal. Ioshiba wäre ein Tor, ihn zu seinem Nachfolger zu ernennen, jeder weiß das. Und die letzten dreißig Jahre hat er bewiesen, dass er keineswegs so töricht ist. Relvan jedoch hat mein Volk, mein Land und mein Bestreben, für Gariadina zu sterben, durch seine bloße Präsenz entehrt.“

Nethan fuhr sich durch das frisch gewaschene Haar. Dann wandte er sich vom Fenster ab und blickte in die Suite, wo Pereon ergeben und mit seiner lächerlichen Fratze stand, die Hände vor dem Bauch zusammengefaltet, die Augen auf seinen Herrn gerichtet. Nethans Blick glitt durch das ganze Gemach, vom Schrank zum Bett, zum Schreibtisch und schließlich zum großen Spiegel, wo er zur Ruhe kam.

Das Gesicht des Schönen wirkte heute blass und seltsam gealtert – ganz sicher nur, weil er nicht geschlafen hatte. Das schulterlange, goldblonde Haar war nicht allzu ordentlich durchgekämmt, die sonst so roten Lippen sahen nun ein wenig farblos aus und einige unübersehbare Falten zogen sich quer durch das feingeschnitzte, luchsähnliche Gesicht. Die Augen strahlten nicht das magische Feuer aus, das sonst jede Frau in ihren Bann schlug.

Und dennoch.

Selbst in diesem Zustand würde Nethan hervorstechen wie eine brennende Fackel in der Dunkelheit, wie ein Rohdiamant in einem Kohlehaufen. Die Frauen des Kaiserreichs lagen ihm zu Füßen. Er war jemand, der kurz davorstand, den Gipfel seiner Macht zu erreichen. Den Preis einer schlaflosen Nacht zahlte er, ohne lange zu feilschen. Welcher Emporkömmling schlief schon lang und gut?

Die Mächtigsten regierten. Sie schliefen nicht in Zeiten, in denen Geschichte geschrieben wurde.

Als er daran dachte, begannen seine Augen wieder zu strahlen. Mit ebenjenem selbstgefälligen Lächeln, welches er auch in den politischen Debatten als entwaffnendes Manöver einsetzte, schüttelte er seine blonde Haarpracht, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, um die Schatten der Schlaflosigkeit zu vertreiben, und drehte sich dann wieder zum Fenster.

„Was wird jetzt geschehen, mein Herr?“, fragte Pereon vorsichtig.

„Was geschehen wird?“, wiederholte Nethan, ohne den Blick von den Gärten abzuwenden. „Wir bringen die Wahrheit ans Tageslicht.“

„Welch geniale Wendung! Ihr könnt auf mich zählen, mein Herr!“, versprach Pereon.

„Ich weiß, Pereon.“ Nethan winkte ab und erhob sich. Eine Weile sagte niemand etwas, dann ergriff der Senator wieder das Wort und seine Stimme wurde nun kalt und hart: „Wir wissen nicht, wann Relvan zurückkehren wird. Aus diesem Grund wirst du deine kleine Aufgabe schon heute Nacht erledigen.“ Er lächelte verschwörerisch. „Der Rest erklärt sich von selbst.“

Pereon neigte das Haupt. „Habt Dank für dieses Vertrauen, mein Herr. Ich werde Euch nicht enttäuschen!“

„Dann beeil dich, bereite dich vor, und sobald die Sonne untergeht, wird mein Licht erstrahlen! Nethans Stunde hat geschlagen.“

„Sehr wohl, mein Herr!“ Und mit diesen Worten und einer ungeschickten Verbeugung, die aufgrund des Buckels kaum nötig gewesen wäre, verließ Kammerdiener Pereon das Zimmer.

Das Volk liebte Nethan. Ioshiba würde nicht mehr lange durchhalten. Aber noch bevor er fiel, sollte er Nethans rechtschaffenes, brillantes Werk mitbekommen. Und wenn Relvan und Iarumi aus dem Weg geräumt waren, wer blieb dann noch?

Cleypon, der alte Freund Relvans, hatte für Nethan die ganze Geschichte in die Wege geleitet. Und alles nur für eine Stange Geld. Relvan hatte den blutsaugenden Staatsanwalt in seine Pläne eingeweiht, in seinem Leichtsinn nicht ahnend, dass Männer wie Cleypon, auf der Suche nach dem Meistbietenden, ohne Zögern jede Moral über Bord warfen. Denn auf Nethans Geheiß hatte Cleypon die betreffenden Schriftstücke des Geheimnisbrüters abgefangen. Sobald diese dem Senat in die Hände fielen, würde Verwirrung entstehen. Danach würden Fragen aufkommen. Und endlich würde die Relvan-Briefaffäre näher in Augenschein genommen werden.

Und nun war Pereon, der Bucklige, dabei, das Beweismaterial vom Verräter und Geschäftsmann Cleypon abzuholen, um es so unauffällig wie möglich in den Palast zu schmuggeln.

Welch eine Ironie … Doch wen hätte Nethan sonst in seine Pläne einbeziehen sollen? Es gab keine Freundschaften in der Oberstadt. Es gab nur Männer, die Geld besaßen und jene, die Geld machen wollten.

So einfach war das Gesetz der kaiserstädtischen Elite.

Und so ruhte Nethans Hoffnung auf einen Elenden, dessen Treue zwar unbezahlbar war, dessen Humpeln jedoch fatale Folgen mit sich bringen konnte.

„Der Plan wird gelingen“, flüsterte der Senator, um seine letzten Zweifel endgültig fortzuscheuchen, nahm wieder Platz und schenkte sich eine Tasse Tee ein.

Lang genug hatte er darauf gewartet, dass sein größter Antagonist endlich diesen einen kleinen, jedoch verheerenden Fehler begehen würde. Den Fehler, der ihn sein Amt und seine Identität kosten würde. Den Fehler, der Nethan ganz nach oben bringen würde.

Wenn alles nach Plan verlief, würde das Dokument schon morgen den Behörden in die Hände fallen. Nethan würde um eine Versammlung ersuchen und seinen Gegner anklagen. Relvan würde vor Gericht kommen und die Verhandlungen verlieren. Er würde abdanken. Danach würde Iarumi sterben und schließlich wäre er, Nethan der Große, Nethan der Schöne, Nethan der Kaiser …

SÜSSES KATZI

„Los, los, los, los, los!“, zischte Rashidi, während er Enevar eine Räuberleiter machte.

„Ist ja gut, ist ja gut!“, entgegnete Enevar scharf, als er auf der niedrigen Umfassungsmauer Halt fand und seinem Freund hochhalf.

„Ist es nicht“, knurrte Rashidi, nachdem er sich hochgekämpft hatte. „Das sind gerissene Sauhunde, die …“

„Komm jetzt“, unterbrach ihn Enevar und sprang.

Rashidi folgte ihm fluchend. Sie landeten sanft und geräuschlos auf der anderen Seite. Sofort gingen sie in Deckung, als das Knurren eines Hundes auf sich aufmerksam machte.

Enevar stöhnte. Nicht auch das noch …

Er warf Rashidi einen genervten Blick zu, der unhörbar mit dem Maul das Wort Hund formte, wobei sein Leopardengesicht in tausend Falten geriet und die Barthaare vibrierten.

Instinktiv tastete Enevar nach seinem Waffengurt und ergriff einen der Wurfsterne. Wenn der Köter anfing zu bellen, waren sie geliefert. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass so ein Mistvieh ihm den Auftrag vermasselt hätte.

Das Knurren wurde rollender. Lauter. Der Wachhund hatte sie gewittert. Gleich würde er losbellen. Enevar formte die Augen zu Schlitzen und spähte in die Dunkelheit. Mitten im Garten erkannte er eine zu groß geratene, weiß getünchte Hundehütte. Verdammt, selbst die Hunde der Kaiserlichen lebten in Saus und Braus!

Das Geräusch einer sich bewegenden Eisenkette verriet Enevar, dass sein Feind in Bewegung geriet. Diese Biester waren dressiert, Eindringlinge zu wittern. Und wenn notwendig, zu zerfleischen – die Instinkte eines Killers.

Enevar wusste das.

Urplötzlich ertönte das Ächzen der Eisenkette, als die Bestie losstürmte. Aus dem rollenden Knurren wurde ein geiferndes Bellen, das jedoch genauso schnell wieder erstarb. Die Eisenkette verstummte. Ein Jaulen ging von dem sterbenden Tier aus.

Dann kehrte Stille ein.

Enevar warf Rashidi, der unschuldig auf seine Wurfdolche deutete und mit den Achseln zuckte, einen vielsagenden Blick zu.

„Hund“, flüsterte Enevar schnurrend und rollte mit den Bernsteinaugen.

Wachsam schlichen die beiden J’hirwaar-Auftragskiller durch den Garten und machten erst Halt, als sie die Villa erreicht hatten. Aus manchen Fenstern schien Licht. Dichte Netze aus Schlingpflanzen hingen von den Wänden herab. Es duftete nach exotischen Orchideen.

Wie Enevar erwartet hatte, ließ sich die schwere Außentür des Hauses nicht öffnen. Während sein Kollege Wache hielt, ging er routiniert in die Hocke, breitete ein schwarzes Tuch voller Dietriche und dem üblichen Accessoire der Gildenmitglieder aus und machte sich mit geübter Sicherheit an das Schloss.

„Kaiserliches Herzschloss“, murmelte er, als er die Mechanik erkannte. „Der Klassiker der Oberstadt. Reich mir bitte kurz den Detlev.“

Er streckte die Hand aus, ohne den prüfenden Blick vom Schloss zu wenden. Dann stocherte er mit dem speziellen Dietrich hinein, schloss die Augen und lauschte. Als seine Tatzen eins mit dem Metall geworden waren, erklang unvermittelt das markante Klicken des sich ergebenden Schlosses.

Musik in seinen Ohren.

„Ich gratuliere dir, Freund“, schnurrte Rashidi und öffnete die Tür. „Du warst schneller als beim letzten Mal. Aber kein Vergleich mit Surnijay.“

Enevar bleckte die Zähne und wollte gerade das Haus betreten, da wurde er auf einen Steckbrief aufmerksam, der an einer Säule haftete. „Warte!“, entfuhr es ihm. Einen Moment lang betrachtete er sein misslungenes Portrait, dann fiel sein Blick auf die Geldsumme. Knurrend wühlte er in einer seiner Taschen herum und entnahm ihr ein Stück schwarzer Kohle. „Tausend lausige Dukaten?“, sagte er empört und belustigt zugleich. „Ich hätte gedacht, dass es mehr sind!“ Er sah Rashidi mit gespielt enttäuschtem Blick an und fügte noch eine Null hinzu, bevor er die Kohle wieder einsteckte. „Ich denke, so ist es besser.“

Mit amüsiertem Schnurren trat Rashidi ins Haus. Enevar schaute noch einmal in die abendliche Stille zurück. Dann trat auch er über die Schwelle und schloss behutsam die Tür hinter sich.

Soeben hatten sich die Schwarzen Wächter ein weiteres Mal überlisten lassen.

„Ich warne dich, Freund“, flüsterte Rashidi, „als ich gestern hier spionierte, wimmelte es nur so von Bediensteten, Leibwächtern und Familienmitgliedern.“

„Die schaffen wir schon.“

Zum ersten Mal an diesem Abend breitete sich auch über Enevars Gesicht ein katzenhaftes Lächeln aus und er fühlte eine wohlige Wärme in seiner Magengegend.

„Kein Blutvergießen“, mahnte Rashidi. „Fythar wird außer sich sein, wenn wir schon wieder blutbesudelt zu ihm zurückkehren.“

„Schon gut, schon gut!“ Enevar rollte mit den Augen. „Gehen wir.“

„Das Schlafzimmer befindet sich so ziemlich am anderen Ende des Erdgeschosses“, erklärte Rashidi, bevor er voranging und Enevar ihm folgte.

Mit der Professionalität, die der Routine folgt, schlichen die Auftragsmörder durch die Villa des Großhändlers, den sie heute Nacht töten würden. Treppen führten in obere Etagen oder in Weinkeller, Blumen versprühten ihre Düfte, Gobelins und Mosaiken zeigten obszöne und verstörende Szenen.

Und überall roch es nach Menschen. Allein im Erdgeschoss musste sich ein gutes Dutzend von ihnen aufhalten. Ein weiteres Mal stellte Enevar sich die Frage, wieso er denn nicht schon längst in seine Heimat zurückgekehrt war. Musste jemand nicht vollkommen wahnsinnig sein, sein Leben innerhalb einer Gesellschaft zu verbringen, die er ganz und gar verabscheute?

Das Knarren von Dielen riss ihn aus seinen Gedanken. Unvermittelt blieb Rashidi stehen und tastete nach seinem Schwert. Enevar folgte seinem Beispiel. Das Geräusch wiederholte sich.

Schritte.

Und sie kamen direkt auf die Einbrecher zu.

Mit gezückten Klingen warteten Enevar und Rashidi ab, während das Ächzen des Dielenbodens lauter wurde und der penetrante Geruch eines Menschen ihnen in die Nase stieg. Sie waren es gewohnt, aus den Schatten anzugreifen. Wer Aufträge zu erfüllen hatte, scherte sich nicht um ehrenvolle Kämpfe.

Die Schritte verstummten. Der Menschengeruch machte Enevar benommen. Doch da war niemand. Kein Bediensteter, keine bewaffnete Wache. Was, bei Nageshwar, ging hier vor sich?

„Katzi“, sagte eine dünne Stimme in der Sprache Gariadinas plötzlich.

Enevar durchfuhr eine Welle des Schocks, Rashidi wich erschrocken zurück. Sie blickten herab und erkannten ein kleines Menschenmädchen im Schlafrock, das vor ihnen stand und sie aus großen Augen anstarrte.

„Katzi“, wiederholte das Kind und streckte beide Hände aus.

Enevar schluckte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Rashidis Tatze sich enger um das Heft seines Schwertes schloss.

„Katzi“, sagte Enevar mit seinem starken Akzent und stellte sich zwischen Rashidi und das Menschenkind. „Schöne Träume sind das, ja?“

„Ich träume“, sagte das Mädchen leise.

„Du träumst“, bestätigte Enevar und ging vor dem Mädchen in die Hocke. „Gehst du wieder ins Bett, ja? Dort warten sehr viele Kätzchen. Katzenbabys, in Ordnung?“

„Sind sie süß?“, hauchte das Mädchen und tätschelte spielerisch Enevars Ohr.

„Sehr süße Katzenbabys, die mit dir spielen wollen, ja.“

„So süß wie du?“

Enevar schluckte. „Ja, so süß wie ich. Und jetzt geh wieder ins Bettchen, sei ein braves Kätzchen.“

„Kätzchen“, sagte das Mädchen und ließ von Enevars Ohr ab. „Kätzchen“, wiederholte sie und schlurfte schlaftrunken wieder davon. „Süßes Katzi …“

Mit pochendem Herzen atmete Enevar aus.

„Das war knapp“, flüsterte Rashidi. „Scheiße, das war knapp, Mann.“

„Du Hund hättest sie einfach umgelegt?“, schalt ihn Enevar.

„Aber nein!“, wehrte sich Rashidi. „Nur niedergeschlagen. Ich würde doch kein Kind töten.“

Enevar rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. „Los, weiter jetzt.“

„Dort entlang.“

Sehr bald hatten die Einbrecher das gesamte Erdgeschoss erkundet und machten sich an die letzte Tür, die infrage kam.

„Da muss er drin sein“, flüsterte Rashidi.

In der Hoffnung, das Zielobjekt hier aufzufinden, bearbeitete Enevar das Schloss, während Rashidi breitbeinig Wache hielt. Jede Flucht erwies sich als angenehmer, solange man sich im Erdgeschoss befand, darüber ließ sich nicht streiten.

Noch während das Schloss sich Enevars Dietrichen ergab, wurden die J’hirwaar von einem Bediensteten entdeckt. Mit den Instinkten des Killers und einem silbernen Wurfstern brachte Rashidi den Menschen zum Schweigen, noch ehe dieser einen Laut hätte von sich geben können.

Dann öffnete Enevar geräuschlos die Tür und zerrte den Toten mit sich. Rashidi half ihm. Alkoholische Ausdünstungen und geräuschvolles Schnarchen umfingen sie. Beides entsprang einer aufgedunsenen Kreatur in einem Himmelbett, die Enevar ganz und gar als abscheulich empfand. Eine fette Hand ragte von der Bettkante, die nackten Füße schienen nur aus weißer Hornhaut zu bestehen. Das Gesicht des Menschen war teigig und wirkte selbst im Schlaf unschön. Deutlich zeigte sich im Mondlicht ein hässlicher Oberlippenbart, der das Sahnehäubchen auf der Torte der Scheußlichkeit bildete.

Unwillkürlich überkam Enevar der Reiz, sich zu erbrechen.

„Ist er das?“, würgte er leise.

Behutsam schloss Rashidi die Tür und schnurrte. Mit einem Blick bedeutete er Enevar, die Schränke und Kommoden im Zimmer zu durchsuchen. Dann stellte er sich an die Bettkante. Ein dumpfes Geräusch durchriss die Nacht; zerreißendes, in Decken gewickeltes Menschenfleisch. Es folgte drückende Stille. Enevars Haare sträubten sich.

Doch das Lustgefühl währte nicht lange. Er war gerade mit einem Kasten unter dem Fensterbrett beschäftigt, als Schritte an sein Ohr drangen.

„Oh, Mann“, zischte Rashidi und riss den Flügel eines Schrankes auf.

„Du warst gestern hier!“, erwiderte Enevar gereizt. „Wo, bei Sahabuddin, hat er den Brief hingetan?“

„Ich weiß es nicht, mir blieb keine Zeit. Ich habe ihn nur sich selbst vorlesen hören, dann hat er die Vorhänge zugemacht“, verteidigte sich Rashidi und deutete auf das Fenster.

Enevar fluchte und hastete zum Schreibtisch.

Die Schritte der Menschen näherten sich im Eiltempo. Die Einbrecher würden aus dem Fenster springen müssen.

„Hast du ihn?“, zischte Rashidi.

Hastig riss Enevar Schubladen auf, schloss sie wieder, wühlte hektisch herum und räumte den gesamten Schreibtisch aus. Endlich! Da waren die Briefe.

„Hier sind Briefe!“, rief er.

„Nimm sie einfach alle! Wenn die hier reinkommen, endet es in einem Blutbad“, sagte Rashidi.

Lautes Stimmgewirr aus unmittelbarer Nähe unterstrich seine Worte dramatisch. Personal oder Mitbewohner des Händlers mussten die Blutspur und die aufgesprungenen Schlösser entdeckt haben. Oder aber das katzenfreundliche Mädchen hatte Alarm geschlagen.

Es spielte ohnehin keine Rolle mehr, dachte sich Enevar, während er die Briefe durchging. „Nein“, sagte er und warf einen achtlos weg, „nein, nein … Der auch nicht … Nein … Der nicht …“

„Nimm einfach alle!“, drängte Rashidi und riss die Vorhänge auf.

„Sie sind da drinnen!“, schrie jemand.

Da war der Brief!

„Ich habe den Brief mit dem schwarzen Siegel!“ Erleichtert atmete Enevar aus und schob den Umschlag unter sein Wams.

„Oh, bei Ardenjar, mein Mann!“, schrie eine hysterische Frauenstimme.

„Raus hier!“, keuchte Rashidi und machte hastig das Fenster auf.

Doch es war bereits zu spät.

Die Tür sprang auf und fünf leichtbekleidete, kahlköpfige Fleischberge erschienen an der Schwelle. Ihre Nacken waren breit, die Augen klein und die Oberarme ähnelten verstörenden Riesenwürsten. Lederne Nietengürtel wanden sich um ihre viel zu breiten Brüste. Silberne Ringe hafteten an den zu groß geratenen Fingern.

„Musste das jetzt sein?“, knurrte Rashidi genervt.

„Komm schon“, sagte Enevar und lächelte verspielt, bevor er sein Schwert zückte und einen Schritt vor den Angreifern zurückwich. „Das ist ein Kinderspiel.“

„Ein Leichtes“, erklärte Rashidi zustimmend, nun seinerseits amüsiert, und bleckte knurrend die Zähne. „Ich hätte es wissen müssen. Mit dir endet es immer nur auf diese Weise!“

Der erste Angreifer war bereits mit erhobenem Schwert auf Enevar losgegangen, doch der wich seinem Schlag aus und bohrte die Tatzen in dessen Nacken, während neben ihm Rashidi den wuchtigen Keulenhieb eines anderen parierte. Der Kampf währte nicht lange, denn der Leopardenmann schaffte es, einen Angriff vorzutäuschen und seinem Gegner somit auf überraschende Art und Weise die Kehle herauszureißen. Die anderen beiden stürzten sich gleichzeitig auf ihn. Der J’hirwaar wurde zu Boden geschleudert und verlor seine Waffe. Wie ein Verrückter schlug er mit den Tatzen um sich, raubte einem der Männer das Augenlicht und entmachtete den anderen auf überaus blutige Art und Weise. Ohne zu zögern, eilte Enevar seinem Freund zu Hilfe und bohrte sein Schwert in das Gesicht des Blinden. Mit dem blutigen Krüppel machte er kurzen Prozess, noch bevor der um Gnade winseln konnte.

Dann wurde es totenstill.

Es war nicht dieselbe Stille wie zuvor, nicht die Stille eines nächtlichen Hauses, in dem friedlich geschlafen wurde. Nein, es war eine unheimliche, drückende Stille. Und dennoch meinte Enevar ein Flüstern in den Wänden zu hören, die Zeugen des blutigen Schauspiels geworden waren.

Wieder einmal hatte ihn der Mörder in ihm gerettet, rasch und un-angekündigt, dass er sich vor sich selbst fürchtete.

Er besah die Ehefrau des Ermordeten mit einem gefühllosen Blick, ehe diese nach Luft ringend in Ohnmacht fiel.

„Sie wird es überstehen und morgen noch in aller Frühe im Ministerium aufkreuzen“, versicherte ihm Rashidi angewidert und rappelte sich auf. „Und jetzt lass uns von hier verschwinden, bevor wir noch mehr Ärger bekommen. Wir nehmen wieder die Außentüre, der Sprung in den Innenhof war nur für den Fall der Fälle gedacht.“ Er atmete tief durch und wischte seine Klinge am Bettlaken ab.

Dann stürmte er aus dem Raum. Enevar folgte ihm zufrieden.

DIE LIEBENDEN

Zufrieden betrachtete Iarumi sich im Spiegel. Seine hoch stehenden Wangenknochen und die tief in den Höhlen liegenden, dunkelbraunen Augen verliehen ihm etwas charmant Düsteres. Das Öl in seinen schwarzen, aufgestellten Haaren blitzte im Licht der untergehenden Sonne und die spitzen Ohren erinnerten vage an die der langlebigen Elfen. Seine Lippen bildeten eine dünne Linie, das schmale Gesicht glich als Ganzes einer Marmorbüste aus alten Zeiten.

Er sah gut aus.

Der Sohn des Kaisers trug eine seidene, graue Hose und hellbraune, spitze Schuhe aus Schafsleder, dazu ein weißes Rüschenhemd und ein Gilet mit goldenen Knöpfen und außerordentlich beachtlichen Stickereien. An seinen Fingern hafteten silberne Ringe, um seinen Hals hing ein geschliffener Blutstein, den ihm seine verstorbene Mutter vermacht hatte.

Iarumi nahm einen exotischen Duft und sprühte ihn auf seinen glattrasierten Hals und auf die Unterseite seiner Handgelenke.

„Auf geht’s, mein Hübscher“, sagte er zu seinem Spiegelbild, bevor er sich elegant umdrehte und das Zimmer mit den betont ruhigen Schritten eines Menschen verließ, der sein Leben im Palast verbracht hatte.

Er wusste, was die Mehrheit von ihm hielt. Sie sahen in ihm einen desinteressierten Schnösel, der das Geld seines Vaters mit Dirnen und dubiosen Gestalten verprasste und sich in Hurenhäusern und Spielhallen herumtrieb. Allen voran die Politiker zerrissen sich das Maul, suchten nach Gründen, um ihn anzuprangern und dem Posten des Thronfolgers näherzukommen. Dabei hatte es niemals zuvor einen Kaiser gegeben, der nicht dem Kaisergeschlecht entsprungen war.

Iarumi wollte dieses Amt nicht; hatte es niemals gewollt. Er hatte sich bereits vor langer Zeit gegen das Leben, das von ihm erwartet wurde, entschieden. Er würde mit jener Einen fortgehen, die er liebte. Und die Welt würde denken, die Unterstadt von Vaal Hur hätte ihn verschlungen.

Welch eine Ironie.

Ohne auf die übertrieben demütigen Grußformeln der Schmeichler zu achten, die seinen Weg kreuzten, folgte er den Treppen und Gängen des hell erleuchteten Palastes und kam in der Empfangshalle an, wo sich zu jeder Stunde besonders viele Gardisten und Bedienstete aufhielten.

„Heil dem Kronprinzen Iarumi“, hörte er sie rufen und es klang mehr wie eine Todesdrohung, denn wie ein Gruß. Er ignorierte sie, strafte sie mit dem abwesenden Blick des Überlegenen. Dennoch: Er hielt das alles nicht mehr lange aus. Vaal Hur war zum siebenmäuligen Ungeheuer für ihn verkommen, zur Mutterspinne, die ihn bereits so tief in ihre Netze eingewickelt hatte, dass nur mehr der tödliche Biss ausblieb.

Mehrmals im Jahr residierte er in seinen Villen in der Provinz Zihan, wo die meisten letzten Mitglieder des Kaisergeschlechts wohnten, genoss die Natur, den Frieden und die frische Luft. Doch trotz seiner – gelinde ausgedrückt – spärlichen Teilnahme an den Angelegenheiten des Staates, war es ihm viel zu selten vergönnt, die Kaiserstadt zu verlassen. Diese blühende Metropole war sein Gefängnis.

Nächtelang hatte er in seinem Studierzimmer im Kaiserpalast gebrütet, Schriftrollen und Bücher studiert und Tagebuch geführt. Heimlich hatte er sich mit elfischer Philosophie, den Lehren des Drai und Theoretischer Grundmagie beschäftigt. Doch dieses Wissen konnte er mit niemandem teilen. Wie sehr sollte er das Kaiserhaus und seinen Vater noch entehren? Iarumi, Sohn des Ioshiba, ein Geheimniskrämer, ein Verschwörungstheoretiker, ein Häretiker?

Tief in Gedanken versunken, passierte er den prachtvollen Torbogen des Palastes und folgte der Treppe zum Vorhof. Er durchschritt die Kaiserlichen Gärten, die im Licht der untergehenden Sonne an eine entrückte, perfekte Welt erinnerten und seinem Gefängnis mit goldenen Gittern etwas von dessen Eiseskälte raubten. Heute war die Situation tatsächlich überaus erträglich. Es war ein Seltenes, die oberen Viertel zu durchqueren, ohne dabei die penetranten Blicke der Gardisten auf sich ruhen zu spüren. Der Kronprinz hatte davon gehört, dass Hauptmann Cassiran vor einer Nacht gemeinsam mit einem großen Teil der Elite aufgebrochen war, um einen Flüchtling der Rebellen einzufangen. Er wollte diese Zeit genießen.