Elementa - Daniela Kappel - E-Book

Elementa E-Book

Daniela Kappel

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Beschreibung

Daria ist nicht wie die anderen Elementträger. Ohne es zu wissen, ist sie Teil einer uralten Prophezeiung und als sie auf den kühlen Vincent trifft, beginnt sich Darias Schicksal zu erfüllen. Obwohl Vincent ihr schroff und unnahbar begegnet, sucht er ständig ihre Nähe. Was Daria nicht weiß: Vincents Vater hält im Hintergrund die Fäden in der Hand. Er will um jeden Preis erreichen, dass sich die Prophezeiung erfüllt, egal wie weit er dafür gehen muss. ---------------- Alle Rezensionen und einen Trailer zum Buch gibt es unter: www.daniela-kappel.at

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Impressum

Texte:                   © Copyright by Daniela Kappel

Grafikgestaltung:      © Copyright by Wolkenart –

Marie-Katharina Wölk,

www.wolkenart.com

Verlag:                  Daniela Kappel                  Hauptstraße 25                  2542 Kottringbrunn                  [email protected]

Korrektorat:            Roswitha Uhlirsch                  www.spreadandread.de

 

Prolog

 

Vor Tausenden von Jahren waren die Menschen noch tief mit dem Geist der Natur verbunden. So lebten sie nicht nur im völligen Einklang mit ihrer Umwelt, sie schöpften auch Kräfte aus den Elementen.

Jeder Mensch war einem der Elemente besonders nahe und konnte auf individuelle Weise darüber verfügen. Manche konnten Flammen aus dem Nichts heraufbeschwören. Andere brachten auf hartem, staubigem Boden Pflanzen zum Wachsen oder verursachten Erdbeben. Wieder andere verbanden sich mit Gewässern, sodass sie tagelang darin ausharren konnten. Einige stiegen sogar in die Lüfte oder riefen tosende Sturmböen herbei.

Der Mächtigste unter ihnen, und damit das Oberhaupt der Menschheit, verfügte über alle vier Elemente. Man nannte ihn den Elementaren. Rechtschaffen und gnädig herrschte er, immer auf das sensible Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur bedacht. So war es den Menschen verboten, ihre Fähigkeiten gegeneinander oder zum Schaden ihrer Umwelt einzusetzen.

Jahrtausende lang sorgte der Elementare dafür, dass dieses oberste Gebot eingehalten wurde. Irgendwann jedoch wollten einige Menschen mehr, als ihnen die Natur geben konnte. Sie wollten Licht und Wärme in den dunklen, kalten Monaten des Winters, Pflanzen, die ihnen mehr Nahrung lieferten und dabei weniger Pflege brauchten und Gewässer und Pfade, die leichter zu überwinden waren.

So kam es, dass diese Menschen ihre Kräfte gegen die Natur einsetzten, um sie nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu verändern. Sie brachten Licht und Wärme in die kalte Jahreszeit und störten damit die Tier- und Pflanzenwelt in ihrer Ruhephase. Sie brachten Pflanzen dazu, mehrmals im Jahr Früchte zu tragen, was viele der alten Sorten ausrottete. Sie schnitten Schneisen in Berge und veränderten die Strömung von Gewässern, zerstörten damit Lebensräume und brachten die Natur aus dem Gleichgewicht.

Der Elementare warnte diese Menschen und forderte sie auf, sich wieder auf ihre Wurzeln zu besinnen. Doch sie boten ihm die Stirn und begehrten gegen seine Herrschaft auf.

Um den Abtrünnigen Einhalt zu gebieten, bündelte der Elementare all seine Macht. Er entzog ihnen die Kräfte und verhinderte damit, dass sie der Natur noch mehr Schaden zufügen konnten. Nun waren sie abhängig von den Gezeiten, dem Jahreszyklus und schlichtweg dem, was ihnen die Natur zu geben vermochte.

Doch dieser Akt zog weitreichende Folgen nach sich. Fortan war die Menschheit gespalten – in den Teil, welcher noch über Elementarkräfte verfügte und jenen, der seine Kräfte verloren hatte und als gewöhnliche Menschen leben musste.

Auch der Elementare litt unter den Folgen seiner Anstrengungen. Er verfiel zusehends, wurde schwach und krank und schließlich, nach tausenden Jahren seiner Regentschaft, erlosch sein Leben. Mit seinem Tod schwand auch das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur.

Die vier Töchter des Elementaren, jede von ihnen hatte eines der vier Elemente inne, beschworen voller Trauer eine Prophezeiung.

Einst soll er wiedergeboren werden und die Menschheit vereinen. Wenn er wieder auf Erden wandelt, mächtiger denn je, so sollen alle Menschen ihre Elementarkräfte zurückerlangen und das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur sei wieder hergestellt.

Von Generation zu Generation wurde diese Prophezeiung seither unter den Elementträgern weitererzählt. Doch im Laufe der Jahre dezimierte sich deren Blutlinie immer mehr. Viele derjenigen, die noch über Elementarkräfte verfügten, verbanden sich mit gewöhnlichen Menschen und deren Kinder kamen allesamt ohne Elementaffinität zur Welt. So gibt es heute nur mehr wenige, die noch die Gaben der Elemente besitzen.

Alle paar hundert Jahre wird ein Elementträger geboren, der beide Elemente seiner Eltern in sich trägt. Doch auf ein Kind, das alle vier Elemente besitzt, und damit auf die Wiedergeburt des Elementaren wartet die Menschheit bis zum heutigen Tag.

 

1

 

Daria saß auf einem der großen Umzugskartons, die ihr Vater zuvor in die kleine Wohnung gehievt hatte, und schaute müde und gelangweilt aus dem schmutzigen Fenster in den von Unkraut überwucherten Garten. Alles in den engen Räumlichkeiten roch nach Staub und abgestandener Luft. Mühsam rappelte sie sich auf und durchschritt den kargen Raum, um das Fenster zu öffnen. Eine kühle Brise würde hoffentlich ihre trüben Gedanken wegblasen, denn wenn sie ihnen nachhing, brachten sie ihr nur Kummer und Schmerz.

So lange war es schon her, seit sie ihre Mutter verloren hatte, und doch drängten sich die Bilder von ihrem Tod immer noch ungefragt auf, als wäre es erst gestern gewesen. So frisch und nahe war ihr die Erinnerung an die tobende See, schwarz wie die Nacht, und den Dunst von Salz auf ihrer verschwitzten Haut.

Jene Dinge, an die sie gern zurückdachte, aus der Zeit davor, als sie noch mit ihren Eltern glücklich beisammen lebte, waren hingegen von einem Schleier umhüllt und sie musste sich anstrengen, um nur bruchstückhafte Szenen in ihr Gedächtnis zu rufen. Immerzu ging sie ihre spärlichen Erinnerungen an eine glücklichere Zeit durch, um den Schrecken aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Lange Spaziergänge an der Küste, weit außerhalb der Stadt. Laue Abende unter der Laube in ihrem Garten, mit Tee und Keksen, umhüllt von dem würzigen Geruch nach Lavendel und Salbeiblüten. Kleine Rätselspiele mit ihrer Mutter sonntagmorgens, wenn ihr Vater noch schlief.

Doch so sehr sie sich auch bemühte, immer wieder drängten sich die Erinnerungen an die schrecklichste Nacht in ihrem Leben hervor und ließen sich nicht länger aus ihrem Geist verbannen.

Sie sah die vor Angst geweiteten Augen ihrer Mutter, als ihr Vater sich von dem kleinen Boot aus ins Wasser fallen ließ. Er wollte ihre Verfolger aufhalten, damit sie und ihre Mutter fliehen konnten.

Fliehen wovor? Das wusste Daria nicht. Ihr Vater sprach nicht über diese Nacht oder ihre Mutter im Allgemeinen und sie selbst war zu klein gewesen, um zu verstehen, was da passierte, warum ihre Eltern sie nachts aus ihrem Bett holten, um mit ihr wegzufahren.

Ihr Vater kam nicht mehr zurück auf das wackelige Boot, aber jemand anderes erklomm den glitschigen, hölzernen Rand. Der Mann war groß und die triefnasse Kleidung klebte an seinem massigen Körper ebenso wie seine langen, dunklen Haare. Er packte ihre Mutter am Hals und hob sie hoch, weit über den Bootsrand hinaus. Der Wellengang war stark und spülte stetig eiskaltes Wasser über sie hinweg. Ihre Mutter blickte sie an, ihr panischer Blick wurde von einem Lächeln abgelöst, das nur Daria galt – ein Abschiedsgruß.

Schlagartig war es totenstill. Daria hörte die Wellen nicht mehr gegen das Boot klatschen, den Regen nicht mehr prasseln, nicht einmal mehr das Heulen des Windes und dann ließ der Mann ihre Mutter los und ihr Körper wurde von der rauen See verschluckt.

Als der Angreifer sich zu Daria umdrehte, um auch auf sie loszugehen, wurde er von ihrem Vater überwältigt und ging, wie ihre Mutter zuvor, über Bord. Ihr Vater sah Daria mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen an, doch verließ er sie nicht mehr. Das Wasser peitschte beiden ins Gesicht, trotzdem konnte sie seine Tränen sehen, sowie ihre eigenen schmecken.

 

„Daria! Daria! Daria, hörst du nicht!“ Ihr Vater stand in der Tür. Sein ernster Blick und das wütende Funkeln in seinen Augen vertrieben die letzten Bilder aus ihrem schmerzenden Kopf und brachten sie endgültig zurück ins Hier und Jetzt. „Daria, das Fenster!“ Er trommelte nervös mit seinen Fingern gegen den Türrahmen und Teile des sich ablösenden Holzlacks rieselten zu Boden.

Das Fenster klapperte wie wild gegen den Rahmen. Immer wieder wurde es auf und zu geschlagen und verursachte dabei massiven Lärm.

Augenblicklich legte sich der Wind, der es angetrieben hatte, und der Fensterflügel kam mit einem kläglichen Quietschen zum Stillstand. Schuldbewusst blickte sie ihrem Vater ins Gesicht. Seine Züge glätteten sich allmählich wieder und der übliche liebevolle, aber leicht abwesende Ausdruck erfüllte seine Miene. „Daria, schon wieder?“ Es war keine ernst gemeinte Frage. Er wollte sie damit nur daran erinnern, dass sie ihre Kräfte nicht so offensichtlich zur Schau stellen sollte.

Doch immer wieder, wenn sie in Gedanken versunken war, gereizt oder einfach unvorsichtig, passierte es. Sie ließ kleine Windhosen durchs Zimmer jagen oder brachte die Zeitungen und Vorhänge zum Flattern. „Entschuldige, Papa! Ich war nur …“

„Schon gut, Liebling!“, unterbrach er sie mit einem sanften Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte.

„Sieh nur zu, dass es dir nicht noch einmal passiert!“

Er machte drei lang gezogene Schritte durch den Raum und schloss das nun verzogene Fenster. „Ich muss nachher noch zur Bank! Mal sehen, was dort auf mich wartet.“ Grüblerisch fuhr er sich mit der Hand über die kratzigen Bartstoppeln.

„Vielleicht solltest du dich vorher noch rasieren?“, merkte Daria leicht amüsiert an. „Ich erledige einstweilen den Einkauf“, schloss sie und machte sich daran, ihre bequemen Turnschuhe aus einem der kleineren Kartons im Vorraum zu angeln.

Die Fahrt war lang gewesen und sie konnte einen kleinen Marsch gut gebrauchen, um ihre Glieder wieder zu lockern.

„Papa, ist das alles, was wir noch haben?“, rief sie ihrem Vater nach, der gerade ins Bad verschwunden war. Mit einem besorgten Blick musterte sie die wenigen Münzen in dem Portmonee ihres Vaters.

„Das muss erst mal reichen, Liebes“, murmelte er, während er sich Seife im Gesicht verteilte.

Mit einem lautlosen Seufzen schnappte sie sich ihre Tasche und verließ die Wohnung. Die kühle, frische Luft war die reinste Wohltat für ihren schmerzenden Schädel.

Drei Gassen weiter machte sie einen kleinen Supermarkt ausfindig und hoffte inständig auf ein paar Sonderangebote, damit sie mit ihrem überaus mickrigen Budget die nötigsten Dinge erstehen konnte.

Vor dem Eingang des kleinen Ladens, dessen Neonreklame unruhig flackerte, hatte ein Bettler Posten bezogen. Schon von weitem sah sie seine zusammengekauerte Gestalt, in lumpige Kleider gehüllt und den Kopf sowie das halbe Gesicht mit einer fleckigen Kapuze verdeckt. Der Mann tat ihr leid und erinnerte sie daran, dass es Menschen gab, die mit noch weniger als sie auskommen mussten.

Seit sie mit ihrem Vater alleine war, hatte sie wenigstens immer ein Dach über dem Kopf, etwas anzuziehen und zu essen. Ihr Vater war ständig auf der Suche nach zusätzlichen Jobs, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern.

Dieser arme Kerl schien jedoch nicht mehr als die dreckigen Kleider an seinem Leib zu besitzen. Daria würde ihm, wenn ihr etwas Geld über bliebe, eine Kleinigkeit zum Essen kaufen.

Beim Vorbeigehen lächelte sie den Bettler freundlich, doch zurückhaltend an. Dieser hob träge den Kopf und sah zu ihr auf. Bei ihrem Anblick zuckte er sichtlich zusammen und starrte sie dann unverhohlen aus weit aufgerissenen Augen an. Seine markanten Gesichtszüge verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, bei dem es Daria kalt den Rücken hinunterlief. Doch sie war schon zur Tür hinein und ein mit Konservendosen voll gestapeltes Regal versperrte dem Bettler die Sicht auf sie.

Als Daria spürte, wie ihre Haare von einer sanften Brise verwirbelt wurden, zwang sie sich, wieder zur Ruhe zu kommen, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Lüftchen legte sich unbemerkt und Daria bemühte sich, ihre Konzentration auf den Einkauf zu lenken. Während sie Preise verglich und zum zweiten Mal schweren Herzens die kleine Haarbürste aus dem Einkaufswagen ins Regalfach zurücklegte, kam ihr der Bettler gar nicht mehr so ungewöhnlich vor. Womöglich hatte sie ihn ja an jemanden erinnert und er hatte sich schlichtweg darüber gefreut.

Sie starrte die Bürste noch einige Augenblicke sehnsüchtig an und dachte dabei an das alte, kaputte Modell, das daheim in einer Kiste auf sie wartete und ihr mit den abgewetzten Borsten mehr die Kopfhaut aufritzte, als ihre Haare zu entwirren. Doch dann entschied sie sich endgültig dafür, statt der Bürste ein Stück Brot für den Bettler mitzunehmen und wandte sich ab.

Als sie ihre spärlichen Einkäufe verpackt hatte und mit dem Brotlaib in der Hand beim Ausgang angekommen war, zeugte der menschenleere Gehweg jedoch davon, dass der Bettler weitergezogen war. Mit einem leisen Brummen verstaute sie das Brot in der Einkaufstüte und dachte wehmütig an die Bürste.

 

„Wir können Ihnen leider keinen weiteren Kredit gewähren, Herr Hellar! Sie sind bereits mit Ihren aktuellen Zahlungen weit im Rückstand!“, sagte der Bankangestellte mit einem leichten Kopfschütteln.

Erik sackte enttäuscht in sich zusammen. Er hatte zwar nicht ernsthaft damit gerechnet, einen weiteren Kredit zu bekommen, doch ein letzter Funke Hoffnung war da gewesen. Zumindest hatte er es versuchen müssen, denn jeder Kredit bei einer Bank war besser, als Geld von Kopack zu nehmen. Er schuldete ihm bereits eine stattliche Summe, welche dieser bis Ende des Monats wieder sehen wollte, mit Zinsen versteht sich.

Doch die Anzahlung für die Wohnung war jetzt erst mal am wichtigsten, ansonsten müssten sie im Auto übernachten und das wollte er Daria nicht antun. Sie musste auch so schon auf so vieles verzichten, da wollte er ihr wenigstens ein Bett zum Schlafen bieten können. Sein schlechtes Gewissen steigerte sich noch, als er die Gedanken zu seiner verstorbenen Frau schweifen ließ. Wäre Iris heute noch bei ihm, so wäre alles anders gekommen. Sie hätte gewusst, wie die Familie besser über die Runden kommen könnte, würde seine Sorgen um Daria mit ihm teilen und er müsste nachts nicht wach liegen und mit schmerzendem Herzen an sie denken.

Jede wache Minute verfluchte er sich dafür, geglaubt zu haben, er könnte ihre Verfolger abschütteln. Der Sprung ins Wasser mit dem Ziel, deren Boot fahruntüchtig zu machen, war der größte Fehler seines Lebens, hatte ihn seine geliebte Frau gekostet und Daria ihre Mutter genommen.

„Brauchen Sie noch etwas?“, fragte der Banker sichtlich genervt und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf das blank polierte Glas seiner Rolex.

„Nein, entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe“, murmelte Erik und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Bevor er die Bank verließ, um mit leeren Händen heimzukommen, suchte er noch die Toilette des weitläufigen, mit dunkelgrünem Teppichboden ausgelegten Gebäudes auf.

Als er gerade dabei war, sich die Hände mit einem kratzigen Papierhandtuch abzutrocknen, hörte er, wie sich die Tür zur Toilette öffnete. Das Klacken von Absätzen und Knautschen von Leder war zu hören. Erik wusste, wer der Mann war, der gerade den Raum betreten hatte. Seine Lederstiefel im Cowboylook steuerten das Waschbecken neben ihm an. Durch den Spiegel hindurch sah ihm der Mann eindringlich in die Augen. Erik bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber die eben abgetrockneten Hände waren wieder nass von seinem Schweiß.

„Hallo, mein Freund!“, begrüßte ihn der Mann, nachdem er ihn eine Weile mit belustigtem Blick betrachtet hatte.

Erik drehte den Kopf zur Seite, um ihm direkt ins Gesicht zu blicken. „Hallo, Spencer!“, erwiderte Erik gedehnt.

„Du weißt, warum ich dich besuche? Kein Glück gehabt mit der Bank, was? Du erinnerst dich aber schon noch daran, dass in acht“, dabei zeigte Spencer die Zahl mit seinen Fingern, „Tagen das Geld fällig ist?“ Ein schmieriges Grinsen straffte seine markanten Züge und verlieh ihm einen gefährlichen Ausdruck.

„Ich weiß, ich werde das Geld parat haben, das habe ich bereits bei deinem letzten Besuch vor einer Woche gesagt“, erwiderte Erik kleinlaut. Es brodelte in ihm, er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, doch er wollte seinem Gegenüber keinen Grund liefern, verärgert zu werden.

„Gut, gut … schöne Wohnung übrigens“, meinte dieser nur, tippte sich auf seinen schwarzen Cowboyhut und ließ Erik alleine in der Männertoilette zurück.

Woher zum Teufel wusste Kopack schon wieder, wo sie wohnten? Sie hatten etliche Kilometer zurückgelegt und doch war es wie immer nur eine Frage der Zeit, bis Spencer oder ein anderer von Kopacks Leuten ihm einen Besuch abstattete.

Um seine Entrüstung zu bekämpfen, atmete er zweimal tief durch und machte sich dann mit leeren Händen, aber einem Stein im Magen auf den Heimweg.

 

„Bist du dir absolut sicher, Konrad?“, fragte Alarik nun schon zum zweiten Mal mit erregter Stimme und blickte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an. Schweißperlen traten auf seine Stirn und der Atem ging ihm schnell vor Aufregung. Sollte Konrad wirklich recht haben, wäre das seine große Chance.

„Ohne Zweifel!“, betonte dieser erneut und knetete fiebrig seine schmutzigen Hände. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Oder vertraust du nicht in meine Fähigkeiten? Es war zwar nur ein blauer Schimmer, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich es gesehen habe. Dieses Mädchen hat beide Elemente, Luft und Wasser, in sich vereint! Mag sein, dass sie die Affinität zum Wasser geheim hält, um nicht aufzufallen, oder aber es ist ihr gar nicht erst bewusst, dass sie diese Macht hat! Allerdings könnte ich mir keinen Grund denken, warum das so sein sollte. Aber egal“, betonte Konrad. „Ich bin mir sicher! Und nur das zählt!“, schloss er und reckte triumphierend sein Kinn in die Höhe.

Alarik war sich sehr wohl bewusst, dass Konrad einer der besten Auraleser war, zumal diese Gabe äußerst selten auftrat. „Und du weißt, wo sie sich aufhält?“, wollte Alarik wissen.

„Ja! Ich habe sie bis zu ihrer Wohnung verfolgt und dort noch eine Weile beobachtet. Kurze Zeit später kam ein Mann dazu, ich schätze, es ist ihr Vater. Hier ist die Adresse.“ Konrad reichte ihm ein abgerissenes Stück Papier, auf dem in krakeliger Handschrift ein Straßenname samt Hausnummer zu lesen war.

„Nun gut, dann geh dich erst einmal duschen, im Bad liegen frische Sachen für dich bereit, und dann zu Silvia in die Küche. Sie wird dir etwas zum Essen machen und dir deinen Lohn aushändigen.“

Angewidert von dem intensiven Geruch nach Schweiß und Tabak, der von Konrad ausging, drehte sich Alarik weg und widmete sich seinem Computer, um den Hauseigentümer ausfindig zu machen, welcher unter der eben erhaltenen Anschrift aufschien.

Konrad hatte den Raum bereits vor einigen Minuten verlassen, als Alarik Gepolter und Stimmengewirr aus dem unteren Stockwerk vernahm. Eilig sperrte er den Computer, um nachzusehen, wer oder was diesen Tumult verursachte. Als er auf halbem Weg nach unten war, machte er die gereizten Stimmen seiner Söhne aus und auch die seiner Frau, während sie versuchte, zwischen den beiden zu schlichten.

„Musstest du dich einmischen, Derek? Ich hätte bei ihr landen können! Sie hat mir schließlich den ganzen Abend schöne Augen gemacht!“, warf Vincent, sein Jüngster, seinem Bruder wutentbrannt vor.

Alarik nahm gerade die letzten zwei Stufen der Treppe auf einmal, als Derek, der eine blutende Nase hatte, in schallendes Gelächter ausbrach. „Sie dir schöne Augen gemacht? Schielst du? Die hat sich nur für mich interessiert, wie man ja auch unschwer daran erkennen kann, dass sie mich geküsst hat und nicht deine Wenigkeit! Hättest du mir nicht die Tour vermasselt, hätte ich sie sicher noch flachgelegt!“, prahlte er.

Vincent wollte sich gerade wieder auf seinen älteren Bruder stürzen, zweifellos um auch das andere Nasenloch zum Bluten zu bringen, doch Alarik hatte genug gehört.

„Vincent, hör auf!“, dröhnte er deshalb mit seiner tiefen Stimme.

Vincent, der gerade zum Schlag ausgeholt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte seinen Vater aus zornfunkelnden Augen an.

„Derek, geh in dein Zimmer“, befahl sein Vater, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Hallo, Vater! Ja, mein Abend war toll! Danke der Nachfrage! Ja, auch sonst geht es mir gut“, leierte Derek und zog sich dabei die Stiefel aus.

„Lass den Blödsinn und tu, was ich dir gesagt habe!“, erwiderte Alarik und schaute seinem Sohn nun doch ins Gesicht. Mit einem ausdruckslosen Blick wartete er darauf, dass Derek sich in Bewegung setzte, um seinem Befehl nachzukommen, was dieser auch mit einem Kopfschütteln tat.

„Gute Nacht, Mama“, murmelte er noch, bevor er sich an seinem Vater vorbeischob und die Stiegen nach oben trampelte.

„Gute Nacht, mein Schatz!“, verabschiedete ihn seine Mutter und blickte Derek nach, bis er außer Sicht war.

„So, und nun zu dir, junger Mann!“, begann Alarik die übliche Predigt. „Du weißt, du hast gewisse Privilegien, die ich dir sofort wieder entziehe, wenn du die von mir auferlegten Grenzen auch nur gedenkst zu überschreiten! Keine Mädchen!“, donnerte Alarik und die Augäpfel traten ihm dabei leicht aus den Höhlen.

„Privilegien? Das ist ein schlechter Scherz!“, bluffte Vincent, doch brachte er nicht den Mumm auf, seinen Vater dabei anzusehen. „Gerade, dass ich kein Gefangener in meinem Zuhause bin! Ich darf ausgehen, aber ich darf keinen Spaß haben! Was soll das dann bringen? Frische Luft schnappen?“ Er blinzelte nach oben, um die Reaktion seines Vaters abzuschätzen, und was er sah, stimmte ihn nicht sehr optimistisch. Alarik war hochrot im Gesicht und presste die Lippen fest aufeinander, als müsse er die Worte zurückhalten, die ihm auf der Zunge brannten.

Silvia setzte gerade zu einer Verteidigung ihres Sohnes an, als sie schroff von ihrem Mann abgewürgt wurde: „Vincent, ich habe mit dir zu sprechen! Du willst dich mit Weibern vergnügen? Du wirst bald die Gelegenheit bekommen, deinen Trieben freien Lauf zu lassen!“ Ein erwartungsvolles Funkeln hatte sich in seine Augen gestohlen und auch die Röte seiner Haut ließ bei seinen Worten sichtlich nach.

Silvia atmete erschrocken ein. „Soll das bedeuten, ihr habt eine gefunden? Eine Frau mit einer gegengleichen Anomalie?“, keuchte sie und schüttelte benommen den Kopf.

Ein breites Grinsen formte sich auf Alariks Mund. „Ja, mein Goldstück, genau das heißt es. Unser Sohn wird bald seiner Pflicht nachkommen und unser Blut wird es sein, das die Prophezeiung erfüllt!“

Vincent schluckte schwer. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Seit seiner Geburt, besser gesagt, seit er als Baby dem Auraleser gezeigt wurde und feststand, dass er in sich die Elemente Feuer und Erde vereinte, war sein Leben festgelegt worden. Er wurde nur zu dem einen Zweck aufgezogen: Einmal, sollte sich ein passendes Gegenstück finden, die Blutlinie seiner Familie weiterzugeben.

Er konnte es nicht fassen, dass dieser Tag nun wirklich gekommen war. Sein Vater tat zwar immer so, als würde es jederzeit passieren, aber er wusste und auch seine Mutter betonte immer wieder, wie unwahrscheinlich es war, dass zwei passende Anomalien zur selben Zeit auftraten. Bisher war es jedenfalls noch nie vorgekommen. Er hatte sich darauf eingestellt, seine Tage unter dem Drill seines Vaters zu fristen, und träumte davon, ihm irgendwann die Stirn zu bieten und sich davonzumachen, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch nun war diese Möglichkeit undenkbar geworden. Nun musste er, wie sein Vater schon gesagt hatte, seine Pflicht erfüllen und darauf vertrauen, dass sich sein Leben dann vielleicht ändern würde. Das Leben aller Menschen. Er hoffte nur, dass sie nicht alt und hässlich war, diese andere Anomalie.

 

2

 

Daria versuchte verzweifelt, die verbeulte Konservendose zu öffnen, um an die darin befindliche Tomatensoße zu gelangen. Ja, die Konserve war um die Hälfte verbilligt, weil kein anderer sich solch einen Kampf liefern wollte. Als sie kurz davor war, die Blechbüchse aus dem Fenster zu werfen, hörte sie ein feines Zischen und Tomatensoße spritzte ihr ins Gesicht.

Voller Wut umklammerte sie die Dose und ermahnte sich ruhig zu bleiben, denn sie spürte bereits, wie sich die Luft im Raum langsam zu drehen begann. Ihr Vater wäre sicherlich nicht erfreut, wenn er hereinkäme und direkt in einen Minitornado gezogen würde. Also zählte sie in Gedanken von zehn langsam rückwärts und bearbeitete die widerspenstige Konserve weiter, bis das Loch groß genug war, um den Inhalt in den kleinen und ebenso zerbeulten Kochtopf zu kippen.

Als das endlich geschafft war, kam ihr Vater zur Tür herein. „Kalt geworden“, murmelte er statt einer Begrüßung, gab ihr aber im Vorbeigehen einen flüchtigen Kuss auf den Kopf. „Riecht lecker, Liebes!“, merkte er an und nahm an dem kleinen, runden Tisch Platz, der bereits gedeckt war.

„Mhm“, war Darias Antwort darauf. Nudeln mit Tomatensoße war das günstigste Essen, das sie auf den Tisch bringen konnte, und daher auch kein seltenes Menü. Doch ihr Vater lobte das fade Pastagericht jedes Mal und dankte ihr damit für die Mühe, die sie sich gab.

 

Nachdem sie gegessen hatten und Daria den Abwasch erledigt hatte, zog sie sich in das schäbige, enge Bad zurück, um sich bettfertig zu machen. Seufzend wühlte sie in der Kiste zu ihren Füßen nach ihrer Bürste, dem Zahnputzzeug und dem Duschgel.

Als sie alles beisammen hatte, stellte sie das Wasser in der Dusche so heiß wie möglich und schlüpfte aus ihren Sachen. Die Hitze des dampfenden Wassers breitete sich allmählich in ihrem Körper aus und sie begann sich zu entspannen. Der Umzugsstress der letzten Tage fiel nach und nach von ihr ab und ihre Verspannungen im Nacken lösten sich, was auch den Kopfschmerz endlich dämpfte.

Viel zu schnell war das warme Wasser aufgebraucht und so wusch Daria sich in Windeseile, um dem kalten Schauer zu entgehen.

Mit einem kratzigen Handtuch umhüllt stellte sie sich vor den Spiegel, den sie erst einmal vom Dampfschleier befreien musste, um darin etwas sehen zu können. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und gelegentlichem Quieken entwirrte sie das Haargummi aus ihren Locken und fächerte die Mähne über ihren Schultern auf, um sich daran zu machen, sie zu frisieren. Keine leichte Aufgabe bei ihren langen Strähnen, die sie eindeutig zu sehr vernachlässigte.

Wenn ihre Haare frisch gewaschen und gekämmt waren, ergossen sich die blonden Locken wie ein Wasserfall über ihren Rücken und glänzten im Sonnenlicht schillernd wie das Perlmutt im Inneren einer Muschel. Doch da sie weder das Geld für teure Haarkuren noch die Muse oder Fähigkeit hatte, sich ihre Haare zu einer geeigneten Frisur zu formen, hingen sie meist schlapp und leblos von ihrem Kopf.

Früher hatte ihre Mutter ihr immer kunstvolle Zöpfe geflochten und diese geschickt hochgesteckt. Da ihre Mutter aber viel zu früh gestorben war, hatte sie nie Gelegenheit gehabt, Daria das Flechten beizubringen.

Endlich war sie damit fertig, die Knoten aus ihrem Haar zu bürsten, und massierte sich die Hand, da diese schon krampfte.

Nachdem sie sich noch die Zähne geputzt und ihren Schlafanzug angezogen hatte, kuschelte sie sich in die Laken und versuchte, ihren müden Geist zum Schlafen zu bewegen.

Noch ein Tag Wochenende, dann würde sie sich am Montag in der hiesigen Schule einschreiben lassen. Zumindest für die nächsten paar Wochen war der Trubel des Umzugs wieder überstanden.

Mit einem tiefen Seufzen drehte sie sich ein letztes Mal um und schloss ihre Augen. Kaum hatte sie in den Schlaf gefunden, wurde sie unsanft geweckt. Ein leises Klopfen ließ sie aufschrecken und im Bett hochfahren. Eine schwache Frauenstimme rief den Namen ihres Vaters, immer und immer wieder. Daria realisierte langsam, dass das stetige Klopfen von der Eingangstüre her rührte, und die Stimme der Vermieterin gehörte.

Was wollte sie um diese Uhrzeit nur? Es musste weit nach elf sein.

Zu dem nun forscher werdenden Klopfen mischte sich ein röchelndes Schnarchen. Ihr Vater ließ sich offenbar nicht so leicht wecken. Daria rappelte sich auf und schlurfte träge ins Wohnzimmer, wo ihr Vater sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Bei jedem Klopfen zuckte er im Schlaf, wach wurde er davon aber nicht.

„Papa! Papa, da ist jemand an der Tür!“ Daria packte ihren Vater am großen Zeh und rüttelte kräftig daran, um ihn schnellstmöglich wach zu bekommen.

Langsam regte er sich. „Was? Was ist denn, mein Liebes?“, fragte er noch völlig verschlafen und rieb sich die Nase.

„Die Vermieterin steht vor der Tür und ruft nach dir! Hast du die Anzahlung schon erledigt?“ Darias Stimme klang vorwurfsvoll, denn sie hatte keine Lust, morgen gleich wieder vor die Türe gesetzt zu werden.

„Was? Ja, hab ich doch.“ Jetzt öffnete er endlich die Augen und stand auf, um zur Tür zu gehen.

Daria war in ihr Zimmer zurückgegangen, hatte aber die Türe nur angelehnt, um mitzubekommen, was die Vermieterin ihrem Vater zu sagen hatte.

„Herr Hellar, entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber ich habe ein Ferngespräch für Sie. Ein Mann wartet in der Leitung. Er meinte, es sei von größter Bedeutung, dass Sie heute noch mit ihm reden“, berichtete sie kurz und knapp und fügte dann noch mürrisch hinzu: „Das Telefon hat übrigens auch mich aus dem Bett geholt. Ich würde Sie bitten, diesem Mann zu sagen, er soll nur mehr tagsüber hier anrufen!“ Damit drehte sie sich um und ging in ihre Wohnung nebenan, um dort auf Darias Vater zu warten.

Dieser schlüpfte unbeholfen in seine Schuhe, warf sich eilig seine Jacke über den Schlafanzug und folgte der Vermieterin. Daria blieb mit einem Fragezeichen im Kopf zurück. Wer zur Hölle rief ihren Vater an? Wer wusste, dass sie hier waren, und was war so eilig, dass es mitten in der Nacht besprochen werden musste?

Kurz war sie versucht, ebenfalls nach nebenan zu gehen, verkniff es sich dann doch und wartete ungeduldig auf die Rückkehr ihres Vaters.

 

Während er die paar Meter bis zur Wohnung der Vermieterin zurücklegte, fragte sich Erik fieberhaft, wer ihn hier anrufen könnte. Es gab niemanden mehr in seinem Leben außer Daria. Keine Großeltern, Geschwister oder Freunde.

Als er den Hörer abnahm, war ihm leicht mulmig zumute. Skeptisch meldete er sich mit einem zaghaften: „Ja?“ Sein Herz pochte laut vor Aufregung und er hoffte, dass man es nicht durch das Telefon hören konnte.

„Hallo? Spreche ich mit Erik Hellar?“, fragte eine tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

Erik räusperte sich und gab sein Bestes, mit fester und sicher klingender Stimme zu antworten. „Ja, hier ist Erik Hellar“, wiederholte er seinen Namen.

„Herr Hellar!“, begann der Mann und Erik meinte, Euphorie in seiner Stimme mitschwingen zu hören. „Als Erstes muss ich mich dafür entschuldigen, Sie zu so später Stunde zu belästigen. Es ist nur so, dass ich eben erst von einer Geschäftsreise zurückgekehrt bin, mein Anliegen an Sie jedoch keinen weiteren Aufschub duldet. Außerdem bitte ich Sie, mich zur Gänze anzuhören, bevor Sie eine Entscheidung treffen! Habe ich Ihr Wort?“, wollte der Mann wissen.

Erik runzelte angestrengt die Stirn und kratzte sich lautlos am Ohr.

Welche Entscheidung sollte er treffen?

Nach einer kurzen Pause, die der Mann geduldig abwartete, entschied Erik, es darauf ankommen zu lassen. „Ja, ich werde mir alles anhören, was Sie mir zu sagen haben“, erwiderte er unsicher. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten unentwegt, als würden sie die Spannung, welche sich in ihm aufgebaut hatte, zermahlen wollen.

„Mein Name ist Alarik Terres“, stellte sich der Unbekannte vor. „Ich bin wie Sie und Ihre Tochter ein Elementträger.“

Vor Schreck ließ Erik beinahe den Hörer fallen.

Wer war dieser Mann und was wollte er bloß von ihnen?

Er zog scharf die Luft ein und wollte bereits etwas sagen, als Alarik ihm zuvorkam: „Bitte, Herr Hellar, Sie brauchen sich nicht aufzuregen, ich bitte Sie noch einmal, mich anzuhören.“

Erik schluckte geräuschvoll, blieb aber ansonsten stumm und lauschte aufgewühlt den weiteren Worten Alariks.

„Vor knapp zwei Jahren haben Sie eine Bewerbung an das Wasserkraftwerk am Grenzer See geschickt. Nun, ich bin mittlerweile Teilhaber dieser Firma und Personalumstrukturierungen haben zur Folge, dass wir einen Posten neu besetzen müssen. Diese spezielle Stelle kann nur jemand mit Ihren Fähigkeiten …“, er betonte das Wort und beinahe konnte Erik ein Augenzwinkern erahnen, „… besetzen. Bitte seien Sie nicht skeptisch mir gegenüber. Mir liegt das Unternehmen sehr am Herzen, daher suche ich meine Mitarbeiter gewissenhaft aus und bin der Überzeugung, dass nur Sie diese Arbeit zu meiner Zufriedenheit erledigen können!“

Erik schwirrte der Kopf, doch Alarik war noch nicht fertig.

„Abgesehen davon, dass dieser anspruchsvolle und für Sie sicherlich interessante Job ein stattliches Einkommen bringt, kann ich Ihnen viele weitere Vergünstigungen bieten. Ihnen und Ihrer Tochter. Daria, nicht wahr?“ Alarik stellte diese Frage, obwohl er die Antwort darauf mit Sicherheit wusste, und wartete daher auch keine Antwort ab, sondern fuhr bereits fort: „Seien Sie mir nicht böse, dass ich mich etwas über Sie erkundigt habe! Wie schon erwähnt prüfe ich meine Mitarbeiter in spe genau, bevor es zu einer Anstellung kommt. Daher weiß ich auch, dass Sie die Einnahmen dringend benötigen. Ich bin bereit, Ihre Kredite zu tilgen und auch das andere Darlehen, welches Sie aufgenommen haben.“

Erik zweifelte keinen Moment daran, dass Herr Terres von dem Geld sprach, das er sich bei dem Kredithai hatte ausleihen müssen.

„Außerdem biete ich Ihnen eine Unterkunft an, entgeltfrei versteht sich. Ihre Tochter kann die hiesige Privatschule besuchen, auch dafür müssen Sie nichts aufwenden! Sie sehen, ich bin sehr daran interessiert, Sie als neuen Mitarbeiter zu gewinnen. Ihre Arbeitskraft bedeutet mir viel und ich bin bereit, die genannten Kosten dauerhaft und ohne Forderung einer Rückzahlung zu übernehmen. Ihr Leben würde sich von Grund auf ändern, Herr Hellar!“, betonte Alarik und wartete dann auf eine Antwort.

Da Erik sich nicht im Stande fühlte, dem nachzukommen, schwieg er. Unterschiedlichste Gedanken und Gefühle jagten durch seinen Kopf. Am Rande nahm Erik wahr, dass Alarik einige Male dazu ansetzte, etwas zu sagen.

„Hören Sie Erik, ich weiß auch, welche Tragödie Ihrer Familie widerfahren ist“, verlegen hüstelte er. „Wir beobachten die Tätigkeiten der Auserwählten, einer Gruppierung der Unsrigen, die es sich zum Ziel gemacht hat, die gewöhnlichen Menschen zu unterwerfen. Damit versuchen wir sicherzustellen, dass ihre terroristischen Akte unsere Kolonie nicht in Gefahr bringen! Diesbezüglich arbeiten wir auch eng mit den Behörden zusammen! Daher weiß ich, dass es Anhänger dieser Vereinigung waren, die Sie damals verfolgt und das Leben Ihrer Frau genommen haben. Ich versichere Ihnen, Erik, nirgendwo wären Sie und Ihre Tochter sicherer als bei uns!“

Die letzten beiden Worte hörte Erik nur mehr von weitem, da er bereits dabei war, den Hörer auf die Gabel zu knallen. Er bebte vor Schmerz, Wut und Trauer. Wie konnte dieser Mensch es wagen, von seiner Frau zu sprechen? Welche Unverschämtheit war es, dass er diese persönlichen Informationen ausgegraben hatte und ihn damit konfrontierte. Doch es hatte auch noch einen anderen bitteren Nachgeschmack, als alleine das Gefühl bloßgestellt zu sein. Es war ihm unangenehm, dass dieser Alarik so viel von ihm wusste, sogar mehr als er selbst.

Es war also eine Art fanatische Gruppe gewesen, die sie damals verfolgt hatte. Warum? Was zum Teufel wollten sie von seiner Familie?

Er hatte es schon Wochen vor seiner Flucht bemerkt, dass sie von einigen der Nachbarn beobachtet wurden. Jeder ihrer Schritte. Es wurden intime Fragen zu seiner Tochter gestellt, die wohl beiläufig hätten klingen sollen.

Erik und seine Frau hatten gewusst, dass ihre Tochter eine Anomalie darstellte. Sie kannten die alten Geschichten und sie konnten nicht sicher sein, dass es diese Leute, die sie bedrängten, mehr über Daria zu erzählen, nicht aus diesem Grund auf sie abgesehen hatten! Nicht jeder der Elementträger wünschte sich die Rückkehr des Elementaren. Viele von ihresgleichen fühlten sich den gewöhnlichen Menschen überlegen und wollten diese vermeintliche Vormachtstellung nicht riskieren, das hatte er gewusst. Aber dass sich daraus eine Vereinigung gebildet hatte, die zu solchen Dingen im Stande war, hatte er bisher nicht gewusst. Vielleicht konnte dieser Alarik ihm Informationen liefern und Daria besser beschützen, als er es alleine vermochte.

Dieser Gedanke schmerzte ihn sehr, aber er musste sich eingestehen, dass er sich in einer Sackgasse befand. Seine Geldreserven waren bereits vor Jahren aufgebraucht gewesen und er schaffte es kaum mit drei Jobs, das Geld für die Kreditraten aufzubringen. Abgesehen davon graute ihm bereits vor dem Tag, an dem er das geborgte Geld an Kopack zurückzahlen musste. Erik hatte die Summe nicht einmal annähernd zusammengespart, obwohl die Frist fast vorbei war, und er wusste nicht, was Kopack und seine Leute ihm antun würden, wenn er nicht rechtzeitig zahlen könnte.

Hatte er nicht auch seit dem Tag seiner Bewerbung darauf gehofft, dass er doch noch irgendwann im Kraftwerk anfangen konnte? Und Daria, sie musste auf so viel verzichten. Sie war mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen und musste neben ihrer Mutter auch jede noch so kleine Annehmlichkeit entbehren. So wie sie derzeit lebten, immer auf der Flucht, hatte sie nicht einmal ein richtiges Zuhause. Denn das war der Hauptgrund für die ständigen Umzüge, die Angst davor, ihre einstigen Verfolger könnten sie aufspüren. Da er keinerlei Informationen hatte, warum sie damals wirklich von ihnen gejagt wurden, aber sehr wohl wusste, wozu sie fähig waren, hatte ihre Flucht bisher kein Ende gefunden. Er wusste, Daria belastete es sehr, ständig herumzuziehen, nie Freundschaften aufbauen zu können.

Erik kniff die Augen fest zusammen, als könnte er die Antworten auf der Innenseite seiner Lider lesen. Dann, kurzerhand entschlossen, nahm er den Hörer wieder auf und drückte mit zitterndem Finger die Rückruftaste. Es klingelte nur zwei Mal, dann meldete sich eine Frauenstimme, die ihn dazu aufforderte, kurz zu warten. Ein paar Atemzüge später war wieder Alarik Terres am Telefon. „Sie haben sich entschieden?“, fragte er vorsichtig und entschuldigte sich dafür, Erik zuvor so überrumpelt zu haben.

Erik willigte ein, den Job anzunehmen. Alarik erklärte ihm, dass er ihnen Flugtickets hinterlegen würde. Der Flug ging bereits am nächsten Tag. Sie würden von einem Privatchauffeur vom Flughafen abgeholt und zuerst in den Firmensitz gebracht werden. Dort sollte Erik den Dienstvertrag unterschreiben und anschließend könnten sie ihr neues Zuhause beziehen.

Am Montag würde für Daria bereits der erste Schultag beginnen. Alle benötigten Bücher und Unterlagen würden bis dahin bereitliegen. Alariks Sohn Vincent werde Daria abholen und sie durch den Tag begleiten, um ihr den Einstieg zu erleichtern.

Noch ganz benommen von der Flut an Informationen trabte Erik zurück zu seiner Wohnung. Auf halbem Wege fiel ihm ein, dass er sich gar nicht bei der Vermieterin bedankt und verabschiedet hatte. Sie hatte sich höflicherweise in die angrenzende Küche zurückgezogen und Erik war so perplex gewesen, dass er nach Beendigung des Telefonats einfach gegangen war. Er entschied sich, die Vermieterin nicht mehr zu belästigen und setzte sich wieder in Bewegung.

Daria wartete in der Küche auf ihn. Sie hatte eine Kanne Wasser zugestellt und zwei Tassen mit Teebeuteln darin standen bereit. Aus großen, wachen Augen blickte sie ihn an, als er den Stuhl zurückzog und sich geräuschvoll darauf niederließ.

„Liebes, erinnerst du dich noch, dass ich mich einmal für einen Posten im Wasserkraftwerk am Grenzer See beworben habe?“

Daria hatte den Eindruck, dass es ihrem Vater schwerfiel, nicht gleich die ganze Geschichte auszuposaunen, welche ihm offensichtlich auf der Zunge brannte. Sie wusste es noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ihr Vater wollte den Posten unbedingt. Hatte tagelang über dem Bewerbungsschreiben gebrütet, damit es perfekt war. Doch wurde er nie zu dem Auswahlverfahren eingeladen und war dementsprechend frustriert gewesen. Noch Wochen später hatte er gehofft, von der Firma zu hören, denn er versprach sich von dieser gutbezahlten Anstellung einen Neustart für sie beide.

Daria nickte und signalisierte ihm gleichzeitig, er solle weitersprechen.

Ihr Vater nahm einen Schluck von dem noch viel zu heißen Tee und musste husten. Mit leicht belegter Stimme fuhr er fort. „Sie haben sich tatsächlich bei mir gemeldet und mir eine Stelle angeboten. Diese ist nicht nur ausgezeichnet bezahlt, wir bekommen auch eine Dienstwohnung und du kannst die dortige Privatschule besuchen. All unsere Geldsorgen wären ein für alle Mal erledigt!“, schloss er begeistert.

Daria kannte ihren Vater nur zu gut und war sich im Klaren, dass er ihr nur einen Teil der Geschichte erzählt hatte. Doch gleichermaßen wusste sie, er würde nicht damit herausrücken, egal wie sehr sie ihn drängte. „Du willst mir sagen, sie stellen dich einfach so an und unsere Probleme lösen sich in Luft auf?“

Daria beäugte ihren Vater skeptisch, doch er wusste, welche Karte er spielen musste, um die Bedenken seiner Tochter zu zerstreuen. Sie wünschte sich ein festes Zuhause, doch noch mehr als das wünschte sie sich endlich irgendwo Anschluss zu finden, dazuzugehören, denn sie war schlichtweg einsam. „Wir würden in einer Kolonie wohnen und auch die Schule ist nur für Elementträger“, setzte er taktisch nach.

Daria riss die Augen auf. Das hatte sie mehr als nur überrascht. Es hatte einen Nerv in ihr getroffen. Nichts wollte sie sehnlicher, als mit anderen Elementträgern zusammenzuleben, sich selbst und ihre Wurzeln nicht mehr verstecken zu müssen.

Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Dann ist es bereits beschlossene Sache?“, mutmaßte sie mit einem strengen Blick.

„Wir fliegen morgen früh!“, verkündete Erik und konnte sich sein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Darias schockierten Blick sah.

 

In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf mehr, keine Ruhe. Es war zu aufwühlend, sich auszumalen, was die nächsten Tage bringen mochten.

War es nicht alles, was sie sich die letzten Jahre über so sehr gewünscht hatte?

Und doch war sie eher ängstlich als erfreut. Es war zu viel Veränderung auf einmal. Doch ihr Vater klang zuversichtlich, also wollte auch sie aufgeschlossen dem gegenübertreten, was da unweigerlich auf sie zukam.

 

Alarik lehnte sich zufrieden in seinem Ledersessel zurück. Kurz hatte er geglaubt, seine Argumente hätten Herrn Hellar nicht überzeugt, doch nur wenige Augenblicke später hatte dieser zugesagt, mit seiner Tochter zu kommen.

Die Erfüllung all seiner Träume war nun endlich zum Greifen nah und er würde alles daran setzen, sie zu verwirklichen, koste es, was es wolle.

 

Vincent hatte vor der Bürotür seines Vaters abgewartet, hatte im Stillen das Telefonat verfolgt. Als Alarik nun den Raum verließ und ihn am Gang stehend antraf, waren seine sonst so strengen Züge zu einem breiten Grinsen verzerrt, das so überhaupt nicht dorthin passte.

„Sie kommt, mein Sohn! Sie kommt!“, murmelte er glückselig und tätschelte ihm die Schulter.

Vincent wusste, das Spiel hatte begonnen.

 

 

3

 

Der Flughafen war belebt. Überall tummelten sich Menschen, die gerade ein- oder auscheckten, ihr Gepäck abgaben oder suchten, sich bei den zahllosen Schaltern in der riesigen Empfangshalle nach ihren Flügen erkundigten oder ihre Tickets lösten.

Daria blickte voller Ehrfurcht auf die gigantische Leuchttafel, die über ihren Köpfen angebracht war und die Flüge anzeigte. Ihr Flugzeug würde in weniger als zehn Minuten abfliegen.

Darias Vater stand am Ende einer langen Schlange, um vom Schalter die dort hinterlegten Tickets abzuholen. Das spärliche Gepäck und die paar Kisten hatten sie bereits abgegeben. Ihr Auto, einen alten, rostigen Kombi, benötigten sie nicht mehr und hatten es ihrer Vermieterin überlassen. Ganz perplex war die alte Dame gewesen, als Herr Hellar ihr am Morgen erklärt hatte, sie würden gleich wieder ausziehen.

Neben Daria hatte eine Familie mit zwei Kindern und ihrem völlig überladenen Gepäckwagen haltgemacht, um die Tafel mit den Abflug- und Ankunftszeiten zu studieren. Die Eltern unterhielten sich in einer ihr unbekannten Sprache und die beiden Jungs tobten zwischen ihren Beinen umher.

Erneut ließ Daria ihren Blick über die Zeittafel wandern und bemerkte erschrocken, dass ihr Flug bereits der nächste war. Sie drängelte sich daraufhin durch die Schlange zu ihrem Vater nach vorne, wo noch drei Leute vor ihnen an der Reihe waren. „Papa, unser Flug geht gleich!“, keuchte sie und erntete viele böse Blicke von den Menschen, die sie auf dem Weg zu ihrem Vater angerempelt und auf die Seite geschoben hatte.

„Ja, Liebes! Wir sind ja gleich an der Reihe!“, versuchte Erik, seine Tochter zu beruhigen, doch auch er war mehr als nervös.

Endlich bekamen sie die Tickets ausgehändigt. Im Laufschritt folgten sie der Wegbeschreibung, die sie von der Flughafenangestellten erhalten hatten, und erreichten den Check-in-Schalter gerade noch rechtzeitig.

 

 

Noch ganz außer Atem nahmen sie im Flugzeug Platz und staunten nicht schlecht, als ihnen klar wurde, dass sie Erster Klasse flogen. Der Flug dauerte nur etwas mehr als eine Stunde, in der sich Daria in dem bequemen Sessel zurücklehnte und einen Film sah. Das gereichte Essen war exquisit, ein Steak mit eindeutig frischem Gemüse und Bratkartoffeln sowie eine große Auswahl an Getränken. Sie genoss das Prickeln der Limonade und seufzte zufrieden. Der Service ließ sie für einen Moment ihre Aufregung vergessen und sie war so entspannt wie die letzten Monate nicht mehr.

 

Kaum waren sie aus dem Flugzeug gestiegen und hatten den Check-out hinter sich gelassen, wurden sie von einem adrett gekleideten Mann begrüßt, der sich mit dem Namen Hendrik vorstellte und ihr Fahrer war.

Er hatte ihnen mitgeteilt, dass ihre Sachen direkt in die neue Unterkunft gebracht würden, während er sie zuerst zum Firmensitz und dann nach Hause bringen sollte.

Ihr Vater nickte zufrieden, offensichtlich war er in das Vorgehen eingeweiht worden. Daria zog, voller Missmut außen vor gelassen zu werden, die Lippen kraus. Schließlich fügte sie sich und stieg in das schwarze Auto, dessen frisch polierter Lack wie ein Edelstein glänzte. Das Innere des Fahrzeugs war geräumig und der hintere Sitzbereich, ähnlich wie in manchen Taxis, von der Fahrerkabine baulich abgegrenzt.

Die Fahrt dauerte noch einmal eine Stunde, doch das lange Sitzen war für Daria kein Problem. Sie war schon viel längere Strecken, sogar ganze Nächte, ohne Pausen durchgefahren und war es schlichtweg gewohnt.

Durch die Gegensprechanlage ertönte die Stimme des Chauffeurs, der ihnen mitteilte, dass sie demnächst an ihrem Ziel ankommen würden. Daria merkte, wie ihr Vater sich neben ihr versteifte, griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. „Mach dir keine Sorgen, Papa!“, beruhigte sie ihn. „Die wollen dich doch! Sonst hätten sie nie so einen Zirkus gemacht, um uns hierher zu holen!“, schloss sie und zwinkerte ihm zuversichtlich zu.

Bei ihren Worten entspannte er sich wieder und blickte erwartungsvoll aus dem Fenster. Sie hatten das Firmenareal erreicht, zwei bewachte Schranken passiert und fuhren eine lang gewundene Zufahrt hinauf. Diese endete an einem stattlichen Gebäude, das eher an eine Villa, als an einen Firmensitz erinnerte.

Kurz bevor das Auto zum Stillstand kam, forderte Darias Vater sie auf, aus dem Fenster zu schauen. Was sie da erblickte, verschlug ihr den Atem. Das einige hundert Meter entfernte Kraftwerk thronte auf dem Staudamm wie eine Burg am Abhang einer Klippe. Aus zahlreichen Rohren plätscherten Rinnsale tief in den Abgrund, wo sich ein kleines Bächlein bildete und in einem angrenzenden Wald verschwand.

Als sie ausstiegen, konnte sie auch die Generatoren surren und die Turbinen arbeiten hören. Ehrfürchtig starrte ihr Vater das Kraftwerk an, bis beide vom Chauffeur zum Haus gescheucht wurden.

Kaum hatten sie die drei Stufen bis zum Eingangsbereich genommen, öffnete sich die Tür und ein hagerer Mann mittleren Alters gebot ihnen, ihm die Treppe hinauf zum Chefbüro zu folgen. Die Einrichtung war geschmackvoll, aber zweckmäßig und wirkte nicht übertrieben. Trotzdem entging es Daria nicht, dass die Ausstattung teuer gewesen sein musste. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt und an den Decken hingen gläserne Lüster.

Im ersten Obergeschoss angekommen, verriet ihnen die goldene Tafel vor der massiven Eichentür, dass hier das Büro des Firmenvorsitzenden Alarik P. Terres war. Ihr Lotse klopfte sachte gegen die Tür, räusperte sich und öffnete sie einen Spalt, um seinem Chef mitzuteilen, dass der erwartete Besuch angekommen war.

„Nur herein mit ihnen!“, hörte Daria ihn mit tiefer, gebieterischer Stimme sagen. Die Tür schwang vollends auf und sie betrat hinter ihrem Vater den großzügigen Büroraum.

Erik schüttelte Herrn Terres, der sich höflicherweise von seinem Schreibtischsessel erhoben hatte, die Hand. Dann sah sich Herr Terres sofort nach Daria um, ergriff auch ihre Hand zum Gruß und stellte sich bei ihr vor. „Darf ich Ihnen auch noch meinen Sohn vorstellen? Vincent, kommst du bitte!“, sagte er mit Nachdruck.

Daria war das Ledersofa am anderen Ende des Zimmers bislang nicht aufgefallen. Jetzt hörte sie, wie sich jemand daraus erhob, und sah an ihrem Vater vorbei zu dem jungen Mann, der sich ihnen näherte.

Im ersten Moment war sein Gesicht ausdruckslos, nur ein wenig grüblerisch, dann, als hätte sich ein Schalter umgelegt, erschien darauf ein freundliches, aber zurückhaltendes Lächeln.

Auch Vincent begrüßte beide mit einem Händedruck. Daria war überrascht, wie warm und weich sich seine Hand trotz des festen Griffes anfühlte. Anschließend stellte er sich links neben seinen Vater, der wieder Platz genommen hatte, und auch Daria und Erik anbot, sich zu setzen.