Elentore - Der Ruf der anderen Welt - Michaela Hammerl - E-Book
NEUHEIT

Elentore - Der Ruf der anderen Welt E-Book

Michaela Hammerl

5,0

Beschreibung

Ein altes, familiäres Geheimnis. Eine verborgene Welt. Eine Bestimmung, die den Tod bedeuten kann. Die 18jährige Juna findet ihre geliebte Oma nach einem Hilferuf immens gealtert und tot auf. Zusätzlich umgibt sie noch ein merkwürdiger, starker Wind. Sie hat den Verlust noch nicht ganz verwunden, da taucht der neue Student Kanja an ihrer Uni auf. Juna fühlt sich unerklärlicherweise vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen. Doch dann entdeckt sie ihn vor ihrem Haus. Ist er ein Stalker, ein Einbrecher oder gar ein Mörder? Kanja kommt von der Elementarwelt Elentore, deren Hüterin sie sein soll. Juna muss rasch lernen, ihre Kräfte zu beherrschen, da einige Elementarwesen die Welten stürzen wollen. Als die Finsternis die Erde zu verschlingen droht, setzt sie alles aufs Spiel: ihre entfachten Gefühle für Kanja und sogar ihr Leben. Denn nur Juna kann die Rebellen stoppen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 426

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Table of Contents

Title Page

Titel

Prolog Das Gleichgewicht

1. Tragische Entdeckung

2. Mahina

3. Geschenk

4. Funkelnder Wasserstrudel

5. Bohrender Blick

6. Der reinste Irrsinn

7. Zwei bizarre Gespräche

8. Neue Rätsel

9. Die Krähe

10. Verschwiegenheit

11. Knisterndes Gespräch

12. Gefühlschaos

13. Abrupte Entscheidung

14. Fall mit Folgen

15. Streitgespräche

16. Die Wanderschaft

17. Kanjas Warnung

18. Die Entstehung

19. Filias Geschichte

20. Die Ruhe der Erdmagie

21. Gefühlswirbel

22. Buch im Wandel der Zeit

23. Wasserfontäne

24. Heiße Gefühlsexplosionen

25. Dunkelheit

26. Die Finsternis der Erde

27. Das Telefonat

28. Florina

29. Das Herz Elentores

30. Kampfgeschrei

31. Die Neue

32. Familie

33. Neue Verwandtschaft

34. Filias Geständnis

35. Aussprache

36. Training mit Kanja

37. Kriegssitzung

38. Das Levent

39. Unvorhergesehenes

40. Der Beginn

41. Energiekugel

42. Erschreckendes Entsetzen

43. Entscheidungen

Epilog: Der Gleichklang

Impressum

Traumschwingen Verlag GbR

 

Michaela Hammerl

ElentorEDer Ruf der anderen Welt

 

PrologDas Gleichgewicht

»Das kannst du nicht machen!« Ein junger Mann lief in einem kleinen düsteren Raum auf und ab.

Das würde in einer Katastrophe enden! Allein bei der Vorstellung brach ihm der Schweiß aus und sein Herz hämmerte. Mit der Hand fuhr er sich durch seine gelockten goldbrünetten Haare.

»Ich muss«, widersprach die Frau. Mit ihren tiefgründigen grünen Augen sah sie ihm nach. Noch war ihre Stimme ruhig, obwohl sie bereits seit vielen Minuten miteinander stritten. In ihrem Inneren jedoch brodelte es wie in einem Vulkan, der kurz vorm Ausbruch stand.

Der junge Mann blieb vor ihr stehen und sah ihr mit seinen meeresblaudunklen Augen direkt in ihre grünen. »Du weißt, was dann auf dem Spiel steht, wenn du sofort gehst?«

Blitze erhellten wenige Sekunden lang beständig den Raum. Die Frau warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Glaubst du etwa, ich weiß das nicht?«

Er wirbelte zu ihr herum und riss die Arme schwungvoll mit sich. Erzürnt rief er aus: »Warum solltest du es dann trotzdem tun?«

»Weil ich keine andere Wahl habe.« Das Donnern des Regens auf das Fensterbrett verschluckte ihre Worte fast zur Gänze. Doch er hatte einen ausgeprägten Gehörsinn, mit dem er noch die kleinsten Töne wahrnehmen konnte.

»Du bist das Gleichgewicht! Die Konsequenzen können enorm sein. Wir brauchen zuerst einen Nachfolger!« Wäre es möglich gewesen, hätten seine Augen vor Zorn Funken gesprüht.

»Sieh nicht immer alles so negativ.«

Dem Mann klappte der Unterkiefer hinunter. Dann kam die Wut wieder zurück und übernahm ein weiteres Mal die Oberhand.

»Sieh du nicht alles so locker! Normalerweise bist du die Vernunft in Person.«

»Die Uhr tickt.« Aus schmalen Augen starrte die Frau ihn an.

Ihre Gefühle nahmen überhand und standen kurz vorm Zerreißen. Ein lauter Knall außerhalb des Hauses ließ beide zusammenzucken.

»Was willst du damit sagen?« Er kniff seine Augen unmerklich zusammen.

»Genau das, was es bedeutet. Siehst du es denn nicht?«, zischte sie.

Er musterte sie von oben bis unten. Da verstand er, was hier los war. »Wenn du hier leben würdest, dann wäre es -«

»Du weißt ganz genau, warum ich das nicht gemacht habe! Ich habe dort eine Familie gegründet.«

»Jeder hat eine Familie und jeder muss einmal eine Entscheidung treffen, die nicht immer für jeden einzelnen passt«, konterte er hitzig.

»Ich hätte und würde mein Leben dort nie aufgeben.«

»Du gehörst hierher.« Wie oft er ihr das in den letzten Jahren bereits gesagt hatte. Warum nur, hatte sie nie auf ihn gehört?

Sie hob ihre Arme seitlich gen Zimmerdecke. Die trichterförmigen Ärmel ihres bunten Oberteils rutschten etwas herab und gaben die Sicht auf ein wunderschönes Kunstwerk frei, das ihre Haut zierte. Mit ihrer ausladenden Handbewegung erfasste sie alles um sich herum.

»Das hier ist ein Teil meines Herzens, aber es ist nicht mein Leben. Ich hätte nicht anders handeln können, auch wenn es für dich unvernünftig zu sein scheint.«

»Aber dann hättest du viele Probleme weniger.« Sein Blick glitt zu ihrem Gesicht, welches seit wenigen Stunden leichte Falten aufwies. »Auch das Altern ist dann kein Thema mehr.«

Mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete, sagte sie: »Das Leben ist ein Kreislauf. Man wird geboren, man lebt und wenn die Uhr des Lebens tickt, dann geht man wieder, um für jemand anderen Platz zu machen.«

»Wie du wissen solltest, gilt hier auf Elentore dieses dämliche Gesetz nicht. Sehe ich etwa alt aus?« Er zeigte auf sich und seinen ebenso von der Verwandlung kunstvoll bemalten Oberkörper. »Mein Aussehen spiegelt das eines zwanzigjährigen Menschenmannes wider, obwohl ich das nicht bin.«

»Wie du wissen solltest, bin ich nur ein halbes Jahrhundert älter als du, also lass es gut sein. Ich habe schon vor vielen Jahrzehnten meinen neuen Weg eingeschlagen und bereue es bis heute nicht - trotz meines Schicksals. Ich liebe meine Familie.«

»Und was ist mit mir? Du hast nie daran gedacht, dass du mich damit in Stich lässt.« Im Gesicht des Mannes lag ein von Gefühlen übermannter Blick. Seit der Kindheit waren sie Freunde. Loyal zu jeder Zeit. Er schätzte sie als Person genauso sehr wie als Hüterin. Doch zu ihrer vor Jahren getroffenen Entscheidung für ihr eigenes Leben stand er nicht. Er konnte es bis heute nicht begreifen.

Die Frau ging einen Schritt auf ihn zu, stand nun so nah, dass sie ihre zarte, vom Planeten Erde gealterte Hand auf seine Schulter legen konnte. Ihre Augen befanden sich fast auf derselben Höhe. Ihre Stimme wurde ruhiger, bedauerlich. »Es tut mir leid, Kanja. Ich weiß, dass ich all die Jahre nur an mich gedacht habe und nie an euch. Sobald ich das Leben auf der Erde entdeckt hatte, habe ich einen anderen Blickwinkel erhalten. Menschenmänner, die anders sind. Ich habe unglaubliche Dinge erlebt und mir ein neues Leben aufgebaut. Meine beiden Kinder dort werden für mich immer an erster Stelle stehen. Sie sind mein Ein und Alles. Aber das willst du nicht verstehen. Nein, du verurteilst mich für meine Taten!« Sie schloss die Augen und wandte ihren Blick von ihm ab.

Er trat einen Schritt zurück, sodass ihre Hand schwungvoll von seiner Schulter rutschte.

»Weil du mit aller Macht versuchst, eine von ihnen zu sein«, sagte er mit Nachdruck. »Aber du warst schon immer anders und das habe ich sehr an dir bewundert.«

»Warum hat es dich dann all die Jahre so aufgeregt, dass ich meine Zeit auf der Erde verbringe?«

»Ich will dein Bestes, weil ich dich sehr schätze. So, wie du jetzt aussiehst, solltest du nicht aussehen. Das ist nicht unsere Natur.«

»Wie es so ist, glaubt man, dass einem nichts anhaben kann. Auch nicht, wenn man gegen die Gesetze lebt. Aber es ist ein Irrglauben und nun ist es zu spät. Ich spüre, wie meine Magie mit jeder Minute mehr verschwindet. Nichts kann diesen Prozess mehr aufhalten. Aber, wie ich auch schon sagte: Ich habe es schon vor Jahren akzeptiert.«

»Ohne einen Hüter werden -«

»Keine Sorge, ich habe eine Nachfolgerin«, beteuerte sie. Sie streckte sachte ihr Kinn nach vorne.

»Wen? Jeder Nachfolger muss sich zuerst in seiner Loyalität und Macht beweisen. Das braucht Zeit. Zeit, in der du noch nicht -«

»Mach dir darüber einmal keine Sorgen«, wiegelte sie prompt all seine Zweifel ab.

»Ich soll mir keine Sorgen machen?« Seine Stimme klang erstaunt, ja fast ungläubig.

»Jeder neue Hüter braucht die Hilfe vom Alten – das weißt du. Noch nie …« Der Mann unterbrach sich abrupt selbst, dachte nach und setzte seinen Lauf durch den Raum aufgewühlt fort.

In der Mitte stand ein kleiner Schreibtisch. Mit einer schnellen Handbewegung der Frau brannte sogleich die auf dem Tisch stehende Kerze und gab dem Raum ein spärliches Licht. Neben der flackernden Flamme lag ein dickes Buch, das mit einem Schloss versperrt war.

Obwohl im Inneren des Mannes ein Sturm tobte, waren seine Schritte auf dem von vielen Jahrhunderten benutzten dunklen Holzboden federleicht und nicht zu hören.

»Du wirst auf keinen Fall die Erste sein, die diese Regel bricht.«

Die Frau wandte sich zu ihm um, sodass ihre vor wenigen Tagen abrupt ergrauten Lockenhaare mitwirbelten. »Das wirst am allerwenigsten du entscheiden. Das hat nämlich das Schicksal besiegelt.«

In Kanjas Augen funkelte die Wut. Ohne ein Wort marschierte er unaufhaltsam weiter.

»Sie bekommt die Hilfe, die ich ihr geben kann. Ich weiß, dass sie die Richtige ist. Ich habe gesehen, wie ihre Magie langsam in ihr heranwächst.«

Er blieb wie erstarrt stehen und sah sie ungläubig an. »Du hast gesehen … sie wachsen bereits heran?«

Die Frau nickte bedächtig. »Seit einigen Wochen.«

»Und das sagst du mir erst jetzt? Wir hätten schon viel früher etwas unternehmen müssen. Aber nun …«

Er hatte nach ihrer letzten Aussage geahnt, dass es viel dringlicher war, als es zuerst den Anschein hatte. Doch damit hatte er nicht gerechnet.

»Jetzt ist die Zeit gekommen. Sie wird es schaffen – mit deiner Hilfe.« Die letzten Worte betonte sie.

»Du stellst dir das aber sehr leicht vor.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie soll die neue Hüterin so schnell alles zurück ins Gleichgewicht bringen? Dafür benötigt sie einfach mehr Zeit und vor allem auch dich.«

»Ich wollte ja, aber diese Zeit habe ich nicht mehr.« Energisch kamen ihr die Wörter über die Lippen.

»Du bist unglaublich. Entscheidest einfach über das Schicksal aller, ohne einen Gedanken an uns zu verschwenden.«

»Das stimmt nicht!« Ihre Stimme donnerte durch den kleinen Raum. »Ich denke sehr wohl an euch alle, deswegen habe ich auch das Gespräch mit dir gesucht, damit du dich darauf vorbereiten kannst. Es kommen schwere Zeiten auf dich zu, Kanja.«

»Du schiebst all deine Aufgaben einfach auf mich ab, Ophelia?«

»Es genügt jetzt! Ich habe alles gesagt. Bitte lass mich jetzt in Ruhe. Ich habe keine Kraft mehr.«

Er öffnete den Mund, um ein weiteres Mal zu widersprechen, doch mit nur einer Handbewegung brachte die Frau ihn zum Schweigen.

»Lass es gut sein. Auch mich schmerzt es. Doch ich habe es akzeptiert. Ich bitte dich, das Gleiche zu tun. Lass mich los.«

»Wie Sie wünschen, meine Königin.« Normalerweise waren diese Worte spielerisch, doch heute klangen sie eisig.

Wie jedes Mal schüttelte sie missmutig den Kopf. Sie war alles andere als eine Königin. »Du warst nicht nur immer ein sehr treuer und mutiger Begleiter an meiner Seite, sondern auch ein echter Freund. Ich bitte dich, dass du auch meiner Nachfolgerin ein wahrer Wegbegleiter bist.«

»Selbstverständlich.« Der Klang ähnelte der Stimme eines Dieners. Er konnte nicht anders, obwohl sie sich ihr ganzes Leben bereits kannten. Er war gekränkt. Nein, das Wort war noch viel zu schwach für das, was er fühlte.

»Sammle all deine Kräfte und stehe ihr zu jeder Zeit zur Seite.«

»Natürlich, das werde ich.« Seinen Missmut konnte er einfach nicht heraushalten. Obwohl er ahnte, dass es ihr sehr schlecht gehen musste. Sie würde nichts von großer Bedeutung so überstürzt machen, wenn sie nicht anders könnte. Und doch begriff er einfach nicht, warum sie nicht früher reagiert hatte.

»Ich konnte bereits in der Vergangenheit immer auf dein Wort vertrauen. Ich danke dir. So kann ich besseren Gewissens diese Welt hinter mich lassen.«

Der junge Mann beugte seinen Kopf zum Abschied tief nach unten, richtete sich wieder auf, drehte sich am Absatz herum, stürmte die Treppe hinunter und aus dem Haus.

Ein Wirbelsturm der Gefühle tobte in ihm. Warum hatte sie nicht früher mit ihm darüber geredet? Der perfekte Zeitpunkt dafür wäre gewesen, als die ersten Anzeichen der aufkeimenden Magie ihrer Nachfolgerin zu sprießen begonnen hatten. Die Zukunft stand deswegen auf der Kippe. Nicht nur für Elentore, sondern auch für die Erde. Wenn es keine Hüterin für die Welten gab, dann würde nichts mehr so sein, wie es war. Das Gleichgewicht würde mit ihr verschwinden. Er hoffte, dass die Neue bald als Hüterin fungieren konnte. Wenn das nicht geschah, drohte eine unglaubliche Gefahr für Elentore sowie für die Erde.

Das Unwetter war wie von Zauberhand verschwunden. Nur noch der schlammige Erdboden gab den Hinweis darauf, dass es noch vor kurzem geschüttet hatte. Er konnte Spuren im Matsch erkennen, die davon zeugten, dass hier kleine Bäche, vom heftigen Regen verursacht, hindurchge­flossen sein mussten. Unzählige Blätter lagen am Boden, als wäre es bereits Herbst. Doch die vor seinen Füßen waren saftig grün statt herbstlich-bunt.

Er blickte zum Haus auf der strahlenden Lichtung zurück. Die Ansicht kannte er wie sein Kunstwert aus seinen gewirbelten Elementzeichen auf seiner Haut nach der Verwandlung. Das Haus bestand aus übereinandergestapelten Stockwerken, die unterschiedliche Farben, Größen und Materialien besaßen. Die Menschen würden es als ulkig bezeichnen, doch hier war nichts ungewöhnlich.

Sein ganzer Körper schrie, er sollte von hier verschwinden, sodass er mit alldem nichts mehr zu tun hatte. Doch dann würde er gegen seine Loyalität und all seinem Sein handeln.

Außerdem hatte er schon vor über zwei Jahrhunderten ein Versprechen gegeben, allen Hütern und Hüterinnen der Wegbegleiter zu sein und daran würde er sich für immer halten. Er stand ihnen zur Seite, unterstützte sie und half ihnen, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen mussten. Ein Helfer, der dieses Mal komplett versagt hatte, weil er nicht mitbekommen hatte, dass es seiner Hüterin nicht gut ging.

So aufgewühlt wie noch nie stapfte Kanja quer durch den Wald. Jeder Schritt ließ die matschige Erde unter ihm schmatzen. Die vielen Blätter zusammen mit seiner Unaufmerksamkeit brachten ihn immer wieder zum Straucheln. Sein eigener von seinen aufgewühlten Gefühlen unkontrollierter Wind zerzauste seine Haare.

Er hatte alles versucht und war doch gescheitert.

1.Tragische Entdeckung

Vogelgezwitscher machte die Luft lebendiger. Die schwächer werdende Sonne des nahenden Herbstes wärmte den Boden. Auch die Haut von meinen aus dem türkis-gebatikten T-Shirt heraussehenden Armen und meines Gesichtes sogen jedes Vitamin D aus dem Sonnenschein. Die schädlichen UV-Strahlen schirmte die Sonnencreme ab, die ich kurz zuvor auf meiner Haut verteilt hatte.

Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und die Wärme genossen. Leider musste ich mich auf den Weg konzentrieren.

Kräftig trat ich in die Pedale und brachte das Fahrrad auf eine Rekordgeschwindigkeit meinerseits. So schnell - schätzte ich - wurden nur die Rennradfahrer. Ein stetig antreibender Wind im Rücken half mir zu diesem Phänomen, doch gleichzeitig peitschte er mir einige Locken ins Gesicht.

Ich hatte es eilig, so eilig wie noch nie. Oma Ophelia hatte mich heute angerufen. »Juna, Gott sei Dank erwisch ich dich endlich! Bitte, komm zu mir.«

»Warum? Was ist los?« Schlechtes Gewissen hatte sich sofort in mir breitgemacht, weil ich sie schon viel zu lange nicht mehr besucht hatte.

»Das erfährst du später. Beeil dich, ja?« Oma Ophelias Stimme zitterte.

»Oma, bitte sag mir, was los ist.« Sorge überkam mich.

»Nicht am Telefon.« Sie klang gestresst, als hätte sie Angst, dass sie jemand Fremdes hörte.

»Bitte «, wisperte ich. Die ersten Tränen sammelten sich in meinen Augen, weil meine Gedanken sofort an das Schlimmste dachten.

»Juna, es wird alles gut. Aber es ist wirklich wichtig, dass du so schnell wie möglich kommst. Jede Minute zählt.«

»Aber ich hab jetzt Uni. Ich kann nicht sofort.«

»Okay, dann komm gleich danach.«

»Aber, warum kannst du es mir nicht jetzt -«

»Nein, Juna. Nicht Hier und nicht Jetzt. Bei mir zuhause.

»Kannst du mir nicht zumindest sagen, um was es geht? Ein kleiner Anhaltspunkt. Ich kann sonst nicht …«

Oma Ophelia seufzte auf der anderen Seite der Leitung. »Ich muss dir wichtige Informationen mitteilen. Aber, Juna, mehr kann ich dir jetzt wirklich nicht sagen.« Von Wort zu Wort wurde ihre Stimme immer leiser. Als wäre sie nicht mehr die starke Persönlichkeit, wie ich sie zuletzt noch in Erinnerung gehabt hatte. Sondern eine alte Frau, die keine Energie und Kraft mehr in sich hatte, um die kleinsten Alltäglichkeiten zu meistern. Mein Herz hinter den Rippen schlug Saltos.

Warum machte sie so ein Geheimnis darum?

Sie hätte mir doch wenigstens einen kleinen Tipp geben können, damit ich mir nicht selbst Sachen zusammenreimen musste, die wahrscheinlich mehr phantastisch als realistisch waren.

1. Sie hatte ihr Erbe aufgeteilt und wollte uns allen davon berichten.

2. Sie wanderte in ein anderes Land aus, um dort ihr restliches Leben zu verbringen.

3. Sie war todkrank und würde in den nächsten Wochen oder Monaten sterben – das würde auch zu ihrer Stimme passen.

Beim dritten Gedanken krampfte sich mein Herz zusammen, pumpte nur noch mit Mühe das Blut durch meinen Körper. Schnell schüttelte ich das Gefühl gleichzeitig mit dem Gedanken ab. Denn alle Punkte betrafen nicht nur mich allein. Wenn es einer dieser wäre, dann würde sie doch nicht nur mich zu sich rufen. Aber andererseits wusste ich gar nicht, ob noch andere Verwandte kamen. Meine Eltern hatte ich seit gestern Früh nicht mehr gesehen und mit der Familie meines Onkels hatten wir schon lange keinen Kontakt mehr.

Was könnte sie mir sagen wollen, das nur mich betraf – wenn es so wäre?

4. Sie wollte mir nachträglich zu meinem neunzehnten Geburtstag ein Geschenk machen.

5. Ich musste auf ihre Katze Mahina aufpassen, weil sie verreiste.

6. Ich hatte ihren Geburtstag vergessen.

Beim darauffolgenden, siebten Gedanken passierte das Unheil. Ich riss die Augen auf. Meine Muskeln spannten sich an. Ich verriss den Lenker und das Fahrrad geriet ins Schleudern. Gleichzeitig schob mich der immer stärker werdende Wind von hinten an.

»Wohaaa!« Die Reifen polterten über etwas Erhabenes. Ich hüpfte. Meine Hand rutschte ab, dabei verriss ich den Lenker. Kaum erkannte ich das Unglück, holperte ich bereits über die kleine Böschung ins angrenzende Feld. In der nächsten Sekunde landete ich mit dem Gesicht voran im Getreide. Mit einem Stöhnen kugelte ich mich auf den Rücken und kniff die Augen zu. Für diesen Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn sich eine große Wolke über die Sonne geschoben hätte.

Als die größeren Schmerzimpulse abgeebbt waren, hievte ich mich auf den Po. Gleichzeitig spürte ich etwas Dünnes und Hartes zwischen meinen Lippen. Mit den Fingern zog ich es heraus und betrachtete das Stück Getreide nachdenklich. Ich war zwar keine Kennerin, doch eines wusste ich mit Bestimmtheit: Dies war Hafer, da es als Einziger keine Ähren, sondern Rispen aufwies. Wofür ich dieses Wissen einmal benötigen sollte, wusste ich zwar nicht, aber das Unnütze merkte man sich in der Regel doch immer leichter.

Schwungvoll stand ich auf und klopfte mir, so gut es ging, den Schmutz von der Kleidung. Feine Kratzer bedeckten die Haut über meinen Knien. Winzige Blutstropfen färbten sie rot. Als ich mir durch die Haare fuhr, zupfte ich gleich drei weitere Haferstämmchen heraus.

Was ein Gedanke auslösen und geschehen lassen konnte … Jetzt war mir klar, dass er kompletter Schwachsinn gewesen war. Aber ich hatte ihn einfach nicht aufhalten können. Er hatte sich verzweigt und war mutiert, bis er zu diesem Resultat gekommen war:

7. Sie wollte mir gestehen, dass sie gar nicht meine Oma war. Ob sie nicht die richtige Mutter meiner Mom war? Oder, weil meine Mom nicht meine war? Und sie wollte es mir sagen, bevor sie an ihrer tödlichen Krankheit starb – wobei wir wieder beim dritten Punkt angelangt waren.

Bevor ich komplett durchdrehte, hob ich das Fahrrad auf und checkte seine Funktionstüchtigkeit. Kette. Bremsen. Räder.

Dabei fiel mein Blick auf meinen linken Arm. Ich hielt den Atem an. Mein Puls fegte über die Ziellinie hinaus und war nicht mehr zu stoppen.

Millimeter für Millimeter kletterte eine zierliche, verschnörkelte Ranke in goldener Farbe von meiner Schulter bis zu meiner Hand hinunter als wäre sie ein Skizzenblock.

In Türkis erschienen zwischen den Ranken Spiralen. Das tattooähnliche Kunstwerk wies so viele Details auf, dass ich sogar nach minutenlangem Betrachten nicht alle entdeckte.

Mit den Fingerspitzen fuhr ich mir verängstigt sanft über die Linien, die bis zu den Schultern reichten.

Was passierte mit meiner Haut?

Ich fand das Tattoo wirklich wunderschön, aber wie konnte so etwas aus dem Nichts entstehen? Als hätte es mir ein Geist auf die Haut gezeichnet.

In diesem Moment keimte jedoch in mir eine Ahnung auf. Weit hinten, versteckt im tiefsten Inneren. So weit weg, dass ich sie noch nicht greifen konnte. Deswegen wählte ich den naheliegendsten Gedanken: Ein Traum mit viel Fantasie. Vielleicht sollte ich einmal das Buchgenre wechseln und statt meinen über alles geliebten fantastischen Büchern lieber reine Romanzen lesen.

Mit rasendem Puls schob ich mein Fahrrad zurück auf die Straße, setzte mich auf und wollte gerade weiterdüsen, als ich im Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm. Ich drehte meinen Kopf zu dieser und kniff leicht die Augen zusammen. Sie passte mit ihrer komplett schwarzen Kleidung, die mehr zeigte als verdeckte, zu dem reinen und natürlichen Umfeld so gut wie ein blutrünstiger Mörder in eine Komödie.

Aus der Entfernung konnte ich trotz der blendenden Sonne erkennen, dass die Gestalt ihre Mundwinkel leicht nach oben zog und mir fast unmerklich zunickte. Als hätte ich irgendetwas getan, was ihr gefiel. Ihre blond-gelockten Haare, die ihr bis über die Schultern reichten, wurden vom sanften Wind umspielt. Wie magnetisch angezogen verweilte mein Blick auf der Frau, nahm jede Regung wahr, um herauszufinden, was sie hier machte. Denn so, wie sie aussah, würde sie kaum die Bäuerin des Getreidefeldes sein, inmitten dessen sie stand.

Plötzlich wandte sie sich um und schritt durch die Halme hindurch, ohne eine verwüstete Spur zu hinterlassen, als würde sie hindurchschweben statt treten. Ich schüttelte den Kopf – eindeutig zu viel Fantasy in meinem Kopf. Mein Blick streifte dabei meinen Arm, auf dem noch immer das Muster verweilte. Eine Gänsehaut kroch über meinen Körper. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ich hob den Kopf, um der Gestalt hinterherzurufen, dass sie stehen bleiben sollte, um mir Antworten zu liefern – denn, davon war ich überzeugt, diese würde ich von ihr erhalten können.

Als ich wieder in die Ferne sah, konnte ich die Gestalt nicht mehr entdecken. Als wäre sie auf mysteriöse Weise verschwunden, wie sie auch gekommen war.

Energisch gab ich meinen Fuß auf das rechte Pedal und drückte es so fest hinunter, dass ich vom darauffolgenden Schwung fast selbst überrumpelt geworden wäre. Ich düste weiter - mit dem Wind im Rücken, der mich wiedergefunden hatte. Ich hoffte nur, dass mein Kopf nicht vom Druck der Angst platzte.

Fast wäre ich an ihrem Haus vorbeigefahren. Im letzten Augenblick drückte ich mit meiner linken Hand so fest die Bremse, dass sich mein Hinterrad in die Lüfte hob und ich beinahe ein zweites Mal vom Fahrrad gedonnert wäre. Zum Glück hielt ich mich gut fest und schaffte es mit dem nötigen Gleichgewicht, es wieder waagrecht auf den Asphalt zu bringen.

Während ich das Rad neben mir herschob, ließ ich meinen Blick schweifen.

Omas Haus war - genauso wie sie selbst - sehr einzigartig. Schon vor fünfzig Jahren hatte Oma Ophelia auf einen Stil gesetzt, der heutzutage als modern galt. Zusammen mit dem Backstein hatte es jedoch einen hohen Widererkennungswert der besonderen Art. Die Ziegelsteinfassade wurde durch große, hohe und breite Fensterfronten unterbrochen, die von schwarzen Aluminiumrahmen eingefasst waren. Auf den Fensterbänken standen schwarze Blumenkisten mit rosafarbenen Geranien, die das Gebilde auflockerten und einen gewissen Charme verliehen.

Ich lehnte das Fahrrad an der von einer Efeuranke versetzten Hausmauer und klingelte.

Genau so wie ich Oma Ophelia kannte, konnte ich sie bereits geistig die Tür öffnen sehen - es geschah aber nicht. Ich wartete einen längeren Moment ab, bevor ich noch einmal den Knopf betätigte. Nach weiteren drei Minuten spürte ich, wie sich langsam an meiner Stirn Falten bildeten.

Ich zog den Schlüssel aus meinem Rucksack und sperrte auf. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür. Sofort schlug mir ein vertrauter Duft entgegen. Eine Mischung aus Lavendel und Räucherstäbchen, die Oma so sehr liebte.

Doch dahinter blieb es still.

Ich ging ein paar Schritte hinein und zog artig meine Schuhe aus. Ein Lächeln stahl sich in mein Gesicht, als ich an eine Kindheitserinnerung zurückdachte.

Sollte ich es wagen?

Ich nahm Anlauf und rutschte dank meiner Socken über den glatten Parkettboden. Grinsend hielt ich mich an einem Kasten fest. Glück durchflutete meinen Körper.

Die komplette Einrichtung bestand aus Douglasienholz, sodass sie im Inneren eher dunkel wirkte, aber keineswegs düster. Die riesigen Fensterfronten gaben dafür viel Licht ins Rauminnere.

Gleich darauf kam die bedrückte Stille zu mir zurück, die sofort unheilvoll auf mir lastete.

Ich lauschte, doch konnte ich nicht einmal das Radio vernehmen, das sonst rund um die Uhr lief.

Was war hier los? Hatte ich mich vielleicht verhört, als sie mich heute angerufen hatte? Jetzt im Nachhinein erinnerte ich mich daran, dass ihre Stimme zum Schluss abgehackt geklungen hatte, als hätte sie geweint.

Schließlich richtete ich mich auf und ging weiter, aber Oma Ophelia konnte ich hier nirgends entdecken. Im Raum dahinter flutete die Sonne diesen durch die Terrassentür­gläser. Die Strahlen zeigten die Staubkörnchen überdeutlich, die in der Luft lagen, doch auch hier war kein Mensch zu finden.

»Mahina!« Mein Schrei hallte durch die Räume. Verzweiflung und Angst lagen darin. Normalerweise kam ihre Katze bereits angetapst, sobald ich nur den großen Zeh durch die Haustür schob.

Es lag etwas Eigenartiges in der Luft, wodurch ein Druck auf meinem Magen lag. Oma Ophelia hatte so auf diesen Termin gedrängt. Zuerst wollte sie sogar, dass ich sofort kam, doch das wäre mir unmöglich gewesen. Jetzt fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich doch auf der Stelle zu ihr gefahren wäre. Vorwürfe nagten an mir wie ein Hund an seinem Knochen.

»Mahina!«, brüllte ich.

Wo war nur die Katze?

Schnellen Schrittes lief ich die Treppe nach oben, öffnete jede Tür im ersten Stock, bis ich vor der Letzten stand, die für jeden tabu war.

Zögernd legte ich meine Hand auf den Türgriff. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe, schloss die Augen und drückte sie, dabei Oma Ophelias Gesetze brechend, hinunter.

Zu meiner Verwunderung glitt sie problemlos auf, obwohl sie sonst immer verschlossen war. Doch nur einen Spaltbreit, dann traf sie auf ein Hindernis, das ich aus dieser Perspektive nicht sehen konnte.

Gespannt drückte ich meinen Kopf zwischen die Öffnung und inspizierte den Raum. Es dürfte sich um ein Büro handeln. Eine komplette Wandseite wies ein riesiges Regal auf, das unzählige Bücher beherbergte. Vor dem bodentiefen Fenster stand ein Schreibtisch mit nur wenigen Dingen darauf.

Doch das, was mich total schockte, war die Dame, die mir zu Füßen lag und der Grund gewesen war, dass die Tür nicht komplett aufging. Sie sah um einiges älter aus als meine eigene Oma.

Ich schob mich durch den Spalt, bückte mich und griff ihr an die Pulsschlagader am Hals. Zur Sicherheit wechselte ich einige Male minimal die Position, doch egal, an welche Stelle ich meinen Finger hielt, ich konnte nichts fühlen.

Diese Frau vor mir war definitiv tot.

Was war hier passiert? Und wo war Oma Ophelia?

Im gleichen Augenblick kam ein schrecklicher Gedanke, der meinen Hals zuschnürte: Oma Ophelia war eine Mörderin! Sie musste geflohen sein. Deswegen konnte ich sie nirgendwo finden.

Aber warum sollte meine fröhliche und lustige Oma, die sogar jedes kleinste Insekt rettete, eine alte Dame töten? Das machte doch überhaupt keinen Sinn. Aber welcher Mord ergab überhaupt Sinn?

Im selben Moment kam mir der nächste Gedanke, der mir den Atem raubte. Ich hatte keine Ahnung, was ich in dieser Situation zu tun hatte. Theoretisch müsste ich die Polizei rufen, doch wenn ich ihnen genau das erzählte, was ich wusste, war meine Oma definitiv die erste Verdächtige. Jedoch war ich überzeugt, dass sie es einfach nicht gewesen sein konnte.

Während ich überlegte, was ich tun sollte, betrachtete ich die Dame vor mir genauer. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Doch woher? Ich hatte nie eine ihrer Freundinnen gesehen, deswegen konnte es keine sein. Auch andere Verwandte in diesem Alter hatte sie nicht. Sie war ein Einzelkind gewesen, das seine Eltern schon sehr früh verloren hatte.

Für eine Sekunde blieb mein Herz stehen. Ein Dröhnen durchflutete meinen Kopf, das mir drohte, ihn zu zerplatzen. Die erstarrten Glieder begannen zu zittern.

Wie konnte ich das nur übersehen haben?

Andererseits wäre niemand auf diesen Gedanken gekommen, weil er einfach unglaublich war. Noch jetzt befand ich ihn als komplett absurd. Doch die kleinen Beweise bestätigten etwas anderes.

Vor mir lag Oma Ophelia, jedoch um mindestens dreißig Jahre gealtert.

Ich wich einen Schritt zurück. Hinter meinen Augen drückte es. Das Zittern verstärkte sich, sodass ich nicht einmal ein Wasserglas hätte halten können, ohne dass alles herausgespritzt wäre.

Wie war das möglich?

Aber ihre Kleidung im Stil der Siebziger, die bis zur Schulter reichenden Ohrringe und ihre gelockten Haare identifizierten sie eindeutig als meine Oma.

Ich spürte etwas Nasses an meinen Wangen. Tränen liefen mir über die Haut. Meinen Lippen entkam ein Wimmern. Mir zog es das Herz zusammen, als würde es in einer Zwinge stecken.

Ich wollte sie vor zwei Wochen besuchen, doch sie hatte mir mitgeteilt, dass sie leider keine Zeit hätte. Ob sie da bereits gealtert gewesen war und sie mich vielleicht deswegen einfach nicht sehen wollte?

Warum hatte ich nicht nachgebohrt oder einen anderen Tag vorgeschlagen?

Ich wirbelte herum und lief den Gang entlang zur Treppe zurück. Dort stützte ich mich am Geländer ab, schnaufte, als hätte ich einen Hundertmeter Sprint hinter mich gelegt. Die Luftzufuhr war wie abgeschnürt. Mir wurde schwindelig. Ich spürte die Schwerkraft an mir ziehen. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er mit einer Pumpe aufgeblasen werden. Schwerfällig rutschte ich am Geländerpfosten auf den Boden und lehnte mich dagegen.

Meine Gefühle und Gedanken wirbelten im Kreis, kämpften gegen- und miteinander. Sie wussten selbst nicht, was sie davon halten sollten. Oma Ophelias Aussehen hätte all die Jahre als eine sehr junge Mutter gelten können. Noch nie hatte sie ausgesehen, als wäre sie meine Oma. Und heute erschien sie, als wäre sie bereits meine Ururgroßmutter.

Was war nur mit ihr passiert?

Ich stand auf und stolperte zurück zum Büro. Die Antworten mussten irgendwo in diesem Raum liegen. Sie hatte seit jeher ein riesiges Geheimnis aus diesem Büro gemacht, das musste etwas zu Bedeuten haben.

Die andauernden Tränen verschleierten meine Sicht. Ich wischte kurz über meine Augen, nahm einen tiefen Atemzug, der etwas holprig klang, und trat durch den Türrahmen.

Ohne auf meine Oma hinunterzusehen, quetschte ich mich an ihr vorbei in den Raum hinein. Sogleich wühlte ich fahrig den Schreibtisch durch – was ja normalerweise nicht meine Art war. Doch darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Das Resultat war unbefriedigend. Ich fand nichts Relevantes. Keinen Arztbericht, keine Laborbefunde, keinen Terminkalender. Auch sonst erblickte ich nichts, das von Bedeutung wäre.

Mein Blick wanderte im Zimmer umher, immer darauf bedacht, meine Oma nicht direkt anzusehen. Ich entdeckte einen dicken Wälzer direkt neben ihr. Von den Positionen der Hände nahm ich an, dass sie im Moment, bevor sie von uns gegangen war, danach greifen wollte. Oder er war ihr aus der Hand gerutscht.

Ein Gedanke kam mir, der sich an mir festsetzte, als wäre es eine Klette. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr war ich davon überzeugt, dass dieses Buch der Grund für unser Wiedersehen sein musste. Warum sonst sollte sie gerade heute, wo sie mich so dringend sehen wollte, es aus diesem geheimen Zimmer holen?

Ich hievte den Wälzer hoch und legte ihn auf den Schreibtisch. Irritiert betrachtete ich den Buchdeckel. Der unebene schwarze Ledereinband schimmerte leicht blau und wies an manchen Stellen bereits kleine Risse und Abnutzungen auf. Die erhabenen Zeichen der vier Elemente am Buchdeckel strahlten in ihren Farben: Grün für die Erde, Rot für das Feuer, Blau für das Wasser und Türkis für die Luft. Die einzelnen Symbole waren mit goldfarbenen, geschwungenen Linien verbunden - ähnlich diesen an meinem Arm, die ich in all der Aufregung komplett vergessen hatte. Während ich die Symbole anstarrte, war ich mir sicher, dass ich ein Hexenbuch vor mir liegen hatte.

Ich runzelte die Stirn, dann schüttelte ich den Kopf. Meine Fantasie spielte hochtourig verrückt.

Ich fuhr mit den Fingern über die Symbole auf meiner Haut und staunte, als die Zeichen aufleuchteten.

Ich griff an die Kante und wollte den Wälzer aufschlagen, doch nach wenigen Millimetern gab es einen Widerstand. Ein Blick zur Seite genügte und ich erkannte sogleich den Grund, denn da baumelte ein kleines Schloss hinunter. Ich seufzte schwer.

Mein Gefühl, dass sie mir dieses Buch zeigen wollte, wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Irgendwo in der Nähe musste also auch der Schlüssel liegen. Immer stärker wurde auch der Drang, den Inhalt dieses Buches zu sehen.

Mein Blick streifte die leicht geöffnete Faust meiner Oma. Darin konnte ich etwas Weißes hervorblitzen sehen.

Ich kniete mich neben sie. Ein langgezogenes Schluchzen drang tief aus mir heraus. Mit zittrigen, spitzen Fingern ergriff ich den Gegenstand, den ich im gleichen Moment als Papier identifizierte und leider nicht als Schlüssel. Vorsichtig zog ich daran, doch obwohl sie tot war, war ihr Griff noch immer fest. Durch Drehen und Ziehen hielt ich den Zettel schließlich in der Hand. Er war klein und einige Male zusammengefaltet. Plötzlich klimperte etwas. Mein Blick glitt zurück zur Hand und ich konnte am Boden neben ihrem kleinen Finger einen winzigen Gegenstand erkennen.

Als ich danach griff, streifte ich den Saum ihres bunten Kleides. Ich erinnerte mich daran, dass sie einmal zu mir gesagt hatte, dass jeder Trend irgendwann wieder einmal In werden würde und dass man genau so leben sollte, wie man sich wohlfühlte. Sie hatte so recht, doch das hatte ich erst viel später begriffen.

Durch meinen verschwommenen Blick betrachtete ich das Ding in meiner Hand. Es war ein Schlüssel. Verschnörkelte Ornamente zierten die Reite, den Griff des Schlüssels. Kleine Mondsicheln waren im Halbkreis aufgereiht. Zwischen jeder Sichel war ein andersfarbiges Steinchen in vier Farben. Dieser Schlüssel sah genauso aus wie das Schloss auf dem Wälzer. Das musste er sein!

Mit einer schnellen Handbewegung ließ ich ihn in meine Hosentasche gleiten. Obwohl ich schon sehr neugierig auf den Inhalt des Wälzers war, verschob ich es auf später. Denn im Raum, wo meine tote Oma lag, konnte ich nicht noch länger verweilen.

Eine Sache jedoch ließ meine Neugier nicht mehr warten. So faltete ich den kleinen Notizzettel auseinander und erkannte sofort ihre ganz persönliche Handschrift, die mit vielen Schnörkeln versehen war.

Juna, du bist in Gefahr. Bald wirst du gerufen. Es wird um Leben und Tod gehen. Für alle.

2.Mahina

Das Taschentuch in meiner rechten Hand war bereits klatschnass. Das andere, in meiner Linken, war vollgerotzt, und trotzdem liefen mir immer noch Tränen aus den Augenwinkeln herab. Ich spürte nasse Spuren an meinen Wangen - für manche Tränen war ich zu langsam und so tropften sie auf die Friedhofserde.

Ich schluchzte auf, mein Körper bebte. Der Schmerz saß tief und breitete sich in mir aus, als wäre er ein Krake mit tausend Fangarmen. Ich fühlte mich schuldig, obwohl ich wusste, dass ich nichts dafürkonnte.

Es war nicht meine Schuld gewesen, dass es so weit gekommen war. Es war die des Schicksals gewesen. Vorherbestimmt.

Aber das zu akzeptieren war schwer, wenn man einen bedeutsamen und geschätzten nahen Verwandten so sehr vermisste. Den Schmerz des Verlustes würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen wollen. Die Schuldgefühle waren das Tüpfelchen auf dem »I«, das den Stausee zum Überlaufen gebracht hatte.

Die Erde drehte sich weiter, doch für mich fühlte es sich an, als hätte jemand die Notbremse gezogen und vergessen, danach wieder aufs Gaspedal zu steigen.

Ich hob meinen Blick von meinem langärmeligen Shirt, das ich trotz der Hitze angezogen hatte. Zuhause hatte ich versucht, die Zeichen auf meinem Arm abzuwaschen, doch mehr als eine knallrote Haut hatte ich nicht hervorgebracht. Wie in der ersten Sekunde war das Tattoo mit einer Intensität hineingeprägt, als hätte ich nichts gemacht. Es bereitete mir die größte Angst meines Lebens, vor der ich nicht davonlaufen konnte.

Mein Blick fing die in schwarz gekleideten Männer vor mir auf. In diesem Moment wurde der Sarg meiner Oma Ophelia tief in die Erde hinabgelassen. Nun kam die Realität mit einem Knall bei mir an, der mich schmerzvoll durchschüttelte.

Es war vorbei. Sie würde mich wirklich nicht mehr anstrahlen, als wäre die Welt ein für ewig lebender Regenbogen.

Ich schlug meine von den Tränen verklebten Augen auf. Der Mondschein drang hell durch mein Zimmerfenster. Gespenstische Schemen fielen auf die Wände, die sich sekündlich veränderten. Ein Kratzen ertönte, gefolgt von einem Poltern. Ein Schrei verließ meine Lippen. Am liebsten hätte ich mir die Decke über den Kopf gezogen und mich wie ein kleines Mädchen darunter versteckt, bis meine Mom kam, die mich rettete.

Stattdessen setzte ich mich auf und ließ meine Füße vom Bett baumeln. Meine Größe von einem Meter und fünfundfünfzig Zentimetern ließ mich manchmal, trotz meiner neunzehn Jahre, wie ein Kind fühlen. Ich rutschte vor und vergrub meine nackten Zehen im Teppich.

Ein weiteres Kratzen erschreckte mich abermals. Mit gegen den Brustkorb wild pochendem Herzen sah ich mich um, doch außer den Schatten, die sich als Zweige der japanischen Zierkirsche herausstellte, konnte ich nichts Ungewöhnliches in der Dunkelheit der Nacht erkennen. Ob hier irgendwo eine Maus herumlief?

Im selben Augenblick spürte ich eine Berührung an meinen Beinen. Ein Quietschen entfuhr mir. Flink zog ich meine Beine hoch und blickte nach unten. Zwei smaragdgrüne Punkte starrten in meine Richtung, die vom Schein des Mondes strahlten. Als sie sich bewegten, schlug ich mir die Hand vor den Mund. Das Licht, das auf den Rest fiel, ließ mich erkennen, dass es eine Katze war. Und nicht irgendeine, sondern Mahina – Oma Ophelias Katze.

Ich hatte von Anfang an eine Verbindung zu ihr, die ich zu meinem eigenen Kater nie hatte. Oft sah sie mich an, als würde sie meine Worte verstehen. Sie hörte mir zu, genauso wie ihre Besitzerin mir immer ein offenes Ohr geschenkt hatte.

»Wie kommst du denn …« Ich vernahm Schritte und verstummte.

Im nächsten Augenblick wurde meine Zimmertür vorsichtig geöffnet und der Kopf meines Dads schob sich durch einen schmalen Spalt. Erschrocken blickte ich hinab, doch Mahina war nirgends zu sehen.

Als er mich am Bett sitzen sah, fragte er: »Alles okay, Mäuschen?«

Ich nickte und verdrehte die Augen. Mehr als einmal hatte ich mit ihm darüber diskutiert, dass ich es nicht mochte, wenn er mich so nannte. Aber war es zu tief in ihm verankert. »Ja, alles okay. Ich … hatte nur einen Albtraum.«

»Wegen … du weißt schon?«, fragte Dad.

Ich nickte abermals und hoffte, dass das sanfte Licht, das durch den schmalen Türspalt fiel, ausreichte.

»Juna, möchtest du reden? Du weißt, deine Mutter und ich sind immer für dich da.«

»Ja, ich weiß. Aber … nein, danke, ich … muss selbst damit klarkommen. Das … das verstehst du doch, oder?«

Nun war er es, der nickte. »Okay, dann geh ich wieder zurück ins Bett. Gute Nacht, Mäuschen.«

»Nacht«, flüsterte ich.

Sobald die Tür hinter ihm im Schloss klickte, sah ich wieder zurück auf den Boden.

»Mahina?« Ich lauschte, doch am Gang blieb es weiterhin ruhig. »Wo hast du dich versteckt?« Ich rutschte vom Bett, kniete mich davor und blickte darunter. Wenn sie dort sein sollte, würde ich nicht einmal ihre Augen sehen können, da diese nur leuchteten, wenn Licht davon reflektiert wurde.

»Mahina?«, fragte ich ein weiteres Mal.

Stille. Kein Kratzen. Kein Schnurren. Keine Bewegung.

Ich setzte mich auf und blickte direkt in ein Paar grüne Augen. »Da bist du ja.« Lächelnd streckte ich die Hand aus und kraulte sie hinter ihrem rechten Ohr. Schnurrend legte sie ihren Kopf in meine Handfläche und schloss die Augen. »Wie bist du nur hierhergekommen?«

Von meinen Worten hob sie ruckartig ihren Kopf und starrte mich an.

»Was ist los? Hast du etwas gehört? Ist hier doch irgendwo eine Maus?« Ich blickte mich im Zimmer um. Tiere mochte ich zwar, aber vor Mäusen und Spinnen hatte ich riesige Angst.

»Du musst zurück.« Mit voller Wucht begann mein Herz gegen die Rippen zu hämmern.

»Wer ist da?«, fragte ich panisch.

»Juna, hör mir zu. Du musst …« Als ich erkannte, aus welcher Richtung die Stimme kam, riss ich die Augen auf. Versteckte sich jemand hinter meinem Bett?

Ich sprang auf und stolperte rückwärts, bis ich das Fensterbrett in meinem Rücken spürte.

»Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«

»Jetzt gehst du aber zu weit. Beruhig dich, bitte.«

»Ich soll mich beruhigen? Sie brechen in mein Zimmer ein und ich soll zu weit gehen?«, fragte ich empört.

Meine Finger kribbelten immer stärker und eine gewaltige Luftströmung entfachte.

»Ich bin nicht eingebrochen. Also, eigentlich schon, aber … als Katze darf ich das.«

»Wollen Sie mich jetzt veralbern und mir weismachen, dass die Katze mit mir redet?« War der Einbrecher aus der Irrenanstalt? Schnell ergriff ich mein Smartphone am Schreibtisch und begann die dreistellige Nummer in meinem Rücken einzutippen.

»Bitte leg das Handy weg, Juna. Wir brauchen keine Polizei.« Ich lachte kurz auf. Als ich auf den grünen Hörer drücken wollte, sprang Mahina von meinem Bett und tapste langsam auf mich zu. Nur wenige Schritte von mir entfernt setzte sie sich hin und blickte zu mir herauf.

»Ich kann mit dir sprechen, Juna.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es mit Karacho gegen meine Rippen hämmerte. Ich schlug mir die Hände vor den Mund, um meinen aufkommenden Schrei aufzuhalten.

»Ich muss träumen«, nuschelte ich durch die Finger hindurch.

»Du träumst nicht.«

»Das würde die Katze im Traum immer behaupten.«

»Wirklich? Was für miese Katzen du in deinen Träumen hast.« Ihre Mundwinkel hoben sich dezent, was creepy aussah.

Mit weichen Knien torkelte ich zurück zum Bett und plumpse darauf. »Wie ist das möglich? Das … das kann einfach nicht wahr sein.«

Mahina schüttelte langsam den Kopf. »Dass ihr Menschen euch immer so schwer tut mit Dingen, die ihr euch nicht erklären könnt.«

»Weil es so etwas nicht geben darf. Tiere haben keine Stimmbänder so wie wir Menschen. Es ist euch daher unmöglich zu sprechen.«

»Ausnahmen brechen die Regel.«

Ich schüttelte den Kopf, nickte, schüttelte ihn.

Meine Finger kribbelten. Ein zarter Windhauch streichelte mich. Im nächsten Augenblick sprang Mahina neben mich aufs Bett und gab ihren Kopf nur wenige Zentimeter über mein Gesicht, sodass ihre Schnurrhaare meine Wange berührten.

»Du musst zurück«, wisperte sie noch einmal.

»Wohin?«, fragte ich ebenfalls flüsternd.

»Dorthin, wo alles begonnen hat.«

»Was?«

»Dein Schicksal.«

Die Müdigkeit zerrte an meinen Lidern. »Ich träume, das ist alles«, murmelte ich. »Morgen ist alles wieder normal.«

»Aufstehen Schlafmütze! Du hast noch etwas Wichtiges zu tun.« Eine laute Stimme neben meinem Ohr schreckte mich aus meinem Schlaf. Ein Katzenkopf schwebte über mir und sah mir direkt in die Augen. Als ich Mahina erkannte, kamen alle Erinnerungen zurück. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Wie verrückt manchmal Träume sein konnten.

»Los, steh auf.« Entsetzt starrte ich das Maul der Katze an.

»Wie? Träume ich noch immer?«

»Du musst zurück.«

Kerzengerade setzte ich mich im Bett auf, sodass Mahina von der Kante rutschte und am Boden landete. »Das muss es sein: Ich drehe durch.«

»Nein, nicht schon wieder. Ich dachte, das hätten wir jetzt hinter uns. Es ist wirklich wichtig.«

»Lass mich! Du solltest nicht reden können.« Als Mahina jedoch keine Anstalten machte, mich in Ruhe zu lassen, wurde ich deutlicher. »Husch! Raus!« Ich wedelte mit den Händen, als würde ich eine lästige Fliege verscheuchen.

Kopfschüttelnd erhob sie sich, wandte sich um und hüpfte mit vor Stolz erhobenem Schwanz aufs Fensterbrett. Sie verschwand auf der japanischen Zierkirsche, doch erst, nachdem sie mir einen ernsten Blick zugeworfen hatte.

Ich seufzte und rieb mir die Schläfen. Kopfschmerzen pochten hinter meiner Schädeldecke. Mir wurde alles zu viel. Nicht nur das Tattoo auf meiner Haut, welches ich nicht mehr abbekam, sondern auch die sprechende Katze meiner Oma gab mir das Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen. Zusätzlich saß noch eine Trauer, die noch tief in mir schlummerte.

Als ich aufstand, klapperte etwas. Ich sah auf den Boden und entdeckte den Schlüssel, den ich an jenem Tag nur schnell in meine Hosentasche gesteckt hatte. Mit noch schlafenden Muskeln ergriff ich den Schlüssel am Boden. Neugier fesselte meine Gedanken. Also schob ich ihn in das Schlüsselloch des Wälzers. Er vollbrachte erstaunliche drei Runden, bevor er gegen Widerstand stieß. Mit einem Klick entriegelte sich das Schloss und sprang wenige Millimeter auf.

Gespannt griff ich nach dem vorderen Buchdeckel und hob ihn hoch. Dieses Mal war kein Widerstand, der mich daran hinderte, das Geheimnis hinter diesem Buch zu entdecken.

Staunend sah ich die erste Seite an. Es war ein buntes Bild und hatte fast den Charakter eines Märchens, doch ohne Text. Es waren vier Personen abgebildet. Diese trugen merkwürdige Kleidung und in ihren Haaren steckten Blätter. Zu meiner Irritation entdeckte ich die leicht schimmernde Haut einer Person. Sie standen in einem dunklen Wald. Ihre Körperhaltung wirkte angespannt, im Gesicht war kein Lächeln zu sehen und ihre Brauen waren zusammengezogen. Wenn mich nicht alles täuschte, stritten sie sich.

Ich blätterte weiter.

Die Personen änderten sich. Auch die Stimmung und Umgebung. Das Einzige, was gleich blieb, war das Aussehen. Sie kleideten sich nicht wie wir. Alle hatten eine Körperbemalung. Manche Frauen hatten mal ein Kleidchen an, das aussah, als wäre es aus Luft gefertigt. Die Taille wurde mit einer beigefarbenen Kordel betont. Andere hatten ein knappes Oberteil und ihre Brüste waren mit Blättern verdeckte. Auf der Hüfte saß ein brauner schief abgeschnittener Rock, über dem eine Blumenkette rankte. Die Männer hatten ihren Oberkörper entblößt. Die Hosen waren im Gegensatz zu den Kleidungsstücken der Frauen weniger prächtig, doch auch hier konnte ich erkennen, dass sie kleine Merkmale aufwiesen. Hosen, die aussahen, als würden sie glühen oder sich bei der ersten Berührung auflösen. Insgesamt konnte ich acht verschiedene Arten von Bekleidung erkennen. Vier bei den Frauen, vier bei den Männern. Ich ahnte, dass dies eine Bedeutung hatte. Was genau wollte mir dieses Buch eigentlich erzählen?

Ich blätterte weiter, wollte unbedingt auf die Lösung der Rätsel kommen. Die Szenen veränderten sich von Bild zu Bild. Mal waren sie fröhlich, dann wieder traurig oder düster. Ein Buntes, mit tanzenden Leuten und lachenden Gesichtern, brachte mich zum Lächeln. Doch weit und breit war kein Text, der mir erläuterte, was das zu bedeuten hatte.

Vielleicht stand weiter hinten etwas?

Gefühlt hundert Seiten lagen in meinen Händen, die ich nach vorne blätterte. Zu meiner Verwunderung wies etwa die Hälfte des Buches leere Seiten auf. Doch warum? Für ein Zeichenbuch war es nicht nur zu dick, sondern sah es auch viel zu mystisch aus.

Ich erforschte die Seiten weiter vorne. Ein bestimmter Gedanke ließ mich einfach nicht los. Ich blickte hoch.

Könnte Oma Ophelia in einem Hexenzirkel gewesen sein?

Als ich eine leere Seite berührte, spürte ich plötzlich einen leichten Sog, als ob mich das Buch zu sich holen wollte, doch nicht genug Kraft dafür hätte. Ich zuckte zurück und sogleich verschwand auch das Gefühl an meinen Fingern.

Könnte es sein, dass all die Leute da drin von dem Buch verschlungen worden waren?

Meine Stirn schmerzte von der Spannung meiner Haut. Jetzt wurde ich schon komplett verrückt!

Verärgert, weil ich nirgends nur einen Hinweis für den Sinn dieses Buches fand, schlug ich es mit aller Kraft zu. Ich fuhr über das unebene Cover. »Elentore« stand in Großbuchstaben auf dem oberen Teil. Ob der Ort so hieß?

»My Lady, das hier solltest du aber nicht behandeln, als wäre es eines wie jedes andere.«

Überrascht drehte ich mich herum und sah Mahina, die wieder im Türrahmen stand und zu mir hochblickte.

»Das ist ein Buch. Was soll daran besonders sein?«

Ein Luftzug streichelte meine Haut. Erst jetzt merkte ich, dass meine Gefühle, die voller Verwirrung und Unglaube waren, meine Wärme aufgesogen hatten, als wären sie ein Akku, der sich auflud.

Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte sie: »Das ist das Tor zu der anderen Welt.« Mit diesen Worten verschwand sie über das offene Fenster auf den davorstehenden Baum. Ich ergriff mit gerunzelter Stirn das dicke Buch und hievte es hoch, um es auf den Schreibtisch zu wuchten. Mit meinen Fingern glitt ich über den weichen und doch an vielen Stellen unebenen und rauen Einband und merkte erst beim genaueren Betrachten, dass sich eine kleine Klappe am Buchrücken geöffnet hatte. Neugierig inspizierte ich den Ort genauer und erkannte sogleich ein kleines, längliches Fach.

Für was dieses wohl hier angefertigt worden war?

3.Geschenk

»Juna? Die Post hat dir etwas gebracht«, rief meine Mom zu mir herauf. Irritiert runzelte ich die Stirn.

Schnell lief ich hinunter und nahm das kleine Päckchen entgegen, das mir meine Mutter reichte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend raste ich zurück auf mein Zimmer und ließ mich außer Atem aufs Bett plumpsen.

Neugierig wendete ich das Päckchen in meinen Händen, während ich nach Luft schnappte. Ich brauchte dringend eine bessere Kondition.

Das Erste, was mir sofort auffiel, war, dass kein Absender draufstand. Das Zweite, dass mein Name nicht richtig geschrieben war. Denn, wer auch immer mir dieses Päckchen geschickt hatte, hatte den Monatsnamen geschrieben.

Suspekt inspizierte ich es, als könnte es mir zuflüstern, was sich darin befand.

Ein warmer Windhauch umfing mich und hüllte mich mit meiner Anspannung ein. Die Neugier siegte schließlich. Ich riss den Karton auf und blickte gespannt hinein.

Obenauf lag ein Kuvert mit meinem Namen. Ich stutzte, blinzelte und las ihn noch einmal. Eindeutig! Am Kuvert stand mein Name richtig geschrieben. Ich sah zwischen der Handschrift des Kuverts und der des Päckchens hin und her. Zweifellos waren die beiden Schriften von zwei verschiedenen Personen. Die des Umschlages war mit vielen Schnörkeln, genau so wie die meiner Oma gewesen war.

Irritiert nahm ich das Kuvert heraus und legte es neben mich auf den Schreibtisch. Darunter lag ein Päckchen, welches in Packpapier eingepackt war. Es war mit einem kleinen Sträußchen aus getrockneten Wildblumen verziert und steckte unter einem weißen Band. Leicht lag das wirklich liebevoll eingepackte Päckchen mit seinen etwa zwanzig Zentimetern Länge in meinen Händen. An der Oberseite konnte ich eine kleine, harte Wölbung spüren, die der ansonsten ebenen Oberfläche etwas Rätselhaftes gab.

Ich legte das Päckchen zum Brief und entdeckte schließlich noch eine Kleinigkeit ganz unten im Karton. Es war ein samtenes Säckchen. Ich zog die Kordel auf und ließ den Gegenstand auf meine Handinnenfläche rutschen. Lächelnd betrachtete ich die silberne Kette, die Oma Ophelia immer um ihren Hals getragen hatte. An ihr hing ein Baum mit regenbogenfarbenen Blättern aus Steinen gefertigt, der in einem goldenen und zwei silbernen Ringen eingefasst war.

Die wundervolle Schönheit des Schmuckstücks nahm mir die Entscheidung schließlich ab. Mit beiden Händen fummelte ich an dem Verschluss und legte sie mir um meinen Hals. Ich umfasste das kühle Metall.

Der WhatsApp-Ton riss mich aus meinen gerade entstehenden Gedanken. Mein Blick streifte die Uhr im Eck des Displays. Ich musste mich nun wirklich ranhalten.

Als ich mir den Rucksack schnappte, schweifte mein Blick über den Brief. Ich hielt in der Bewegung inne und starrte ihn an.

Was war, wenn sie mir mit dieser Nachricht mehr Informationen geben wollte? Vielleicht stand da etwas drin, mit dem sie meine tausend Fragen etwas lichtete?

Flink griff ich danach und begann sie zu lesen.

Liebe Juna,

heute ist ein ganz besonderer Tag: Dein Geburtstag. Du bist eine so wundervolle Person. Seit deiner Kindheit bist du immerzu fröhlich, neugierig und wissbegierig. Versprich mir eines: Glaub an dich und deine Fähigkeiten und bleibe so, wie du bist.

Im kleinen Päckchen ist ein Geschenk für dich. Ich weiß doch, wie gerne du Skizzen zeichnest. Erst letztens hast du mir gesagt, dass deines nur noch wenige Seiten über hat.

Im Samtsäckchen ist etwas ganz Besonderes. Pass gut darauf auf und verliere es nicht. Eines Tages wirst du es dringender brauchen, als du es dir jetzt vorstellen kannst.

Deine Oma Ophelia

Nachdenklich strich ich sanft mit meinen Fingerspitzen über die Schrift auf dem mit Goldfarbe verzierten, hochwertigen Briefpapier, das Oma Ophelia immer nur für ganz besondere Anlässe aus der Schublade gezückt hatte.

Warum war das Päckchen erst heute hier angekommen?