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Amalie Tara Davids und ihre Familie haben ein wohlbehütetes Geheimnis. Sie sind Elfen und versuchen mit ihren (für Menschen unsichtbaren) Seelentieren ein ganz normales Leben zu führen. Doch dies wird durch die beiden zugezogenen Familien zur größten Herausforderung. Denn nicht nur Amalie verfällt einem hübschen Jungen, sondern auch ihre jüngere Schwester Elisabeth. Nur einer scheint einen kühlen Kopf zu bewahren; Amalies Zwillingsbruder Iason. Die Probleme der ganzen Familie vergrößern sich mit jeder Person, die ihr Geheimnis kennt. Und die Beziehung zwischen Amalie und ihrem Bruder wird auf die Probe gestellt, bis es nur noch einen Ausweg gibt.
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Seitenzahl: 720
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Impressum
Texte: © Copyright by Sissy Rau Umschlag:© Copyright by Sissy Rau
Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das leise Schnurren meines Katers zog mich aus meinem sonderbaren Traum. Bevor er gänzlich entfleuchen konnte, hielt ich das letzte Bild fest in meinen Erinnerungen. Es war der Wald, der an unseren Garten grenzte. Ich kannte ihn gut. Meine Geschwister und ich waren oft zum Spielen darin verschwunden, obwohl unsere Eltern es uns immer wieder verboten hatten.
Etwas nagte an meinem Bewusstsein. Ich hatte irgendetwas Wichtiges vergessen. Schwerfällig wühlte ich mich durch mein Bett und strich mir immer wieder die Haare aus dem Gesicht, die wild zu Berge standen.
Irgendwie schaffte ich es aus der Bettdecke und schielte zum Wecker – 7:11 Uhr. Das nagende Gefühl wurde drängender.
Mein Grübeln wurde von einem Klopfen unterbrochen und noch ehe ich reagieren konnte, stürmte eine meiner jüngeren Schwestern herein: „Kann ich mir das grüne Shirt von dir ausleihen?“ Es war Valerie, die direkt meinen Kleiderschrank ansteuerte.
„Valerie, wieso bist du so früh in meinem Zimmer?“, murmelte ich verschlafen.
„Oh! Du bist ja hier! – Willst du nicht mal aufstehen? Mum wird sauer sein, wenn wir wegen dir zu spät zur Schule kommen.“
„Shit!“, fluchte ich und sprang auf. Schule. Das war es, was ich vergessen hatte. An einem Montag konnte das ja schon mal passieren.
Schnell schnappte ich mir einige Kleidungsstücke und rannte zur nächsten Badezimmertür, welche leider verschlossen war. Ich klopfte hektisch und nach kurzer Zeit öffnete sie sich, doch noch bevor ich hineinstürmen konnte, hielt mich mein Zwillingsbruder auf: „Ich bin noch nicht fertig!“
Überrascht blickte ich zu ihm hinauf. Mittlerweile war er schon einen Kopf größer als ich. Seine Haare hatten den gleichen Braunton wie meines und seine Augen glichen meiner in jeder Hinsicht. Dann erst registrierte ich, dass sein Haar nass war und dass er nur ein Handtuch um seine Hüften gewickelt hatte, sodass die Efeuranken blass auf seiner Haut schimmerten, die normalerweise von Kleidung verdeckt waren. Seine Luchsdame Luna lugte hinter seinen Beinen hervor und strafte mich mit ihrem Blick.
„Entschuldige.“, damit ließ ich ihn stehen und öffnete die Tür zum zweiten und kleineren Badezimmer, in welchem bereits meine andere jüngere Schwester Elisabeth stand.
„Verschlafen?“, fragte sie und ich nickte. „Die Schule hat erst vor zwei Wochen begonnen und du hast dich noch nicht wieder daran gewöhnt?“, fragte sie ironisch.
Mit meiner Zahnbürste bewaffnet setzte ich mich auf den Badewannenrand und beobachtete meine Schwester. Ihre schokoladenbraunen Augen folgten jeder Bewegung ihrer Hände, während sie ihre kurzen, schwarzen Haare kämmte, welche in einem starken Kontrast zu ihrer blassen Haut mit den ebenfalls blassen Ranken stand.
Das war wohl das einzige, das wir fünf Kinder gemein hatten; die blasse Haut und die Efeuranken, die sich darauf wanden. Und dennoch hatte niemand von uns Probleme mit starker Sonneneinstrahlung.
Grinsend streckte sie mir die Zunge heraus und ich musste mich beeilen, um das Waschbecken noch zu erreichen, bevor ich die Zahnpasta durch den ganzen Raum spuckte.
„Wo ist überhaupt Romeo?“, fragte ich als ich ihren Falken nirgends entdecken konnte.
„Der wartet in meinem Zimmer.“
„Warum das?“
„Er verliert im Moment so viele Federn. Und ich muss die dann überall aufsammeln. Das ist mir zu anstrengend.“
„Was sagt Mum dazu?“
„Es sei normal, dass sich die Tiere während der Pubertät manchmal anders verhalten!“
„Also das übliche Blabla.“
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mein kleiner Bruder Edward und sein Beagle Angel steckten den Kopf herein: „Mum will nicht länger auf euch warten.“
Schnell stopfte ich meine Haare in einen Zopf und folgte dem Kleinsten meiner Familie, während Elisabeth noch ihren Falken holte.
Auf der Treppe hielt ich kurz inne. Mum hatte hier viele unserer Familienfotos platziert und eines gefiel mir besonders gut. Es war das letzte Foto mit unseren Großeltern. Zumindest mütterlich. Die Eltern meines Vaters hatten wir nie kennen gelernt. Dad meinte, sie seien gestorben, lange bevor wir existierten.
Ganz links auf dem Bild stand mein Großvater. Seine weißen Haare hatte er elegant wie eh und je nach hinten gekämmt und seine blauen Augen strahlten ein ungeheures Vertrauen aus. Auf seiner Schulter ruhte der kleine Kauz Carlôt, den kein Mensch sehen konnte, denn genau wie unsere Tiere waren sie mit ihren Besitzern verbunden. Jeder Elb und jede Elfe besaß ein solches Seelentier. Sie zeigten anderen Elfen, wie man sich gerade fühlte. Das konnte manchmal ganz praktisch sein, aber meist war es sehr hinderlich.
Neben Opa stand meine Mutter. Ihre schwarzen Haare trug sie offen. Ihre grünen Augen waren übervoll mit Liebe. Sie zeigte ihr offenes Lächeln, das ich so liebte. Im Arm trug sie meinen kleinen Bruder Edward Tony – er war damals zwei Jahre alt gewesen. Damals hatte er kaum Haare gehabt und sah lieber zu den Tieren auf dem Fußboden, als in die Kamera.
Auf Mums Schulter plusterte sich ihre kleine Kohlmeise Bella auf. Auf ihrer anderen Schulter ruhte der Arm meines Vaters, der wiederum meine kleine Schwester Valerie Evengeline trug, ihr kleines Frettchen Fairy huschte gerade unbemerkt über seine Schulter. Sein blondes Haar trug Dad damals wie Opa, seine blauen Augen waren durch sein Lachen zu Schlitzen geformt. Mit einem herzlichen Lachen in dem faltigen Gesicht stand meine Oma neben ihm. Sie wirkte ungewöhnlich klein, doch war sie damals genauso groß wie ich jetzt. Ihre langen weißen Haare hatte sie zu einem Knoten im Nacken geformt und ihre normalerweise grünen Augen waren geschlossen. Ihr Eichhörnchen Chilly knabberte auf ihrem Kopf genüsslich an einer Walnuss. Vor ihr stand meine Schwester Elisabeth Felicia. Schon mit ihren sechs Jahren trug sie ihre braunen Haare kurz. Vielleicht lag es an Romeo, der immer auf ihrer Schulter saß, so wie auf diesem Foto. Elisabeths braune Augen funkelten in die Kamera und ich beneidete sie für ihre wundervollen Augen. Neben ihr stand Iason Juno. Seine dunklen Haare waren nur wenige Zentimeter lang. Sofort fiel mir die Zahnlücke auf. Damals waren Iason und ich unzertrennlich gewesen. Wir machten einfach alles zusammen, verloren sogar gleichzeitig Zähne. Eben wie richtige Zwillinge. Mein Blick wanderte weiter. Luna saß anmutig vor ihm und beobachtete Angel, die noch sehr tollpatschig versuchte mit ihr zu spielen.
Zuletzt betrachtete ich mich. Ich lächelte schüchtern, meine braun-grünen Augen waren geschlossen. Ich war immer diejenige, die ausgerechnet dann blinzelte, wenn das Bild geschossen wurde. In meinen Armen hielt ich Louis, der jung und zappelig mit meinem langen Haar spielte.
Ich seufzte und wandte mich von dem Bild ab. Ich vermisste meine Großeltern schrecklich. Sie waren früher jeden Tag bei uns gewesen und hatten mit uns Kindern gespielt, gebacken oder im Garten gearbeitet, während Mum und Dad ihren Jobs nachgingen.
Nachdem sie gestorben waren, hatte Mum alles aufgegeben und war Zuhause geblieben. Manchmal glaube ich, dass sie diesen Entschluss bereute.
Meine Geschwister und Mum warteten bereits mit ihren Seelentieren im Wagen und als ich und Elisabeth auch endlich Platz genommen hatten, fuhren wir los.
An manchen Tagen fiel es mir besonders schwer, mich wie die übrigen Menschen zu benehmen. Vor allem in der Schule. Die meisten Schüler hielten Abstand zu mir und meiner Familie. Deshalb waren wir eigentlich immer unter uns.
Nur Fabienne – meine beste und eigentlich einzige Freundin – schien es nicht zu stören, dass wir eigentlich zu blass waren und uns etwas umhüllte, das einige als mysteriös, andere als angsteinflößend bezeichneten. Wiederum andere machten sich über uns lustig, weil wir scheinbar grundlos Selbstgespräche führten, oder Löcher in die Luft starrten. Eigentlich waren das die Momente, in denen unsere Seelentiere unsere Aufmerksamkeit einforderten. Aber wie sollten wir erklären, dass die Menschen unsere Tiere nicht sehen konnten? Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter meinem Vater beibringen konnte, dass sie anders war. Vielleicht hatte sie ihm auch einfach ihre spitzen Ohren gezeigt, die alle reinen Elfen und Elben besaßen. Dass er nicht weggelaufen ist, als meine Mutter mit mir und meinem Bruder schwanger war, empfand ich als Glücksfall. Ohne ihn hätte ich womöglich ebenso spitze Ohren.
Fabienne wartete im Foyer auf mich. Die erste Stunde würde jeden Moment beginnen, und so verloren wir keine Zeit, zum Unterrichtsraum zu kommen.
Fabienne war knapp einen halben Kopf größer als ich und hatte schulterlanges, blondes Haar. Alles in allem war sie das Gegenteil von mir. Sie war sehr aufgeschlossen und plapperte recht viel. Aber wenn ich mal Probleme hatte, konnte ich immer zu ihr kommen und mit ihr über alles reden. Sie war die Art von Freundin, die man nicht verlieren wollte.
Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Nie hatte sie mein seltsames Verhalten gestört, das ich so manches Mal an den Tag legte. Als wir noch sehr jung waren, konnte ich ihr nicht verheimlichen, dass ich eine Katze besaß. Doch weil sie sie nicht sehen konnte, hatte sie immer geglaubt, ich würde mir das nur einbilden. Vielleicht war das auch besser für sie.
„Hast du das auch gehört?“, fragte sie und sah mich mit großen Augen an.
„Was meinst du?“
„Na das von dem neuen Schüler. Scheinbar soll er von der anderen Schule geflogen sein, weil er was mit seiner Lehrerin hatte.“
„Okay, das ist echt schräg.“
„Ja, und seine Eltern haben ihre anderen Kinder auch gleich hierher versetzen lassen.“
„Wie viele sind denn das?“
„Vier Jungs und ein Mädchen. Das hab ich von Melinda.“
Melinda war die größte Klatschtante in der ganzen Schule. Wenn man etwas wissen wollte, musste man nur sie fragen. Sie wusste einfach alles. Naja, fast alles.
„Du solltest dich nicht immer auf sie verlassen. Sie kann auch viel Müll erzählen.“, meinte ich und wir setzten uns auf unsere Plätze.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“, fragte sie. Unser Lehrer hatte gerade den Raum betreten und schrieb eine Frage an die Tafel.
„Nein, was denn?“, flüsterte ich zurück.
„Warum wechselt man zwei Wochen nach Schuljahresbeginn? Angeblich ist schon seit Monaten bekannt, dass die ein Verhältnis haben. Warum also jetzt?“
„Kannst du mir auch Fragen stellen, auf die ich die Antwort weiß?“ Sie grinste. Dann schlugen wir unsere Schulbücher auf der genannten Seite auf und versuchten die Aufgaben unseres Lehrers zu bearbeiten.
Als es zur zweiten Stunde klingelte, trennten sich unsere Wege. Während sie zu ihrem Geschichtskurs ging, hatte ich nun Mathe mit meinem Bruder.
„Noch mal Entschuldigung wegen heute Morgen. Ich wollte dich nicht stören!“, meinte ich als ich neben ihm Platz nahm.
„Schon okay.“, murrte er. Mir war in den letzten Wochen eine Veränderung an ihm aufgefallen. Noch vor einem halben Jahr war er ein ausgeglichener, glücklicher Junge gewesen. Jetzt zog er sich immer häufiger zurück und blieb gern für sich allein. Er redete kaum noch mit Jemandem, ganz besonders nicht mit mir. Ich vermutete, es lag an seiner Pubertät, aber sicher war ich mir da nicht. In den Sommerferien hatte er die meiste Zeit in seinem Zimmer verbracht. Wollte nichts mit mir oder unseren Geschwistern unternehmen und lud keine Freunde zu sich ein. Ich hatte meine gesamten Ferien mit Fabienne am Badesee verbracht, außer zwei Wochen, in denen sie und ihre Mutter auf Mallorca gewesen waren.
In diesen zwei Wochen war mir seine Veränderung schmerzlich bewusst geworden. Ich hatte mehrmals versucht ihn zu überreden, mit mir zum See zu fahren, aber er hatte immer wieder abgelehnt und irgendwann war er so genervt von mir gewesen, dass er mich und Louis aus seinem Zimmer geworfen hatte – buchstäblich.
Jetzt wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir uns nur ansehen müssen, und gewusst, was der andere gerade dachte.
Die Mathestunde schien kein Ende zu nehmen und während Luna und Louis sich immer wieder anfauchten, ignorierten Iason und ich uns so gut es eben ging.
Ich war dankbar als es endlich zur Pause klingelte. Ich schnappte meine Unterlagen, stopfte sie in meine Tasche und als Louis auf meine Schulter gesprungen war, machte ich mich auf den Weg zur Mensa, wo Fabienne bereits an einem großen Tisch wartete. So war es die letzten Jahre immer gewesen. Einer von uns hielt immer einen gesamten Tisch frei, damit wir alle zusammen sitzen konnten. Heute hätte ich gerne darauf verzichtet.
Meine Geschwister redeten wild durcheinander und gestikulierten stark als sie sich zu uns setzten. Ich versuchte sie zu ignorieren, doch Fabienne sprach mich immer wieder an.
„Ich habe gehört, dass die ganze Familie kriminell sein soll, nicht Amalie?! Und ich habe gehört, dass eine zweite Familie hierher gezogen sein soll. Ich bin ja so gespannt. Du nicht auch?“
Verwundert blickte ich zu ihr. „Warum das?“
„Schau dir die Kerle hier doch mal genauer an.“, meinte Elisabeth und kicherte, genau wie Valerie. Iason und Edward wandten sich genervt ab.
Ich wusste, wovon sie redete. Bisher waren an dieser Schule nur die üblichen Durchschnittstypen gewesen. Manche besser als andere, aber alle nicht umwerfend. Leider hatten wir alle peinlichen Phasen der Pubertät bei ihnen mit ansehen müssen.
Noch etwas, das bei Elben und Elfen etwas anders lief. Natürlich gab es auch bei uns die hormonellen Umstellungen, doch blieben wir von Pickeln und der gleichen Dinge verschont. Den Grund dafür kannte ich zwar nicht, aber ich war sehr dankbar dafür.
„Oh. Wow!“, hörte ich Elisabeth neben mir stammeln. Ich blickte fragend zu ihr, doch sie deutete hinter mich. Und als ich mich umwandte, erkannte ich den Grund für ihre Sprachlosigkeit. Drei hochgewachsene, muskulöse junge Männer betraten den Raum. Sie glichen sich in Statur und Auftreten, aber sonst hatten sie keinerlei Ähnlichkeit miteinander.
Der erste hatte dunkelbraunes, fast schon schwarzes Haar, das wild in alle Richtungen abstand. Seine Augen waren ebenso dunkel und er schien den Raum nach etwas abzusuchen. Ihm folgte ein blonder Schönling mit einem breiten Grinsen und mit klaren blauen Augen blickte er zum Dritten. Er hatte hellbraunes Haar und seine Augen leuchteten grün.
„Das sind wohl unsere Neuzugänge.“, meinte Iason mürrisch, weil alle Mädels scheinbar Raum und Zeit vergessen hatten. Alle außer mir. Ich war auch wohl die einzige, die das kleine, zierliche Mädchen bemerkte, das den Jungs folgte. Ihr Blick war gesenkt und ihre langen schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht.
Ich sah zu Fabienne, Elisabeth und Valerie, die die Jungs anstarrten. Ich glaubte schon, dass sie jeden Moment anfangen würden zu sabbern, als sie sich plötzlich von ihnen abwandten und knallrot anliefen.
„Was ist denn mit euch los?“, fragte ich und sah sie abwechselnd an.
„Sieh sie dir doch mal an. Die einzigen Kerle, die mit denen mithalten könnten, sind deine Brüder. Und das sind ... naja, eben deine Brüder.“, antwortete meine Freundin und riskierte wie die anderen noch einen weiteren Blick.
Scheinbar waren auch alle anderen Mädchen im Raum damit beschäftigt, die Kerle anzuhimmeln, denn niemandem fielen die drei weiteren Personen auf, die gerade durch die Tür traten.
Eine junge Frau – sie war mit Sicherheit älter als ich – lief voran. Sie wirkte sehr selbstbewusst, wenn nicht sogar arrogant. Ihr langes rotes Haar warf sie über ihre Schulter, ganz so wie in den Shampoo-Werbungen. Hinter ihr lief ein junger Mann, auch er war älter. Er hatte braunes Haar und redete auf die schöne Rothaarige ein, die jedoch nicht reagierte.
Ihnen folgte ein schwarzhaariger Junge. Scheinbar gehörte er nicht wirklich dazu, doch er lächelte. Alle drei waren wirklich schön und anmutig.
Ich hatte oft von diesem Moment gelesen. Der Moment, wenn die Zeit scheinbar stehen blieb. Wenn sich alles in Zeitlupe bewegte und dieser Moment doch im Bruchteil einer Sekunde wieder vorbei ist. Wenn man keinen Gedanken fassen kann und doch an tausend Dinge gleichzeitig dachte. Wenn man wusste, dass dies nicht ganz real war, aber man nichts Perfekteres kannte.
Genauso erging es mir, als der Schwarzhaarige in meine Richtung sah und sich unsere Blicke trafen. Mir stockte der Atem und sein Lächeln schien breiter zu werden, bevor es ganz plötzlich verschwand und sich seine Augenbrauen zu einer strengen Linie zusammen schoben.
Und dann war der Moment vorbei. Er wandte den Blick ab und die Drei setzten sich in eine Ecke der Mensa.
„Scheinbar sind es doch zwei Familien, die hierher gezogen sind!“, meinte Elisabeth und stupste mich an. Als ich meinen Blick von den Dreien abwenden konnte, zwinkerte sie mir zu.
Immer noch sah ich seine dunkel-blauen Augen in dem viel zu blassen Gesicht vor mir. Er schien das perfekte Gegenstück zu den Jungs zu sein, die meine Schwestern und Fabienne so faszinierend fanden. Sie waren alle sonnengebräunt und strahlten über das ganze Gesicht. Der schwarzhaarige Neuzugang und seine Begleiter sahen ungesund und eher verhalten aus. Die beiden Jungs unterhielten sich scheinbar energisch über etwas. Die rothaarige Schönheit saß mit dem Rücken zu mir, doch alles an ihrer Körperhaltung sagte, dass sie an dem Thema nicht interessiert war. Plötzlich blickten beide zu mir, ihre Blicke so intensiv, dass mir der Atem stockte.
„Ich hab kein gutes Gefühl bei den Leuten.“, meinte Iason ärgerlich. Überrascht sah ich zu ihm, doch er mied meinen Blick.
Als es zur nächsten Stunde klingelte, redeten meine Schwestern und Fabienne immer noch von den Neuzugängen. Im Foyer trennten sich unsere Wege und ich machte mich gefolgt von Louis auf den Weg zum Französisch-Unterricht im ersten Stock. Ich setzte mich auf meinen Platz in der letzten Reihe und starrte aus dem Fenster in den Regen, der gerade eingesetzt hatte.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und ich blickte verwundert auf.
Und da stand er; der schwarzhaarige und viel zu blasse Schönling. Er sah zu mir hinunter und lächelte ein schiefes Lächeln. Er sah perfekt aus.
Plötzlich war mein Mund vollkommen ausgetrocknet und ich spürte, wie das Blut in mein Gesicht schoss.
„Ist der Platz noch frei?“, fragte er mit einer wundervollen Tenor-Stimme und mir stockte der Atem. Ich blinzelte ohne einen klaren Gedanken fassen zu können und nickte. Sein Lächeln wurde breiter und er setzte sich. Im gleichen Moment setzte Louis zum Angriff an, doch bevor er ihn anfallen konnte, warf ich meine Tasche um und bückte mich noch rechtzeitig, um ihn aufzuhalten. Wütend fauchte mich mein Kater an. Verwirrt blickte ich zu ihm hinunter.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte mich eine atemberaubende Stimme rechts von mir.
„Oh... ähm... ja, natürlich.“, antwortete ich.
„Ich heiße übrigens Antony.“, sagte er plötzlich und mit einem forschenden Blick brachte er meine Gedanken zum Überschlagen. Für einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte.
„Ach... Ja, ich heiße Amalie.“, sagte ich schnell und versuchte meine normale Hautfarbe zurück zu gewinnen.
Während ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, machte sich Louis immer wieder kampfbereit und fauchte unentwegt in Antonys Richtung. Ich fragte mich, wieso Louis ihn für eine Gefahr hielt.
Ich seufzte und kritzelte einige Notizen in mein Heft, ohne ihre Bedeutung wirklich zu verstehen.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als er sich zeitgleich mit dem Klingeln erhob und den Raum fluchtartig verließ.
„Was sollte das denn?“, fragte ich meinen Kater als ich mir sicher war, unbeobachtet zu sein.
Ich ließ ihn auf meinen Rücken springen und machte mich auf den Weg zur Bibliothek, wo ich meine Freistunde verbringen und schon mal einige Hausaufgaben machen wollte.
Ich suchte mir einen freien Tisch am Fenster und zog alle Unterlager heraus, die ich brauchte, während Louis sich auf meinem Schoß zusammenrollte.
Die Französisch-Hausaufgaben machten mir besonders große Probleme. Meine Notizen ergaben keinerlei Sinn und ich konnte mich nicht an ein einziges Wort meines Lehrers erinnern. Ständig dachte ich an Antony und wie seine Stimme geklungen hatte, wie er gerochen hatte und wie seine Augen geleuchtet hatten. Sie waren blau, aber sie hatten irgendwie anders geschimmert.
„Kann ich mich zu dir setzen? Es sind sonst keine Stühle mehr frei.“, kam eine Stimme und ich blickte auf. Und da stand er.
„Oh... ja, klar.“, nuschelte ich und schob meine Sachen zusammen. Ich begann in meinem Lehrbuch nachzuschlagen, doch auch hier wurde ich nicht wirklich fündig.
„Ich muss schon sagen, dass euer Lehrer nicht gerade gut erklären kann.“, meinte Antony und blätterte in seinen Unterlagen.
„Ich verstehe ihn auch nur selten.“, meine Stimme klang ungewöhnlich hoch. Ich räusperte mich und versuchte eine schlüssige Antwort zu finden.
„Eigentlich war ich immer ganz gut in Fremdsprachen, aber nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Worauf wollte er denn hinaus?“
„Gute Frage. Ich denke, er wollte eine Anspielung auf irgendeine Revolution machen, aber das ist nur so ein Gedanke. Vielleicht meint er auch etwas ganz anderes. Ich komme mit seinem Lehrstil noch nicht zurecht.“
„Du hast also erst seit zwei Wochen bei ihm Unterricht?“, fragte er und ich nickte.
Ich kam nicht wirklich voran, während er neben mir saß und ich ihm immer wieder verstohlene Blicke zu ihm warf. Irgendetwas an ihm war anders. Anders als an allen Personen, die ich je kennen gelernt hatte.
Er schmunzelte leicht, als hätte er etwas Witziges gelesen. Ich sah auf, doch sein Blick blieb auf seinen Unterlagen.
Schnell verließ mich die Geduld und ich schob meine Französisch-Unterlagen zurück in die Tasche. Stattdessen zog ich die Unterlagen aus der Deutsch-Stunde heraus.
„Gibst du schon auf?“, fragte er leise.
„Ja, vielleicht setze ich mich heute Abend noch einmal daran. Aber jetzt kann ich mich nicht darauf konzentrieren.“ Wieder schmunzelte er, ließ mich dann aber weiter arbeiten.
Eine Weile saßen wir uns so gegenüber als das plötzliche Klingeln mich aus meinen Gedanken riss.
Ich stopfte meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von Antony und machte mich auf den Weg zur Mensa. Schon auf dem Weg traf ich auf Fabienne und Iason, die gerade gemeinsam Unterricht hatten.
Doch noch bevor ich sie ganz erreicht hatte, starrte meine Freundin auf etwas, das hinter mir lag. Ich blickte über die Schulter und entdeckte Antony einige Meter hinter mir.
Auch Iason bemerkte dies und warf erst Antony, dann mir böse Blicke zu. Fragend sah ich ihn an. „Was ist denn los?“
„Schon gut.“, antwortete er und stapfte davon.
„Was ist denn mit deinem Bruder los?“
„Keine Ahnung. Der ist schon seit Wochen so.“, antwortete ich und zusammen gingen wir zu meinen anderen Geschwistern, die in der Mensa etwas aßen. Elisabeth saß neben mir, stocherte aber nur in ihren Nudeln. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte den blonden Schönling und seine Brüder. Sie lachten laut und kehlig und waren nicht zu übersehen.
Ich grinste und blickte zum Fenster, an dem gerade Antony mit seinen Geschwistern vorbei ging. Es regnete immer noch, doch scheinbar schien sie das nicht zu stören.
„Wie war denn deine Freistunde?“, fragte Fabienne und stibitzte eine Pommes bei meiner Schwester Valerie.
„Ganz okay. Aber Französisch macht mir irgendwie Probleme. Deutsch habe ich aber so gut wie erledigt.“, antwortete ich wahrheitsgemäß, doch scheinbar war es nicht das, was meine Freundin hören wollte.
„Keine interessanten Gespräche mit ... Mitschülern?“, ich war mir sicher, dass sie nichts über Antonys Anwesenheit in der Bibliothek wissen konnte, doch ihre Frage ließ das Gegenteil vermuten.
Doch noch bevor ich antworteten konnte, klingelte es zum Nachmittagsunterricht und zusammen mit ihr und Iason machte ich mich auf den Weg zur Sporthalle. Luna und Louis tapsten hinter uns her, mieden jedoch jeden Blick.
Sport war nicht unbedingt mein liebstes Fach. Denn während mein Zwillingsbruder seinem Seelentier in Beweglichkeit und Geschmeidigkeit um nichts nachstand, hatte ich damit nichts gemein. Ich war tollpatschig und ließ ständig irgendwelche Dinge fallen. Ganz anders als meine Katze.
Zusammen mit Fabienne ging ich in die Mädchenumkleidekabine, wo ich mit Absicht trödelte und als letzte den Raum verließ. Louis rannte zur Tribüne und versteckte sich. Er kannte mein Talent, andere beim Sport zu verletzen, bereits und wollte sichergehen, dass er mir diesmal nicht zum Opfer fiel.
Wir hatten heute Glück; unser Lehrer musste zu einer Besprechung und überließ uns die Wahl, ob wir Fußball oder Handball spielen wollten. Das war mehr als ich erhofft hatte. Ich zog mich zu den Tribünen zurück und schaute dem Fußballspielen mehr zu als mich daran zu beteiligen. Fabienne hingegen war total begeistert und war immer mitten im Getümmel. Ich beneidete sie und auch meinen Bruder.
Nach der Doppelstunde, in der ich nicht viel getan hatte, verabschiedeten wir uns von Fabienne und stiegen dann ins Auto. Mum wartete bereits auf dem Parkplatz und während sich meine Geschwister um die Plätze stritten, wurde mein Blick auf etwas anderes gelenkt. Gerade war Antony mit seinen Geschwistern an uns vorbei gegangen und hatte schief gelächelt, mich jedoch nicht angesehen. Kurz darauf war er auf der Fahrerseite in einen schwarzen Geländewagen gestiegen.
„Amalie? Kommst du?“, fragte Elisabeth. Ich wandte mich zu ihr und folgte meinem Kater auf die Rückbank.
Zuhause schlurfte ich zusammen mit Louis in mein Zimmer im ersten Stock. Dort startete ich meinen Rechner, in der Hoffnung, dass ich vielleicht im Internet Hilfe für meine Französisch-Hausaufgaben finden würde. Ich hatte jedoch nicht genügend Geduld, also schlich ich über den Flur zur Zimmertür von Iason und klopfte. Nach seinem „Herein!“ öffnete ich die Tür und räusperte mich.
„Was ist los?“, fragte er und sah vom Bildschirm auf. Sein Rechner stand auf seinem Schreibtisch direkt unter dem Fenster, welches einen wundervollen Blick zum Garten frei gab. Links vom Schreibtisch war ein Regal, in dem sich die Bücher stapelten. An der linken Wand stand sein Futonbett und an der Wand gegenüber der riesige Schrank, dessen Türen offen standen. Daraus hingen etliche Kleidungsstücke. Aber nicht nur hier herrschte Chaos. Das gesamte Zimmer sah aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die eigentlich blauen Wände waren mit Fotos und Poster von verschiedenen Personen und Bands behangen. Auf seinem Sofa, das neben dem Schrank stand, lagen Berge von schmutzigen und sauberen Klamotten. Auf seinem Bett lagen neben seiner Gitarre noch einige Schulhefte und -bücher. ich fragte mich wirklich, wie er das aushielt. Auch ich war nicht gerade die Ordnung in Person, aber das war selbst mir zu viel Unordnung.
Als ich nichts sagte, drehte er sich zu mir um und beobachtete mich. Ich blickte zu Luna, die es sich zwischen Gitarre und Schulhefte gemütlich gemacht hatte. Louis saß vor dem Bett und überlegte augenscheinlich, ob sich der Ärger mit der Luchsdame für ein gemütliches Plätzchen lohnen würde.
„Du warst heute sehr abweisend was das Thema Antony angeht!“, meinte ich und setzte mich auf die äußerste Kante des Bettes.
„Antony?“, fragte er verwirrt.
„Dieser Schwarzhaarige Kerl in unserem Jahrgang.“, antwortete ich.
„Du kennst schon seinen Namen?“
„Wir hatten eine gemeinsame Freistunde.“, sagte ich schnell. „Also, warum bist du so abgeneigt?“
„Ich kann es dir nicht genau sagen. Es ist mehr so ein Gefühl.“
„Vielleicht musst du ihn auch einfach nur kennen lernen. Er ist wirklich nett.“
„Weil du ihn ja schon eine Ewigkeit kennst.“, Iason schnaubte.
„Weißt du was? Ist mir egal, was du dazu sagst. Ich hab gedacht, ich könnte mit dir darüber reden, aber scheinbar nicht.“, sagte ich ärgerlich und wollte gehen, doch als ich die Tür erreichte und mein Blick an einem Kinderfoto auf seinem Nachtschränkchen fiel, sagte er leise: „Amalie, kannst du mir etwas versprechen?“
Ich wartete, wandte mich aber nicht um und nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Bitte halte dich von diesem Kerl fern. Ich traue ihm nicht und Luna scheinbar auch nicht.“
Schnaubend sah ich noch mal auf das Bild. Wir waren uns mal so ähnlich gewesen. Doch das hatte sich offensichtlich stark geändert.
Gefolgt von Louis ging ich ohne Kommentar zurück in mein Zimmer und machte mich an meine Hausaufgaben.
Später am Abend ging ich in die Küche und half meiner Mutter das Abendessen vorzubereiten. Früher hatte ich das oft getan. Doch in letzter Zeit hatte ich diese Aufgabe mehr als nur vernachlässigt.
Gerade als wir alles fertig hatten, kam mein Vater nach Hause. Er küsste meine Mutter ungestüm und drückte dann auch mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er lachend aus der Küche verschwand und sich aus seinem Anzug schälte.
Er war ein fröhlicher Mensch, immer am Lachen, nie trug er die Sorgen oder Probleme seiner Arbeit nach Hause und das war das Beste, das er tun konnte.
Am Tisch herrschte das reinste Chaos, als sich meine Geschwister gesetzt und wir mit dem Essen begonnen hatten, während unsere Seelentiere in der Küche ihr Fressen bekamen. Doch als sie fertig waren, schlichen sie sich wieder zu uns ins schwach beleuchtete Esszimmer. Mum regte sich immer wieder über die Federn auf, die Romeo verlor während Fairy ihr die Brötchen vom Teller stibitzte. Und mein Vater lachte laut auf, als aus heiterem Himmel einige Federn auf seinem Kopf landeten.
Irgendwie mochte ich dieses Durcheinander. Am besten fand ich es, wenn mein Vater ganz verwundert nach seinem Essen suchte, das wie durch Geisterhand spurlos verschwand.
An diesem Abend ging ich früh zu Bett und träumte etwas Neues. Ich hatte den anderen Traum so oft durchlebt, dass es mir merkwürdig vorkam, nicht in dem grünen Urwald zu stehen.
In diesem Traum war es sehr dunkel. Es herrschte eine Dunkelheit, die alles verschlang. Was übrigblieb, war ein kleines, fernes Licht. Ich betrachtete dieses Licht und fühlte mich sicher dabei. In dieser Dunkelheit würde mich niemand finden, niemand konnte mich sehen.
Als ich bemerkte, dass das Licht immer größer wurde und ich mir sicher war, dass es näher kam, drehte ich mich weg. Dieses Licht würde mich verraten. Es würde jedem zeigen, dass ich in dieser Dunkelheit saß. Es sollte nicht näher kommen.
Elisabeths Stimme erklang hinter mir und ich sah über meine Schulter in das grelle Licht. Sie stand dort mit dem großen blonden Kerl, den sie in der Schule hatte angeschmachtet und hielt mir eine Hand entgegen gestreckt: „Amalie, bitte! Komm mit uns. Wir bringen dich in Sicherheit.“
Ich schüttelte beharrlich den Kopf, schrie immer wieder, dass ich nicht mit ihm gehen konnte und wandte mich schließlich wieder von ihr ab und blickte geradewegs in ein Paar pechschwarze Augen. Die Dunkelheit der Augen war wie die Schwärze um mich herum; sie verbarg, was nicht gesehen werden durfte und beschützte mich.
Plötzlich flammten rote Ringe um die Iris auf und ich wich zurück. Panik ergriff mich als mir klar wurde, ich würde hier sterben.
Schweißgebadet schreckte ich hoch. Schnell und flach atmend saß ich in meinem Bett und sah in die goldfarbenen Augen von Louis.
„Was war das?“, fragte ich ihn flüsternd und sah mich in meinem Zimmer um. Die cremefarbenen Wände schimmerten in einem zarten Blau und die sonst hölzernen Möbel waren fast schwarz. Ich ließ mich wieder in die Kissen fallen und starrte immer noch schwer atmend an die Decke. Das gleichmäßige Schnurren von meinem Kater beruhigte mich ein wenig. Doch vor meinem inneren Auge sah ich immer noch die roten Ringe um die schwarzen Augen.
Etwas kratzte an meinem Bewusstsein; etwas, das ich gelesen, aber nie ganz verstanden hatte: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, starrt der Abgrund auch irgendwann in dich.“
Aber was hatte das zu bedeuten?
Diese Dunkelheit in meinem Traum, sie hätte mir Angst machen müssen, doch war es wie ein Teil von mir, es stammte aus meiner Seele. In dieser Dunkelheit war Ich. Ich konnte das verstecken, was niemand sehen sollte, ohne wirklich darauf zu achten, was ich eigentlich tat. Gleichzeitig hatte mich die Dunkelheit mit ihren roten, ringartigen Augen angeblickt. Kannte jedes meiner Geheimnisse, die ich zu verstecken versuchte.
Elisabeth hatte mir Hilfe angeboten, aber war es eine Hilfe im Licht zu stehen und nicht gesehen werden zu dürfen?
Halb sechs stand ich auf. Nach meinem Traum hatte ich kein Auge mehr zugemacht und war nun schrecklich müde.
Ich war froh, endlich mal die Erste im Badezimmer zu sein und es ganz für mich allein zu haben. Mit vier Geschwistern kam das selten vor.
Ich ließ mir Zeit während ich duschte, meine Haare föhnte und mit etwas Schminke versuchte, die tiefen Augenringe los zu werden. Doch es half nichts. Ich sah genauso blass und kränklich aus wie Antony und seine Geschwister am Tag zuvor.
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete und ließ Iason hinein. Er sah mich unsicher an, schloss dann aber die Tür hinter sich und nahm eine der vielen Zahnbürsten aus dem Becher. Er sah, genau wie ich, sehr mitgenommen und krank aus.
„Hast du auch nicht schlafen können?“, fragte er.
„Hatte einen merkwürdigen Traum.“, antwortete ich und versuchte meine Haare in einen Zopf zu zwängen.
„Ich auch.“
„Handelte er von einem Licht?“, fragte ich und sah ihn prüfen an. Schon seit Jahren hatten wir nicht mehr die gleichen Träume. Doch als Kinder war es für unsere Eltern besonders schwer gewesen. Wir wachten immer gleichzeitig wegen der gleichen Albträume auf und kletterten dann zu ihnen ins Bett.
An unserem 12. Geburtstag änderte sich das schlagartig. Und obwohl Iason diese gemeinsamen Träume abstritt, war ich mir sicher, dass auch er sie durchleben musste.
Seine Stimme riss mich aus diesen Erinnerungen: „Ja, und du bist darauf zugegangen. Elisabeth und dieser blonde Riese tauchten auf, aber du hast sie angeschrien und dich umgedreht. Gleichzeitig ist dieser – wie hieß er noch – Antony? – aufgetaucht und hat dich an sich gerissen. Du hast geschrien und ich bin aufgewacht.“ Er sah mich nicht an. Irgendetwas an diesem gemeinsamen Traum machte ihn nervös. Und ich konnte es ihm nicht verdenken.
„Dann gehörten diese Augen also Antony.“, flüsterte ich, mehr zu mir selbst. Iason nickte.
„Amalie, ich denke, dass dieser Traum – genau wie ich – dir rät, dich von ihm fern zu halten. Es war ja deutlich zu erkennen, dass die Gefahr von ihm ausging.“
Ich betrachtete meinen Zwilling im Spiegel. Wir waren uns seit langem nicht mehr so ähnlich gewesen, wie in diesem Moment und gleichzeitig waren wir uns uneinig.
Kopfschüttelnd verließ ich mit Louis das Bad und setzte mich zu meinen Eltern an den Frühstückstisch. Meine Geschwister waren alle noch nicht aufgestanden oder suchten sich ein Badezimmer.
„Morgen.“, murmelte ich und setzte mich.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte mich Dad, während ich die erste Tasse Tee ohne Pause hinunter kippte. Ich schüttelte nur den Kopf.
Dann verabschiedete sich Dad von uns und fuhr mit unserem kleinen schwarzen Volvo zur Arbeit. Kurz darauf kam Iason die Treppe hinunter, gefolgt von Luna. Als er sich setzte, flog auch Romeo zu uns. Elisabeth kam wenige Sekunden später nach und das Chaos begann von neuem.
In der Schule gingen Iason und ich zum Mathe-Unterricht, doch ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren. Ständig dachte ich an meinen Traum. Warum hatte ich ausgerechnet von Antony und dem blonden Riesen geträumt? Und war Elisabeth bei ihm gewesen, weil sie ihn in der Schule schon angeschmachtet hatte? Konnte es sein, dass Iason Recht hatte und dieser Traum eine Warnung gewesen war? Sollte ich mich tatsächlich von diesem Antony fernhalten?
In der nächsten Stunde würde ich wieder Französisch haben und er würde neben mir sitzen. Allein die Vorstellung daran machte mich schon nervös. Iason machte es nicht unbedingt besser, denn er trommelte mit seinem Bleistift in einem unregelmäßigen Rhythmus auf den Tisch. Ich sah zu Luna, die nervös vor der Tür hin- und herschlich. Dann blickte ich zu Louis, der ebenfalls unruhig umhertigerte.
Im gleichen Moment klingelte es. Langsam stopfte ich meine Unterlagen in meine Tasche. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, neben Antony zu sitzen. Was wäre, wenn Iason Recht hatte und er nicht gut für mich war?
„Wenn du dich nicht beeilst, musst du den ganzen Tag Mathe machen.“, meinte mein Bruder, der bereits an der Tür stand.
Seufzend rappelte ich mich auf und folgte ihm und den Seelentieren. Doch nur wenige Meter weiter ließ er mich schon zurück und ich betrat den Französischraum. Antony saß nicht an dem Platz, den er gestern eingenommen hatte. Überrascht blickte ich mich um, konnte ihn jedoch nicht entdecken und als ich endlich Platz genommen hatte, begann Herr Boleo mit dem Unterricht.
In der Pause setzte ich mich wieder zu Fabienne, meinen Geschwistern und den Seelentieren.
Nervös blickte ich mich um. Antonys Geschwister saßen an einem Tisch in der Nähe der Fenster. Und der Bruder sprach eindringlich auf seine Schwester.
Mein Blick huschte weiter zu den drei großen und muskulösen Kerlen. Sie sahen glücklich aus und unterhielten sich angeregt. Elisabeth, die neben mir saß, seufzte und der blonde Riese sah kurz zu uns, dann wandte er sich wieder ab und lachte lauthals.
Ich betrachtete die Drei genauer. Waren sie wirklich Brüder? Sie waren sich kaum ähnlich. Ich blickte kurz zu meinen Geschwistern. Auch wir waren sehr unterschiedlich. Doch diese Jungs waren so gegensätzlich wie sie es nur sein konnten.
Es klingelte zur nächsten Stunde und Fabienne und ich gingen hinauf in den ersten Stock zum gemeinsamen Deutschunterricht. Louis setzte sich auf meinen Schoß während ich meine Unterlagen auf dem Tisch ausbreitete.
Unsere Lehrerin ging ihre Namensliste durch, hielt aber bei Antonys Namen inne. Ich sah zu seinem leeren Platz mir gegenüber, schaute dann aber schnell wieder weg.
Der Unterricht war nach wie vor anstrengend und unsere Lehrerin war sehr streng. Sie duldete es nicht, gestört zu werden. Ich machte mich an die Aufgaben, und versuchte Fabienne zu ignorieren, die mich immer wieder stupste. Wahrscheinlich wollte sie mit mir reden.
Als es wieder klingelte, gingen wir zusammen zum Englisch-Unterricht. Vor der Tür warteten wir und ich sah in Fabiennes Gesicht, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, trat der Schwarzhaarige von den drei Brüdern auf uns zu. „Du musst Amalie sein! Elisabeth meinte, dass ich wohl in deinem Jahrgang bin. – Ich bin übrigens Tristan!“ Er hatte ein wirklich einnehmendes Lächeln mit strahlend weißen Zähnen und funkelnden braunen, fast schwarzen Augen.
„Dann hast du jetzt mit uns Englisch-Unterricht?“, fragte ich grinsend und er nickte. Fabienne starrte uns abwechselnd an. Und erst als sie fast auf Louis getreten wäre, weil er sich gerade neugierig vor mich gestellt hatte, fiel mir auf, dass er sich Tristan gegenüber ganz anders verhielt als bei Antony.
Hinter mir öffnete sich die Tür und unser Lehrer ließ uns eintreten. Tristan setzte sich zu Fabienne und mir, und obwohl unser Lehrer uns viele Aufgaben auftrug, schaffte es der Schwarzhaarige bei allen gute Laune zu verbreiten.
Tristan war ein offener Mensch, der alle zum Lachen brachte und scheinbar vergaß Fabienne sogar, dass sie sich vor noch wenigen Minuten Sorgen gemacht hatte.
Es klingelte zur zweiten Pause und wir drei machten uns zusammen mit Louis auf den Weg zur Mensa, wo wir auf meine anderen Geschwister trafen. Meine Brüder hatten sich bereits etwas zu essen geholt und achteten kaum auf uns.
Tristan verabschiedete sich und ging zwei Tische weiter zu seinen Brüdern. Elisabeth sah begeistert zu uns hinauf.
„Ihr habt Tristan kennen gelernt?!“, ihre Augen leuchteten.
„Ja, er ist wirklich nett.“, meinte Fabienne und wir nahmen Platz.
„Nett ist wohl untertrieben. Und seine Brüder sind genauso! Dario ist in meinem Jahrgang und Jonathan ist in Valeries Jahrgang.“
„Und ihre Schwester?“, fragte ich und blickte zum schwarzhaarigen Mädchen, das in ihrer Mitte saß und in einem Buch las.
„Welche Schwester?“, Elisabeth schien verwirrt.
„Das Mädchen, das bei ihnen sitzt!?“
„Oh! Ich wusste nicht, dass sie auch eine Schwester haben!“ Sie streckte ihren Hals, um über Edward blicken zu können. Der war schon so genervt von unserem Geplapper, dass er seine Kopfhörer aus der Tasche zog und die Musik von seinem Handy lautstark aufdrehte.
Iason funkelte zornig an Elisabeth vorbei zu mir herüber. Fragend blickte ich zurück und als ich meinen Blick abwenden konnte, sah mich Fabienne seltsam an. Sie holte Luft, doch ehe sie etwas sagen konnte, klingelte es wieder und Louis und ich machten uns auf den Weg zum Kunst-Unterricht im Dachgeschoss der Schule.
Ich setzte mich auf meinen Platz und kurz darauf nahm Überraschenderweise Tristan neben mir Platz.
„Du hast Kunst also auch als Leistungskurs.“, es war eine Feststellung, keine Frage.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so Kunst-begeistert bist.“, antwortete ich und erblickte Louis, der sich zu Tristans Füße setzte.
„Tja, ich stecke voller Geheimnisse.“, lachte er und zwinkerte mir zu.
Unsere Lehrerin betrat den Raum mit einem Stapel Kopien eines Gemäldes von Vincent van Gogh, das wir in dieser Stunde interpretieren sollten.
„Was machst du denn am Wochenende?“, fragte mich Tristan ohne den Blick von der Kopie zu nehmen. Verwundert sah ich zu ihm auf.
„Fabienne hat ihren 18. Geburtstag. Ich werde wohl mit ihr feiern gehen.“
„Du siehst nicht begeistert aus.“
„Ich bin nicht wirklich der Disko-Gänger.“
Er grinste wissend. „Ich auch nicht. Aber manchmal muss man solche Dinge machen.“
„Ja, besonders wenn es die beste Freundin ist.“
„Dann auf jeden Fall.“, lachte er und begann mit der Interpretation. Ich grinste und beugte mich ebenfalls über meine Kopie.
Nachdem es geklingelt hatte, machten Tristan, Louis und ich uns auf den Weg zum Parkplatz, wo meine Mutter und meine Geschwister mit ihren Seelentieren auf mich warteten. Tristan verabschiedete sich und ich setzte mich neben Elisabeth in unseren Familien-Van.
Sie sagte nichts, grinste nur über beide Ohren. Fragend blickte ich sie an. „Was?“
„Ach nichts.“, sagte sie unschuldig, grinste aber weiter.
Ich versuchte sie zu ignorieren, was mir nicht so wirklich gelang. Zuhause schielte Elisabeth immer noch alle paar Sekunden zu mir und grinste, ließ mich aber in Ruhe.
Am nächsten Tag redete Fabienne nur noch vom Wochenende, das in wenigen Stunden eingeläutet werden konnte. Ihr Geburtstag war ihr schon immer der wichtigste Tag in ihrem Leben und sie genoss es, Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihr normalerweise nicht zukam.
Ich freute mich mit ihr. Sie war immer an meiner Seite und sie verdiente eine Freundin, die alles für sie tat. Und auch wenn ich nicht immer ehrlich zu ihr sein konnte, versuchte ich diese Freundin zu sein.
„Also, du bist dann also gegen acht Uhr bei mir und dann gucken wir erst diesen Film, den wir unbedingt sehen wollten. Da spielt auch dieser Schauspieler mit, du weißt schon, dieser heiße Typ – und wir essen Popcorn und Eis und quatschen über diesen ganzen Mädchenkram. Und dann bringt Mum uns zur Disko. Ich hab das schon mit ihr geklärt. Sie holt uns dann auch wieder ab.“, so ging das in jeder freien Minute. Selbst wenn unsere Lehrer um Ruhe baten. Fabienne war so aufgeregt, dass sie sich nicht beherrschen konnte.
Ich bemühte mich wirklich ihr zuzuhören. Doch schon in der ersten Pause konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich saß ihr gegenüber, doch sah ich nicht sie an, sondern Tristan, der einen Tisch weiter saß und mich immer wieder mit einem hinreißenden schiefen Lächeln anlächelte. Seine Augen funkelten tiefbraun und ich spürte eine leichte Wärme in mein Gesicht steigen. Ich wandte meinen Blick ab.
„Die Disko soll wirklich gut sein. Ich war zwar noch nicht da, aber Savanna hat mir davon erzählt ...“, plapperte Fabienne vor sich hin, aber ich bekam es kaum mit. Ich begegnete dem Blick meiner Schwester, die neben mir saß.
„Ich denke, er mag dich.“, flüsterte sie mir in Ohr. Ich warf ihr einen genervten Blick zu und erkannte den gleichen Gesichtsausdruck auf Iasons Gesicht, der mir schräg gegenüber saß.
„Weißt du, Fabienne, vielleicht sollte ich euch in die Disko begleiten.“, sagte er plötzlich ohne seinen Blick von mir nehmen.
„Oh.. ähm... ich weiß nicht... Es sollte eigentlich ein Mädchenabend werden.“, sagte sie völlig perplex. „Aber ich denke, das ist okay. Wenn uns dann einer blöd kommt, kannst du ihn verscheuchen.“
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, hielt mich aber zurück. Es war Fabiennes Entscheidung, und wenn sie ihn dabei haben wollte, würde ich mich zusammenreißen.
Der Samstagabend kam schneller als gedacht und auch wenn ich nicht wirklich Lust hatte, verbrachte ich einen wundervollen Abend mit meiner besten Freundin. Sie freute sich riesig über das Armband, dass ich ihr besorgt hatte – ein Metallring mit den Worten Wahre Freunde stehen es gemeinsam durch.
Sie hatte bei diesen Worten fast geweint. Ich wusste, dass es ihr viel bedeuten würde, schließlich hatten wir schon so einige Sachen gemeinsam durchgestanden. Zum Beispiel damals als Ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hatte, oder als meine Großeltern gestorben waren und ich mit niemandem reden wollte.
Wir sahen gemeinsam einen Film und hatten eine Menge Spaß. Und als Mitternacht immer näher rückte, zogen wir uns passendere Kleidung an – Fabienne trug ein kurzen roten Rock und ein schwarzes Top, ich ein enges schwarzes Kleid – und warteten auf meinen Zwillingsbruder.
Kurz nach 12 Uhr trat er zusammen mit Luna ins Wohnzimmer, wo wir lachend über alte Zeiten sprachen. Fabienne verstummte augenblicklich als er zu uns kam und ich blickte lächelnd zu ihm auf. Sein Blick ruhte auf mir, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
Ich war jedoch sprachlos. Er sah noch nie so gut aus. Er trug ein schwarzes Hemd, bis zur Brust aufgeknöpft, sodass seine blasse Haut und die Efeuranken sich deutlich hervorhoben. Dazu trug er eine einfache schwarze Jeans und schwarze Sneaker.
„Wir sollten dann mal gehen!“, meinte Iason und wandte sich von uns ab. Fabienne warf mir einen vielsagenden Blick zu und grinste. Ich kannte dieses Grinsen genau; sie hatte einen neuen Schwarm.
Ich grinste ihr zu und wir machten uns auf den Weg.
In der Disko angekommen, besorgte Fabienne uns erst einmal einige Getränke und je mehr ich trank, desto weniger machte es mir etwas aus, dass Iason ständig die Umgebung beäugte, ganz so als vermutete er jeden Moment einen Angriff.
Bald zerrte meine beste Freundin uns auf die Tanzfläche. Ich war überrascht, dass auch mein Bruder tanzte. Normalerweise war er sehr zurückhaltend. Aber scheinbar fühlte er sich das erste Mal seit langem gelöst. Ich hatte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr so glücklich gesehen.
Auch ich genoss die allgemeine Hochstimmung und so vergingen die ersten Stunden, ohne dass ich es recht bemerkte. Doch bald wollte Iason etwas trinken und ließ uns allein auf der Tanzfläche zurück. Gedankenverloren sah ich ihm nach und erblickte ihn. Überrascht blieb ich stehen. An der Bar saß ein junger Mann, mit blonden wilden Haaren. Er trank einen Whiskey oder so etwas und er beobachtete mich. Aber das war nicht der Grund, warum ich in meiner Bewegung verharrte. Seine pechschwarzen Augen bildeten einen unfassbaren Kontrast zu seiner weißen Haut und seinem Haar. Ich musste schlucken. Fabienne hatte sich mir fragend zugewandt und wollte wissen, ob bei mir alles in Ordnung war.
Widerstrebend wandte ich mich von dem Mann an der Bar ab und nickte ihr zu, ging dann aber von der Tanzfläche. Ich brauchte dringend frische Luft und als ich als der Bar vorbei kam, warf ich noch einmal einen unauffälligen Blick zu der Stelle, wo er gesessen hatte. Doch er war verschwunden. Nur sein halbvolles Glas stand noch immer auf der Theke.
Fabienne folgte mir hinaus, genau wie mein Kater. Er hatte in der Nähe der Tanzfläche gewartet und sprang nun auf meine nackte Schulter.
Ich atmete tief durch und starrte zum Himmel. Mir war plötzlich übel und ich konnte nicht mehr richtig atmen.
„Was ist los?“, fragte plötzlich mein Bruder neben mir.
„Ich weiß nicht...“, antwortete Fabienne und blickte zwischen uns hin und her.
Ich sah zu Iason. „Können wir von hier verschwinden?“
Augenblicklich rief Fabienne ihre Mutter mit ihrem neuen Handy an und keine halbe Stunde später saßen Iason und ich mit unseren Seelentieren auf der Rückbank des alten Opel Astras. Meine Freundin hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt und blickte immer wieder besorgt zu mir.
Bei ihr Zuhause angekommen, verschwanden wir in Fabiennes Zimmer, während Iason auf der Couch im Wohnzimmer schlafen sollte.
Als ich es in dieser Nacht endlich schaffte einzuschlafen, träumte ich viel wirres Zeug. Mir erschienen Bilder von weißen Masken, die bunt aufleuchteten und mit schwarzen Höhlen anstelle der Augen. Dann stand ich in einer Menschenmenge, die mich schubste bis ich zu Boden ging. Doch wenn ich versuchte mich wieder aufzusetzen und die weiße helfende Hand ergreifen wollte, die mir gereicht wurde, tauchte ich wieder in die endlose Dunkelheit.
Immer wieder wurde ich wach. Erst in den Morgenstunden fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Nach einem ruhigen Frühstück wurden mein Bruder und ich von Dad abgeholt. Ich drückte Fabienne noch einmal herzlich zum Abschied, dann stieg ich ins Auto. Iason nahm vorne neben unserem Vater Platz, während die Seelentiere bei mir auf der Rückbank lagen.
Doch kaum waren wir Zuhause verschwand Iason mit Luna in seinem Zimmer und war den gesamten Sonntag nicht mehr zu sehen. Ich setzte mich selbst auch in mein Zimmer und machte meine Hausaufgaben, die ich Freitag nicht geschafft hatte.
„Na, hattet ihr einen schönen Abend?“, fragte Elisabeth. Sie stand in der Tür, Romeo auf ihrer Schulter. Und sie hatten beide diesen wissenden Blick.
„Was hast du gehört?“, fragte ich und seufzte.
„Iason hat mir erzählt, dass ihr einen tollen Abend hattet, bis du seltsam geworden bist.“
„Ich bin nicht seltsam geworden.“, ich wollte ihr von dem Mann erzählen, wusste ich aber nicht wie. „Mir war schlecht. Vielleicht hatte ich zu viel getrunken.“, sagte ich stattdessen.
„Vielleicht hilft dir beim nächsten Mal ja Tristan!“, sie grinste vielsagend.
„Was meinst du?“
„Ach komm schon. Das muss dir doch aufgefallen sein. Er ist sowas von verknallt in dich und du magst ihn scheinbar auch.“
„Er ist schon ganz nett ...“
„Ganz nett? Oje, Amalie... So wird das nie was mit dir!“, sagte sie und setzte sich auf mein Bett. „Also ich wollte wohl Dario fragen, ob er mit mir ausgeht. Wir könnten daraus ein Doppeldate machen.“
„Ein Doppeldate? Elisabeth, ich glaube nicht, dass das das Richtige wäre. Ich kenne ihn ja kaum.“
„Das ist doch der Sinn von einem Date; man lernt sich besser kennen.“
Am Montagmorgen stellte ich erleichtert fest, dass Fabienne eine regelrecht heilende Wirkung auf meinen Gemütszustand besaß. Ihre unbeschwerte Art einfach Alles und Jeden in Grund und Boden zu quatschen halfen mir dabei, nicht ständig an diesen Mann in der Disco zu denken. Ich konnte nicht mal sagen, warum ich immer wieder an ihn dachte. Vielleicht waren es seine schwarzen Augen, wobei ich mir mittlerweile nicht mal mehr sicher war, ob sie wirklich so dunkel gewesen waren. Schließlich sah alles etwas anders aus im schummrigen Licht der Tanzfläche.
Iason verhielt sich wie vor dem Discobesuch auch – abweisend und genervt.
Und obwohl ich dachte, dass alles ganz normal war, wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Und da bezog ich nicht mal die abwertenden Blicke von Antonys Schwester oder die Aufmerksamkeit von Tristan ein.
Aber das eigentlich seltsame an diesem Tag war das Verhalten von meinem Kater. Denn obwohl er ständig an meiner Seite war, zweifelte ich daran, dass er wirklich mein Innerstes widerspiegelte.
Ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, oder auf die Gespräche in den Pausen, konnte aber schon nach wenigen Minuten nicht mehr sagen, um was es eigentlich gerade ging. Und am Ende des Tages war ich mehr als verwirrt, als ich mit meiner Mutter allein in der Küche stand und sie mich fragend ansah.
„Warum siehst du mich so an?“, wollte ich von ihr wissen und betrachtete die leeren Teller in meiner Hand.
„Was ist denn los mit dir. Du bist ja völlig durch den Wind.“
„Ich weiß auch nicht. Ich kann mich so schlecht konzentrieren.“, antwortete ich und beobachtete Louis, der nervös hin- und herlief.
„Warte, ich mach dir einen Baldriantee. Danach geht es dir vielleicht besser.“
Meine Mutter behielt Recht – was mich aber nicht allzu sehr verwunderte. Als Elfe lag es ihr schließlich in den Genen, nur das Beste aus Pflanzen zu holen.
In dieser Nacht schlief ich seit langem endlich einmal wieder traumlos. Und als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, fühlte ich mich fit und munter.
Die ganze Woche verabreichte Mum mir jeden Abend eine Tasse Baldriantee. Ich spürte regelrecht, wie meine Kraft und Konzentration zurückkamen. Auch Louis wurde ausgeglichener und schmuste wieder mit mir. Dennoch war er aufmerksamer als zuvor. Behielt immer alles im Auge und stellte sich schützend vor mich, selbst bei Fabienne.
Und dann kam der Freitag. Ich war schon fast in Wochenendstimmung, nachdem ich die langweiligste Geschichtsstunde meines bisherigen Lebens abgesessen hatte.
Ich betrat also gutgelaunt den Französischraum, als er mir sofort auffiel. Er saß an seinem Platz und starrte in sein Notizheft. Also atmete ich tief durch und setzte mich neben ihn. Und versuchte ihn nicht weiter zu beachten.
„Hallo Amalie.“, hörte ich seine unvergleichbare Stimme. Ich hob meinen Kopf nicht. Denn ich wusste, wenn ich ihn jetzt ansah, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an ihn.
„Hallo.“, antwortete ich und legte meine Mappe auf den Tisch. Ich meinte, ihn im Augenwinkel kurz Schmunzeln zu sehen, doch als ich ihn dann direkt anblickte, war sein Gesicht die perfekte Maske und er folgte dem Unterricht.
Meine Wangen glühten noch stärker und, mich in Gedanken selbst bestrafend, sah ich auf die Tischplatte, während mein Magen sich immer kräftiger zusammenzog. Wie konnte er nur solch eine Wirkung auf mich haben?
Ich ließ meine Haare vor das Gesicht fallen und versuchte Louis und Antony zu ignorieren. Das eine war einfacher als das andere, denn Louis beruhigte sich dieses Mal schneller als er es noch vor einer Woche getan hatte und ich war überrascht, dass er sich sogar direkt vor Antonys Füße legte. Das hatte sicherlich mit diesem Tee zu tun.
Während Herr Boleo den Unterricht fortsetzte, kritzelte ich nervös in meinem Notizheft.
„Hast du Geschwister?“, fragte Antonys samtene Stimme plötzlich sehr nah – zu nah an meinem Ohr. Ich schreckte hoch und sah unweigerlich in die rotumrandeten, sonst braunen Augen.
„Atmen nicht vergessen!“, flüsterte er und ich schnappte nach Luft. Ich sah zu Herrn Boleo, der jedoch gerade einige wichtige Vokabeln an die Tafel schrieb.
„Also, hast du nun Geschwister?“
Ich nickte.
„Und sizt du mit denen in der Cafeteria?“ Erneutes Nicken meinerseits, wobei ich mich zwang, nicht in seine Augen zu sehen.
„Du bist nicht besonders gesprächig, oder?!“, lachte er und sah zu Herrn Boleo, der uns mit seinen ernstem Blick zu verstehen gab, dass wir nicht so laut seine sollten.
„Naja, ich ... ich rede nicht gerne über meine Familie.“, antwortete ich so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich überhaupt gehört hatte. Aber er überraschte mich und fragte – wieder näher: „Sind sie denn so schrecklich? Auf mich wirkten sie sehr nett.“
„Sie sind nett, aber sie sind eben meine Geschwister.“, meinte ich diesmal etwas lauter. Ich sah immer noch auf mein Heft, ich wollte nicht schon wieder die Kontrolle über meine Gedanken und über meine Atmung verlieren.
„Mache ich dich etwa nervös?“, fragte er sehr leise und so dicht an meinem Ohr, dass ich seinen kühlen Atem auf meiner Haut spürte. Meine Nackenhaare stellten sich auf.
Ich nickte und machte den gleichen Fehler noch einmal; ich sah in seine viel zu schönen Augen.
Er lächelte, lehnte sich dann wieder weg und lauschte den Worten unseres Lehrers. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mit dem Unterricht fortfuhr und kritzelte wieder in meinem Heft herum.
Als es klingelte, hatte ich mich schon darauf eingestellt, dass er hochschnellen und aus dem Zimmer stürmen würde, doch diesmal blieb er neben mir sitzen und verstaute langsam seine Sachen in der Tasche. Überrascht sah ich zu ihm und tat es ihm gleich. Freundlich lächelnd blickte er zu mir. Ich schnellte meinen Kopf zurück zu meiner Tasche, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Amalie?“, seine Stimme klang schüchtern und seltsam zurückhaltend. Ich sah zu ihm, im Augenwinkel beobachtete ich Louis, der auf Luna und Iason an der Tür zueilte.
„Ich habe gleich Politik und weiß nicht, wo sich der Raum befindet. Könntest du ihn mir vielleicht zeigen?“, fragte er. Hilflos nickte ich. Gemeinsam standen wir auf und gingen zur Tür, wo mein Zwilling verwundert wartete.
„Antony, das ist mein Bruder Iason – Iason, das ist Antony.“, stellte ich die beiden einander vor und sah dabei nur auf den Boden. Warum war mir das alles nur so peinlich?
„Hallo Iason. Nett dich kennen zu lernen.“, sagte Antony höflich und sah ihn abwartend an.
„Hey.“, meinte mein Zwilling missmutig und sah mich dann forschend an. Misstrauen lag in seinem Blick.
„Iason, ich zeige Antony noch wo der Politikraum ist, wir sehen uns dann in der nächsten Pause.“, meinte ich zu meinem Bruder und schritt davon.
„Dein Bruder ist wirklich nett.“, flüsterte er. Ich sah ihn verwundert an, aber anscheinend meinte er es ernst. Wir gingen eine Treppe hinauf und standen dann vor der ersten Tür auf der rechten Seite.
„So, da wären wir.“, meinte ich und zeigte auf die Tür. Doch er schien nicht darauf zu achten. Stattdessen betrachtete er mich, was mich nur nervöser machte und mein Gesicht wieder mal rot anlaufen ließ.
„Das ist wirklich süß.“, grinste er. Ich sah ihn geschockt und wütend an: „Süß?“
Er schmunzelte. Dann lehnte er sich zu mir und fragte flüsternd: „Hast du eigentlich einen Freund?“
Jetzt weiteten sich meine Augen noch mehr. Ich schüttelte meinen hochroten Kopf und sah auf meine Füße.
„Hast du Lust, mit mir in der nächsten Pause in der Cafeteria zu sitzen? Nur wir beide. Keine Geschwister.“, meinte er.
Das plötzliche Klingeln zur nächsten Stunde riss mich aus meinen Gedanken.
„Also, ich halte dir dann einen Platz frei.“, meinte Antony, nahm meine Hand in seine und deutete einen Handkuss, wie in vergessenen Zeiten, an. Ich war erschrocken – nicht wegen seines Handkusses, sondern wegen der Kälte, die auf meiner Haut fast schon brannte. Er sah mir tief in die Augen und ich zuckte zusammen, als Louis fauchte.
„Ich ... ich sollte gehen.“, murmelte ich, entzog ihm meine Hand und ging dann völlig verwirrt und mit meinem Kater im Schlepptau die Treppe wieder hinab zum Englisch-Raum.
Fabienne saß bereits an ihrem Platz und wartete auf mich.
„Hey.“, begrüßte ich sie und grinste über beide Ohren.
„Hi. Wo warst du denn in der Pause?“, fragte sie verwundert und leise, da unsere Lehrerin nun mit dem Unterricht beginnen wollte.
„Ich habe Antony gezeigt, wo er als nächstes Unterricht hat.“, erklärte ich kleinlaut. Ich konnte mir schon denken, was sie sich ausmalte.
„Antony? – Aha! Also doch nicht Tristan.“, ihr Lächeln sagte alles. Doch als uns der strafende Blick unserer Lehrerin traf, verstummten wir und ich war froh darüber. Ich wollte ihr jetzt nicht bis ins kleinste Detail schildern, wie es zu diesem spontanen Treffen gekommen war.
„Du hast dich also gut mit Antony verstanden?“, fragte Iason missbilligend, sah mich jedoch nicht an, als ich mich im Mathematik-Unterricht neben ihn gesetzt hatte. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst und ich wusste, was er dachte. Er empfand Antony als schlechte Person.
„Ja, ich verstehe mich gut mit ihm. Er ist sehr nett.“, sagte ich schneidend und versuchte Luna und Louis zu ignorieren, die sich anfauchten.
Und wie würde Iason erst reagieren, wenn ich heute nicht bei meinen Geschwistern, sondern bei einem fast Fremden sitzen würde? Ich versuchte nicht daran zu denken und konzentrierte mich auf die Aufgaben, die Herr Hesse an die Tafel schrieb.
Die gesamte Stunde saßen wir also schweigend nebeneinander. Einerseits war ich froh, dass er nicht weiter herummeckerte, andererseits fand ich diese stille Anspannung zwischen uns anstrengend.
Die Klingel war fast eine Erlösung für mich. Ich stopfte meine Sachen ohne zu zögern in meine Tasche, sprang auf und stürmte als Erste hinaus. Nicht mal eine Minute später stand ich in der Cafeteria und sah mich nach Antony um. Wieso war ich so aufgeregt?
Und dann entdeckte ich ihn. Er wartete bereits. Vielleicht hatte sein Unterricht vielleicht früher geendet.
Mit einem leichten Lächeln und darauf bedacht, nicht über Louis zu stolpern, der sich immer wieder provokativ vor meine Füße stellte, stolperte ich auf Antony zu, der fast schon spöttisch lächelte.
„Und wie war dein Unterricht?“, fragte er, als ich ihm gegenüber Platz nahm.
„Langweilig.“, sagte ich, immer noch darauf bedacht, nicht unnötig in seine Augen zu sehen.
„Genau wie bei mir. Welch ein Wunder.“, sein wundervolles Lachen entzog mir wieder die Kontrolle über meine Atmung. Wie schaffte er das immer wieder?
„Möchtest du denn gar nichts essen?“, fragte er nach einer Weile und deutete auf die freie Tischplatte vor mir. Ich schüttelte den Kopf. „Und du? Keinen Hunger?“
Er schmunzelte, fast so als müsse er sich ein Lachen verkneifen, dann schüttelte auch er seinen Kopf.
„Wie ich sehe, sind deine Geschwister ganz aufgebracht darüber, dass du bei mir sitzt.“, flüsterte er mir zu, wobei er sich leicht über den Tisch lehnte. Überrascht drehte ich mich um und sah einerseits den finsteren Blick meines Zwillings, andererseits die vor Neugierde strahlenden Augen von Elisabeth, Valerie und Fabienne. Nur Edward schien das alles nicht zu interessieren. Er stocherte nur gedankenverloren in seinem Essen.
Genervt seufzte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Wieso tun sie das?“, fragte ich mich selbst und hatte völlig vergessen, wer mir gegenüber saß, bis mich etwas Kaltes an meiner Hand berührte. Ich nahm meine Hände soweit von meinem Gesicht, dass ich ihn sehen konnte. Doch er sah mich nicht an. Er blickte nur auf seine gefalteten Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte.
„Wieso hast du so kalte Hände?“, fragte ich so leise, dass ich mir sicher war, dass er mich nicht gehört hatte. Er sah mich nur eine Sekunde lang an, dann wandte er sich ab und verzog seine Lippen zu einer strengen Linie, die mich an Iason erinnerte. Ich atmete noch einmal tief durch, nahm meine Hände vom Gesicht und sagte: „Ich gehe jetzt besser zu meinen Geschwistern.“ Denn ich hatte das Gefühl, dass er an keinem weiteren Gespräch interessiert sein würde. Er nickte und ich ging.
Valerie und Edward warteten an der Tür auf mich – sie hatte ihn vermutlich überredet. Ich blickte mich um, dann fragte ich wo Iason und Elisabeth waren.
„Schon beim Auto. Ich glaube, Iason ist sehr wütend. Ich weiß nur nicht warum.“, antwortete Valerie und bewegte dabei abfällig ihre Hand.
„Ich kann es mir schon denken!“, murmelte ich vor mich hin, in der Hoffnung, dass mich niemand verstanden hatte. Ich sah zu Edward, der zu meiner Verwunderung sehr still war. Er hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet und seine Hände fummelten nervös an seiner Jacke.
„Edward, was ist los?“ Erschrocken fuhr sein Kopf hoch und er sah mich mit geweiteten Augen an.
„Nichts! Mir geht es gut!“, sagte er und rannte dann zusammen mit Angel zum Auto, in dem Mum, Iason und Elisabeth ungeduldig warteten.
„Das war ja merkwürdig.“, meinte Valerie und blickte mich mit großen, runden Augen an. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wer weiß, was der hatte. Gemeinsam folgten wir ihm.
Ich nahm den Wangenkuss meiner Mutter entgegen und stieg in den Van. Die Fahrt wurde jedoch interessanter als ich dachte; Elisabeth flüsterte mir die neusten Ereignisse ins Ohr: „Ich bin mit Dario verabredet.“
„Mit wem?“, fragte ich genauso leise.
„Na, Dario! Der Neue in meiner Klasse!“, sie war immer leiser geworden und ich hatte große Probleme sie zu verstehen, dennoch wusste ich, wen sie meinte. Der blonde Junge mit den ungewöhnlich klaren Augen war mir in den letzten Tagen öfter aufgefallen, aber nur weil Elisabeth ihn ständig angehimmelt hatte. Meine Gedanken waren immer noch bei Antony.
Wir waren mittlerweile Zuhause angekommen und stiegen aus. Meine Schwester und ich ließen uns zurück fallen.
„Und wann?“, fragte ich nun etwas lauter, da uns die anderen nun nicht mehr hören konnte.
„Heute Abend. Eröffnung einer Ausstellung im Kunst-Museum. Und du musst mitkommen!“, sagte sie und hielt mich am Arm fest. Erschrocken sah ich sie an.
„Ich? Warum?“
„Weil ich garantiert nicht alleine ins Kino darf und ich Mum nicht unbedingt sofort von Dario erzählen will. Was, wenn es doch nicht klapp, dann stellt sie nur lästige Fragen.“, erklärte sie, während wir langsam zur Haustür gingen.
„Okay! Und was mache ich, wenn du und Dario ...“
„Du musst natürlich jemanden mitnehmen.“, unterbrach sie mich. Ich zog die Haustür hinter mir zu, schlüpfte aus meinen schwarzen Chucks und folgte meiner Schwester die Treppe hinauf – Romeo war wahrscheinlich schon in ihr Zimmer geflogen – während ich mich fragte, wen ich bloß fragen sollte. Iason kam schon mal nicht in Frage, der war immer noch sauer. Und meine anderen Geschwister waren zu jung für eine Eröffnungsgala im Museum.
Ich war im letzten mit meiner Mutter bei einer solchen Veranstaltung gegangen und war mit Abstand die Jüngste gewesen.
Wir hatten mittlerweile unsere Zimmertüren, die direkt nebeneinander lagen, erreicht und so nickte ich kurz, um ihr mein Einverständnis zu geben.
Ich setzte mich an meinen Rechner – Louis kauerte sich an meine Füße – und schrieb Fabienne, ob sie Lust hätte mich zu begleiten, jedoch kam schon nach wenigen Minuten ihre Absage: „Tut mir Leid. Meine Mutter hat Theater-Karten. Wäre aber gerne mitgekommen.“
Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und schlich mit meinem Kater zu meinem Bruder ins Zimmer. Er saß auf seinem Bett und las, während Luna verwundert aufsah.
„Iason? Kann ich mit dir reden?“, fragte ich vorsichtig. Ohne von seinem Buch aufzublicken, nickte er. Ich schloss die Tür hinter mir und während Louis ohne zu zögern zur Luchsdame ging, blieb ich nervös im Zimmer stehen.
„Elisabeth will heute Abend mit einem Jungen zu einer Kunstgala und ich soll mitkommen. Aber ich möchte nicht alleine hin. Und ...“
„Du wolltest mich fragen, ob ich mitkomme?“, unterbrach er mich und sah endlich auf. Zögernd nickte ich. In seinen Augen lag ein Blick, den ich nicht verstand. Er zeigte keinerlei Emotion und trotzdem waren sie nicht leer. Irgendetwas versuchte er vor mir zu verbergen.
„Ich kann nicht.“, sagte er und las weiter. Überrascht starrte ich ihn an. Als weder ich mich, noch Louis sich bewegten, sah er wieder auf. Wieder nickte ich, dann verschwand ich zusammen mit meinem Kater.