Elias - wenn Freiheit nicht genügt - Birgit Loos - E-Book

Elias - wenn Freiheit nicht genügt E-Book

Birgit Loos

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Beschreibung

Seit seiner Kindheit ist Elias den Anfeindungen seines Bruders ausgesetzt. Infolge eines bösen Streiches verliert er sein Hörvermögen. Es fällt ihm schwer seine Behinderung zu akzeptieren. Sie bestärkt ihn in seinem Gefühl wertlos zu sein. Mit neunzehn Jahren brcht er alle Brücken hinter sich ab und bummelt durch die Welt. Ziel- und orientierungslos reist er von einem Ort zum anderen. Erst ein Hilferuf seiner minderjährigen Schwester bringt ihn nach Hause zurück. Seine Mutter und sein Bruder sind bei einem Unfall mit dem Traktor ums Leben gekommen. Bald darauf sieht er sich einem Chaos gegenüber. Ein bankrottes Weingut, kriminelle Machenschaften, ein homosexuelles Paar, eine Teenagerschwangerschaft und dem Wiedersehen mit seiner großen Liebe. Alles bricht wie ein Orkan über ihn herein. Ist Elias bereit, seine kostbare Freiheit zu opfern und die Verantwortung für seine Familie zu übernehmen?

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Birgit Loos

Elias – wenn Freiheit nicht genügt

Birgits Lesezeit

t.me/BirgitsLesezeit.

© 2023 Birgit Loos

Website: www.birgit-loos.de

Coverdesign von: A.Dagmar Weber

Verlagslabel: Birgits.Lesezeit

ISBN Softcover: 978-3-347-98692-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-98693-0

ISBN E-Book: 978-3-347-98694-7

ISBN Großschrift: 978-3-347-98695-4

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Epilog

Rezensionen

Einige Infos über mich

Danksagung

Elias - wenn Freiheit nicht genügt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Danksagung

Elias - wenn Freiheit nicht genügt

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Prolog

Meine Zähne klappern vor Kälte. Gänsehaut überzieht meine Arme, meine Beine. Tränen stehen in meinen Augen. Wütend wische ich diese weg. Ich will nicht weinen. Geflenne hilft mir nicht weiter. Stattdessen klammere ich mich an meiner Wut fest. Wut auf mich, weil ich schon wieder auf die Lügen meines großen Bruders hereingefallen bin. Mittlerweile müsste ich wissen, wie Nathan tickt. Warum ich ihm jedes Mal erneut auf den Leim gehe, frage ich mich vergeblich.

Ich stampfe mit den Füßen auf. Davon wird mir nicht wärmer. Im Gegenteil. Der eiskalte Kellerboden dringt durch meine nackten Sohlen. Bringt die Kälte bis hinauf in mein Gehirn. Erneut wische ich mir über die Wangen. Blödes Geheule. Das ist genau das, was Nathan beabsichtigte. Er will mir zeigen, wie erbärmlich ich bin. Der kleine Bruder. Der Feigling. Das Weichei, das wegen jeder Kleinigkeit die Tränendrüsen anstellt. Er will mir beweisen, wie tough er ist. Im Gegensatz zu mir. Nathan macht mir damit wieder einmal klar, was für ein nichtsnutziger, jämmerlicher Pisser ich bin. Ich schlage die Arme um mich, versuche mir selbst etwas Wärme zu geben. Vergeblich. Ich bin hier etwa fünf Meter unter der Erde, im tiefsten Weinkeller unseres Gutes. Zwecklos um Hilfe zu rufen. Niemand hört mich hier. Kein Mensch rechnet damit, ich wäre im eisigen Gewölbekeller, ohne Kleider, einzig mit meinen Boxershorts bekleidet. Wenn ich so an mir heruntersehe, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt gefunden werden möchte. Weder von meinen Eltern, erst recht nicht von unseren Arbeitern. Erneut drängt sich mir die Frage auf, weshalb ich Nathan vertraut habe. Schon wieder. Es war seine Idee. Die Sache mit der Mutprobe.

Mein Bruder ist fünf Jahre älter als ich. Er ist der Superstar in der Familie. Einer, dem alles zufällt. Egal, ob im Sport, in der Schule. Überall, wo ich mich anstrengen, das Letzte aus mir herausholen muss, fliegt ihm der Erfolg zu. Meine Mutter sagt mir, ich dürfe mir das nicht zu Herzen nehmen. Ich bin zu früh geboren, habe einige Wochen im Brutkasten verbracht, weshalb ich etwas mehr Zeit benötige, als andere im gleichen Alter. Ich bin eben ein Frühchen. Diese Erklärung hilft mir nicht weiter. Nathan weiß das. Er ruft mich seitdem hämisch „Frühchen!“ Was der Grund dafür ist, ihm jedes Mal wieder auf den Leim zu gehen. Eines Tages beweise ich es ihm, ich bin weitaus besser als er. Heute ist nicht dieser Tag.

Nathan stachelt mich mit seinen bescheuerten Ideen an, die letzten Endes nach hinten losgehen. Die Bestrafung erhalte ich. Mein Bruder schafft es jedes Mal, sich heraus zu winden, während ich als Trottel dastehe. So wie heute. Ich bin der Idiot. Nathan die lupenreine Unschuld. Wieso habe ich mich auf diesen Quatsch eingelassen? Im Grunde wusste ich schon vorher, wie das enden wird. Es ist jedes Mal das Gleiche. Nathan nennt mich einen Feigling, ein Muttersöhnchen. Ich versuche, ihm das Gegenteil zu beweisen. Kurz darauf stecke ich in der Klemme.

Mittlerweile bin ich bis auf die Knochen durchgefroren. Die Kälte dringt in jede Zelle meines Körpers. Zähneklappernd stehe ich auf, gehe die Treppen hinauf. Oben angekommen hämmere ich mit meinen Fäusten an die Tür. Nichts! Was habe ich erwartet? Niemand ist in dieser Jahreszeit im eiskalten Keller, um zu arbeiten. Es ist Wochen her, seit der Wein in die Fässer gefüllt wurde. Bis man ihn, nach einer gewissen Ruhezeit, in Flaschen umfüllt, bin ich ein Eiszapfen. Es sei denn, Nathan hat ein Einsehen und befreit mich vorher. Er versprach nach spätestens einer Stunde mich hier heraus zu lassen. Dann wäre der Beweis erbracht, dass Wikingerblut in meinen Adern fließt. Alle Wikinger müssten die Mutprobe bestehen, bevor sie auf Raubfahrt gehen dürften, sagte mir mein Bruder. Ihm zu folge, verbringen die Nordmänner mehr als vier Stunden in einer Eishöhle. Angeblich hat er diese Mutprobe im Alter von zehn Jahren abgelegt. Ich bin zwölf. Um ihm sein höhnisches Grinsen aus zu treiben, erklärte ich mich bereit, es ihm nachzutun. Das war ein Fehler. Ich bin weitaus länger hier unten in diesem eisigen Keller. Meinen Mut habe ich bewiesen. Nathan, andererseits, hält sich nicht an unsere Vereinbarung.

„Verdammte Hühnerkacke,“ fluche ich. Vergeblich rüttele ich an der Tür. Tränen laufen mir ungehemmt über die Wangen. Ich will hier raus. Mir ist kalt. „Nathan!“, schreie ich lauthals. „Mach die Tür auf! Ich habe genug. Du hast gewonnen! Nathan!!!“ Ich lausche. Nichts! Todesstille! Ich wische mir mit dem Arm den Rotz aus dem Gesicht. Meine Tränen scheinen mittlerweile an den Wimpern festgefroren zu sein. Frustriert lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich habe keine Kraft mehr. Wo bleibt Nathan? Von allein sinkt mein Kopf auf meine Knie. Schlafen. Langsam dämmere ich weg. Ich bin so müde!

Ich wache auf, sehe verwirrt um mich. Wo bin ich? Auf keinen Fall zu Hause in meinem Zimmer. Mama und Papa kommen in mein Blickfeld. Erleichtert atme ich auf. Egal, wo ich bin: Meine Eltern sind hier. Gleich fühle ich mich besser. Warm ist es hier. Mama spricht mit einer Frau im weißen Kittel. Mir wird klar, ich bin im Krankenhaus. Wieder einmal. Angestrengt versuche ich, zu verstehen, was Mama mit dieser Frau redet. Vergeblich. Ich höre nichts. Kein Wort! Kein anderes Geräusch. In diesem Zimmer herrscht absolute Stille. Papa bemerkt, meine bangen Blicke, die durch den Raum schweifen. Er kommt zu mir. Seine Lippen bewegen sich. Sagt er etwas zu mir? Ich höre ihn nicht. Panik macht sich bei mir breit. Ich sehe, sie reden mit mir. Warum höre ich sie nicht? Nicht ein Wort dringt zu mir durch. Panisch, an allen Gliedern zitternd, schaue ich von meinen Eltern zu dieser Frau. Eine Ärztin? Sie spricht mich direkt an. Verzweifelt strenge ich mich an, ihre Worte zu verstehen. Nichts! Stille! Ich schreie. Zumindest glaube ich zu schreien. Ich reiße den Mund weit auf, brülle. Nichts! Kein Ton dringt in mein Gehirn. Todesstille. Ich umklammere die Hand meines Vaters. Papa, redet auf mich ein, versucht vergeblich beruhigend auf mich einzuwirken. Ich reagiere nicht darauf, denn ich verstehe ihn nicht. Ich versuche, ein weiteres Mal meine Stimme zu hören:

„Mama! Papa!“, schreie ich aus vollem Hals. Kein Ton. Stille. Was ist hier los? Was ist passiert? Die Kälte, die ich überwunden glaubte, kriecht erneut in meinen Körper. Ich zittere wie Espenlaub. Die Ärztin tätschelt tröstend meinen Arm, gibt mir eine Spritze. Bis diese ihre Wirkung zeigt, verkrieche ich mich im Arm meines Vaters. Einige Zeit später drückt mir die Ärztin einen Zettel in die Hand. Darauf steht:

„Elias, du hattest eine Lungenentzündung sowie eine Entzündung in beiden Ohren. Das ist der Grund, weshalb du zur Zeit nichts hörst. Mach dir keine Sorgen, das bekommen wir wieder hin.“

Ich nicke erleichtert, vertraue ihr. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage. Die Panik nimmt mir sonst die Luft zum Atmen.

Sie bekommen es nicht wieder hin.

Kapitel 1

Ich suche in den Taschen meiner Lederjacke nach einer Zigarette, denn ich brauche dringend etwas Nikotin. Meine Chefin hat mir zugesetzt. Ihrer Ansicht nach kann ich nicht verschwinden, wann immer ich das Bedürfnis habe. Wochen später erneut bei ihr auftauchen und erwarten, sie versorge mich sofort mit neuen, profitablen Aufträgen. Nach meiner Meinung ist genau das, mein Recht. Wir haben keinen Vertrag miteinander. Unser Arbeitsverhältnis schriftlich zu fixieren, wäre suspekt. Felicity betreibt ein Escort-Center. Ich bin ihre beste männliche Hure. Ich bin ungewöhnlich, denn ich bin taub. Fast. Die dreißig Prozent Rest-Hörvermögen auf meinem linken Ohr fallen kaum ins Gewicht. Ich verlegte mich nach meinem Wikinger-Abenteuer auf Lippenlesen. Ein Meister der Gebärdensprache bin ich mittlerweile ebenfalls. Ansonsten habe ich mir verschiedene Tricks und Kniffe angeeignet, die meine Kundinnen butterweich werden lassen. Reden wird völlig überbewertet, habe ich gelernt. Die Dollars sitzen locker, wenn ich meine Aufgabe nach bestem Wissen erfülle. Ich finde es zum Lachen, die Damen, die mich buchen, halten Ausschau nach einem Sexidol. Sie sind bereit jede Menge, dieser grünen Scheinchen zu löhnen, um ein einziges Mal in ihrem erbärmlichen Leben mit ihrem Traummann im Bett zu liegen. Groß, Sixpacks, sportlich, ein Herkules.

Sie bekommen mich. Stattliche 1,64 m. Haar, das unentschieden zwischen blond und rot schwankt, blasse Haut mit Sommersprossen, Lederklamotten, Motorrad, Drei-TageBart. Taub wie eine Nuss! Aber voller Hingabe an die Sache. Finger, die wissen, was verlangt wird. Ein Schwanz, der jeden einzelnen Schein wert ist. Es hat bisher keine bereut, statt eines nicht existenten Traummannes, mich in ihrem Bett zu finden.

Diese Erkenntnis verschaffte ich gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft Felicity. Deshalb lache ich über ihre Drohungen. Sie ist froh, wenn ich zurück von meinen Reisen bin, mich bei ihr melde. Das bringt uns beiden Geld in die Taschen. Trotzdem nervt es mich, wenn sie versucht, den Boss heraus zu kehren. Ich lasse mich nicht an die Kette legen. Meine Freiheit ist mir kostbar. Deswegen bin ich direkt im Anschluss an mein verpatztes Abitur auf und davon, habe alles zurückgelassen. Freunde, Familie. Meine Mutter hofft seitdem jeden Tag darauf, ich würde Vernunft annehmen, meine Zelte in den USA abbrechen, nach Good old Germany zurückkehren. In unserem Weingut in Rheinhessen wartet mein angestammter Platz, zweiter in der Erbfolge, auf meine Rückkehr. Angewidert drücke ich die Zigarette an der Hauswand aus. Der Gedanke an unseren Hof bringt mir meinen Bruder in Erinnerung. Im Gegensatz zu unserer Mutter ist Nathan für jeden Tag froh, den ich fernab der Heimat verbringe. In diesem speziellen Fall stimme ich ihm zu. Tage an denen Nathan und ich uns nicht ins Gehege kommen, sind die besten Tage. Unser Weingut hat nicht Platz für uns beide. Ach, was rede ich. Europa bietet nicht genug Raum für meinen Bruder und mich.

Ich schwinge mich auf mein Motorrad. Mit dem soeben verdienten Geld finde ich mit Sicherheit ein annehmbares Motel. Für morgen hat mir Felicity eine weitere Kundin angekündigt. Das Geschäft läuft. Sie hat recht, es würde besser laufen, stünde ich öfter zu ihrer Verfügung. Im Gegensatz zu ihr, ist Geld nicht meine höchste Priorität. Ich bin lieber unabhängig. Wenn ich dringend Kohle brauche, komme ich zu ihr.

Im Motel angekommen, gehe ich zuerst unter die Dusche. Ich habe es nötig. Das Parfüm meiner Kundin war widerwärtig. Mit meinen Boxershorts bekleidet, werfe ich mich nach meiner Reinigung auf das Kingsize Bett, checke meine E-Mails und Whatsapp-Nachrichten auf meinem Smartphone. Das Bild meiner Schwester poppt auf. Das erstaunt mich. Sophie ist ein Nachkömmling, vierzehn Jahre jünger. Sowohl ihre Geburt, wie ihre Empfängnis ein Wunder. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt sechsundvierzig Jahre alt. Andere Frauen kommen in dem Alter in die Menopause. Meine Mutter wurde schwanger. Mein Vater war damals genauso entsetzt, wie wir – seine Söhne. Nathan argwöhnte eine weitere Teilung des Erbes. Ich – mitten in der Pubertät – fürchtete die hämischen Kommentare meiner Freunde. Meiner Meinung nach, waren meine Eltern in einem Alter, wo Sex kein Thema mehr sein durfte. Das war peinlich – für mich.

Sophie war vier, da packte unser Vater – ohne Ansage von Gründen – seine Koffer, verschwand auf Nimmerwiedersehen aus unserem Leben. Ich war seit acht Wochen in Australien auf meiner Work-and-Trail-Tour. Meine Mutter rief an, erzählte mir, seltsam nüchtern, was passiert war. Dann verlangte sie meine unverzügliche Heimkehr. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich gegen dieses Ansinnen. Ich war froh, den Anforderungen meiner Mutter und den Anfeindungen meines Bruders entkommen zu sein. Nathan sei Dank, erlaubte sie mir, meine Tour wie geplant zu beenden. Mein Bruder war genauso froh wie ich, wenn wir uns nicht begegneten. Ich tingelte durch Australien, hängte ein halbes Jahr Nordamerika dran. Letztendlich blieb ich dort.

Einmal wöchentlich skypen meine Mutter und ich miteinander, zu festgesetzten Zeiten. Das ist der einzige Einschnitt in meine Freiheit, den dich dulde. Sophie ist bei diesen virtuellen Anrufen stets dabei. Hauptsächlich, weil unsere Mutter darauf besteht. Damit der Kontakt zwischen den Geschwistern nicht abbricht. Nathan verweigerte sich von Anfang an diesen Gesprächen. Von ihm habe ich in den letzten Jahren allein durch Erzählungen meiner Mutter gehört.

Was ich damit sagen will, ist: Es ist einzig der Verdienst meiner Mutter, wenn unsere Verbindung nicht völlig abgebrochen ist.

Sophies Nachricht lautet schlicht:

„Ruf mich so schnell wie möglich zu Hause an!!!!“

Ein Schauder läuft über meinen Rücken. Es gibt keinen plausiblen Grund, warum Sophie mich kontaktiert. Meine Mutter redet mit mir über Skype. Sophie sitzt dabei, verdreht die Augen, stellt gelangweilt Fragen, die ich beantworte. Im Gegenzug gibt sie mir ausweichende Antworten auf nicht minder lustlose Nachfragen meinerseits. Das alles, um unsere Mutter in ihrem Wahn zu bestätigen, wir wären – trotz der nunmehr zehn Jahre unserer Trennung – weiterhin eine Familie. Ich stöpsle mein Notebook ein, hoffe auf einen einwandfreien Empfang, dann wähle ich die Nummer von zu Hause.

Sophies verweintes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Ich habe einen Knoten im Magen. Erwarte eine Katastrophe. Irgendetwas ist mit unserer Mutter, das spüre ich. Gleichzeitig steigt kalter Zorn in mir auf. Ich frage mich, warum unser Bruder, diesen Anruf unserer kleinen Schwester aufhalst. Andererseits hat Nathan ein Talent dafür, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen.

„Was ist passiert?“ Ich bemühe mich vergeblich, ruhig zu bleiben. Ich bin tausende von Meilen entfernt von Sophie. Mit übersteigerter Panik helfe ich ihr nicht. Trotzdem zittere ich vor innerer Anspannung. Meine Hände übersetzen zeitgleich die Frage in Zeichensprache. Dank meiner Mutter beherrschen zu Hause alle die Gebärdensprache.

Sophie wischt sich über die Augen, dann spricht sie langsam die Worte, damit ich von ihren Lippen ablesen kann. Synchron übersetzen ihre Hände die gleiche Botschaft für mich.

„Mama ist tot.“ Der Schock trifft mich unvermittelt. Ich rechnete mit einer schweren Krankheit, einem Unfall. Nicht mit ihrem Tod.

Verstört versuche, ich in Erfahrung zu bringen, was passiert ist. Automatisch bewegen sich dazu meine Hände.

„Sie hatten einen Unfall mit dem Traktor,“ lässt mich meine kleine Schwester wissen. Erneut laufen Tränen über ihre Wangen. Mein Schock über den Tod meiner Mutter braucht ein Ventil. Wo zum Teufel ist Nathan? Warum überlässt dieser Mistkerl, es unserer Jüngsten mir diese schmerzliche Nachricht zu überbringen? Schon klar, er ist ein Feigling. Aber das ist einiges mehr an Drückebergerei, als selbst ich von ihm erwartete.

„Wo ist Nathan?“, frage ich aufgebracht.

„Tot, wie Mama. Sie waren gemeinsam auf dem Traktor. Elias, du musst nach Hause kommen. Ich bin hier allein. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie es weitergeht. Ich brauche dich. Bitte, bitte, komm.“

Sophie bricht zusammen. Ich starre auf meine kleine Schwester. Vergeblich versuche ich, die Konsequenzen dieser Nachricht zu realisieren.

Auf dem Flug nach Hause jagen sich meine Gedanken. Mir ist es unmöglich, mich auf einen Film oder eine Zeitschrift zu konzentrieren. Nicht allein die letzten drei Tage laufen in Endlos-Schleifen vor meinem inneren Auge ab. Ich sehe Bilder meiner Schwester. Sophie als Baby. In den Armen unserer Mutter. Das Kindergartenkind, das winkend bei meinem Abschied, am Frankfurter Flughafen stand. Ihren Zusammenbruch bei ihrem Anruf. Die Tränen, Ihre Worte. Sie ist allein. Sie braucht meine Hilfe. Die fremde Frau, die wie vom Himmel gefallen auf dem Bildschirm meines Laptops erschien. Ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen, wie sie mit mir redet. Ich gebe mir keine Mühe, sie zu verstehen, starre sie an, bis sie sich hilfesuchend an Sophie wendet. Meine Schwester übersetzt mit ihren Händen das Gesagte. Ich versuche, mich zusammenzureißen, ihren Gesten zu folgen. Es fällt mir schwer. Meine Mutter und mein Bruder sind tot. Das muss ich erst einmal setzen lassen.

Die Bilder von Sophie sowie der fremden Frau werden gleich darauf verdrängt von Felicity. Sie war nicht begeistert, als ich ihr erklärte, ich könne den vereinbarten Termin nicht einhalten. Ich müsste zurück nach Deutschland wegen eines Trauerfalls. Sie fluchte wie ein Bierkutscher, fragte mich mehrmals, ob ich sie verarschen will. Das kann ich ihr nicht verdenken. Es wäre nicht das erste Mal. Ich habe mich schon mit groteskeren Storys von ihr verabschiedet. Sie hängen lassen. Sie hat ein Faible für mich, sonst könnte ich mir das nicht erlauben. Zum Glück für mich konnte ich sie bisher jedes Mal überreden, mich wieder in Gnaden aufzunehmen. Ich bin gewinnbringend in meinem Job. Den ich hasse. Aber was will ich machen. Das Leben ist teuer. Der Verdienst bei Felicity ist hoch. Letzten Endes ist es leicht verdientes Geld. Felicity hofft, ich komme zurück. Wie all die Male zuvor. Zur Sicherheit konfisiert sie mein Bike. Na ja, ich fragte sie, ob ich es bei ihr unterstellen darf, bis ich wiederkomme. Seitdem glaubt sie fest daran, ich wäre nur auf einer weiteren Spritztour. Sie weiß, meine Harley ist mein Leben. Die hole ich mir in jedem Fall ab.

Ich seufze. Neue Bilder erobern meinen Geist, drängen Felicity an den Rand. Sophie schickte mir eine ellenlange E-Mail, in der sie die Umstände des Unglücks genau schilderte. Ich kenne die Wege, bin vertraut mit dem Weinberg, wo Mama und Nathan verunglückten. Der Ort, wie das Geschehen, das zu dem Unfall führte, laufen in 3-D in meinem Kopf ab. Ich erkenne die abschüssige Straße, rieche die Sonnenblumen, die am Wegesrand blühen, sehe meine Mutter auf dem riesigen Traktor sitzen, mein Bruder an ihrer Seite. Ich fühle ihre Panik, als sie versucht abzubremsen, die Bremse nicht reagiert. Ich höre sie schreien. Meine überbordende Fantasie zeigt mir jedes kleine Detail des Unglücks. Ich werde bleich. Mit beiden Händen stütze ich mich am Vordersitz ab. Versuche kraft meines Willens die ausbrechende Zugmaschine in meiner Einbildung zu stoppen. Keine Chance. Ich sehe, wie der Trecker in der Kurve außer Kontrolle gerät, wie er sich zur Seite neigt, wie er langsam, unaufhaltbar umfällt. Meine Mutter, meinen Bruder unter sich begräbt.

Jemand schüttelt mich. Ich reiße die Augen auf. Der Flugbegleiter sieht besorgt auf mich herunter. „Sir, ist Ihnen nicht gut?“ Mühsam entziffere ich seine Frage.

„Alles ok. Ich habe schlecht geträumt,“ versuche ich ihn, sowie meine Sitznachbarin, die mich mit panischen Augen ansieht zu beruhigen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Der Steward fragt mich etwas. Leider sieht er mich dabei nicht an. „Sorry, ich verstehe Sie nicht. Sie müssen mich direkt ansehen, damit ich ihre Lippen lesen kann,“ informiere ich den Mann. Er wird rot wie eine Tomate, entschuldigt sich mehrfach bei mir. Ich hasse meine Behinderung, die ich Nathan verdanke, in solchen Augenblicken.

Ich habe keine Vorstellung, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, mir in allen Farben meine Rache an ihm auszumalen. Eines Tages würde Nathan dafür bezahlen, dass er mich im Keller „vergaß“, wie er sagte. Er würde es bitter bereuen, mich zurückgelassen zu haben. Eine taube Nuss. Ein Behinderter. Ein Unikum. Diese Rachegefühle sind mit seinem Tod nutzlos geworden. Das Leben ist meiner Rache zuvorgekommen.

Ich beruhige den Flugbegleiter, lasse mir, weil dieser nicht davon abzubringen ist, ein Glas Whisky bringen, darauf hoffend, er lässt mich endlich in Frieden. Ich schließe meine Augen. Vor mir liegen mindestens vier weitere Stunden Flug.

Mein Bruder erscheint mir. Er redet auf mich ein. Lachend hält er sich die Seiten. Ich platze vor Zorn. Nathan hüpft vor mir Hin und Her. Seine Hände fahren durch die Luft.

Flatternd, wie ein Huhn auf der Flucht vor dem Fuchs. Völlig unsinnige Gesten. Seine Freunde stehen hinter ihm. Ebenfalls lauthals grölend. Ich höre sie nicht. Nathan spricht zu mir. Ich sehe auf seine Lippen, versuche zu ergründen, was er von mir will. Ich strenge mich an. Es ergibt keinen Sinn, genau so wenig, wie seine Gesten. Nathans Kumpels rempeln sich an, lachen mich aus. Nathan steht dicht vor mir, schaut mir fest in die Augen. Sein Mund formt Worte. Langsam, deutlich, die Silben akzentuierend. Seine Hände bewegen sich gleichzeitig. Ich habe keine Mühe mehr damit, ihn zu verstehen.

„Du bist so ein Spasti. Hau ab! Geh zu deiner Mami, Frühchen. Du hast hier bei uns nichts verloren. Keiner von uns will etwas mit einem Schwachmaten wie dir zu tun haben. Hau ab, du tauber Idiot.“

Dann stößt er mich mit beiden Händen vor die Brust. Ich taumle rückwärts. Stolpere über ein Brett, das vor wenigen Minuten nicht hier lag. Vergeblich versuche ich, meinen Sturz abzufangen. Es gelingt mir nicht. Ich lande im Matsch. Mein Bruder und seine Freunde entfernen sich lachend. Langsam erhebe ich mich, aus dem Dreck. „Ich hasse dich, du Bastard,“ stoße ich wütend hervor. Zum Glück hört mich Nathan nicht mehr.

Mit dem Bild meines höhnisch feixenden Bruders vor Augen schlafe ich ein.

Ich suche mir meinen Weg zu dem Gepäckband, wo mein Koffer laut der Anzeige anlanden wird. Trauben von Menschen, die alle mit mir aus New York gekommen sind, stehen um das riesige Förderband herum, wartend auf die Ankunft des Gepäcks. Endlich erscheinen die ersten Gepäckstücke. Wie von Riesenhänden gepackt werden sie auf das Band geschleust. Die Traube rückt ein Stück nach vorne, als würde sie von einem unsichtbaren Seil gezogen. Anders kann ich mir nicht vorstellen, warum man sonst sich so eng an diesen Ort drängt. Es macht keinen Unterschied, wo ich stehe. Ich kann nur warten. Der Riese dort unten ist nicht bestechlich. Deshalb stelle ich mich außerhalb der wartenden Menge. Mein Blick ist fest auf den Auswurf gerichtet, um sofort zu sehen, wann mein Rucksack erscheint. Dann ist Zeit genug an das Band zu treten, um mein Eigentum in Empfang zu nehmen.

Es dauert, bis die ersten Koffer erscheinen. Während ich warte, erinnere ich mich an meinen Abflug nach Sydney vor zehn Jahren. Meine Eltern kauften mir einen riesigen Traveller-Rucksack, hinter dem ich fast verschwand. Dieser leistete mir treue Dienste, solange ich durch die Welt reiste.

Meine Mutter war nicht begeistert, als ich ihr von meinen Plänen erzählte. Ein Jahr auszusetzen, nach Australien zu gehen, wie viele meiner Alterskameraden. Mein Vater überredete sie letztendlich. Ich schätze, sie stimmte meiner Reise deshalb zu, weil sie damit rechnete, ich würde nach spätestens vier Wochen aufgeben. Ein exotisches Land, eine fremde Sprache, mein Handicap. Das konnte ihrer Meinung nach nicht gutgehen.

Ich musste mit vielen Veränderungen zurechtkommen, nachdem feststand, die Infektion hatte mein Hörvermögen unwiederbringlich zerstört. Ich lernte, von den Lippen abzulesen, Gebärdensprache. Meine Familie besuchte Kurse, um sich mit mir verständigen zu können. Meine Mutter suchte mir eine Schule für Gehörlose. Leider war diese in Trier, was bedeutete: Ich musste mein Zuhause verlassen. Einzig und allein an den Wochenenden konnte ich nach Hause kommen. Die Penne legte Wert darauf, dass wir möglichst viel lernten, um später in der Welt der Hörenden bestehen zu können. Ich hasste es, ein Außenseiter zu sein, deshalb setzte ich alles daran, ein ausgezeichneter Schüler zu werden. Ich belegte sogar einen Englisch-Sprachkurs, lernte die Lautschrift, versuchte, die Sprache so weit es machbar war, fehlerlos wieder zugeben.

Zu Hause änderte sich für mich alles. Ich gehörte nicht mehr dazu, war bloß der Besuch. Mein Bruder ließ mich das jedes Wochenende aufs Neue spüren. Er gab sich keine Mühe mit der Gebärdensprache. Er sah mir nicht ins Gesicht, wenn er etwas erzählte. Wohlwissend, mir entging ein großer Teil des Familienlebens. Am Ende war ich froh darüber, wieder ins Internat fahren zu können.

Nach Abschluss der Schule gedachte ich eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker zu machen. Am liebsten hätte ich eine Lehre in einer Motorrad-Werkstatt begonnen. Zu meinem achtzehnten Geburtstag wünschte ich mir eine Kawasaki Motors Europe. Meine Mutter schenkte mir einen Opel Tigra. Nicht einmal ein Cabrio. Damit der Bub sich nicht erkälten konnte. „Das Frühchen darf keinen Schaden erleiden,“ verhöhnte mich Nathan. Meine Berufswahl fand bei meiner Mutter kein Verständnis. Sie meldete mich stattdessen in Essen beim rheinisch-westfälischen Berufskolleg an, damit ich dort mein Fachabitur machen konnte. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, wenn ich danach meinem Berufswunsch hätte nachgehen können. Unsere Diktatorin spielte aber nicht mit. Selbst als ich ihr vorschlug eine Ausbildung als Land- und Baumaschinen-Mechatroniker zu machen, weigerte sie sich. Sie brauche mich auf dem Weingut. Dabei wäre ich ihr mit diesem Beruf eine große Hilfe gewesen. Mein Vater war gelernter Automechaniker. Als er mit unserer Mutter zusammenkam, machte er eine Umschulung zum Winzer, damit er ihr im Betrieb ihrer Eltern eine Stütze sein konnte. Aber sein Herz gehörte den Motoren. Wie meines. Gemeinsam werkelten Vater und ich oft in unserer Werkstatt herum. Wir brachten so manches Gerät wieder zum Laufen. Meine Mutter war nicht zu überzeugen. Ihr Wunsch, ich solle genau wie Nathan, Teil unseres Bauernhofes werden, ließ sie meinen Berufswunsch ignorieren.

Von diesem Moment an, weigerte ich mich zu lernen. Mein Abitur am Kolleg machte ich mit Ach und Krach. Dann ging ich meinen Eltern auf die Nerven, mit meinem Traum nach Australien zu reisen, bis sie letztendlich „Ja“ sagten, um endlich ihre Ruhe zu haben. Sie konnten nicht wissen, ich plante keine Wiederkehr. Mein Wunsch war es, frei zu sein. Niemandem Rechenschaft abgeben müssen. Nathan machte mir den Abschied leicht. Er war ohnehin nicht begeistert davon gewesen, gemeinsam mit mir das Gut zu führen. Mehr als einmal drohte er mir, was er mir antun würde, falls ich es wagte, ihm in die Quere zu kommen. Das hatte ich auf keinen Fall vor. Ungleich schwerer fiel es mir, mich von Sophie zu verabschieden. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit ihren Ballons am Terminal stand, mir zuwinkte, enttäuscht darüber, weil ich diese nicht mitnehmen durfte.

Endlich kommt mein Rucksack. Ich gehe problemlos an den Rand des Gepäckbandes, hebe ihn herunter. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ich will erst allein dort ankommen, bevor ich Sophie besuche. Ich möchte mir ein Bild machen, wie es daheim aussieht, nach zehn Jahren Abwesenheit. Diese Zeit brauche ich für mich.

Es ist seltsam, wieder nach Hause zu kommen. Nichts ist mehr so wie in meiner Erinnerung. Alles ist still. Wie erstarrt. Niemand ist da. Ich öffne die Tür mit meinem Schlüssel, wundere mich darüber, weil sie sich öffnen lässt. Vorsichtig stecke ich den Kopf in den Flur. Ich bin versucht nach meiner Mutter zu rufen. Ich gehe in den ersten Stock, in mein Zimmer. Hier sieht es aus, als käme ich nach einer Woche Internat nach Hause zurück. Alles ist genauso, wie ich es verlassen habe. An den Wänden hängen die Bilder der Motorräder. Meine Zeitschriften, meine Bücher liegen in den Regalen, als hätte ich gestern darin gelesen. Ich lasse meinen Rucksack zu Boden gleiten. Rückwärts verlasse ich den Raum. Zweifel befallen mich, ob ich heute Nacht hier schlafen kann. Andererseits wo sonst? Im Schlafzimmer meiner Mutter? In Nathans? Auf keinen Fall.

Ich gehe in die Küche, blicke in den Kühlschrank. Gähnende Leere. Was habe ich denn erwartet? Ich greife in den Schrank, finde sofort ein Glas, halte es unter den Wasserhahn. Nichts kommt heraus. Wasser abgestellt, stelle ich fest. Das werde ich hoffentlich problemlos ändern können.

Im Wohnzimmer steht ein neuer Fernseher. Ansonsten ist alles so wie vor zehn Jahren. Nein stimmt nicht, die Tapeten sind andere. Die Vorhänge an den Fenstern. Ich gehe in das Büro. Ein Laptop steht dort, jede Menge Ordner. Schnell mache ich die Tür zu. Das hier stellt mich vor eine riesige Herausforderung.

Ich laufe wieder raus, über den Hof zu den Maschinen. Die Keller lasse ich erst einmal aus. Allein gehe ich nicht mehr in einen Weinkeller. Die Geräte sehen ordentlich aus. Gepflegt. Die Kelter ist neu. Der kleine Traktor, mit dem man durch die Zeilen fahren kann, ist ebenfalls neueren Baujahrs. Ich nähere mich ihm, um ihn mir genau anzusehen.

Jemand reißt mich herum, schreit auf mich ein. Er redet zu schnell, blickt mir nicht ins Gesicht. Ich erkenne Tobias Felter, einen Freund meines Bruders. Er hat seinen Aussiedlerhof direkt auf der anderen Seite der Straße. Der Idiot hat bis heute nicht kapiert, wie er mit mir sprechen muss.

„Halloooo!! Tobias!! Ich bin es – Elias. Sieh mich an, rede langsam und deutlich, damit ich dich verstehen kann.“

Er tritt einen Schritt zurück, sieht mir verblüfft in die Augen. „Mann, Elias. Ich wollte schon die Polizei rufen. Warum kommst du nicht erst zu mir? Wieso schleichst du hier herum wie ein Einbrecher?“

„Wieso sollte ich zu dir kommen?“, frage ich baff vor Staunen.

„Na, ich habe doch die Schlüssel.“ Auf meinen fragenden Blick hin, wiederholt der Trottel das Gesagte ein zweites Mal, langsam Wort für Wort, als wäre ich aus einer Irrenanstalt entflohen. Wenn ich daran denke, wie er und Nathan mich früher behandelt haben, liege ich mit dieser Annahme nicht falsch.

„Schon gut, schon gut. Ich habe es kapiert. Du hast die Schlüssel für unser Haus. Aber wieso hast du die Schlüssel? Das wollte ich wissen.“

Tobias fängt lang und breit an, zu erklären, er habe Sophie versprochen ihre Tiere zu füttern. Außerdem sieht er hier nach dem Rechten. Er bearbeitet unsere Felder mit, das sei er Nathan schuldig. Einer muss es ja tun. Die Arbeit macht sich nicht von allein. „Du warst auf Reisen. Zehn lange Jahre. Ohne Gewissensbisse hast du alles Nathan und deiner Mutter überlassen.“

Ich zucke mit den Schultern. Was ich getan habe, geht Tobias nichts an. Suchend sehe ich mich um. „Von welchen Tieren reden wir hier?“

„Die beiden Hunde sind bei mir drüben. Die Katzen bleiben nicht bei uns. Sie sind wieder zurückgekommen. Ich stelle Ihnen ihr Futter hin. Da hinten gibt es eine Katzenklappe,“ er zeigt mit seinem Finger ins Nirgendwo. Egal, ich werde sowohl die Klappe als die Miezen schon finden. „Da gehen sie ein und aus. Keine Angst, meine Frau macht die Katzenklos sauber.“

Das ist meine letzte Sorge. Tobias redet inzwischen weiter. „Die Pferde sind auf der Weide. ….genug …..vorhanden. Solange die ….., machen …….Die reinste Menagerie hier. Deine Mutter hat ….. lassen.“

Tobias lernt es nicht. Ich bekomme, wenn überhaupt, nur die Hälfte mit, von dem, was er mir erzählt. Warum schafft es dieser Idiot nicht, mir ins Gesicht zu schauen, frage ich mich.

„Dann lass uns mal nach den Pferden sehen,“ fordere ich. Tobias zeigt wieder ins Nirgendwo „Da hinten ist die Weide. Ich habe zu tun. Willst du nachher zum Essen zu uns kommen?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich denke nicht. Ich muss in die Stadt zu Sophie. Sie wartet mit Sicherheit schon auf mich. Trotzdem – danke für das Angebot.“

Ich strecke ihm die Hand hin. Er ergreift sie: „Dann bis später. Die Einladung steht.“ Er wendet sich ab, dreht sich nochmals um: „Ach Elias. Mein ….,“ Wieder dreht er sich zu früh um. Mir bleibt es überlassen, zu raten, was er mir sagen wollte.

Kopfschüttelnd mache ich mich auf den Weg in die von Tobias angedeutete Richtung, wo angeblich die Koppel mit den Pferden sein soll. Das ist etwas Neues für mich. Ich liebe Pferde. Freunde in den Staaten haben einige Mustangs. Ich bin ein paar Mal mit ihnen zu Wettkämpfen gefahren. Das wäre ebenfalls ein Job für mich gewesen. Als Jockey hätte ich mit meiner Größe keine Probleme gehabt. Ich grinse, denn bei den Rennen, die meine Kumpels bestritten haben, wäre ich untergegangen. Niemand kommt mit diesen Jungs mit. Indian Relay Races ist ein Sport, den ich jedem Pferderennen hier zu Lande vorziehe. Keine gestylten Damen und Herren an den Pferdeboxen oder auf den Rängen. Keine hochgezüchteten Rassepferde. Echte Mustangs. Reiter ohne Sattel, die im Galopp auf die Wildpferde springen. Alles ist ursprünglich. Wild. Frei. Ich seufze, wünsche mich zurück zu ihnen.

Ich finde die Koppel. Zwei Stuten stehen dort. Eine ist dunkelbraun, hat eine fast weiße Mähne, die andere hat die Farbe hellen Sandes. Ihre Schopf hat einen Goldton. Es sind herrliche Tiere. Langsam gehe ich an die beiden heran, strecke ihnen meine Hand hin, damit sie meinen Geruch aufnehmen können. Die zwei sind friedlich, recken mir ihre Köpfe entgegen, lassen mich sie streicheln. Ich blicke mich um. Alles ist sauber, aufgeräumt. Den beiden Damen scheint es hier zu gefallen. Die Koppel ist groß genug, sie haben jede Menge Auslauf. Ich verabschiede mich von ihnen, gehe wieder auf den Hof.

In der Garage steht ein Audi A5, neben einem Toyota RAV 4. Zurück im Haus finde die Autoschlüssel für beide Wagen. Ich nehme den Japaner. Der Sportschlitten gehörte mit Sicherheit Nathan. Niemals würde ich sein Auto fahren. Ich stelle die Spiegel ein, drehe den Schlüssel im Zündschloss herum. Dann brause ich los. Es wird Zeit, meine Schwester zu treffen.

Sophie rast auf mich zu, wirft sich mir weinend an den Hals. Zögerlich schließen sich meine Arme um sie. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf. Ich bemühe mich, nicht zu zeigen, wie dreckig es mir selbst in diesem Moment geht. Sicher, das ist meine kleine Schwester. Ich bin für sie verantwortlich. Genau das ist das Problem. Denn ich weiß nicht, was sie von mir erwartet. Was ich tun soll. Ich distanziere mich von allem. Beobachte Sophie und die anderen Menschen, die um uns herum wuseln, als würde eine verdammte Telenovela vor meinen Augen ablaufen.

Es dauert eine Weile, bis wir die Bürokratie überwunden haben. Dann darf Sophie mit mir nach Hause. Die Fahrt verläuft schweigend. Was sonst? Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren, habe keine Zeit für Lippenlesen und Gestik. Darüber bin ich froh. Es gibt mir die Möglichkeit, mit der Situation fertig zu werden. Alles hat sich verändert. Wir fahren auf unseren Hof ein. Ich stelle den Motor ab, sehe Sophie prüfend an. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Sie räuspert sich, blickt mir in die Augen. Dann bewegen sich ihre Hände. Langsam und deutlich stellt sie die Frage: „Wie geht es den Tieren?“

Zum ersten Mal, seit ich zurück bin, lächele ich: „Seit wann erlaubt Mama hier so eine Menagerie. Einen Hofhund hat sie früher genehmigt. Hauptsächlich, weil wir hier draußen im Nirgendwo gebaut haben. Aber Katzen und Pferde?“

Sophie grinst verschmitzt „Mama dachte, ich brauche etwas, um das ich mich kümmern konnte, nachdem Papa von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Sie und Nathan mussten erst einmal damit klarkommen. Papa fehlte überall. Sie fand keine Zeit für mich. Deshalb glaubte Mama, es wäre hilfreich, wenn ich meine Tiere hätte.“ Ich schnaube verächtlich. Erstaunt sieht sie mich an. Sie kann nicht wissen, dass Nathan und ich unsere Mutter angebettelt hatten, Tiere zu halten. Wir bekamen stets die gleiche Antwort. Wegen meiner fragilen Gesundheit sei es nicht ratsam, Tiere zu halten. Diese Erwiderung machte mich bei Nathan nicht beliebter.

Besser ich wechsele das Thema. „Den Pferden geht es gut. Sie sind hinten auf der Weide. Zwei herrliche Tiere,“ informiere ich sie. „Die Katzen sind angeblich im Haus, hat Nathans Busenfreund Tobias Felter behauptet. Ich habe sie nicht gesehen. Die Hunde können wir jederzeit bei ihm abholen. Er hat uns zum Abendessen eingeladen. Das möchte ich mir wenn möglich nicht antun. Es sei denn, du willst unbedingt.“