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Zwei außergewöhnliche Frauen bereiten den Weg in eine neue Zeit. Die Anthropologin Christine Seifert stellt die Menschheitsgeschichte infrage – und gründet gemeinsam mit Dr. Reyes das Institut Pre-Anthropogenic Universal Locator. Kurz: P.A.U.L. – mit einem KI-basierten System zur Unterstützung zukünftiger, interdisziplinärer Forschung. Elin Bernau geht weiter. Sie bringt PAUL bei, sich selbst zu optimieren – um dem menschlichen Denken möglichst nahe zu kommen. Ein riskantes Experiment, das nur geduldet wird, weil man es für eine unbemannte Mission zum Jupitermond Europa benötigt. Projekte, die für sich bahnbrechend sind – im Zusammenspiel aber an menschlichem Unverständnis scheitern. Denn die Mikroorganismen unter Europas Eispanzer verstehen keine Worte, benutzen keine Werkzeuge. Sie sind nicht intelligent im menschlichen Sinne. Was also sollte man mit ihnen anfangen?
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Seitenzahl: 269
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Elins Mond
Von Frans Werper
Buchbeschreibung:
Zwei außergewöhnliche Frauen bereiten den Weg in eine neue Zeit.
Die Anthropologin Christine Seifert stellt die Menschheitsgeschichte infrage – und gründet gemeinsam mit Dr. Reyes das Institut Pre-Anthropogenic Universal Locator. Kurz: P.A.U.L. – mit einem KI-basierten System zur Unterstützung zukünftiger, interdisziplinärer Forschung.
Elin Bernau geht weiter. Sie bringt PAUL bei, sich selbst zu optimieren – um dem menschlichen Denken möglichst nahe zu kommen. Ein riskantes Experiment, das nur geduldet wird, weil man es für eine unbemannte Mission zum Jupitermond Europa benötigt.
Projekte, die für sich bahnbrechend sind – im Zusammenspiel aber an menschlichem Unverständnis scheitern. Denn die Mikroorganismen unter Europas Eispanzer verstehen keine Worte, benutzen keine Werkzeuge. Sie sind nicht intelligent im menschlichen Sinne. Was also sollte man mit ihnen anfangen?
Über den Autor:
Ich bringe langjährige persönliche Erfahrung in naturwissenschaftlicher Methodik, interdisziplinärem Denken und kultureller Beobachtung ein. Als freiberuflicher Ingenieur übernahm ich Fachbauleitung und Inbetriebnahme von Großprojekten im Anlagenbau. Überwiegend in Belgien, Nahost und Asien. Die Zusammenarbeit mit den Menschen dieser Regionen erweiterte meine Weltsicht und der daraus resultierende Gewinn ließ die starren Haltungen meiner deutschen Herkunft dahinschmelzen. Hatte ich mir in jungen Jahren nur Geschichten für meine Kinder ausgedacht, versuche ich es jetzt, im Ruhestand, mit welchen für Erwachsene. Stelle aber mit Bedauern fest, dass meine einstige Ausdruckskraft, um die sich meine Lehrer einst so sehr bemühten, durch das Sprachmischmasch im Ausland gelitten hat. Ich arbeite daran.
Elins Mond
Von Frans Werper
1. Auflage, 2025
© Alle Rechte vorbehalten.
A.R.Putke
Denkmalsweg 9
49152 Bad Essen
Selfpublishing-Dienst epubli (ein Unternehmen der Neopubli GmbH, Berlin).
1
Als angehende Archäologin konnte Christine Seifert sich dem medialen Rummel nicht entziehen. Ausgelöst hatte ihn eine bis dato unbekannte Autorin, der es auf knapp zweihundert Seiten gelungen war, die Ergebnisse steinzeitlicher Forschung wie Stückwerk erscheinen zu lassen – nicht plakativ, sondern in erstaunlich plausibler Form. Christine blieb gar keine andere Wahl als das so vollmundig beschriebene Buch zu kaufen. Es versprach ihre eigene Skepsis gegenüber der archäologischen Lehrmeinung zu unterstützen. Natürlich würde sie spekulativen auf Manipulation ausgerichteten Pseudofakten nicht auf den Leim gehen. Das überließ sie lieber der Verschwörungsgemeinde, die vermutlich einen Großteil der Leserschaft und den kommerziellen Erfolg der Autorin ausmachen würde. Als sie das Buch endlich in den Händen hielt und die Präambel las, staunte sie über die genaue Verortung der Geschichte. Tanezrouft in Algerien. Einer der trockensten Orte der Welt, archäologisch so gut wie unerschlossen. Vor hunderttausend Jahren wären die Hügel noch nicht abgeschliffen gewesen, sondern mit Gras, Büschen und Bäumen bewachsen, zwei große Seen in den Senken hätten für paradiesische Lebensbedingungen gesorgt. Skeptisch begann Christine zu lesen, die Welt der Autorin zog sie in sich hinein und ehe sie sich versah, konnte sie das Buch nicht mehr aus der Hand legen. ---„Tebo?“ Laut drang Akkos Ruf an Tebos Ohren. Er legte seinen neuesten Fund zu den anderen und beeilte sich zur etwas abseits gelegenen Hütte, wo sein Vater aus grauen, mit scharfen Kanten splitternden Steinknollen Speerspitzen für die Jagd herstellte – eine unzugängliche Stelle am Ortsrand, weit genug entfernt von den Plätzen, wo die Kinder spielten. Die scharfkantigen Stücke des Abschlags mussten liegen bleiben, damit Akko sich ein Stück aussuchen konnte, wenn eine der Frauen einen neuen Schaber benötigte oder kleinere Spitzen für die Wurflanzen gebraucht wurden. Aber nicht nur deswegen. Darunter ruhte seine kleine Schwester Biba – begraben mit einer Perlenkette und Akkos besten Speerspitzen, um auf diese Weise weiter am Wohl und Wehe der Familie teilzunehmen. Tebo hatte aus seiner Sammlung einen Stein dazugelegt, der mit seiner im Sonnenlicht vielfarbig irisierenden Oberfläche das Beste war, was er je gefunden hatte. Niemand würde je auf den Gedanken kommen, durch das von gefährlichen Splittern geschützte Heiligtum zu laufen oder den Abschlag von dort zu entfernen. Bis auf gelegentliches Schlagen und ein leises, ratloses Murmeln war es still hinter der Hütte. Akko saß dort, hielt einen schwarzen, schweren Stein in der Hand und starrte ihn mit einer Mischung aus Interesse und Abscheu an. Es war einer von jenen, die Tebo ihm neulich zur Begutachtung gegeben hatte. „Wo hast du die Steine gefunden? Gibt es dort noch mehr?“, fragte Akko, während er den Stein mit sichtbarem Widerwillen in die Splitter warf. „Wo das Wasser zwischen den Felsen hervorkommt. Bis zur Mulde im Sonnenaufgang, vom Grasland aus. Von der schwarzen Art waren es nur jene, die ich dir gab.“ Tebos Beschreibung des Ortes war klar und deutlich. Akko sah die Stelle vor seinem inneren Auge, und ihm grauste, als er sich an den Feuerschweif vom Himmel erinnerte, der im Winter vor Tebos Geburt genau dort niedergegangen war. „Warum fragst du?“, wollte sein Sohn wissen. „Kannst du etwas mit ihnen anfangen?“ „Sie sind schwer und splittern nicht. Dort, wo ich gegen sie schlage, weichen sie aus und glänzen, statt nachzugeben.“ Tebo wusste von Akko alles über die Herstellung von Jagdspitzen und Werkzeugen, und seine Erklärung war enttäuschend. Gern hätte er gefragt, ob sein Vater schon versucht hatte, einen der Brocken mit einem dicken, schweren Stein zu zertrümmern. Das ließ er lieber bleiben, denn es hätte den Anschein erweckt, dass er ihn nicht für klug genug hielt. Er nahm den Stein, der vor Akko lag, und schaute sich die glänzenden Stellen an. An einer dieser Stellen war eine glatte Fläche zu erkennen, die den Eindruck machte, als hätte sich der Brocken dort verformt. Er zeigte darauf. „Hast du das gemacht?“ „Ja, mit einem der großen Steine, den ich darauf schlug“, war Akkos knappe Antwort, bevor er nachdenklich ins Leere blickte. Ein deutliches Zeichen – das Thema war abgeschlossen, und Tebo entlassen. Zurück im Dorf sah er Yona seinen zweitbesten Stein in die Sonne halten. Mit einem leicht verzogenen Mundwinkel und dem geschlossenen Auge wirkte sie fast so mädchenhaft wie Lerke, die noch nicht bei den Frauen aufgenommen war. „Wenn du mich zum Beerensammeln begleitest und mir dein Geheimnis zeigst, schenke ich ihn dir.“ „Werde erst einmal erwachsen. Noch gehörst du nicht zum Kreis der Männer. Es ist mehr erforderlich, einer Frau zu gefallen, als eine in Stein abgebildete Muschel.“ „Lerke hat Spaß daran.“ Yona drehte sich kommentarlos um und ging zur Hütte der alten Rim. Tebo hatte das Feingefühl eines Wollnashorns. Lerke wollte nicht das Fell mit ihrem Ziehvater teilen. Seit dem Tod ihrer Mutter tat er alles dafür, es ihr schmackhaft zu machen. Der beste Jäger des Dorfes und ein verbissener Gegner der alten Rim, die für die Geschicke des Stammes verantwortlich war. Versteckte Drohungen aus seinem Mund musste sie ernst nehmen. Noch genoss sie den Schutz der Gemeinschaft. Mit ihren zwei Händen und drei Fingern gelebten Sommern konnte Borg sie auch nicht daran hindern, sich heimlich mit Tebo zu vergnügen. Wenn sich der Sohn von Akko an sie gewöhnt hätte, wäre sie vor ihrem respektlosen Ziehvater in Sicherheit. Tebos verdammte Steine splitterten nicht und waren widerspenstig wie die großen Böcke, die sie gelegentlich fingen, um fehlendes Jagdglück auszugleichen. Aber gerade darin könnte ihr Wert liegen. In den Nächten nach dem Gespräch mit seinem Jungen nahm in Akko ein verwegener Plan Gestalt an: Wenn sie sich nicht zurecht schlagen ließen, müsse man sie mit Beharrlichkeit formen. Seitdem schlug er tagelang aus den herumliegenden Steinsplittern unzählige schmale Sägen und Ritzer. Tebo, der das Geschehen erst belustigt wahrnahm, befürchtete schon, als es kein Ende nahm, dass es seinem Vater so ging wie dem alten Hanka, der auch nicht mehr wusste, was er tat. Wie sehr er sich täuschte, merkte er, als Akko ihn ganz liebevoll bat, neben ihm Platz zu nehmen. Einen der vor ihm liegenden Steine hob er auf, auf dessen Oberfläche sich eine deutlich glänzende Linie befand. Akko zeigte darauf und drehte dabei den Stein. Die Linie ging rundherum und grenzte den längsten flachen Teil auf Daumenbreite ab. „Hier entlang musst du sägen, bis das Stück sich teilt“, sagte er grinsend und wuselte Tebos Haare. „Danach sorge ich dafür, dass man dich bei den Männern aufnimmt.“ Es war eine mühsame Arbeit, bei der das Werkzeug schnell zerbrach, in die Finger schnitt und der Erfolg am Ende des Tages kaum sichtbar war. Aber unzerstörbar waren die Himmelssteine, wie sein Vater sie nannte, nicht. Der Sommer verging mit dieser Arbeit, ein langer Winter folgte, und erst im Frühling konnte Tebo seinem Vater voller Stolz die gewünschte Scheibe präsentieren. Erst an diesem Tage erzählte sein Vater am nächtlichen Feuer den Männern von den unzerstörbaren Steinen. Die Scheibe ging bei den Männern von Hand zu Hand, sie schätzten ihr Gewicht und bestaunten die Reflexionen des Feuers auf ihrer blanken Seite – die einen noch in erwartungsvollem Schweigen, die anderen schon unsicher über den Wert des seltsamen Materials diskutierend. Akko erzählte von seiner Absicht, gemeinsam mit Tebo ein Messer daraus zu machen, und dass er den Jungen gern im Kreis der Männer sehen wolle. Alle nickten dazu. Tebo würde mit seinen neuen Kenntnissen in die Fußstapfen seines Vaters treten. Wann man das Messer aus Himmelsgestein sehen würde, wollten sie wissen, und ob sich schon ein Mädchen für Tebo interessiere. Darüber ließen sie sich hitzig und bis zur Schlafenszeit aus. Die Frauen schwiegen, denn letztendlich würden sie zusammenfügen, was zusammengehörte. Für Tebo, der so viele Sommer alt war, wie Finger an drei Händen sind, war diese Nacht eine Verheißung. Hatte sich Yona bisher immer reserviert gegeben, lächelte sie ihm nun offen zu – nicht unbemerkt von ihrer Mutter, die dabei ein zufriedenes Gesicht machte. Yona war alt genug und würde mit Tebo an ihrer Seite in der Hierarchie einen guten Platz einnehmen. Sie wusste, dass Lerke, die älteste und vom besten Jäger angenommene Tochter, zu jung war, um sich heimlich mit Tebo im Wald zu vergnügen. Das musste abgestellt werden. Lerke war mit zwei Händen und drei Fingern zu jung und konnte noch nicht einmal ihre monatliche Veränderung vorweisen, durch die sie erst zur Frau wurde. Yona saß zwischen ihrer Mutter und der alten Rin, die manchmal erzählte, wie die Menschen einst mit den Tieren gesprochen hätten. Doch heute schwieg selbst Rin. Alle Blicke waren auf Tebo und seinen Vater gerichtet – auf die dunkle Scheibe, die in der Glut glänzte wie Wasser bei Sonnenaufgang. Sie kannte Tebo, seit sie laufen konnte. Er war wie ein Stein in einem vertrauten Flussbett – immer da, manchmal übersehen, aber nie ganz vergessen. Seit dem letzten Winter war er zurückhaltender geworden, hatte oft allein gesessen, an der Scheibe gearbeitet, Dinge gesucht, die andere nicht sahen. Viele Jungen jagten oder prahlten. Tebo war still und schien mehr zu denken – sie dabei gar nicht mehr zu sehen. Als er ihr in dieser Nacht kurz in die Augen sah, erkannte sie ihn als den Mann, dessen Umarmung ihr Glück sein könnte. Ein warmes, wunderbares Gefühl durchströmte sie von den Leisten bis in die Haarwurzeln. Lerke hockte etwas abseits vom Kreis der Männer – nahe genug, um alles zu hören, aber nicht so nah, dass jemand sie direkt ansah. Ihre Augen klebten an der Scheibe in Tebos Hand – doch nicht aus Ehrfurcht. Sie gehörte weder ihm allein noch seinem Vater, dachte sie trotzig. Sie gehört uns beiden. So wie wir unsere Körper teilen, wenn niemand hinsieht. --- Christine schmunzelte und ließ das Buch sinken. Für sie las es sich wie eine ganz normale Beziehungsgeschichte, die auch in heutiger Zeit so hätte ablaufen können.. Kaum zu glauben wie selbstverständlich diese urzeitlichen Menschen über Liebe, Rivalität und Neugier von der Autorin gezeichnet waren. Wäre sie selbst so wie Yona oder eher wie Lerke gewesen? Wohl eher wie Yona, ihren Lerke-Anteil hielt sie gut versteckt. Die Idee vom Matriarchat war super. Endlich mal weg vom Bild des Jägers und der Frau am Feuer. Es war doch logisch, dass die Menschen dieser Zeit darauf angewiesen waren sich alle Aufgaben zu teilen und weil Frauen gründlicher nachdachten, mussten sie auch die Geschicke des Stammes lenken. Dass die Steinzeitmenschen bei ihrer Suche nach Feuersteinen auf einen Eisenmeteoriten stießen, war genauso plausibel wie ihre Neugier. Luzia Wrobels Vergleich mit dem Paradies gar nicht so abwegig, denn die Lebensbedingungen waren in Warmzeiten nicht so schlecht wie in glazialen Zeiten. Aber jetzt war sie erst mal darauf gespannt, was sich die Autorin für Lerke, Yona und Tebo ausgedacht hatte.
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Lerke kannte Tebo anders: leise, oft verträumt. Manchmal fast schwerfällig, wenn er über Steine redete. Aber wenn sie allein waren, hatte er eine andere Energie. Wild. Direkt. Seine Hände wussten, wohin sie greifen sollten. Wie die eines Jägers, dachte sie, und dabei schlich ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht. Doch das Lächeln verschwand, als sie Yona bemerkte. Still, aufrecht, mit diesem ruhigen Blick. Und dann – das Lächeln, das sie Tebo schenkte. Und Tebos Blick zurück. Nichts in der Körperhaltung, keine Geste – aber etwas in der Luft zwischen ihnen hatte sich verändert. Lerke spürte es wie Kälte im Schatten. Sie wollte aufspringen, etwas sagen, ihn zu sich winken. Doch sie wusste, das wäre töricht. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Und schlimmer noch – ihr Vater saß am Feuer. Der beste Jäger des Stammes. Groß, wortkarg, streng. Er hatte sie gewarnt. Nicht mit Worten, sondern mit Blicken. Einmal hatte er Tebo lange angesehen, nachdem sie beide von einem Beerensammeln zurückgekehrt waren. Seitdem sprach er Tebos Namen nicht mehr aus. Er wartete. Beobachtete. Seit dem Tod ihrer Mutter versuchte er geschickt dafür zu sorgen, dass sich die Dinge in seinem Sinne fügten. In der Dunkelheit krallte Lerke ihre Finger in das trockene Gras, das ihre Beine streifte. Yona spielt mit Feuer, dachte sie. Aber ich weiß, wo es brennt.
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Christine schmunzelte über Lerkes Gedanken. Zu wissen, wo es brennt, war eine ihrer frühesten Erkenntnisse. Gleich neben der Hartnäckigkeit, mit der die Boyfriends ihrer Teenagerzeit das Feuer suchten. Die fürsorglichen Mahnungen ihrer Mutter klangen immer noch in ihren Ohren. Der Reiz des Verbotenen hatte die Verlockung nur noch verschärft. Wie mochte Tebo ausgesehen haben? Soviel Zeit hätte sich die Autorin doch nehmen können, ihn zu beschreiben. Wenn sich gleich zwei junge Frauen zu ihm hingezogen fühlten, war er vermutlich schlank und kräftig. Mit gutgeschnittenem verwegenem Gesicht und wegen seiner Nachdenklichkeit geheimnisvoll wirkend. Die Merkmale um einen Jungen reizvoll erscheinen zu lassen werden sich in den vergangenen hunderttausend Jahren kaum verändert haben. Jetzt musste sie aber erst einmal weiterlesen. ---
Tebo fand in dieser Nacht keinen richtigen Schlaf. Nicht nur wegen Yonas Lächeln. Oder der baldigen Aufnahme als Mann. Er überlegte, welche Steine am besten für die Verformung der Scheibe geeignet waren. Das glatte, weiße Geröll aus den Bächen könnte geeignet sein – es würde beim Draufschlagen nicht so leicht zersplittern. Einen dicken, abgeflachten Kiesel zum Darauflegen und einen kleineren, um das zähe Material zu verformen – vorausgesetzt, er hätte die Kraft dazu. Würde sich die Scheibe genügend dehnen lassen oder irgendwann zerbrechen? Dieser Gedanke durchzog ihn kalt und ließ ihn frösteln. Besser wäre es, seine Überlegungen in Richtung Yona zu lenken. Ob sie genauso unkompliziert wie Lerke war? Über seine begehrlichen Fantasien schlief er ein. Träumte, sie beim Bad zu beobachten und ihr ins Wasser zu folgen – etwas unterhalb der Stelle, die er seinem Vater beschrieben hatte. Warum sie gerade diese Stelle wählte, war ihm egal. Aber der tückische Traum ließ keine Ablenkung zu und verdrängte Yona noch, bevor es interessant werden konnte. Gerade sagte Yona noch: Wenn er ein Mann werden wolle, müsse er den anderen Himmelsstein zum Schlagen benutzen. Dann sah er sich am Ufer sitzen, mit dem dickeren Teil des Brockens, von dem er mühsam die Scheibe geschnitten hatte, auf diese einzuschlagen – mit der abgeflachten Seite. Er spürte die Wucht der Schläge in den Handgelenken und die zunehmende Ermüdung seines Armes. „Komm ins Wasser“, rief Yona ihm zu – am seichten Ufer stehend, aufgerichtet, und ihm so einen Blick auf ihren verführerischen Körper präsentierend. Tebo erwachte. Und genauso ging es die ganze Nacht weiter. Im ständigen Wechsel von erregenden Momenten mit Yona, Lerke und der Herstellung des Messers aus unzerstörbarem Stein.
Nach dem langen Winter waren die Vorräte in der ausgehobenen Grube fast aufgebraucht. Sie hatten nicht nur die Familien ernährt, sondern auch eine Vielzahl von Nagetieren. Es hatte keinen Zweck mehr, Früchte, Wurzeln und Nüsse für den Winter einzulagern – die Tiere vermehrten sich rasant, sobald es etwas zu fressen gab, und fraßen dann umso mehr. „Wir sollten die Grube einmal richtig ausräuchern“, schlug Borg der alten Rim vor. „Die Tiere scheuen das Feuer – sie riechen es, lange bevor wir etwas bemerken. So werden wir auch die Krabbler los, die überall ihre Eier legen. Im Sommer stinkt es darin.“ „Dann nutzen wir sie gar nicht“, erwiderte Rim giftig. Doch sie wusste, dass er recht hatte. „Lass uns einen Kompromiss schließen“, sagte Borg mit eiserner Ruhe. „Du sprichst mit deiner Enkelin Mali – ob sie mich als Gefährten wählt. Und ich lege eine zweite Grube an und räuchere sie aus. Niemand verliert dabei.“ An Ansehen schon, dachte Rim. Aber Borgs Vorschlag war vernünftig. Für die Gemeinschaft machte er mehr Sinn als ihre persönliche Abneigung.
Einen viel schlechteren Zeitpunkt hätten die ausgezehrte, von Strapazen gezeichnete Gruppe von Fremden, die sich zögernd den Hütten näherte, kaum vorfinden können. Zwei Mädchen, die schon bald zu den Frauen gehören würden, einander so ähnlich, dass man sie nicht voneinander unterscheiden konnte, ein etwas älterer Junge und ihre Eltern – so vermutete Tebo. Noch nie hatte er Menschen gesehen, deren Haut so hell war. Und dass es goldenes Haar wie bei den Mädchen geben könnte, lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Er sah die alte Rin auf die Ankömmlinge zugehen. Nur sie durfte entscheiden, wie man mit den fremdartigen Menschen, deren ungewöhnliche Hautfarbe in die Augen biss, umgehen würde. Gelassen blieb sie vor der großgewachsenen Frau stehen. Diese schüttelte den Kopf und zeigte auf den neben ihr stehenden Mann mit langen, tiefschwarzen Haaren. Seine Augen waren klar und von irritierender grüner Farbe. „Umo“, sagte er und legte eine Handfläche auf seine Brust. Rin tat es ihm gleich, deutete mit Gesten an, etwas zu essen, und schüttelte den Kopf. Er zuckte mit den Schultern, beugte sich gelenkig vor, berührte mit beiden Handflächen den Boden und schaute sie fragend an. Rin zögerte. Begutachtete gründlich, was sie mit sich führten. Dann ließ sie sich einen der gebogenen, langen Stöcke geben, deren Enden mit einer stramm gespannten Sehne verbunden waren. Mit herausforderndem Blick hielt sie ihn Grünauge hin, der sofort verstand, was sie wollte. Umo ließ kurz seine Augen schweifen. Sie fanden einen der großen Fischfängervögel auf dem Ast eines abgestorbenen Baumes. Sofort nahm er einen dünnen, langen Stab aus der Hülle auf seinem Rücken und legte ihn beim Heben des Bogens in die Sehne. Ein fließender Bewegungsablauf, dessen Anmut ihren Höhepunkt erreichte, als er die Sehne bis zu seinen Wangen spannte und zurückschnellen ließ. Sirrend verschwand der Stab und durchbohrte den ahnungslosen Vogel, der wie ein Stein zu Boden fiel. Rin nickte lächelnd und wies mit dem Finger zur alten Feuerstelle, die fortan Umo und seinen Leuten gehören sollte. Lerkes Ziehvater Borg beeilte sich, den Vogel zu holen, und begutachtete noch auf dem Rückweg die Spitze des fast fingerdicken Stabes. Umo nahm den Vogel nicht an, sondern begab sich sofort zum angewiesenen Platz und begann, ein Zelt aufzubauen. Verwirrt von der Flut so vieler neuer Eindrücke zog sich Tebo in die Hütte zurück, legte sich auf sein Fell und starrte mit offenen Augen an die Decke. Für die ursprüngliche Absicht dicke, Kieselsteine für die Arbeit an der Steinscheibe zu suchen, war in seinem Kopf kein Platz mehr. An das faszinierende Jagdwerkzeug denkend, fragte er sich, wie man nur auf solche Ideen kommen konnte. So selbstverständlich wie Umo damit umgegangen war, könnte es da, wo er herkam, noch viel mehr praktisches Wissen geben. Anders als im eigenen Stamm schien bei ihnen der Mann das Wort zu haben. Wie konnte das mit der Partnerwahl funktionieren? Frauen würden sich doch nicht auf Kommando mit einem Mann einlassen, der ihnen nicht gefiel. Und Mädchen, die sich bis aufs Haar gleichen, waren genauso unfassbar wie ihre blauen Augen. In seinen Gedanken ging alles drunter und drüber. Er bewunderte die alte Rin, die bei all dem so gelassen geblieben war.
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Christine strich sich triumphierend die ins Gesicht gefallene Haarsträhne zurück. Da war sie, die erste Schummelei. Sie nippte an ihrer Teetasse und schüttelte sich. Bä, der war ja kaltgeworden. Sie legte das Buch beiseite, um ihn auszuschütten. Auf dem Weg in die Küche kramte sie in ihrem Gedächtnis. Vor hunderttausend Jahren gab es noch keine Bögen, frühesten vor dreißigtausend. Wo sollte der mysteriöse Umo mit heller Haut und seiner Jagdwaffe überhaupt hergekommen sein? Blonde Mädchen mit blauen Augen dürften ebenfalls sehr fragwürdig sein. Die DNA-Analyse von Knochenfunden aus Sibirien bewiesen, dass die dafür erforderliche Mutation erst vor siebzehntausend Jahren stattgefunden hatte. Eigentlich schade, dass die Seifenblase so schnell platzte, aber weiterlesen könnte sie trotzdem.
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2
Umos Geschick mit der Jagdwaffe fand in Borgs Augen Anerkennung – noch viel mehr die Rollenverteilung in seiner Familie, wo sich die Frauen offensichtlich den Männern unterordnen mussten. Außerdem waren die beiden Mädchen eine gute Alternative zu Lerke und Mali. Wenn es nach ihm ging, würde er beide nehmen. Sie kannten ja nichts anderes als sich zu fügen. Er grinste bei der Vorstellung, wie die alte Rim dann überschnappte. Wenn er Umo davon überzeugen könnte, dass die Spitzen von Waffen gezackt sein mussten, um große Wunden zu reißen, wären sie bei der Jagd unschlagbar. Die tief eindringenden Pfeile würden für Blutverlust sorgen und das Wild ermüden, ohne das sie selbst in Gefahr gerieten. Die enorme Lebensenergie waidwunder Tiere durfte man nie unterschätzen. Aber zuerst müssten sie sich gegenseitig ihre Sprache beibringen. Tebos Betrachtungen waren anderer Art, aber in Bezug auf die andersartigen Mädchen nicht weniger praktisch. Er würde ihnen die Umgebung, die besten Badestellen und seine gesammelten Steine zeigen. Vielleicht könnte er eine von ihnen mit dem Muschelstein zu einem gemeinsamen Bad überreden. Das Messer würde ihm nicht davonlaufen. Umos Frau Lila hoffte dass die Alte, von der sie in Empfang genommen wurden auf ihren Führungsanspruch pochen, und ihren Mann dazu zwingen würde, die Führungsrolle der Frauen anzuerkennen. Für Klok, der wie sein Vater Umo stolz und unbeugsam in einer Männerwelt aufgewachsen war, gab es nicht den geringsten Zweifel, dass die ältere der beiden jungen Frauen bald sein Fell mit ihm teilen würde. Dort, wo Nana und Wenu herkamen, gab es viele Mädchen und Jungen in ihrem Alter. Man ging gemeinsam zur Schule und verbrachte die Nachmittage mit Freunden, spielte trotz Verbote mit dem Feuer, ohne sich festzulegen, oder ging ins Badehaus, wo es allerlei zu beobachten gab. Mit der kindlichen Lerke, der hochnäsigen Yona, der dümmlichen Mali und dem naiven Tebo hatte ihr mögliches Beziehungsleben einen Tiefpunkt erreicht. Nur Klok schien der Abstieg zu gefallen – aber Männer waren sowieso nicht durchschaubar In der Atmosphäre von Hilfsbereitschaft, subjektiven Erwägungen und Argwohn fanden die Neuankömmlinge ihr neues Zuhause. Sie lernten die Sprache und bemühten sich, in der Gemeinschaft aufzugehen. Den ganzen Tag schon saß Akko untätig an der Hütte, wo er sonst seine Steine schlug – schweigsam und nachdenklich. Jetzt, als Tebo sich mit einem zufriedenen Seufzer auf das Fell neben ihn plumpsen ließ, sagte er ruhig, ohne ihn anzusehen: „Tebo, ich sorge mich. Du hast den Pfad verlassen und dich verlaufen.“ Tebo war überrascht. Akko sprach selten so bildhaft. Meist gab er kurze Anweisungen und hielt keine Reden. „Welchen Pfad meinst du?“ Akko hob ein Stück Holz auf und betrachtete konzentriert die Maserung. Strich mit dem Finger darüber. „Den, auf dem aus einem Kind ein Mann wird.“ Tebo schwieg. Akko legte das Holz zur Seite und suchte Tebos Blick. „Du weißt, wie Lerke dich angesehen hat. Und auch Yona, obwohl sie sich nie aufdrängte. Beide waren bereit, mit dir den schweren Weg durchs Leben zu gehen. Jetzt meiden sie dich – gekränkt, weil du sie nicht wolltest.“ „Du meinst wegen Wenu? Oder Nana?“, murmelte Tebo, der plötzlich verlegen wurde. Akko nickte. „Sie sind anders. Ihr Vater hat Regeln, die du nicht verstehst – noch nicht. Und selbst wenn: Für sie bist du ein junger Mann, der noch nicht einmal sein erstes Werkzeug fertigbringt. Sie schauen nicht auf dein Gesicht, Tebo, sondern auf das, was du zustande bringst. Und in ihren Augen wäre selbst das Messer nichts Besonderes.“ Tebo senkte den Blick. Das Messer. Er hatte es seit Tagen nicht mehr angerührt. „Aber… sie lachen, wenn ich bei ihnen bin.“ „Vielleicht lachen sie über dich. Aber selbst wenn es nicht so ist: Lachen ist wie der Gesang eines fernen Vogels.“ Von den Hütten waren nur noch die Stimmen spielender Kinder zu hören. „Habe ich zu viel vom Leben gewollt?“, fragte Tebo schließlich. Akko atmete tief durch. „Nein. Du hast zu wenig zu Ende gebracht.“ Tebo schwieg betroffen. Dann nickte er. „Ich mach das Messer fertig und zeige allen, wo ich hingehöre.“ Akko legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach das, damit du auf andere Gedanken kommst – und dich wieder im Wasser spiegeln kannst.“ --- Nach dem langen Abschnitt musste Christine das Gelesene erst mal verinnerlichen, am besten ging das mit einem Stück Schokolade. Dabei fragte sie sich wie die Autorin sich, ohne Fachkenntnisse, so überzeugend in das Leben des Stammes und den sozialen Gepflogenheiten gegenüber den Ankömmlingen hineinversetzen konnte. Stimmungen waren wegen mangelnder Aufzeichnungen nicht recherchierbar. Ihr gefiel auch der Mut, sich über die Ursprünge der Landwirtschaft hinwegzusetzen, die angeblich erst vor zwölftausend Jahren begann. Wenn sich die Geschichte schon vor über hunderttausend Jahren abspielte, wäre ihre Darstellung eines sesshaften Stammes schlichtweg falsch gewesen. Andrerseits folgerte sie aber vollkommen berechtigt, dass es zur Warmzeit, mit üppigem Nahrungsangebot, für Tebos Stamm keinen Grund für Wanderungen gegeben hätte. Luzia Wrobel balancierte ihren Text haarscharf am Rand des Möglichen. Ob sie das durchhielt oder im Laufe ihrer Erzählung ins Fantastische abdriftete, würde sich vielleicht schon in den nächsten Seiten herausstellen. ---Die Arbeit am Messer brauchte noch den ganzen Sommer und den darauffolgenden Winter, bevor es in glänzender Pracht, poliert und scharf geschliffen, durch die Hände der Männer ging. Noch ohne Griff, aber Umo wollte Tebo zeigen, wie man es anstellte, ihn so dauerhaft anzubringen, dass er allen Belastungen standhalten würde – mit demselben Holz, aus dem seine Pfeilspitzen waren. Es wäre so hart, dass es im Wasser unterging und bei der Jagd sogar Knochen durchdrang. Noch bevor es so weit kam, wurde Tebo festlich in den Kreis der Männer aufgenommen. Schon lange hatte er keine Blicke mehr mit den vier jungen Frauen getauscht, und auch nach der Zeremonie hielt er sich damit zurück. Stattdessen lauschte er atemlos den Erzählungen Umos, der zum ersten Mal von seiner Heimat sprach. „Unser Land war von Wasser umschlossen.“ Begann er. „Ein rauchender Berg spie manchmal Staub, Steine und Feuer. Es gab drei Siedlungen jede fast so groß wie einer eurer Seen. Manchmal, wenn der Wind günstig stand, kamen unzählige kleine Boote mit Kriegern vom Festland, um uns zu berauben. Sie waren tapfer und die Kriege mit ihnen blutig. Ohne unsere Bögen und Eisenklingen wären wir ihnen nicht gewachsen gewesen. Wir wollten uns nicht vertreiben lassen, denn unsere Geschichtenerzähler berichteten, dass unsere Ahnen schon einmal ihre Heimat verloren hatten. Einige Kaufleute, meine Frau, die beiden Mädchen und ich waren auf einem anderen vom Wasser umringten Land, als eine riesige Welle kam. Nur der Umstand, dass wir auf einer Anhöhe Gäste anderer Kaufmänner waren, rettete unser Leben. Als unser Boot zurückkehrte, fanden wir kein Land mehr, nur Wasser, endloses Wasser. Alles war verschlungen. Freunde, Nachbarn, selbst die Ahnenstätten – ausgelöscht.“ Er erzählte von steinernen Häusern und Werkzeug aus Eisen, wie er den Himmelsstein nannte, die etwas ganz Alltägliches waren. Keine Mäuse, die Vorräte fraßen, weil sie sich in Gefäßen befanden, die ihren nagenden Zähnen widerstanden. Und von Tieren, die wie kleine Antilopen aussahen und das ganze Jahr in Gehegen gehalten wurden, um dem Besitzer jederzeit eine Fleischmahlzeit zu ermöglichen. Von einer Reise über ein endlos erscheinendes Wasser und von trostlosen, ausgetrockneten Landschaften, die sie durchwandern mussten, um endlich in diesem fruchtbaren Land anzukommen. „Häuser aus Stein?“, fragte die alte Rim ungläubig. „Ja“, antwortete er. „Ich kann euch zeigen, wie man sie baut. Auch, wie ihr Gefäße für Nahrungsmittel oder Wasser herstellt. Morgen will ich mit dem Bau meines Hauses beginnen. Wenn wir uns gegenseitig helfen, sieht es hier bald so aus wie in meiner versunkenen Heimat – und glaubt mir, selbst das schlimmste Unwetter kann gegen Steinhäuser nichts ausrichten.“ Der alten Rim wurde klar, dass die Zeit der Frauen vorbei war und Umo die Führung des Stammes übernehmen würde – Borgs Anspruch einfach beiseiteschiebend, weil er außer seinem Jagdgeschick nichts entgegenzusetzen hatte. Zum Wohle aller, wie sie sich eingestand. Sie seufzte – ihre Zeit wäre auch bald abgelaufen. „Ihr scheint ja schon zu wissen, wie sich Erdlöcher dauerhaft verfestigen lassen“, fuhr Umo fort. „Eine der Vorratsgruben ist ja bereits mit gebranntem Lehm ausgekleidet. Wenn wir die Wände mit Kalk überziehen und ihr ein Dach geben, kann sie auch im Sommer von Nutzen sein.“ Borg, der nach dem Ausräuchern selbst über die festen Wände erstaunt war, sonnte sich im anerkennenden Blick der alten Rim. Nach außen hin war man geschlossen. --- Christine überlegte. Das untergegangene Land mit dem Vulkan könnte eigentlich nur zu den Kanarischen Inseln gehört haben. Möglich wäre so ein Ereignis gewesen, sie müsste mal googeln oder einen Geologen von der Uni fragen. Damit käme die Reise von Umos Familie in den Bereich von Plausibilität. Das konnte sich die Autorin doch nicht aus den Fingern gesaugt haben. Von einer vulkanisch verschütteten Hochkultur im Meer der Kanarischen Inseln wären keine Artefakte mehr auffindbar. Vielleicht war die Seifenblase ja doch nicht geplatzt, und Luzia Wrobel hatte mit Umos Geschichte einen verborgenen Nerv der Wirklichkeit getroffen. Aber wenn die Leute in Tanezrouft wirklich Häuser aus Stein bauten, müssten doch Reste davon ihre ehemalige Anwesenheit bezeugen. Wie lange hielten gebrannte Lehmziegel? In Mesopotamien fand man, welche die fünftausend Jahre alt waren. Könnten sie wohl hunderttausend Jahre im Wechsel von trockenem und feuchten Klima überdauern? Vielleicht müssten Archäologen statt nach Ziegeln nach Konglomeraten ihrer Zusammensetzung fahnden. Die Schriftstellerin verlangte ihren Lesern eine Menge ab, nicht nur fachlich, sondern auch die Dichte ihre Schilderungen war extrem hoch. Selbst wenn sie versuchte, einfache Erklärungen zu liefern, musste jeder Satz gründlich durchdrungen werden. Das war kein Buch, das man mal eben so weg las. Vielleicht war genau das die Absicht. Dass man stolperte, grübelte, nicht einfach durchflog. Und womöglich steckte in Frau Luzia Wrobel nicht nur die nüchterne Erzählerin, sondern auch eine Rebellin, die den gelehrten Stimmen von Fachleuten ein kleines Schnippchen schlagen wollte. Eine schöne Prise Aufsässigkeit also. Und das machte sie sehr sympathisch.
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Tebo war jetzt selbst ein Mann und würde eine eigene Unterkunft benötigen. Sofort bot er an, Umo beim Hausbau zu helfen. Mit dem, was er bei ihm lernte, könnte er ebenfalls ein Steinhaus bauen. Er staunte über Umos Zielstrebigkeit und seine genauen Kenntnisse über das Vorkommen der benötigten Materialien. Er schien mit der Planung schon früh begonnen und die Örtlichkeiten gründlich abgesucht zu haben. Er führte Tebo zu einer Stelle, wo sich unter der Oberfläche einer feuchten Senke ein grauer, fast klebriger Boden befand, der einige Schritte weiter ins Gelbliche überging. Er gab Tebo eines der mitgenommenen flachen Holzstücke und forderte ihn auf, genau dabei zuzuschauen, was er jetzt machen würde. Von der Stelle mit der zäh haftenden, gelben Erde holte Umo dicke Batzen und breitete sie vor Tebo aus. Das machte er so oft, wie Tebo Finger hatte. Danach machte er dasselbe mit der grauen, klebrigen Erde. Tebo zählte drei Finger. „Das musst du dir gut merken“, sagte Umo und zeigte erst zwei Hände und im Anschluss daran drei Finger. Dann begann er, den Haufen durchzukneten, bis es keine Farbunterschiede mehr gab. Dann teilte er den Klumpen in fünf gleichgroße Portionen und formte geschickt mit Händen und dem Holzstück gleichmäßige Körper, wobei ihm das Brett als Maß diente. Das sah einfach aus. Aber der Sinn des Ganzen erschloss sich Tebo nicht. Noch bevor er fragen konnte, kam der Rest von Umos Familie mit genau denselben Brettern und begann, Haufen aus der naheliegenden gelben Stelle zu sammeln. „Das ist die eigentliche Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt“, erklärte Umo. „Je mehr Leute mithelfen, umso schneller wird ein Haus fertig.“
