Ellbogen - Fatma Aydemir - E-Book

Ellbogen E-Book

Fatma Aydemir

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Beschreibung

Sie ist siebzehn. Sie ist in Berlin geboren. Sie heißt Hazal Akgündüz. Eigentlich könnte aus ihr eine gewöhnliche Erwachsene werden. Nur dass ihre aus der Türkei eingewanderten Eltern sich in Deutschland fremd fühlen. Und dass Hazal auf ihrer Suche nach Heimat fatale Fehler begeht. Erst ist es nur ein geklauter Lippenstift. Dann stumpfe Gewalt. Als die Polizei hinter ihr her ist, flieht Hazal nach Istanbul, wo sie noch nie zuvor war. Warmherzig und wild erzählt Fatma Aydemir von den vielen Menschen, die zwischen den Kulturen und Nationen leben, und von ihrer Suche nach einem Platz in der Welt. Man will Hazal helfen, man will mit ihr durch die Nacht rennen, man will wissen, wie es mit ihr und mit uns allen weitergeht.

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Erst ist es nur ein geklauter Lippenstift. Dann stumpfe Gewalt. Die siebzehnjährige Hazal ist verletzlich und grob, voller Energie und unnütz selbst in Billigjobs, überschäumend vor Hoffnungen und Ängsten. Eigentlich könnte aus ihr eine gewöhnliche Erwachsene werden. Nur dass ihre aus der Türkei eingewanderten Eltern sich in Deutschland bis heute fremd fühlen. Und dass Hazal auf ihrer Suche nach Heimat fatale Fehler macht. Als sie ein echtes Verbrechen begangen hat, flieht sie von Berlin nach Istanbul, das sie bisher nur aus dem türkischen Fernsehen kennt. Was wird aus Hazal? Wer ist sie, wer kann eine junge Frau wie sie überhaupt sein? Ellbogen erzählt die Geschichte von Hazal und ihren besten Freundinnen in Berlin, die alle um ihren festen Standpunkt im Leben kämpfen. Und Ellbogen erzählt die Geschichte einiger Männer und Frauen im zum Zerreißen angespannten Istanbul dieser Jahre, in dem die Suche nach Halt fast aussichtslos erscheint. Lustig und traurig, wütend und zart stellt Fatma Aydemirs Debütroman eine große Frage: Was kann in dieser Welt aus einem Mädchen wie Hazal schon werden? Und gibt eine ebenso große Antwort: Alles.

Hanser E-Book

FATMA AYDEMIR

ELLBOGEN

Roman

Carl Hanser Verlag

Die Autorin dankt der Robert Bosch Stiftung und dem Literarischen Colloquium Berlin fur ein Grenzgänger-Stipendium, sowie der Kunststiftung Baden-Württemberg.

ISBN 978-3-446-25595-1

© Carl Hanser Verlag München 2017

2. Ebookversion 2022

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Motiv: © planipicture / Martin Brenner

Alle Rechte vorbehalten

Satz im Verlag

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

TEIL EINS

EINS

Hätte Desiree mir nicht mit ihren langen, sauberen Fingern jeden Lippenstift und Nagellack einzeln vorgeführt, wäre ich niemals auf die Idee gekommen zu klauen. Es war Sommer, das weiß ich noch genau, denn Desiree trug hellblaue Hotpants und die auf ihren Beinen glänzenden Härchen standen aufrecht, weil die Klimaanlage den Supermarkt in einen großen Kühlschrank verwandelt hatte. Obwohl ich erst sieben war, wusste ich, dass ich so kurze Hosen niemals würde tragen dürfen. Und ich wusste auch, dass Mama mir niemals erlaubt hätte, einen Glitzerlippenstift zu kaufen. Desiree aber hatte einen Geldschein in der Hand und musste sich nur noch für eine Farbe entscheiden. Sie nahm den pinken Lippenstift, klar, denn Desiree war blond und hielt sich für Barbie. Eigentlich sah sie tatsächlich ein bisschen aus wie Barbie, doch das habe ich ihr nie gesagt. Das Leben war schon gut genug zu Desiree.

Ich begleitete sie bis fast an ihre Haustür. Desirees Mutter stand schon auf dem Balkon, die Hände in den Hüften. Sie war groß, extrem dünn und immer ein bisschen braun gebrannt. Keine Ahnung wieso, wahrscheinlich fuhren sie oft in den Urlaub. Sie trug ein enges Tanktop und keinen BH darunter, so dass man immer nur Titten sah, wenn man an Desirees Mutter dachte. Die Titten waren viel kleiner als die von Mama, aber nicht spitz, sondern rund wie zwei Tennisbälle, eigentlich ganz hübsch. Desirees Mutter rief uns mit strengem Blick zu, dass die Familie nun zu Mittag essen würde. Desiree nickte, schaute mich an und winkte mir zum Abschied. Sie winkte, obwohl ich neben ihr stand. Nie habe ich Desirees Wohnung von innen gesehen, aber oft habe ich mir vorgestellt, wie es drinnen aussehen könnte.

Danach ging ich wieder zurück zum Supermarkt und ließ den Lippenstift unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden. Ich kann nicht sagen, was ich mit ihm vorhatte, ich glaube, es ging nur darum, ihn zu besitzen, ab und zu daran zu riechen. Denn auftragen konnte ich ihn auf keinen Fall, Mama hätte mir dafür direkt eine Schelle verpasst. Als ich an der traurigen Kassiererin mit dem Damenbart vorbeischlich, senkte ich meinen Blick und konzentrierte mich auf die Fliesenrillen. Draußen rannte ich die dreihundert Meter nach Hause, als müsste ich dringend aufs Klo, schloss mit dem Schlüssel, der an einem dunkelblauen Faden um meinen Hals hing, die Tür auf, sprang die Treppenstufen in den ersten Stock hoch, schloss die Wohnungstür auf, lief direkt in unser Kinderzimmer und hielt den Lippenstift Onur stolz vor die Nase. Onur schenkte mir nur einen fragenden Blick und spielte weiter mit seinen beschissenen Legosteinen.

Dann stand Mama in der Tür. Sie starrte auf die glitzernde Packung in meiner Hand und fragte, was das sei. Ich sagte: »Ein Lippenstift.« Sie wollte wissen, wo ich ihn herhatte. »Tante Semra hat mir fünf Euro geschenkt, morgens, als ich sie vor der Bäckerei getroffen habe«, log ich. Mama glaubte mir natürlich kein Wort. Niemals hätte Tante Semra mir einfach so fünf Euro geschenkt, wieso auch. Es war weder mein Geburtstag noch irgendein Bayram. Keiner schenkt einem einfach so fünf Euro auf der Straße, zwei vielleicht, ja, eine Zweieuromünze kann man mal hergeben. Aber einen Schein? Niemals.

Als Mama schon den gelben Telefonhörer abnahm, um Tante Semra anzurufen, legte ich meine kleine Hand auf die schwarze Auflegetaste und sagte es ihr. »Ich habe ihn geklaut.« Ich sagte es so schnell, dass ich kurz selbst darüber erschrak. Dann kamen mir die Tränen. Einfach so.

Mama knallte den Hörer hin und flippte völlig aus. Sie hasst es, wenn ich weine, das ist heute noch so. Sie sagt, ich weine immer nur, wenn ich schuldig bin. Sie nennt das Krokodilstränen. Ein komisches deutsches Wort, das sie aufgeschnappt hat und übertrieben gerne benutzt. Wahrscheinlich gefällt ihr das Bild: Weinende Krokodile, die in Schuldgefühlen schwimmen. Mit ihrem schweren plüschigen Nuttenpantoffel in der Hand scheuchte sie mich durch die ganze Wohnung und rief: »Du verdammtes Hurenkind!«Ich sprang auf die samtene Blumencouch, von dort auf den Sessel mit dem Brandloch, ich rannte ins Kinderzimmer und verkroch mich in der hintersten Ecke des Raums. Mama blieb schnaufend vor mir stehen. Es dauerte keine zwei Sekunden und sie fing selbst an zu heulen. Da wusste ich: Okay. Ich habe wirklich große Scheiße gebaut.

Mama rannte in die Küche und kam mit dem größten Messer zurück, dem, mit dem mein Vater immer das Fleisch schnitt. »Mit welcher Hand hast du geklaut?«, brüllte sie. »Links oder rechts?« Ich versteckte die Hände hinter meinem Rücken und schob sie in den Spalt zwischen Heizung und Fensterbrett. Ich schluchzte und schrie, ich rief, ich würde es nie wieder tun. Aber Mama hörte nicht auf. Sie fragte immer wieder nur: »Links oder rechts?« Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder solche Angst um meinen Arsch gehabt habe wie damals. Nicht mal, als ich mit vierzehn die ganze Packung Blutdrucksenker von meinem Opa gefressen habe, und das war schon krass.

Mama packte mich am Nacken, riss mich aus der Wohnung und schleppte mich zurück in den Supermarkt. Ich starrte auf meine weißen Plastiksandalen, während ich neben ihr stand und ihr zuhörte, wie sie mit ihrem gebrochenen Deutsch auf den dicken Filialleiter einredete. Irgendwann kniff sie mich in den Arm und keifte mich auf Türkisch an. Heute glaube ich, es wäre weniger schlimm gewesen, meine rechte Hand zu verlieren, als mich bei dem Typen entschuldigen zu müssen. Scham ist nämlich viel beschissener als Angst. Denn wenn man sich schämt, dann hat man sogar Angst davor, sich zu fürchten. Der Filialleiter kratzte sich an seinem fetten Bauch und warf mir nur diesen Blick zu, den ich nie vergessen werde. Die winzigen blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern lachten. Ha! Ihm gefiel es, dass ich geklaut hatte. Und noch mehr gefiel ihm, dass ich mich schämte, diesem Schwein.

Danach habe ich nie wieder geklaut. Okay, fast nie wieder. Einmal nur habe ich zwei Dosen Redbull und eine Flasche Wodka eingesteckt, aber das zählt nicht. An dem Tag mussten wir nämlich alle klauen: Elma, Gül, Ebru und ich. Das war unsere Mutprobenphase. In derselben Woche musste ich auch meinen ersten Zungenkuss machen. Mit Vincent, dem Opfer. Damals fand ich ihn noch cool, weil er immer die teuersten Sneakers auf dem Schulhof anhatte. Wir standen auf dem Penner-Spielplatz hinter der Kirche, und um uns herum kicherten bestimmt zwanzig Leute. Ein paar Wochen vorher hatte mich Vincent gefragt, ob ich mit ihm gehen wollte. Da hatte ich ihn nur ausgelacht, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Irgendwann ging ich zu ihm und sagte: »Hey, ich hab’s mir anders überlegt«, damit ich ihm meine Zunge in den Hals stecken konnte, ohne dass er es falsch verstand. Ich tat es also. Er schmeckte süßlich, aber auch komisch und alt, so wie abgestandenes gelbes Kaubonbon, und noch schlimmer: Er hielt beim Knutschen seine Glubschaugen offen. Was ich selbst gar nicht gesehen habe, weil meine Augen natürlich geschlossen waren. Aber die Nutten, die sich meine Freundinnen nennen, haben es mir später erzählt. Nutten, weil sie mich damals verarscht haben. Es war nämlich abgemacht, dass jede von uns mit einem Deutschen knutschen muss, aber keine von den anderen hat sich mehr getraut, als ich erzählt habe, wie kalt und glitschig sich das anfühlt. »Das liegt bestimmt an dem ganzen Domuz, das die essen«, hat Elma gesagt, »jetzt weißt du, wie Schweinefleisch schmeckt, Mann.« Aber es musste eben ein Deutscher sein, ein Türke kam nicht in Frage, das wäre zu riskant gewesen. Denn Türken erzählen immer alles herum, bis es die ganze Sippe weiß.

Und jetzt starre ich auf die beschissene Garderobe, während ich mit dem Ladendetektiv im Hinterzimmer des Drogeriemarkts sitze. Da hängen drei hässliche Jacken, die gehören bestimmt den Kassiererinnen. Die Jeansjacke in der Mitte ist die hässlichste, die sieht aus wie die, die mein Vater auf alten Fotos trägt, von 1993 oder so. Ich frage mich, was die hier wohl verdienen. Die Mutter von Gül arbeitet bei Netto im Lager und kriegt neun Euro die Stunde. Der Drogeriemarkt ist viel kleiner als Netto, vielleicht kriegt man hier sieben. Immer noch doppelt so viel, wie mein Onkel mir zahlt, dieser Geier. Ich überlege, ob ich mich hier mal um einen Minijob bewerben sollte. Wenn ich in so einem gemeldeten Job acht Stunden am Tag arbeite, dann habe ich die 450 Euro in weniger als zehn Schichten drin. Davon kann man sich bestimmt viel schönere Jacken kaufen als die, die da hängen.

»Zuerst muss ich Ihnen ein Hausverbot aussprechen«, sagt der Detektiv. »Sie dürfen in den nächsten zwölf Monaten keine unserer Filialen betreten.«

»Was? Wieso denn?«

»Weil wir das so handhaben. Sie werden wegen Ladendiebstahls angezeigt«, sagt er, ohne mich anzuschauen. Er blättert mit seinen Wurstfingern in meinem Reisepass, in dem jede Seite mit einem rot-weißen Halbmond verziert ist. Ich habe den Pass immer dabei, seitdem ich mal abends von den Bullen kontrolliert worden bin und sie mich nach Hause bringen mussten und mein Vater das so unangenehm fand, dass er später aus Wut die Çaykanne gegen die Wand geworfen hat.

Der Detektiv holt einen Kugelschreiber raus.

»Mann, ich habe doch gesagt, dass ich nicht geklaut habe. Ich habe nur vergessen zu bezahlen.«

»Wenn Sie wüssten, wie oft wir das zu hören bekommen.«

Ich frage mich, warum der Typ wir sagt. Und ob er den Job bekommen hat, weil er so mittelmäßig deutsch aussieht, dass er niemals irgendwem auffällt.

»Aber das ist echt so. Ich klaue nicht, habe ich nie gemacht.«

»Ja klar«, sagt er und lässt seinen Kugelschreiber fallen. Er will ihn im selben Moment wieder in der Luft abfangen, schafft es aber nicht und haut seine Hand aus Versehen gegen die Tischkante. Alles, was er macht, ist nur eine sinnlose, abgehackte Bewegung. Und dazu ein dümmlich verzogenes Gesicht.

»Pfft.« Ich muss lachen, kann es aber noch unterdrücken und bringe nur ein Rotzgeräusch heraus. Peinlich. Jetzt muss ich erst recht lachen. Ich halte mir die Hand vor den Mund. Der Typ guckt mich nur fassungslos an.

»Ja, jetzt lachste, wa? Is witzig, wa?« Seine käsige Haut färbt sich rosa. Er hebt den Kugelschreiber vom Boden auf.

»Ja, ist schon witzig, Mann«, sage ich und lache laut.

Eine Ader an seiner Schläfe schwillt an. Er lässt den Kugelschreiber klicken und betrachtet angepisst meinen Pass. Seine braune Jacke strömt einen seltsamen Geruch aus, wie nach Altenheim. Dabei ist der Typ höchstens vierzig oder so. Ich frage mich, ob er vielleicht mit seiner Mutter zusammenwohnt. Oder sie ständig besuchen geht, im Altenheim. Vielleicht ist es auch nur die Jacke, vielleicht ist sie von Humana. Draußen piept eine Kasse, Leute unterhalten sich, aber man versteht sie nicht, sie sagen nur blablabla. Das Detektivgesicht freut sich jetzt ein bisschen, die Mundwinkel gehen leicht nach oben.

»Du bist ja noch minderjährig, Fräulein! Das heißt, wir werden jetzt die Polizei rufen müssen.«

»Nein Mann, hör doch auf«, sage ich ungläubig.

»Die Beamten bringen dich dann nach Hause zu deinen Eltern.« Er lehnt sich zufrieden zurück, schlägt die Beine übereinander.

»Auf keinen Fall.«

»Tut mir leid, das muss ich machen«, sagt er. »Aber das wirst du doch wissen. Ist ja wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass du geklaut hast.« Er singt fast ein bisschen. Seine Nasenlöcher weiten sich, ein paar Härchen schauen heraus. Ich stelle mir vor, wie ich sie mit einem Feuerzeug abbrenne. Er versucht, wieder ernst zu gucken: »Ladendiebstahl ist kein Kavaliersdelikt. Weißt du, dass man dafür in sein Heimatland abgeschoben werden kann?«

»Alter!«, rutscht es mir heraus. Alter. Mir ist, als müsste ich kotzen, und zwar direkt vor die Füße des Ladendetektivs. Alles ist warm und dreht sich, ich sinke langsam in ein dunkles Loch, darf mir aber nichts anmerken lassen, sonst wird es nur noch schlimmer.

»Nein, ich meine, das geht nicht«, höre ich mich sagen. »In zwei Tagen, da werde ich doch achtzehn …« Es interessiert ihn nicht, das kann ich sehen, aber ich muss weitermachen: »Ich bin doch schon volljährig, also fast. Sie brauchen das nicht machen, die Bullen rufen.«

»Laut deinem Ausweis bist du siebzehn, also minderjährig. Deshalb sind wir verpflichtet, die Polizei anzurufen«, sagt er und packt sein orangefarbenes HTC auf den Tisch.

Es ist eines von diesen neuen, mit viel Speicherplatz. Mein Nachbar Nuri hätte mir dasselbe Handy letzte Woche für einen Hunni besorgen können, vom Lastwagen gefallen. Wollte ich nicht, weil die Kamera nichts taugt. Aber was braucht ein Typ mit so einer Fresse auch eine hohe Auflösung? Wer will den schon sehen? Wir sind verpflichtet, die Polizei zu rufen. Wer ist bloß dieses Wir? Wir, das Team des Drogeriemarktes, wo nur Assis hingehen, um sich mit Testern zu schminken? Oder wir, die hässlichen Berliner Ladendetektive, die kleine Kanaken jagen, weil sie ein einziges Mal versehentlich mit unbezahltem Kram aus dem Laden spazieren? Oder wir ekelhaften, schuppenhäutigen, ungewaschenen Männer, wir armen Schweine, die wir unsere drei übrig gebliebenen Haare mühevoll zur Seite kämmen, zwei Zentimeter vor und dann eine Kurve in Richtung rechtes Ohr, in der Hoffnung, die Glatze zu verdecken, um den ganzen Scheißtag kleinen Mädchen auf den Arsch zu schauen, während sie sich mit dem neuen Beyoncé-Parfüm einsprühen, wir, die wir dann nach Feierabend versuchen, die Fotze von hässlicher Kassiererin mit der abgerockten Jeansjacke von 1993 aufzureißen, nicht mal bei der landen, deswegen wieder ganz alleine nach Hause gehen zu unserer hundert Jahre alten Mami, die sich täglich vollscheißt, aber einfach nicht sterben will, damit wir ja nicht ihr verstaubtes Nazizeug erben können, warten, bis die alte Kartoffel schläft, dafür beten, dass sie nie wieder aufwacht, und uns dann auf irgendwelche Mangamädchen bei Pornhub ordentlich einen runterholen und beim Kommen weinen, immer nur weinen, uns in den Schlaf weinen.

»Aber ich sag doch, ich habe nicht geklaut. Ich habe den Mascara doch nicht einmal versteckt. Seh ich so blöd aus, dass ich mit dem Ding in der Hand durch die Detektoren laufe? Wenn ich ihn klauen wollte, wenn ich das absichtlich getan hätte, dann hätte ich doch den Pieper abgemacht und mir den Mascara in die Hose geschoben.«

Der Detektiv blickt auf, mustert mich misstrauisch. Er denkt bestimmt was Versautes, wegen in die Hose schieben.

»Du hast also schon mal geklaut, du scheinst ja zu wissen, wie das geht«, stellt er fest.

»Ja, aber nein …« Aber-ja-aber-nein. Der Typ ekelt mich an, aber ich brauche dringend sein Mitleid. Wenn ich schon wieder mit den Bullen nach Hause komme, und diesmal auch noch, weil ich geklaut habe, darf ich erstmal drei Monate nicht vor die Tür. Und meine Geburtstagsparty kann ich sowas von vergessen.

»Ja, als Kind habe ich ein einziges Mal geklaut. Das war ein Lippenstift, aber da war ich erst sieben«, sage ich und halte kurz die Luft an. Ich will weitersprechen, aber die Story kommt mir plötzlich unheimlich lächerlich vor.

»Mein Vater hat mich mit dem Gürtel geschlagen.«

Meine Stimme quietscht. Das ist voll gelogen. Mir schießen Tränen in die Augen. Echt hollywoodreif, würde Leoni jetzt sagen. Das sagt sie immer bei der BVB, der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, wenn ich so tue, als wäre mir schlecht, damit ich nach Hause gehen darf und Leoni mich begleiten muss. Meistens gehen wir dann Kaffee trinken. Bevor ich mit Frau Gawlik rede, atme ich ganz lange ganz schnell durch den Mund, bis ich richtig blass werde. Die alte Gawlik denkt bestimmt, ich sei schwanger oder sowas.

»Och, hör doch auf«, sagt der Detektiv und nimmt ein Papier aus seiner Mappe. Er fängt an, darauf herumzukritzeln.

»Bitte glauben Sie mir«, flehe ich ihn an. »Ich wollte den Mascara nicht klauen. Den anderen Kram habe ich doch auch bezahlt. Schauen Sie in meinen Geldbeutel, da ist genug Geld für zwanzig Mascaras drin. Ich schwöre! Ich habe heute meinen Lohn bekommen.«

Ich mache mich sowas von zum Affen. Aber gut. Besser lebender Affe als toter Affe.

»Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für diese Geschichten«, sagt er mürrisch und winkt ab.

»Wenn die Polizei zu uns nach Hause kommt, bringt mein Vater mich um! Sie wissen gar nicht, wie streng meine Eltern sind. Die fackeln nicht lange, da wird nicht erst diskutiert und so. Da gibt’s gleich auf die Fresse.«

Ich fühle ein Stechen in meinem Kopf. Das hier ist nicht echt, nein, das ist so ein schlechter deutscher Film, der abends auf ZDF läuft. Das arme, arme türkische Mädchen, fehlt nur noch das Kopftuch. Ich lege die Hände auf mein Gesicht und fange an zu schluchzen. Und schon heule ich wirklich und weiß nicht einmal, warum.

Der Typ gibt mir ein Taschentuch und sitzt da, ohne was zu sagen. Ich putze mir die Nase und weine immer lauter. Als ich mich langsam wieder in den Griff kriege, nehme ich mir einfach noch ein Taschentuch und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Mein Mascara ist sicher ganz verschmiert. Ich schaue mich um. Da ist kein Fenster in dem Kabuff, die Luft ist alt und verbraucht. Dieses künstliche Licht macht einen krank. Wie durch einen glasigen Tränenfilter sehe ich die hängenden Mundwinkel des Detektivs und spüre meine Angst, und dann geht es schon wieder los. Neue Tränen strömen mir über die Wangen, ich habe keine Kontrolle mehr.

»Jetzt beruhig dich doch«, sagt der Typ, der mich eben noch abschieben wollte. Er legt beide Hände auf den Tisch und starrt mich an wie eine Gehirnamputierte.

»Wir finden schon eine Lösung. Sie werden dich nicht verprügeln.«

Er scheint es ernst zu meinen.

Da liegt ein kleiner grauer Fussel auf dem Tisch, neben seinem HTC. Ich halte die Luft an und weine immer noch und starre auf den Fussel. Der Fussel muss jetzt nützlich werden, er muss mir helfen, endlich mit dem Weinen aufzuhören.

»Ich tue jetzt mal so, als hätten wir heute schon den 25. Juni 2016, ja? Du bist heute achtzehn Jahre alt, also, weil ich mich im Datum irre. Und ich rufe die Polizei nicht an, okay?«

»Danke«, sage ich ganz leise zu dem Fussel. In meiner Kehle löst sich ein kleiner Feuerball und sinkt langsam in Richtung Bauch.

»Aber freu dich nicht zu früh, Fräulein. Eine Anzeige bekommst du trotzdem. Falls du tatsächlich Ersttäterin bist und keine weiteren Vorstrafen hast, wird das Verfahren wahrscheinlich gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Du kriegst irgendwann Post von der Polizei. Bis dahin hast du Zeit, in Ruhe mit deinen Eltern zu reden. Das ist dann nicht so ein Schock für die, wie wenn die Polizei vor der Tür steht …«

Bla. Bla. Bla.

Na toll. Den Brief muss ich auf jeden Fall abfangen. Auch wenn ich dafür eine Woche lang die BVB schwänzen muss.

»Und ich bekomme eine Fangprämie von hundert Euro. Die kannst du gleich in bar bezahlen«, sagt der Detektiv und schiebt einen Zettel zu mir rüber.

»Der Mascara kostet doch sieben Euro.«

»Jetzt ja nicht unverschämt werden, Fräulein. Nur weil ich dir den kleinen Finger hinhalte. Die Fangprämie muss jeder bezahlen. Wenn du das nicht jetzt tust, dann kriegst du noch einen Brief, und zwar von unserem Anwalt«, sagt er und zeigt auf das Kreuz, neben dem ich unterschreiben soll.

Von nun an halte ich besser die Klappe. Ich packe die hundert Euro, die für meine Party waren, auf den Tisch und unterschreibe. Wucher. Der Typ zieht mich ab und kommt sich vor wie ein Sozialarbeiter. Er hält mir noch eine Moralpredigt, aber da höre ich schon nicht mehr zu und überlege, wo ich schnellstens Geld herbekomme. Vielleicht kann ich Onur anpumpen. Das habe ich letzten Monat auch gemacht, und er hat mir das Geld gegeben, ohne Faxen zu machen, weil er Panik hatte, dass ich Mama davon erzähle, wie ich ihn am helllichten Tag besoffen auf dem Penner-Spielplatz gesehen habe. Bevor ich den Laden verlasse, bezahle ich den verdammten Mascara. Ich gehe extra nicht zu der Kassiererin mit dem Kopftuch. Aber die Deutsche ist auch nicht besser, wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich schaue ihr genervt in die Augen und lasse den Zehneuroschein absichtlich neben den Zahlteller fallen. Die Jeansjacke von 1993 gehört bestimmt ihr. Pinke Swarovski-Steinchen. Auf Plastikfingernägeln. Echt jetzt?

Am liebsten würde ich die ganze Strecke nach Hause laufen, stundenlang einfach nur laufen, aber es regnet schon wieder, und nach Hause will ich sowieso nicht. Ich bleibe auf einer Bank im U-Bahnhof sitzen und checke mein Handy nach einer Nachricht von Mehmet. Da ist nichts. Die U6 kommt, Menschen steigen aus und ein. Die Leute bilden ein muffiges Gewirr mit ihren feuchten Klamotten, regennass und verschwitzt, man riecht auch ein paar eingepisste Penner heraus. Eine syrische Mutter packt ihre beiden kleinen Töchter an den pinken Rucksäcken und schiebt sie in die überfüllte U-Bahn. Eine deutsche Familie mit bunten Einkaufstüten diskutiert, wo entlang sie schneller zum Hotel kommt. Es ist seltsam, wie geduldig die Eltern dem Sohn zuhören, der vielleicht gerade mal zwölf ist und erklärt, warum er für den linken Ausgang ist. Dann fängt die Tochter an zu sprechen und zeigt nach rechts und hat etwas ekelhaft Klugscheißerhaftes an sich. Die Eltern hören wieder zu, unterbrechen die beiden nicht, nicken nur. Ein altes deutsches Ehepaar stellt sich vor den Fahrplan. Die Frau hält kurz Ausschau nach jemandem, den sie fragen kann, wie sie dorthin kommen, wo sie hinmüssen. Sie läuft zwei Schritte auf mich zu und dreht sich dann doch zu einer Braunhaarigen in blauen High Heels um. Ob ich jemals in solchen Dingern laufen lerne? Ich versuche, mich daran zu erinnern, warum Mama damals so geweint hat, nach meiner Lippenstift-Aktion. Sie sagte zwar immer nur, es sei haram zu klauen, aber ich bin sicher, dass es in Wahrheit um etwas anderes ging. Wenn wir in der Familie miteinander reden, tun wir nämlich immer so, als gäbe es einen Gott und die Hölle und so. Das hilft dabei, irgendwelche Begründungen für irgendwas zu finden und weniger Angst vor dem Tod zu haben, und vor allem hilft es dabei, uns Dinge zu verbieten. Vielleicht hat Mama nur geweint, weil sie dachte, dass ich jetzt ein Opfer werde und mein Leben verpfusche, so wie jedes zweite Mädchen hier im Wedding. Und vielleicht sieht es von außen tatsächlich so aus, als ob ich mein Leben schon verpfuscht habe. Ja, wahrscheinlich habe ich ja auch ein verpfuschtes Leben. Mama wollte immer, dass ich Arzthelferin werde, und ich wollte Ärztin sein. Jetzt bin ich nichts von beidem und finde nicht mal eine Ausbildung zur Verkäuferin. Das liegt daran, dass die eine Hälfte meiner Lehrer aus Arschlöchern bestanden hat und die andere Hälfte geisteskrank war. Das sagt zumindest Tante Semra, die ist Sozialpädagogin und kennt sich mit solchen Dingen aus. Tante Semra sagt auch, dass ich weiter zur Schule gehen soll, um irgendwann sogar das Abi nachzuholen, aber das will ich nicht. Keine Lust, mein Leben lang bei meinen Eltern um Geld betteln zu müssen. Außerdem müsste ich dann jeden Tag mit einem Haufen Vollidioten abhängen. Leute, die Abi machen, labern alle nur Scheiße und haben fettige Haare.

In der U-Bahn rufe ich Eugen an und frage, ob der Otto da ist. Er sagt: »Klar, komm vorbei.« Dann rufe ich zu Hause an und sage Mama, dass ich erst zum Abendessen komme, weil ich noch zu Ebru muss. Sie hört sich beschäftigt an, deshalb stresst sie nicht. Ich soll einen Bund Petersilie mitbringen. Seit Mama ein neues Samsung hat, ist sie viel entspannter. Sie spielt stundenlang Candy Crush und guckt sich Fotos von Verwandten auf Facebook an. Früher dachte ich, dass Mama mich immer stresst, weil sie ein Problem mit mir hat. Heute weiß ich, dass ihr die ganze Zeit einfach nur langweilig war.

Als ich am Leo aussteige, sehe ich, dass Gül aus dem anderen Wagen kommt. Ich laufe ihr hinterher und ziehe an ihrer Kapuze.

»Alter!«, ruft sie und dreht sich um. »Ach, du bist’s, du Irre.«

»Wo kommst du her?«

»Von Burcu! Sie hat mir noch einen Gefallen geschuldet. Da habe ich gesagt, sie soll mir die Beine wachsen. Hey, hast du geweint?« Sie wischt mir vorsichtig die Restschminke aus dem Gesicht.

»Frag nicht, Mann, der Tag war echt mies«, sage ich. »Ich geh jetzt zu Eugen. Komm doch mit.«

»Hazal, erzähl! Was los?«

Ich hänge mich bei ihr ein und versuche, das Thema zu wechseln. Wir laufen über den Kirchplatz, an den Alkis vorbei. Die streiten sich, bestimmt wieder um Geld. Der Regen hat aufgehört. In der Seitenstraße riecht es nach Benzin und Zwiebeln. Güls Augen leuchten, als sie sagt, dass sie jetzt endlich weiß, was sie an meinem Geburtstag anziehen will. »Ein schwarzes Kleid, mit Bombendekolleté.« Sie fährt sich mit den Händen seitlich am Oberkörper herunter. Ich tue so, als wäre ich total überrascht. Bin ich aber nicht, weil Schwarz die einzige Farbe ist, die Gül trägt, und ihre Titten das Einzige sind, was sie gerne und oft betont. Ein mattschwarzer Mercedes hupt im Vorbeifahren. Das ist Nuri. Gül schaut ihm verliebt hinterher und fächert sich mit beiden Händen zu, als würde ihr warm. Vielleicht kann ich Nuri darum bitten, dem Detektiv aufs Maul zu hauen. Er geht neuerdings jeden Tag zur Fitness und sieht aus wie ein Tier. Seit Nuri mit Rockerkutte rumläuft, hat der halbe Wedding Angst vor ihm, und die andere Hälfte kriecht ihm in den Arsch. Ich könnte Nuri einfach erzählen, dass der Ladendetektiv mich angemacht hat. Aber vorher brauche ich Geld, damit ich die Party schmeißen kann und Gül endlich jemanden abschleppt.

Gül hat es nämlich echt schwer. In ihrer Familie sind alle Frauen dick. Ihre Mutter ist dick, ihre Schwestern sind dick, und Güls Arsch ist der dickste Arsch von allen. Aber irgendwie schafft Gül es, ständig so zu tun, als würde sie das überhaupt nicht stören. Ich habe sie noch nie sagen hören, dass sie eine Diät macht oder abnehmen will. Schon in der Grundschule hat sie den Jungs vor der ganzen Klasse die Hosen runtergezogen, wenn die sie gedisst haben wegen ihrem Gewicht. Einmal hat sie Florian mit den schiefen Zähnen Joghurt über den Kopf gekippt, und Kevin, den Freak, hat sie direkt vermöbelt und ihn anschließend dreckig ausgelacht. Inzwischen ist Gül eine echt schöne Frau geworden. Sie hat die weißesten Zähne, die ich je gesehen habe, obwohl sie raucht, und sie ist eine Meisterin im Schminken. Sie kann sogar jemanden wie Elma zur Diva machen, obwohl Elma ganz schlimme Akne hat. Und Güls Haare liegen immer perfekt und glänzen krass. Manchmal glättet sie mir meine Haare, weil sie meint, dass ich wie ein Wischmob aussehe. Ich mag meine Locken zwar, aber ich lasse sie das trotzdem machen, weil es sich so gut anfühlt, wenn sie mir durch die Haare streicht. Das ist so, als wäre ich wieder ein kleines Kind und Mama würde mir den Kopf streicheln, damit ich einschlafen kann. Um mich herum schwebt der Duft von Vanille-Antifrizzspray und Verbranntem, und ich bekomme Gänsehaut, wenn ich im Spiegel beobachte, wie Gül meine Haare Strähne für Strähne durch das heiße Glätteisen zieht.

Als Eugen die Tür aufmacht, kommt uns eine unsichtbare Weedwolke entgegen. Er grinst. Seine Lider sind so dick, dass er die Augen kaum öffnen kann.

»Mach die Tür zu, Alter, das ganze Treppenhaus stinkt«, sagt Gül nervös, während sie sich an mir abstützt, um ihre Stiefel auszuziehen.

»Riecht doch gut«, sagt Eugen und gibt mir mit weichen Fingern die Hand. Er hat aufgeräumt. Nirgends in seiner winzigen Dachgeschosswohnung liegen Pizzakartons herum, und sogar das Bett ist gemacht. Man könnte meinen, dass er später ein Date hat. Aber Eugen hat nie Dates. Weil er ein Loser ist und den ganzen Tag Filme runterlädt oder zockt. Das war schon damals in der Schule so, als er in unsere Parallelklasse ging und nur deshalb cool wurde, weil wir anfingen mit ihm abzuhängen. Seit seine Mutter gestorben ist, steht ein gerahmtes Foto von ihr auf dem verstaubten Sideboard unter dem Flachbildschirm. Sie hatte Krebs, aber ich weiß nicht, was für einen. Wir haben nie so richtig darüber gesprochen, schließlich kommen wir hierher, um ihn zu unterhalten, damit er ein bisschen was zu lachen hat. Dafür können wir in Ruhe kiffen und zahlen nichts für das Gras.

Ich sinke auf die abgenutzte Ledercouch und stecke mein Handy an eines der zwanzig Ladekabel, die überall verteilt sind. An jeder Steckdose hängt eins, sogar im Bad. Egal, welches Handy man hat, bei Eugen sitzt man nie ohne Akku da. Gül holt ein Handtuch aus dem Schrank, um es in den Spalt unter der Wohnungstür zu stopfen. Sie hat jedesmal Angst, dass die Nachbarn etwas riechen. Eigentlich könnte es ihr egal sein, Eugen interessiert es ja auch nicht. Ist es aber nicht, weil Gül ein Kontrollfreak ist. Also, wenn sie nüchtern ist. Betrunken wird sie zum Gegenteil.

»Wie läuft’s?«, fragt Eugen.

»Scheiße«, antworte ich, »ich wurde heute beim Klauen erwischt.«

»Waaas?«, schreit Gül aus dem Flur. Sie sagt, ich darf erst erzählen, wenn sie da ist. Sie muss pinkeln.

»Ich hab ja nicht mal geklaut, hab nur vergessen zu bezahlen«, sage ich.

»Bljaaajd!«, ruft Eugen und lacht sich kaputt. Ich glaube, das ist das einzige russische Wort, das er von seiner Mutter gelernt hat. Ich höre die Toilettenspülung, und schon sitzt Gül neben mir und boxt mir in die Seite. Eugen wirft eine Haribotüte auf den Glastisch, stellt den Fernseher auf stumm und macht Musik an. Haftbefehl rappt irgendwas von Depressionen im Ghetto. Eugen rollt einen Joint, während Gül alle Einzelheiten aus mir herausquetscht. Sie unterbricht jeden meiner Sätze mit »So ein Opfer!«, immer abwechselnd, einmal für mich und einmal für den Detektiv. Dann hebt sie den Zeigefinger an die Schläfe und fragt, warum ich nicht dies oder das gesagt habe. »Ist doch voll unlogisch!«, ruft sie und sperrt die Augen weit auf. Eugen lacht und hustet gleichzeitig, reicht den Joint rüber. Ich versuche, mir vorzustellen, was Eugen sieht, wenn er Gül und mich anguckt. Wer wir für ihn sind. Plötzlich kommt mir alles extrem witzig vor. Der Ladendetektiv, wie ich auf die Tränendrüse drücke, die verdammte Anzeige wegen nichts. Ich frage mich, warum meine Eltern nicht darüber lachen können, wenn mir so etwas passiert, warum sie ständig alles ernst nehmen müssen. Egal, was ist, für sie bin ich immer an allem selbst schuld. Wenn Lehrer mich scheiße behandelten, dann hatte ich mich »nicht genug angestrengt«. Als ich mir in der siebten Klasse beim Sportunterricht den Fuß gebrochen habe, hieß es: »Du schaust ja nie, wo du hinläufst. Irgendwann wird dich ein Auto überfahren!« Bla. Irgendwann werde ich vergewaltigt. Irgendwann bringe ich meine Eltern ins Grab. Und irgendwann schieße ich mir die Scheißbirne weg.

»Mal ganz ehrlich«, sagt Eugen auf einmal todernst. »Versteht das nicht falsch, aber … Der Typ hat schon recht. Türken klauen halt.«

»Einen Scheiß hat er recht«, sage ich. »Mal ganz ehrlich: Deine Mutter klaut!«

Eugens Gesicht ist ausdruckslos. Ich spüre Güls Faust auf meiner Niere.

»Sorry, das war nicht so … Sorry.« Mein Mund wird ganz trocken.

»Schon gut, Mann«, sagt Eugen und muss lächeln. »Aber Hazal, jetzt echt, du weißt, warum ich Türken nichts mehr verkaufe.« Er zieht am Joint, eine dichte Rauchwolke steigt langsam aus seinem Mund. »Nie haben die Geld dabei und ständig belabern die mich, dass sie später zahlen. Und dann hauen sie mit dem Gras ab und lassen sich nicht mehr blicken«, sagt er, und es ist ihm nicht mal peinlich.

»Ja, ich weiß, Eugen«, sage ich und blinzle tausendmal. Das Gras ist wirklich gut, ich werde überhaupt nicht müde davon. »Aber vielleicht haben die bloß vergessen zu bezahlen. Schon mal daran gedacht? Was hat das denn damit zu tun, dass sie Türken sind?«

»Weil das immer nur mit Türken passiert. Na ja, und mit Arabern«, sagt Eugen.

»Erzähl keinen Scheiß«, sage ich, »Russen ziehen dich doch auch ab!«

»Komm, das war nur einmal so, mit Dima. Aber der hat mir wenigstens aufs Maul gehauen. Nur Türken suchen immer nach Ausreden und lügen rum wie Muschis.«

»Muschis?«, fragt Gül neben mir. Die Haribotüte hat sie vernichtet, jetzt meldet sie sich zurück. »Wo sind meine Muschis?« Sie wiederholt die Frage immer wieder, jedes Mal ein bisschen schneller. »WosindmeineMuschis? WosindmeineMuschis?«

»Meine Muschi ist in Istanbul«, sage ich und lege meinen Kopf auf Güls Schulter ab. Ich frage mich, ob Mehmet das lustig fände. Mir kommt es nicht so vor, als wäre er einer dieser Typen, die immer auf hart machen müssen.

»Oh, ich wäre jetzt so gerne in Istanbul«, schwärmt Gül und fasst sich an die Stelle ihrer großen Brust, unter der sie ihr Herz vermutet. »Da ist es so schön, so warm, so laut, und alle Leute reden ständig miteinander. Niemand ist so mies gelaunt wie hier.« Sie spricht so, als wäre sie schon mal da gewesen. Typisch. Dabei kennen Gül und ich Istanbul beide nur aus dem Fenster des Busses, der uns jeden zweiten Sommer vom Flughafen in unsere stinklangweiligen Käffer kutschiert.

»Wenn ich Mehmet heirate, dann kannst du uns ja besuchen kommen«, sage ich und schäme mich im nächsten Moment dafür, dass ich so einen Scheiß erzähle.

»Ach was, Mann, ich komme einfach mit und ziehe bei euch ein. Werde ja sowieso kaum zu Hause sein. Ich gehe dann in diese Clubs am Bosporus, so wie in ›Kuzey Güney‹.«

»So wie in was?«, fragt Eugen.

»Ach, das ist so eine schlechte Serie im türkischen Fernsehen«, sage ich und checke mein Handy. Mehmet hat mir immer noch nicht geschrieben.

»Die spielt in Istanbul und die ist gar nicht schlecht«, sagt Gül und fasst sich wieder an ihre linke Riesenbrust. »Die Männer da sehen so gut aus, wirklich, Eugen, und das sind noch so richtige Männer, weißt du? Nicht so wie die Muschis, die dich immer abziehen.«

»Hazal, was machst du eigentlich an deinem Geburtstag?«, fragt Eugen, um das Thema zu wechseln.

»Eigentlich wollten wir ja ausgehen.«

»Eigentlich?«, fragt Gül. »Natürlich gehen wir aus. Ich habe mir heute extra die Beine wachsen lassen! Weißt du, wie das wehgetan hat?«

»Ja, wir gehen, aber ich hab mein ganzes Geld beim Detektiv gelassen heute und weiß echt nicht, wie ich das bezahlen soll.«

»Soll doch jeder was zahlen, wir schmeißen einfach zusammen«, sagt Gül und zuckt mit den Schultern, die Arme, dabei weiß jeder, wie pleite sie ist.

»Niemals. Das ist meine Party.« Ich schaue Eugen an. Er nimmt das iPad vom Tisch und fängt an, mit den Fingern darauf herumzuwischen.

»Eugen, sorry, mir ist das voll unangenehm, aber … Meinst du, du kannst mir ein bisschen was leihen?«

»Ich habe gerade gar nichts, Hazal, keine zehn Euro. Aber ansonsten immer gerne, weißt du doch.« Er schaut nicht einmal hoch vom Tablet.

Meine Brust wird schwer wie Blei. Ich hasse es, Leute anzuschnorren. Und dann lässt mich Eugen auch noch so dumm dasitzen. Ich versuche, die drahtige, bittere Wut runterzuschlucken.

»Na ja«, sage ich und räuspere mich. »Es wären bloß hundert Euro oder so.«

Eugen zockt weiter und schüttelt den Kopf. »Hazal, sorry, ich muss auch bis nächste Woche irgendwie über die Runden kommen.«

Ich nicke nur und schwöre mir, Eugen nie wieder nach Geld zu fragen. Dann checke ich mein Handy und tue so, als ob ich ganz dringend nach Hause muss. Gül stützt sich müde an der Couchlehne ab. Sie sagt, sie kommt mit.

Bis zur Straßenecke Utrechter/Turiner haben Gül und ich den gleichen Weg. Väter kommen von der Arbeit zurück und suchen nach Parkplätzen. Die Penner am Kirchplatz haben sich wieder versöhnt, es gibt neuen Alk. Ich frage Gül noch, ob sie mit zu uns kommen möchte. Vielleicht ist sie ja zu stoned, um nach Hause zu gehen, ihre Schwester merkt das immer sofort. Aber sie sagt, sie sei okay. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Backe und klatsche ihr auf den Hintern. Als ich den Schlüssel ins Schloss schiebe, spüre ich wieder dieses Stechen in meinem Kopf, wie vorhin beim Ladendetektiv. Der Typ hat mir ganz schön das Gehirn gewaschen heute. Abschiebung in die Türkei, klar, ganz bestimmt. Wegen einem Mascara, oder was? Dieser Hurensohn wollte mich nur betteln sehen. Ich schüttle den Kopf, als ob die Gedanken wie Krümel von mir abfallen könnten. Das Treppenhauslicht geht an, und ich denke nicht mehr dran. Aber ich habe die Petersilie vergessen.

ZWEI

Meine Ohren warten auf das Geblubber und das Zischen. Ein Geräusch ist da, aber ich kann nicht sagen, ob es schon so weit ist oder noch kurz davor. Der Fernseher unserer Nachbarn singt so laut, als wäre die ganze Familie schwerhörig. Die Stimme der Nachrichtensprecherin aus unserem Wohnzimmer vermischt sich mit dem Sucuk-Lied von nebenan. Die Werbung kenne ich. Zwei Kinder kommen von der Schule und umarmen ihre Mutter. Sie sagen gleichzeitig: »Wir haben Hunger!« Die Mutter trägt eine himmelblaue Strickjacke. Sie streichelt über beide Köpfe und antwortet: »Ich habe eine Überraschung für euch!« Sie nimmt eine Packung Sucuk und zaubert eine rote Peperoni aus ihr heraus, lässt die Peperoni schweben und dann verschwinden, damit die Sucuk nicht mehr scharf ist. Sie schneidet die Wurst in Scheiben, brät sie in der Pfanne, und die Kinder hauen ordentlich rein. Die Werbung ist sowas von unsinnig. Ich meine, nie im Leben würde eine solche Frau in einer solchen Küche ihren Kindern zum Mittagessen eine Wurst braten. Da stehen Töpfe mit frischen Kräutern herum. Und da ist dieses Ding, von dem Defne, die Frau meines Onkels, seit Wochen träumt, und von dem sie mir Fotos auf ihrem iPhone zeigt unter »freistehende kücheninsel«.