Ellenbogenspiele - Draginja Dorpat - E-Book

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Draginja Dorpat

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Beschreibung

Tübinger Studentenleben, ohne die neue Linke, ohne die alte Burschenherrlichkeit. Eine Generation im Niemandsland zwischen vergangenen Moralbegriffen und zukünftiger Emanzipation. Ein Roman, der bei seinem Erscheinen die Aufmerksamkeit der Sittenwächter erregte und als Film ein großes Publikum fand. Ein Bild bürgerlicher Scheinmoral, die glaubt, alles – auch Liebe – kaufen zu können, ein Bild jugendlicher Unsicherheit, die mehr schlecht als recht mit der neuen sexuellen Freiheit fertig wird. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 243

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Draginja Dorpat

Ellenbogenspiele

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

On renonce plus aisément [...]Die Maxime des französischen [...]Knut Allegro vivaceThea ScherzandoTina AdagioKarol Presto

On renonce plus aisément à son intérêt qu’ à son goût.

François de la Rochefoucauld (1613–1680)

Glückliches siebzehntes Jahrhundert!

Die Maxime des französischen Moralisten, der in der menschlichen Selbstsucht die Grundlage allen Handelns sieht, steht nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als »Ansatz« über dem Buch. Da bisher nur einer von sechzehn Kritikern dies berücksichtigte, sei in der Neuauflage die deutsche Übersetzung nachgereicht:

 

Wir verzichten lieber auf unseren Vorteil als auf unser Vergnügen.

Knut

Allegro vivace

Warten Warten Warten.

Auf den Kaffee, auf den Abend, auf irgendwas.

Warten Warten.

Endlich die braune Brühe, endlich.

Viel zu heiß, viel zu bitter, viel zu teuer.

Warten.

Was las die mit der Brille eigentlich?

Rilke!

Seit einer Stunde Rilke! Heutzutage Rilke!

Und die dümmliche Blondine neben ihr kritzelte etwas in ihr Heft. Reinschrift einer Vorlesung. Das gab es noch. Reinschrift mit Noten sogar. Wahrscheinlich ein Wesen, das Musik machte, mit gespreizten Beinen Cello spielte, spreizbeinig den Bogen schwang, öffentlich womöglich, oder doch im vollgestopften Hörsaal, kaum einen Meter neben den Herren Kollegen, ein Wesen, das sorgfältig auf die historische Durchdringung des Metiers achtete. Was sonst konnte in solchen Heften stehen? Systematischer Abriß der Entwicklung der Bogenführung der Kniegeige.

Er genehmigte sich einen Schluck. Die Tasse war ausgekühlt. Alle fünf Minuten genehmigte er sich einen Schluck. Er war streng gegen sich, nahm keinen Schluck eine Minute früher. Er hatte eine ausgesucht gute Uhr, einundzwanzig Steine oder mehr.

Er sollte längst nach Hause, arbeiten, aber er mochte nicht, noch nicht jetzt, in dreißig Minuten vielleicht, spätestens in fünfzig. Ja, er verschleppte die Zeit, jawohl, vorsätzlich, böswillig. Wie man einen Prozeß verschleppt. Kosten zu Lasten des Angeklagten.

Die beiden sprödlippigen Mädchen an seinem Tisch rochen streng, der Bart des Nachwuchsdenkers kräuselte sich schwarz, mit himmelblauen Augen blickte er in den himmelblauen Himmel, die beiden Mädchen verstauten ihre Heftchen wie ein Soldat die Kaltverpflegung, Kaltverpflegung der weiblichen Miliz, Miliz an der Intellektualfront, Miliz universitaire, versorgt mit zerebraler Kaltverpflegung.

Überhaupt trister Laden hier, ausnahmslos dämliches Volk, bärtige Denker, Altphilologen, Musikerinnen, Rilkeleser! Debilitas animi et muscularis.

Das Examen hatte ihn ganz schön am Kragen. Er war überdreht und brauchte eine Examenspille. Gar keine Frage. Junges, pralles Fleisch.

Und da kam sie ja.

Er wußte: das war sie. Das war die Pille.

Gar keine Frage.

Mit zögernden Bewegungen, unausgeschlafen (ah!), kam sie durch die Tür, verharrte, ging weiter, suchte zwischen den Tischen, kam näher, suchte einen Platz, suchte mit melancholischen und aggressiven Augen, suchte mit Hundeblick, mit Bluesblick ihn, den freien Platz neben Knut, den einzigen freien Platz in dieser Minute in diesem Café, neben ihm, dem examenswilligen Studenten, Vordiplom in allen Fächern ausgezeichnet (ausgenommen Philosophie, aber wer konnte wissen, daß der philosophierende Ölgötze von seinem Kierkegaard nicht würde runterkommen, und zwar eine volle Stunde lang), aber sonst ausgezeichnet, bestes Vordiplom seit Jahren.

Und in zwei Wochen marschierte er ins Examen.

Sie setzte sich zeitlupenhaft, rückte leise, wohlerzogen den Stuhl zurecht, blickte sich nach dem Kellner um, schafsäugig, verschlafen, großartig. Sie ahnte die Gefahr nicht, in die sie sich begeben hatte. Er verstand sich auf die rechte Handhabung verschlafener Damen.

Das Kleid war absolut weiß, und sie war braun, braun, braun. Braun wie trockene Pilze, braun wie echt indische Eiche, wie das Bett aus echt indischer Eiche in seiner Bude.

Sie sah ihn an wie die Giraffe, die zur Tränke geht und den Alligator am Ufer nicht wahrnimmt. Sie zog einen Schmöker aus der Tasche und vertiefte sich in ihn als sei’s eine Anweisung zum seligen Leben.

Der Kellner, hager, kahl, parfümiert, übellaunig, stäubchen wischend, aschenbecherauswechselnd, stühlerückend, feuerreichend, der Kellner, nasal intonierend, stand plötzlich neben ihr und beugte sich orderheischend zu ihr hinunter.

Das Mädchen bestellte Tee, Knut verlangte Zigaretten. Der Kaffee in seiner Tasse stand noch einen Zentimeter über Oberkante Boden. Er beschloß, erst in sieben Minuten den letzten Schluck zu nehmen.

Auch sie trank sparsam. Sie hatte Routine. Mit Gulbenkian war sie also nicht verwandt, auch nicht mit der Rhein-Ruhr-Society. Ihr Schmöker war dick, braun, mit goldener Aufschrift: DER BUNDESHAUSHALTSPLAN.

Ihre Augen kamen in Bewegung, verloren das Hündische, wurden interessiert, wissend, zufrieden, gierig, ihre Schultern, ihre Fußspitzen bewegten sich, sie blickte auf den Tee, blätterte unkonzentriert um, zehn Seiten auf einmal, ergriff den Henkel der Tasse, streichelte ihn, ließ ihn wieder los. Für den nächsten Schluck war es entschieden zu früh, knapp vier Minuten erst, und die Konzentration schien nachzulassen.

»Lache über die Torheit der Welt – du wirst es bereuen; weine darüber – du wirst es auch bereuen; lache oder weine über die Torheit der Welt – du wirst beides bereuen; entweder du lachst über die Torheit der Welt, oder du weinst darüber – bereuen wirst du beides. Traue einem Mädchen – du wirst es bereuen; traue ihr nicht – du wirst es auch bereuen; trau ihr oder trau ihr nicht – du wirst beides bereuen; entweder du traust einem Mädchen, oder du traust ihr nicht – bereuen wirst du beides. Hänge dich – du wirst es bereuen; hänge dich nicht – du wirst es auch bereuen; häng dich oder häng dich nicht – du wirst beides bereuen; entweder du hängst dich, oder du hängst dich nicht – bereuen wirst du beides. Dies, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit.«

Dies, meine Dame, ist Kierkegaard, Entweder – Oder, Ausgabe Fritz Droop, übersetzt von Christoph Schrempf, Einführung Max Bense, drei Abbildungen, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung Wiesbaden, Seite sechsundzwanzig folgende, und gelernt ist gelernt. Es hatte sich im Vordiplom nicht ausgezahlt, Entweder – Oder war nicht gefragt, schon gar nicht das Tagebuch eines Verführers, statt dessen hackte der Alte auf Furcht und Zittern herum, auf dem Begriff der Angst und auf der Krankheit zum Tode. Ha! Krankheit zum Examen wäre aktueller, dito Psychologie der Weltentfremdung, Psychologie der Lustentfremdung. Nur im »Sprung«, nur im »Wagnis« des Sprunges ließen sich gewisse Entzückungen des Lebens retten.

Verdammt nochmal, die Herren Philosophen ließen sich’s in seinem Hirn wohlsein, blockierten, machten untauglich, machten zweiflerisch, zeugten Spott und Hohn.

Schlafe mit einem Mädchen – du wirst es bereuen; schlafe nicht mit ihr – du wirst es bereuen; schlaf mit ihr oder schlaf nicht mit ihr – du wirst beides bereuen; entweder du schläfst mit einem Mädchen, oder du schläfst nicht mit ihr – bereuen wirst du beides. Dies, meine Dame, ist Kierkegaard, von einem Kenner, was denn, von einem Bollnow-gedrillten Fachmann neu dargelegt.

Dabei bereute er noch nichts, er bereute überhaupt nie etwas, hol’s der Henker, es wäre denn dies: den Hunde-Schlaf-Giraffenblick nicht genutzt zu haben.

Sie blätterte um, ein Seufzerchen entrang sich ihrem wohlverwahrten Busen.

»Sie sind Juristin?« fragte er in das Seufzerchen hinein.

Die Giraffenaugen: langsam, prüfend, kalt.

»Na und?«

Er sagte, sie sähe eigentlich nicht so aus.

»Nicht gerade originell.«

»Also doch Juristin.«

»Nein, ich studiere Rechtswissenschaft. Zufrieden jetzt?«

»Ein bedeutsamer Unterschied, allerdings.«

Er trank einen viel zu großen Schluck, viel zu früh. Ungerechtfertigter Verstoß gegen die Trinkordnung.

»Und wie halten Sie’s mit der Literatur«, sagte er, »Kafka etwa?«

»Ein Verhör?«

»Mögen Sie ihn?«

Warum fragte er so rasch, fast atemlos, mit nahezu pubertärem Eifer? Lächerlich. Das Examen hatte ihn am Wickel. Besser er bezahlte und ging. Hier wurde doch nichts draus.

»Kafka reizt meine Galle«, sagte er, »erzeugt Ekel, totalen Ekel, Kafka ist abstoßend, abstößig, ich begreife nicht …«

Ihr Lächeln verdarb ihm alles.

Sie hatte tadellose Zähne, mit unversehrtem Glanz. Sie lächelte das Lächeln der Artistin vor der todsicheren Nummer, das Lächeln der Kunstspringerin vor dem Auerbach rückwärts geschraubt. Gleich würde sie zur Verteidigung Kafkas ansetzen. Sie nahm einen Schluck und setzte an. Ihre Verteidigung war ruhig, herablassend.

Und er trank regelwidrig den ganzen Rest Kaffee auf einmal aus.

Sie trank nicht, sie sprach unentwegt, erlaubte ihm nicht, das Gespräch vom »Scheitern« wegzubringen, hin auf jene Gefällstrecke, auf der er zu Hause war. Zweieinhalb Wochen bis zum Examen. Und am Sonntag war Jertrude fällig. Hatte der Umgang mit Jertrude ihn paralysiert? War seine berühmte Unwiderstehlichkeit zum Teufel? Waren das die Schatten der Diplomhauptprüfung, Herr Kandidat?

Endlich nahm sie wieder einen Schluck, jetzt sollte er einhaken, die Gefällstrecke anpeilen, jetzt mußte er sie in den Griff bekommen, aber er fand den Anfang nicht. Sie zerpflückte Zuckerpapierchen, schwieg. Die Nachmittagssonne fing sich in ihrem Haar. Wie rot es war, ein gerades, eindeutiges, monolithisches Rot, leuchtend, hemmungslos, es umdrängte ihr Gesicht, legte sich über die Schulter, sanft wie zärtliche Hände.

»Ich heiße Thea, nein, nicht Dorothea, – Theodora eigentlich.«

Sie sagte das so ruhig, daß er sich fragte, im wievielten Semester sie stehen mochte. Wenigstens fünftes. Ihr Freimut distanzierte. Der wievielte würde er sein, falls er je dazu gehören sollte? Oder ob sie zu denen zählte, die’s mit Mädchen hielten? War in Mode gekommen, besonders unter den Medizinerinnen und Juristinnen.

»Thea«, sagte er halblaut, vorsätzlich scheu – was ihm selten gelang –, als komme das Aussprechen ihres Namens einer Umarmung gleich, »Thea, ich bitte Sie.« Und er legte die Hand auf ihren bloßen Arm.

Sollte er frontal operieren (etwa: finde es wäre Zeit, daß wir miteinander schlafen, reicht grade noch bis zur Abendvorlesung) oder per Flügelschwenk und Flankenstoß (der Ball der Fachschaft Psychologie findet nächste Woche statt, sollten Sie nicht versäumen, ich halte die Damenrede) oder per Umfassungstaktik, indem er Kafka atomisierte, bis nichts mehr von ihm übrigblieb (schließlich gab es keine Behauptung, die sich nicht überzeugend formulieren ließe)? Sieger durch technischen K.O. in der zweiten Runde, dann Unnahbarkeit und Desinteresse, bis ihre Nerven nachließen, ihre Neugier sie verriet.

Er sagte: »Man sollte nicht schreiben, wenn man allenfalls den doppelten Wortschatz Adenauers hat.«

Jetzt mußte sie aufwachen, böse werden, sich erhitzen, mußte ihn bekehren wollen, – o süße Lust des Missionierens!

Sie fragte, ob er auch schriebe. Und wahrheitsgemäß sagte er, er übersetze nur, diese netten Blödheiten eines amerikanischen Monatsblattes, dessen deutsche Ausgabe er aufbereiten helfe, vorverdauen helfe, schließlich müsse ein Student ja auch dann leben, wenn er nicht das Glück habe, Flüchtling, Vertriebener, Waise oder sonstwie staatlich betreuungswürdig zu sein, wobei er unterstrich, daß er zwar durchaus würdig, aber keineswegs bedürftig sei.

Nicht bedürftig und dennoch Werkstudent, das leuchtete dem Juramädchen nicht ein.

»Natürlich leuchtet es nicht ein, mir auch nicht.«

Die Sonne war weiter westwärts gekommen und stand heiß hinter den Bäumen, die das Ufer des in Volksliedern verewigten Flusses behüteten. Auf dem Haar lag viel zu viel Glanz. Der Ventilator funktionierte nicht, die riesigen Glasfenster wiesen die Hitze nicht ab, Schweiß ereignete sich, Innendruck, die Haut wurde eng. Er nahm sie mit den Augen in die Zange, sie ließ es geschehen, gedankenlos, abwartend, neugierig werdend, noch nicht nervös, aber gespannt, allmählich beunruhigt, gespannt wie die Zeit bei Kafka, Vakuum, in dem Sog sich bildet, der Sog des Unerwarteten, Abenteuerlichen, out of order, aber was heißt schon order, noch kontrolliert, aber wie lange noch. Ohne Anlaß fuhr sie mit den Händen in ihr Haar, schob es weit hinter die Ohren, schob es aus der Stirn, aus den Schläfen, machte ihr Gesicht nackt, legte die runden Konturen frei, was für eine Kinderstirn sie hatte, in wenigen Jahren würde dies Gesicht füllig sein, verschwommen, tantenhaft.

Er wollte dieses Gesicht jetzt, keinen Tag später, jetzt, keine Stunde später, jetzt.

Er bezahlte beides, Kaffee und Tee, ihren Tee. Sie erhob keinen Einwand, versagte sich das geringste höfliche Staunen, schwieg einfach. Dabei verblieben ihm nun nur ganze siebenunddreißig Pfennig. Aber in zwei Tagen war er bei Jertrude, notfalls konnte er auch schon einen Tag früher kommen (per Anhalter). Vielleicht holte sie ihn auch ab.

»Danke«, sagte Thea, »versprechen Sie sich lieber nichts davon.«

»Ich muß wieder an die Arbeit«, sagte er, »höchste Zeit.«

»Die Inspiration der Heiligen komme über Sie«, sagte Thea.

»Begleiten Sie mich«, befahl er.

»Nein.«

»Na schön, dann lassen Sie mich Sie begleiten, foolish thing.«

Es gab eine breite bequeme Treppe zum Neckar hinunter. Thea ging sorglos, mit sich und der Welt zufrieden. Wie kam sie zu ihrer Kafkaverehrung? Er kannte die Stadien der literarischen Schwärmerei, in die junge Mädchen zu fallen pflegten. Nach Nietzsche kam Benn, zwischen Hölderlin und Osborne entdeckten sie Rilke, neuerdings Kafka, demnächst war Enzensberger an der Reihe, Böll, Grass, Walser, Canetti. Von der ekstatischen Philosophie kamen sie über die Lyrik zu den bissigen Literaten, die Lyrik ersetzte die Philosophie, die bissige Epik ersetzte die Lyrik, was ersetzte die Epik? Lag er schief mit der Annahme, daß sie diesen Ersatz in der Dramatik suchen würde, daß sie, nachdem sie auch noch Kafka, Proust hinter sich gebracht, nachdem sie Swanns Welt überwunden hatte, daß sie dann zur einfachen Dramatik finden mußte, zur Tugend der Dramatik der erotischen Begegnung? Das einfache Leben. Gewisse Entzückungen. Die Leibhaftigkeit des Daseins. Gebenedeit seien die Weiber!

Überwinden Sie den Nihilismus, meine Herren, überwinden Sie ihn durch Tugend, durch Bewährung im Alltag des Bettes, durch Tapferkeit in der horizontalen Begegnung. Lasset uns beten.

Es war möglich und nicht möglich, daß die Zeit der Tugend nahe war, die Zeit der begegnenden Tapferkeit. Viel Volk an den lieblichen Gestaden des Flusses, kinderwagenschiebende Frauen, graubeschläfte Herren mit Hundeleine und Pudel, Schülerinnen, Privatdozenten, Studienbeflissene aller Fakultäten.

O Tübingen du feine!

Die Studentin der Rechtswissenschaft ging rasch die Treppe hinunter, einige Stufen ihm voraus, das brünstige Haar lang und strömend wie ein Trompetensolo in der Kirche. Über dem weißen Altartuch ihres Kleides erhob sich die feurige Mähne des Trompetensolos. Selten so gelacht.

»Satteln Sie um«, sagte er, »studieren Sie Theologie, lassen Sie sich promovieren mit Hilfe einer Arbeit über Louis Armstrong im Lichte der Pastoraltheologie. Das bringt Sie weiter als Kafka und Bundeshaushaltsplan.«

»Es wird bald regnen«, sagte sie.

Graue Wolkenmatronen schoben sich ineinander, ein kalter Wind trieb sie an, jagte sie aufeinander los, bis sie einander fingen und Regen ließen.

»Wahrscheinlich, ich spüre schon Tropfen«, sagte er.

Im Neckar dreckiges grünes Wasser, Wellen, die sich verschoben, vermischten, willenlos, beiläufig, mit stupider Geduld. Lautlose Promiskuität.

Wieso Promiskuität? Sie sah nicht so aus, als triebe sie es wahllos; genau besehen sah sie überhaupt nicht danach aus, viel zu wenig streng genommen. Dagegen sprach ja auch die Belagerung. Ein zufriedenes Mädchen hatte Kafka nicht nötig, ein zufriedenes Mädchen belagerte nicht Kafka, ein zufriedenes Mädchen büffelte aufs Examen oder büffelte überhaupt nicht, auf jeden Fall vertrieb es sich nicht die Zeit mit quälsamer Literatur. Es gab hübschere Arten der Selbstkasteiung. Außerdem: zufriedene Mädchen kasteien sich nicht, zufriedene Mädchen …

»Kafka zum Beispiel«, sagte sie.

»Um Himmels willen«, sagte er.

Wann würde sie die Belagerung abbrechen und sich auf ihren Impetus besinnen? Wann würde der Impetus sie endlich überrumpeln?

Sie gingen die endlose Allee entlang, gingen unter den schwarzästigen Platanen, gelangten schweigend zur Brücke, überquerten immer noch schweigend die Straße. Als sie vor den hundert Stufen standen, die zur Festung Hohentübingen führen, fielen die ersten Tropfen.

»Wann lesen Sie Kafka, in jeder freien Minute? Wie lange schon?«

Sie las Kafka in jeder freien Minute, seit drei Semestern, sie hatte ihn bald durch.

»Ich gehe systematisch vor«, sagte sie, »nach Kafka gehe ich hinter Proust und Joyce, das muß einfach sein.«

In der Festung hinter den vielen Treppen hatte er ein Zimmer, seit sechs Semestern das begehrteste, romantischste Zimmer der Stadt. In diesem Zimmer hatte sich manche Belagerung in Impetus verwandelt.

Der Wind plusterte Theas Haar, es war nirgendwo festgesteckt. Er blieb stehen und brachte ihr Haar in Ordnung, dann langte er die Brieftasche aus der Jacke, reichte ihr seine Karte. Nicht jeder Student besaß Karten. Ohne Jertrude hätte er das auch nicht geschafft. Regen fiel auf die Karte und auf Theas Hände.

»Vornehm«, sagte sie, »stinkvornehm, der Herr Studiker. In welch vornehmer Fakultät hat er sich denn niedergelassen? Theologie sicher nicht.«

»Warum bitteschön studiere ich nicht Theologie?«

Erstens pflegten Theologiestudenten nicht vornehm zu sein (erst nach dem Examen), und zweitens pflegten sie über die Schöpfungswonnen Gottes zu sprechen.

»Und über deren menschlichen Nachvollzug«, sagte er.

»So etwa.«

»Im Bett.«

»Wo sonst«, sagte sie.

Er nahm die Karte zurück und steckte sie in ihre Tasche. »Zum ewigen Andenken«, sagte er. »Im übrigen studiere ich Psychologie, damit die Raterei ein Ende hat. Idiotisch, sowas zu studieren, ich weiß, aber das hilft nun nichts mehr, in zwei Wochen steigt das Examen, schließlich muß man ja mal damit anfangen, das Schülerdasein zu beenden, ich will endlich etwas mehr als bloß mein Brot haben. Sie verstehen, was ich meine.«

»Mehr als bloß das Brot, das heißt also dreitausend im Monat, nicht wahr?«

»So etwa.«

»Auf welche Weise bekommen Sie Ihr Brot jetzt? Studienstiftler? Honnefler? BVDI? Ahahah!«

»Für den Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie war ich mir mit Verlaub zu gut.«

Im übrigen hatte er ihr doch gesagt, daß er für das amerikanische Seelenmagazin Übersetzungen mache.

»Und das ernährt einen Mann?«

»Zur Hälfte schon.«

»Und wer bestreitet die andere Hälfte? Nicht Vater Staat?«

Sie erreichten das gemauerte Tor unterhalb der Festung. Aus den offenen Fenstern eines Verbindungshauses drangen Lieder, Sauflärm. Am hellen Nachmittag Sauflärm.

Der Regen wurde aufdringlich und kalt.

»Sollen wir das Gewitter hier abwarten oder nach Hause gehen? Ich wohne da drüben.«

Er zeigte auf den hundert Schritt entfernten Turm, der hinter Regenschwaden verschwand.

»Und wer ernährt Sie zur anderen Hälfte?«

»Wenn Sie wollen, hole ich einen Schirm und bringe Sie nach Hause.«

»Und die andere Hälfte?«

»Oder wir gehen zurück ins Café.«

»Meine Frage war …«

Er legte die Hände an ihre Ohren und preßte sie. Ihr Kleid war naß bis in die letzte Faser, klebte.

»Sie sind genau so verdammt hartnäckig, wie ich gedacht hatte«, sagte er.

»Es ist mir neu, daß ich hartnäckig bin.«

Er nahm die Hände von ihrem Kopf. Er erinnerte sich deutlich, wo er sie gesehen hatte. Beim Universitätsaktzeichnen. Es war mindestens ein Jahr her. Sie hatte sich zwei- oder dreimal als Modell zur Verfügung gestellt und ward nie wieder gesehen. Zum allgemeinen Bedauern der Kunstjünger.

»Du warst doch mal Uni-Aktmodell.«

»Ich stand nur für Halbakte.«

»Soso, ich habe dich aber ganz in Erinnerung.«

»Da muß die Phantasie im Spiele sein.«

»Und warum hast du den Job aufgegeben?«

»Ich hatte keine Lust mehr.«

»Oder hattest du was Besseres gefunden?«

»Ich hatte einfach keine Lust mehr.«

Das ›Du‹ nahm sie gelassen hin, oder hatte sie es in ihrer Einfalt nicht bemerkt?

Dummes Luder.

»Was ist mit der anderen Hälfte?« fragte sie.

»Zur anderen Hälfte lebe ich von milden Gaben. Zufrieden jetzt?«

»Also privates Stipendium, Leibrente, schätze ich.«

Sie sah ihn aufmerksam an, lauernd, als suche sie nach Jertrudes Spuren in seinem Gesicht. Im Regen erhielten ihre Augen einen gewissen Glanz. Es war dämmrig, muffig im Torgewölbe, und vielleicht war der Glanz nur Täuschung.

»Also – was für eine Sorte Mildtätigkeit?«

»Eine sehr zeitgemäße Art aktiver Nächstenliebe.«

Er schlug vor, in seiner Bude Zuflucht zu suchen. Der Regen konnte noch stundenlang dauern, und es war ja auch das Nächstliegende. Zudem waren Erkältungen lästig und rotnasige Damen nicht sein Fall.

Sie wußte offensichtlich nicht, was sie wählen sollte: die sichere Erkältung hier, oder die mutmaßliche Erhitzung drinnen im Turm.

Sie widerstrebte seinen Händen, aber er zog sie hinter sich her. Störrische Ziege.

An der Turmtür quetschte er ihre Hände und suchte – immer noch fürchtend, sie könne ihm entwischen (wer kennt sich schon bei kleinen Mädchen aus) – mit einer Hand den Schlüssel. Indessen machte sie keine Anstalten, sich zu entfernen. Vielleicht war sie von der mittelalterlichen Schönheit des Turmtores beeindruckt, vielleicht fror sie zu sehr, oder – kaum auszudenken – sie hielt ihn für harmlos, für effeminiert, oder sie machte erste Anstalten, die Belagerung abzubrechen. Regen troff von seiner Nase, hinunter auf die Krawatte (ein Geschenk Jertrudes). Er stieß die Tür auf und schob das Mädchen hin zur Wendeltreppe.

Schmale, steile Stufen, unerhört sauber gewichst, das Mädchen vorsichtig, langsam hinauftappend, vielleicht auf Zeitgewinn bedacht, vielleicht an einer Taktik des Verhaltens herumtüftelnd, vielleicht einen Plan für einen stufenweisen, zugleich schicklichen Abbau der Belagerung entwerfend.

Von der Wirtin unbehelligt erreichten sie das Zimmer. Erst hinter der geschlossenen Tür ließ er ihre Hände los. Die vorsorgliche Wirtin hatte die Fensterläden geschlossen, der gewienerte Holzboden durfte keinem Regentröpfchen ausgesetzt werden. Es war eine jener Wirtinnen, die jeden Herbst die Zimmermiete erhöhten, um sie nach Weihnachten wieder zu ermäßigen (»… bin gut katholisch, nehme keine Wuchermieten, meine Mieten sind reell, aber alles was Recht ist …«)

Knut stieß den Laden auf. Ein grauer, sanfter Himmel zeigte sich über der Stadt.

Abweisend, geradezu abweislich stand sie am Fenster, tat, als beobachte sie, wie die Tropfen in die Tiefe stürzten, zwischen Tannen und Gestrüpp, tat, als lausche sie, wie es am Grund des Felsens rauschte.

»Das Ereignis des Regens«, sagte er, »sagenhaft interessanter Vorgang, komm, Schöpfer Geist.«

Er streckte ihr Zigaretten hin und nahm Witterung in der Gegend ihres Ohrs.

Sie wurde gleichsam unter der Bräune blaß.

Er hielt das Streichholz so tief, daß sie sich zu seiner Hand hinunterbeugen mußte. Die Zigarette zitterte zwischen ihren Lippen.

»Frieren Sie?«

»Nein, gar nicht.«

»Aber Sie zittern.«

»Durchaus nicht.«

Er riß ihr die Zigarette aus dem Mund.

»Das Ding da hat gezittert.«

Na gut, sie hatte schöne Augen, böse Augen, schwarze Rosen an braunem Horizont, welches junge Mädchen hatte sowas nicht. Das Haar war von der Nässe dunkel, sah gebeizt aus, hing zusammengedrückt um ihren Hals.

»Handtuch gefällig?« fragte er.

Er schlang das Handtuch um ihren Kopf, verknotete es unter dem Kinn, hielt die Enden fest. Jetzt sah sie aus wie eine Bäuerin mit Zahnschmerzen.

Sie wich zur Wand zurück, konnte nicht verhindern, daß er sie umarmte.

»Sie sollten den Anzug wechseln«, sagte sie.

»Sie meinen, ich solle mich entfernen, ich solle Sie meiner Nähe entheben. Wenn ich den Anzug wechsle, kommen Sie vom Regen in die Traufe, Juristin.«

Sie stieß sich von der Wand ab wie ein Schwimmer, der unter Wasser wendet.

»Ich möchte gehen«, sagte sie.

Sie gelangte rasch zur Tür, knotete das Handtuch auf, warf es ihm zu.

»Gehen? Ich verstehe immer gehen«, sagte er und fing das Tuch auf. »Sie sollten erst das Kleid trocknen, so können Sie nicht gehen, die Lungenentzündung ist Ihnen sicherer als das Himmelreich. Ich habe einen guten Elektroofen, mit Umwälzanlage, warten Sie, ich stelle ihn an, in einer Minute ist er heiß, Augenblick, gleich so weit, warten Sie.«

Er öffnete den Schrank. Die Tür quietschte. Er stellte den Ofen vor sie hin. Sie zögerte. Er fand nicht sofort den Steckkontakt. Der Schalter knackte ungewöhnlich laut. Es schien, als zittere er. Sie atmete bemüht unhörbar. Aber er zitterte gar nicht. Das schien nur so.

»Nehmen Sie die Decke zum Umziehen«, sagte er. Er reichte ihr die grüne kostbare Decke, die auf seinem Bett lag, ein Geschenk Jertrudes. Sie paßte nicht in die Landschaft dieses Zimmers, in die Landschaft aus gewichstem Mittelalter und schwäbischem Biedersinn, diese Decke war aus Jertrudes Welt, Teil ihres Bad-Bar-Bett-Horizonts, teuer und strapazierfähig, ein halbes Jahr alt und ohne die geringste Spur von Bewohntsein. Nun ja, er fror nicht so leicht, und Jertrude pflegte ihn hier wenig zu besuchen. Und wenn, brauchten Sie dazu die Decke selten.

Das Mädchen nahm die Decke nicht. Er warf sie ihr über den Kopf. Die Decke öffnete sich wie ein Drachenmaul und verschlang den Rotkopf. Ein grünes Ungetüm stand da plötzlich, dem das hartnäckige Parfum Jertrudes entströmte. Jertrude konnte es nie lassen, alles, was sie aus der Hand gab, vorher zu parfümieren.

Langsam schälte sich das Mädchen aus der Decke, vielleicht betete sie dabei die Lauretanische Litanei.

»Wenn Sie übrigens Hunger haben«, sagte er zu dem Ungetüm, »wenn Sie Lust auf Hering haben mit Kakao? Können Sie haben. Statt Tee gibts Wasserkakao, sehr heiß, mit viel Zucker. Milch ist aus, kann ich nicht dienen, aber echt isländische Heringe.«

Jertrude hatte den Scheck absichtlich nicht geschickt. Wie schuftig sie sein konnte, geschickt gemein, kalkulierte Großmut. Sie hatte den Scheck nicht geschickt, damit er am Sonntag zu ihr käme. Miststück. Der letzte Kanten Brot war steinhart, schimmelig.

»Hering an sich, Hering schlechthin oder gibts auch Brot?« fragte das Mädchen. Die allzugrüne Decke hing um ihre Schultern. Sie plagte sich damit ab, aus dem Kleid zu schlüpfen, ohne einen Schimmer Haut zu zeigen.

»Ich schau nicht hin, keine Angst, ich bin nicht siebzehn.« Er deckte den Tisch. Blöd, das gschamige Gehabe.

»Außerdem machte Ihnen das früher nichts aus, denken Sie an das Universitätsaktzeichnen«, sagte er.

»Das habe ich vergessen, vollkommen.«

»Das gibt es nicht«, sagte er, »man kann nicht vergessen.«

Die Pause, die entstand, war grausam sentimental. Er räusperte sich, hustete, schneuzte sich, spuckte ins Taschentuch.

»… Was nicht heißen soll«, begann er.

»Schon gut«, sagte sie.

Er deckte noch immer den Tisch.

Das Grün stach ihm in die Augen, obgleich er mit keiner Wimper zu ihr hinübersah. Überall lauerte dieses Grün, kam ihm aus den Ecken entgegen, hinter der morschen Säule hervor, sprang in die Tassen, Jertrudes Grün, das Grün ihrer Forderungen, ihrer Erwartungen, ihrer zweiflerischen Unruhe, wahrscheinlich ein gezielter Nebeneffekt dieser Morgengabe. Zum ewigen Andenken an deine dich liebende …

Die rechte Schulter war frei! Theas rechte Schulter war entblößt. Der heiligen Jungfrau keusche Schulter bot sich seinem Auge dar. Großer Gott. Zeichen und Wunder. Über der linken Schulter hielt sie die Enden zusammen, die höhere Tochter, die professionelle Unschuld.

»Sicherheitsnadel gefällig?«

Als er die Nadel in der Decke verhakte, überlegte er, wie lange es dauern würde, bis er sie wieder öffnete. Zwei Stunden vielleicht, vielleicht auch nur zwanzig Minuten.

Sie legte sich bäuchlings auf sein Bett, stützte das Gesicht in die Hände, sah ihm zu, schülerinnenhaft, mal sehen, ob der Herr Lehrer sich verhaspelt. Mit einemmal war sie ruhig, mit einemmal gelassen, lächelte, die Menschenverachtung einer Giraffe im Blick. Jertrude hatte übrigens doch einen gesunden Farbensinn, genau das richtige Grün für diese Art Haar bei dieser Beleuchtung, wirr lag es über der Decke, bekam flackernden Glanz. Am grünen Strand der Dorothee. Vielmehr Theodora.

Noch nie hatte er so zeitverschwenderisch zerschundenes Geschirr auf einem Tisch geordnet, nie so empfindungslos die Kerze entzündet, halkyonische Ruhe, die Ahnung eines Bebens in Händen und Kniekehlen. Warum auch nicht? Wie lange würde es dauern, bis er die Nadel aufhakte, wie lange, bis sie schrie, falls sie schrie? Welche tat das nicht, bei ihm?

Sie rieb den Stoff des Kleides zwischen den Fingern.

»Es wird«, sagte er, »nicht?«

Es war gut, daß sie ihn so andächtig beobachtete. Der Herr Lehrer schien doch Eindruck zu machen. Klar, daß seine ohnehin ungewöhnlich fein gegliederten Hände im Kerzenlicht zu seraphischen Händen wurden, sowas schätzten die Weiber, sowas beflügelte ihre Phantasie, sowas heizte ihnen ein.

Im Ernst: seine Hände gehörten zum Schönsten, was die Saison in dieser Sorte zu bieten hatte. Er nahm die Heringsbüchse in seine Schönheitspreishände, als wäre die Büchse eine Reliquie, trat neben die Kerze, ganz dicht, schritt zum Ritual, packte den Öffner, setzte den Stachel an, verharrte, stieß rasch und fast lautlos den Stachel in die glatte, wehrlose Fläche, drehte langsam, mit dem Handballen abstützend, ohne Erschütterung, drehte, bis der Stachel in den Ansatz hineinfuhr, öffnete vorsichtig, hob den Deckel, beugte sich darüber.

»Riecht gut«, sagte er.

»Das Wasser«, sagte Thea.

Er nahm den Topf mit dem kochenden Wasser von der Platte, setzte ihn neben die Büchse auf den blanken Tisch.

»Juristin, wir wollen das Brot brechen.«

Er geleitete sie zu Tisch, die versicherungswürdigen Hände auf ihren Schultern. Mal sehen, wie sowas auf die Dame wirkte.

»Der Tee ist ausgesucht ceylonesische Mischung, Mylady«, sagte er priesterlich, clownisch, »ausgesucht und extra abgestimmt auf das Wasser der Universitätsstadt Tübingen.«

Sich über sie beugend (was für eine Art Haarwasser benutzte sie, benutzte sie überhaupt eins? Schlichter Naturgeruch, ein naturrüchiges Mädchen), häufte er einen Löffel Kakao in ihre Tasse, goß sprudelndes Wasser der Universitätsstadt darüber. Klümpchen stiegen hoch.

»Rühren, Juristin, rühren, nicht träumen.«

»Wenn Sie so heftig atmen, geht die Kerze aus.«

»Ich werde nicht mehr atmen«, sagte er.

Unschlüssig hielt sie den Löffel, er legte die Hand auf ihre Hand und rührte in ihrer Tasse. Darin hatte er Übung. Jertrude wollte es so. Unaufhörlichkeit des Kontakts, Berührung in der kleinsten Geste, Hautnähe, delicatesse du sentiment.

Verschlafen lagen die Heringe in der Büchse.

»Kosten Sie den Tee«, kommandierte er.

»Selten einen so vorzüglichen Ceylon getrunken«, sagte sie.

»Und so heiß, nicht wahr.«

»Ich fürchte nur, er stopft.«

»Kakao stopft nicht.«

»In der Philosophie gibt es keine Sicherheit, meine Herren, und Kakao stopft nicht«, sagte sie.

»Habe ich so gesagt?«

»So haben Sie gesagt.«

»Aber Kakao stopft wirklich nicht.«

War er allein, dann nahm er ein Stück Brot in die Hand, langte mit den Fingern Heringe aus der Büchse, legte den Kopf weit zurück, balancierte Brot und Fisch gleichzeitig zum Mund, größtmöglicher Genuß bei geringstem Aufwand, schlicht, brutal, barock. Jetzt zerteilte er den Hering in kleine Stücke, brach das Brot, machte in Manierlichkeit, kleinster Genuß bei größtem Aufwand.

»Aber Wasserkakao stopft«, sagte Thea.

»Nicht, wenn Sie Zucker nehmen. Zucker wirkt abführend. Und außerdem: Milch stopft. Müssen Sie als Mutter dereinst wissen.«

»Der Herr bewahre uns«, sagte sie.

»Uns?«

»Wenn Sie so heftig atmen, geht die Kerze aus«, sagte sie.

»Ich werde nie wieder atmen. Danke für das Diner – nie so erhaben gespeist, – und die Axiomatisierung der Geisteswissenschaften«, sagte er.

»Bitte nicht.«

»Bei einem Stilvergleich zwischen Kafka und Benn …«

»Nein.«

»Wieso, von Benn war noch nicht die Rede.«

»Warum strengen Sie sich so an? In zwei Wochen steigt Ihr Examen. Also Schonung der geringen Kräfte.«

»Vielen Dank. Überaus schmeichelhaft.«

»Was machen Sie nach dem Examen?«

Darauf ließ sich nichts sagen. Jertrude würde darüber schon befunden haben, Jertrude war fix und fürsorglich. »Wer weiß schon, was nachher wird«, sagte er.

»Wie weise.«