Ellis Island - Georges Perec - E-Book

Ellis Island E-Book

Georges Perec

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Worüber ich, Georges Perec, hier etwas erfahren wollte, ist das
Umherirren, die Zerstreuung, die Diaspora.
Ellis Island ist für mich der eigentliche Ort des Exils,
das heißt,
der Ort der Ortlosigkeit, der Nichtort, das
Nirgendwo.
in diesem Sinne betreffen mich diese Bilder, faszinieren mich,
beziehen mich mit ein,
als ginge die Suche nach meiner Identität
über die Aneignung dieses Schuttabladeplatzes,
wo erschöpfte Beamte massenweise Amerikaner tauften.
was sich für mich hier findet,
sind keineswegs Anhaltspunkte, Wurzeln oder
Spuren,
sondern das Gegenteil davon: etwas Ungestaltes, an der
Grenze des Sagbaren,
etwas, das ich Umzäunung nennen kann oder Spaltung oder
Einschnitt,
und das für mich sehr eng und sehr vage mit der Tatsache verbunden
ist, Jude zu sein«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 28

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Georges Perec

Ellis Island

Aus dem Französischen von

Inhalt

I. Die Träneninsel

Zum Gedenken an Frau Kamer

Unsere Heimat, dieses karge Gestade, auf das wir geworfen sind

Jean-Paul de Dadelsen, Jonas

I. Die Träneninsel

Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschüttert eine ungeheuere Hoffnung Europa: für alle getretenen, unterdrückten, geknechteten, versklavten, hingeschlachteten Völker, für alle ausgebeuteten, ausgehungerten, von Epidemien heimgesuchten, durch Jahre des Mangels und der Hungersnot dezimierten Klassen zeichnete sich auf einmal ein gelobtes Land ab: Amerika, ein jungfräuliches Land, allen offenstehend, ein freies und fruchtbares Land, in dem die Verdammten des alten Kontinents die Pioniere einer neuen Welt werden können, die Gründer einer Gesellschaft ohne Unrecht und ohne Vorurteile. Für die von Missernten ruinierten irischen Bauern, für die nach 1848 verfolgten deutschen Liberalen, für die 1830 vernichtend geschlagenen polnischen Nationalisten, für die Armenier, für die Griechen, für die Türken, für alle Juden Russlands und Österreich-Ungarns, für die Süditaliener, die zu Hunderttausenden an Cholera und Elend starben, wurde Amerika zum Symbol des neuen Lebens, der endlich gebotenen Chance, und zu Millionen und Abermillionen schifften sich die Einwanderer, ganze Familien, ganze Dörfer, in Hamburg oder Bremen, in Le Havre, Neapel oder Liverpool für diese Reise ohne Wiederkehr ein.

Jahrzehntelang war die letzte Etappe dieser in der Menschheitsgeschichte nie dagewesenen Massenauswanderung, nach einer meist unter fürchterlichen Bedingungen erfolgten Überfahrt, eine kleine Insel namens Ellis Island, auf der die Einwanderungsbehörden der Vereinigten Staaten ihr Auffanglager errichtet hatten. So haben sich auf dieser schmalen Sandbank an der Mündung des Hudson, nur wenige Seemeilen von der damals ganz neuen Freiheitsstatue entfernt, für kurze Zeit alle die zusammengefunden, die seitdem die amerikanische Nation gebildet haben.

Die Einreise in die Vereinigten Staaten, bis etwa 1875 für Ausländer so gut wie frei, wurde schrittweise restriktiven Maßnahmen unterworfen, zunächst auf örtlicher Ebene (Stadt- und Hafenbehörden) ausgearbeitet und angewandt, später koordiniert von einem der Bundesregierung unterstehenden Amt für Einwanderung. Das 1892 eröffnete Auffanglager Ellis Island bedeutet das Ende einer mehr oder weniger ungezügelten und den Beginn einer offiziellen, an feste Regeln gebundenen und gewissermaßen industriellen Einwanderung. Von 1892 bis 1924 sind annähernd sechzehn Millionen Menschen durch Ellis Island geschleust worden, das heißt, fünf- bis zehntausend pro Tag. Die meisten blieben nur einige Stunden dort, lediglich zwei bis drei Prozent wurden zurückgeschickt. Im Grunde war Ellis Island nichts anderes als eine Fabrik zur Herstellung von Amerikanern,* eine Fabrik, um Auswanderer in Einwanderer zu verwandeln, eine Fabrik der amerikanischen Art, ebenso schnell und effizient wie ein Schlachthof in Chicago: auf das eine Ende des Fließbandes stellt man einen Iren, einen ukrainischen Juden oder einen Italiener aus Apulien, und am andern Ende kommt – nach Untersuchung der Augen, Untersuchung der Tränensäcke, Impfung und Desinfektion – ein Amerikaner heraus. Aber gleichzeitig werden im Laufe der Jahre die Aufnahmebedingungen immer strenger. Nach und nach wird das Golden Door zu diesem sagenhaften Amerika, wo einem die gebratenen Tauben ins Maul fliegen, wo die Straßen mit Gold gepflastert sind, wo die Erde allen gehört, wieder geschlossen. Tatsächlich tritt ab 1914 bei der Einwanderung ein Stillstand ein, zunächst wegen des Krieges, dann wegen einer Reihe diskriminierender Maßnahmen qualitativer (Literacy Act) und quantitativer (quotas