Elmfeuer - Bettina Owczarski - E-Book

Elmfeuer E-Book

Bettina Owczarski

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Was kann schlimmer sein, als vom langjährigen Lebensgefährten betrogen zu werden? Der Mord an Sarahs bester Freundin Claudia ist die drastische Antwort. Als sie tief verletzt aus Berlin in das baufällige Elmschlösschen zurückkehrt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, wird sie über Nacht zur Ersatzmutter für Claudias verwaiste Tochter. Die Ermittlungen um den Mord führen Giovanni Beck, den attraktivsten Kommissar Niedersachsens, direkt auf Sarahs Türschwelle. Und schon ist sie mittendrin in einem Wirbelsturm aus Entsetzen, Trauer und unwillkommenem Begehren.

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Bettina Owczarski

Elmfeuer

Kriminalroman

Zum Buch

Folgenschwere Heimkehr Was kann schlimmer sein, als vom langjährigen Lebensgefährten betrogen zu werden? Der Mord an Sarahs bester Freundin Claudia ist die drastische Antwort. Als sie tief verletzt aus Berlin in das baufällige Elmschlösschen zurückkehrt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, wird sie über Nacht zur Ersatzmutter für Claudias verwaiste Tochter. Die Ermittlungen um den Mord führen Giovanni Beck, den attraktivsten Kommissar Niedersachsens, direkt auf Sarahs Türschwelle. Und schon ist sie mittendrin in einem Wirbelsturm aus Entsetzen, Trauer und unwillkommenem Begehren.

Bettina Owczarski lebt mit ihrem Mann, einem ebenso leidenschaftlichen Hobby-Rockmusiker wie ihr Kommissar Giovanni Beck, und der Französischen Bulldogge Babette in einem kleinen Städtchen am Rande des Elms, in der Nähe von Braunschweig. Wie ihre Protagonistin Sarah war sie Grundschullehrerin, leitete dann ein Studienseminar für die Lehrerausbildung und widmet sich nun ganz dem Schreiben.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2010 im Leda-Verlag

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ricard / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-9498-2

Widmung

Für Tillmann

Prolog

Sie hatte den Tod nicht erwartet, als er kam. Der Gedanke an ihn war ihr, so lange sie denken konnte, vertraut, ja sogar tröstlich gewesen. Die Möglichkeit, das Leben nicht länger aushalten zu müssen, sondern ihm mit seinen Leiden und Enttäuschungen den Rücken kehren zu können, war oft eine Zuflucht gewesen.

Doch heute war sie fast glücklich. Scharf drang ihr die kalte Winterluft in die Lungen, als sie aus der Diskothek ins Freie trat, hinter sich eine Wand aus Licht und hämmernden Rhythmen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich leicht und befreit. Sie hatte sich entschieden. Der Weg, der vor ihr lag, würde hart sein, vielleicht sogar zu hart, um ihn zu Ende gehen zu können. Aber sie fühlte sich stark, unbesiegbar.

Sie holte tief Luft und wich zwei leicht schwankenden jungen Männern aus, die hinter ihr aus der Tür traten. Einer begann ein amerikanisches Weihnachtslied misstönend zu intonieren und sie musste unwillkürlich lächeln.

›Dreaming of a white christmas‹ – vielleicht hatten sie ja Glück und es schneite wirklich noch bis Heilig Abend. Eine Ahnung von Schnee lag schon in der Luft, ein feuchter, verheißungsvoller Geruch, der Erinnerungen an Schneeballschlachten und Schlittenpartien anrührte. Vielleicht würde sie morgen noch einen Schlitten kaufen. Einen richtigen altmodischen Holzschlitten, an den sie vorn ein Glöckchen binden konnte. Das Kind würde sich freuen. Ihre Kleine – sie sollte diesmal ein richtiges Weihnachtsfest bekommen, mit allem Drum und Dran. Einen großen Weihnachtsbaum hatte sie schon ausgesucht. Sie freute sich darauf, ihn gemeinsam mit ihrer Tochter zu schmücken.

Ab jetzt würde alles anders werden, sie würde einfach noch einmal neu anfangen, den Schmutz, den Hass hinter sich lassen.

Eine große Gruppe von Leuten drängte vorbei und stieß sie dabei vorwärts aus dem Licht der Neonleuchten in die Dunkelheit. Sie fröstelte und schlug den Kragen ihres modischen dünnen Mäntelchens hoch. Eigentlich war sie zu leicht angezogen, um auf den Bus zu warten. Aber ein Taxi war teuer und sie konnte sich jetzt, so kurz vor Weihnachten mit den ganzen Sonderausgaben, keinen Luxus leisten.

Die Arme gegen die Kälte fest um den Körper geschlungen, trippelte sie auf ihren hochhackigen Lackstiefeln vorsichtig Richtung Bushaltestelle. Hoffentlich war es nicht glatt. Dann hätte sie mit diesen Trittchen wenige Chancen, heil dort anzukommen.

Sie achtete auf dem schwach beleuchteten Weg sorgfältig auf jeden Schritt und wich den gefrorenen Pfützen aus. Deshalb sah sie ihn erst, als er sich ihr in den Weg stellte. Sie erschrak und strauchelte.

Ihr Mörder stützte sie und half ihr, das Gleichgewicht wieder zu finden, bevor sie es für immer verlieren sollte.

1. Kapitel

Kuhdorf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Putz rieselte von der Decke in Sarahs Haare, als sie genervt die mächtige Haustür hinter sich zuwarf. Verdammte alte Bude. In der Halle war es wie immer eiskalt. Kein Mensch konnte bei den heutigen Energiepreisen ein Schloss heizen, auch wenn es nur ein kleines war. Ihre Schritte hallten auf den farbigen Mosaiksteinen und schienen sich in der Höhe des Raums zu vervielfältigen. Sie warf ihre Tasche neben die weit geschwungene Treppe und ging hinunter in die Küche.

Der Anblick des im winterlichen Dämmerlicht dösenden großen Raums verstärkte ihre Melancholie. Schwarzweiße Fliesenmuster auf dem Boden und riesige Kupfertöpfe in den gemauerten Regalen zeugten von längst vergangenen Zeiten, als hier noch ein Heer von Küchenmädchen Mahlzeiten für 200 Gäste zubereitet hatte. Die langen Risse in den Wänden wurden vom grauen Winterlicht gnädig weich gezeichnet.

Was wollte sie hier?

Sie blickte durch das Fenster in den vom Frost entkleideten Küchengarten. Eine einsame Krähe hockte frierend auf dem alten Mirabellenbaum, der seine dürren Zweige zur Faust geballt in den weißen Himmel reckte.

Hatte sie wirklich geglaubt, in dieser ländlichen Wüste wieder zu sich selbst finden zu können? Was für ein Schwachsinn.

In der summenden Geschäftigkeit Berlins hatte sie wenigstens nicht gespürt, wie einsam sie war, einsam, ungeliebt, unattraktiv und bedeutungslos. Eine langweilige, ältliche Dorfschullehrerin, die sich mit ihrem panischen Rückzug in ihr Heimatdorf auch noch um jede Chance gebracht hatte, jemals einen passenden Besamer für die 1,3 Kinder zu finden, die ihr laut Statistik zustanden.

Im nächsten Februar wurde sie 31, sie fühlte die Kollagenfasern in ihrem Gesicht förmlich zusammenschnurren. Versuchsweise zog sie die Wangen ein und schaute in die verzerrte Spiegelfläche der Edelstahltür ihres Kühlschranks. Sie sah aus wie Der Schrei von Munch. Bekloppt. Sie kicherte und ihre Wangen sprangen in die gewohnt pralle Form zurück.

Warum war sie heute nur so deprimiert? Vielleicht kam sie vorzeitig in die Wechseljahre. Das wäre gar nicht so schlecht. Dann könnte sie die Suche nach dem ominösen Seelenverwandten hoffentlich aufgeben, der sich unweigerlich nach zwei bis drei Jahren als Fehllieferung des Universums erwies und zusammen mit seinen stinkenden Socken und faulen Ausreden im Restmüll entsorgt werden musste.

Sie würde sich eine graue Strickjacke kaufen, vielleicht noch eine Heizdecke und beim sonntäglichen Wunschkonzert zusammen mit Asta und Luise ihre Krampfadergymnastik machen.

Gemeinsam würden sie zerbröseln und verfallen, so wie das alte Herrenhaus, in dem sie lebten.

In Berlin hatte sie die Sorge um das Schlösschen, das dahinsiechte wie eine abgelegte Kurtisane, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte, gut verdrängen können.

Hier war sie wieder täglich mit den Launen dieser abgehalfterten Diva beschäftigt. Putz fiel von der Decke, die Wände schimmelten, Wasserhähne brachten nur rostbraune Fäden hervor und die Heizung funktionierte auch nur an guten Tagen.

Sie brauchte dringend einen Kaffee. Sarah füllte die Kaffeemaschine mit Wasser auf und sah in den Kühlschrank. Natürlich – keine Milch. Kaffee ohne Milch vertrug sie aber nicht mehr, seit ihr Bens Auswärtsspiele auf den Magen geschlagen waren. Das Schwein. Sie waren noch nicht mal verheiratet gewesen, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie mit seiner Assistentin zu betrügen – selbstverständlich fünf Jahre jünger als sie selbst und ebenso selbstverständlich blond, busig und bescheuert.

In der Schule lief auch alles schief. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie an die bevorstehende Weihnachtsfeier dachte. Die heutige Probe für das Theaterstück war eine Katastrophe gewesen: Die beiden Erzengel hatten sich geprügelt und die Hauptdarstellerin war gleich gar nicht in der Schule erschienen.

Karla war ein kluges kleines Mädchen. Leider litten ihre schulischen Leistungen unter dem rastlosen Leben ihrer Mutter. Hatte Claudia wieder einmal nach durchfeierter Nacht nicht rechtzeitig aus dem Bett gefunden? Das war zu Beginn des Schuljahres, als Karla mit ihrer Mutter zurück in das Dorf gezogen war, häufiger passiert, aber jetzt eigentlich schon lange nicht mehr.

Claudia – sie waren früher so eng befreundet gewesen. Gemeinsam hatten sie sich ver- und entliebt, hatten die Sportstunden geschwänzt und die Unterschriften für ihre Entschuldigungen gefälscht. Lachend hatte Claudia die heimlich auf Tante Astas alter Schreibmaschine getippten Briefe unterschrieben und voller Verachtung für die spießigen Lehrer die blonde Mähne geschüttelt, während Sarah unter der Last ihrer Schuldgefühle fast zusammengebrochen war.

Und nun war sie selbst Lehrerin und Claudia – ausgerechnet die wilde Rebellin unter ihren Freundinnen – war Mutter. Sarah hatte es kaum glauben können, als die Schulfreundin ihr Büro betreten hatte, an der Hand ein kleines Mädchen, das ihr wie aus dem bildschönen Gesicht geschnitten war.

Mit großen Erwartungen waren sie damals nach dem Ende ihrer Schulzeit ausgezogen, wild entschlossen, die Abenteuer der Großstadt in vollen Zügen zu genießen und niemals zurückzukehren. Nun, ›niemals‹ hatte sich als ein überschaubarer Zeitraum erwiesen. Hier waren sie beide wieder, gestrandet an den provinziellen Gestaden ihres Heimatdorfes. Was – oder wer – hatte Claudia zurückgebracht? Niemals hätte Sarah geglaubt, dass ihre Freundin, so wie sie selbst, mit gesenktem Kopf zurückkehren und ihre Träume über den Haufen werfen könnte.

Aber war es überhaupt so gewesen? Claudia hatte nichts gesagt, nicht die kleinste Andeutung über ihre Zeit in München war über ihre schönen Lippen gekommen. Bedeutungslosen Smalltalk hatten sie geführt, der mit dem ungehemmten Austausch ihrer Teenagergeheimnisse nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Traurig.

Warum nur hatten sie sich so aus den Augen verloren? Eigentlich unverständlich. Sicher, sie war zusammen mit Filo zum Studium nach Berlin gegangen und Claudia zwei Jahre später nach München, um dort ihre Modelkarriere zu starten. Drei, vier Briefe noch hatte sie an die Freundin geschrieben, aber Claudia hatte nie geantwortet. Von Sarah vorgeschlagene Treffen waren abgelehnt, verschoben, vergessen worden. Ihre über viele Jahre so enge Freundschaft war in Enttäuschung und dann in Bedeutungslosigkeit versickert.

Seltsam eigentlich, dass sie überhaupt Freundinnen geworden waren, unterschiedlich wie sie waren. Claudia, der fleischgewordene Männertraum, ruhelos und aufsässig, und sie selbst, grüblerisch und stets voller Sorge, nicht gut genug zu sein.

100 Jahre schienen verstrichen seit ihrer letzten Begegnung kurz nach Sarahs Abiball, aber Claudia war immer noch genauso atemberaubend schön wie damals. Wie oft hatte Sarah sich früher gewünscht, so auszusehen!

Beneidenswert, morgens aufstehen und ein makelloses Gesicht im Spiegel vorfinden zu können. Wenn sie so ausgesehen hätte wie ihre Freundin, dann hätte Ben vielleicht nicht … »Hör auf«, sagte sie laut. »Vergiss den Mistkerl und kauf dir die Strickjacke!«

Vielleicht ging sie nachher mal zu Claudia und erkundigte sich nach Karla. Oder war das zu penetrant? Bestimmt hatte die Kleine ja nur Bauchschmerzen oder einen Schnupfen. Wahrscheinlich würde Claudia sie wieder mit diesem gewissen Blick mustern, der mit ironischem Befremden zu fragen schien: Wo ist dein Problem?

Das hatte sie schon damals gehasst, diese amüsierte Gereiztheit, mit der Claudia ihre zahlreichen Ängste und Sorgen weggewischt hatte.

Heute verbarg Sarah ihre Unsicherheit hinter einer Maske aus professioneller Tüchtigkeit. Aber sie konnte ja kaum einer Frau gegenüber, mit der sie heimlich auf der Schultoilette geraucht hatte, die kompetente Schulleiterin herauskehren. Claudia würde sich totlachen.

Hier nahm sie doch sowieso niemand ernst als neue Chefin der kleinen Dorfschule. Wie denn auch? Sie nahm sich ja nicht mal selbst ernst. Alle kannten sie schließlich noch als kraushaarige Jugendliche, nichts als Pickel, X-Beine und Komplexe. Lediglich die Pickel waren inzwischen verschwunden, immerhin. Man sollte auch für Kleinigkeiten dankbar sein.

Aber was, wenn Karla nun ernsthaft krank war? Dann ade, du schönes Weihnachtsmärchen! Aber warum hatte Claudia dann nicht in der Schule angerufen?

*

Seufzend verabschiedete sich Hauptkommissar Giovanni Beck von der angenehmen Vorstellung eines leichten Mittagsimbisses beim Italiener. »Wo genau ist sie gefunden worden?«

»In der Nähe vom Nights«, schnarrte die Stimme seines Kollegen aus dem Lautsprecher des Handys, »bei der Bushaltestelle. Wahrscheinlich hat sie auf den Nachtbus gewartet.«

»Ich komme.« Beck legte auf und gab Gas. Das Nights war die größte Diskothek in Braunschweig, weit draußen im Industriegebiet im Norden der Stadt. Es gab dort ständig irgendwelchen Ärger, meistens mit Drogengeschäften. Einen Mord hatte es seines Wissens dort noch nicht gegeben, aber er war ja auch noch nicht lange in der Stadt.

Er blinkte und bog auf die Stadtautobahn, die wie immer um die Mittagszeit relativ leer und befahrbar war. Die Braunschweiger klagten zwar ständig über die vielen Staus, aber im Vergleich zu Berlin war das hier geradezu ein Paradies für Autofahrer.

Sein Magen knurrte und er wühlte im Handschuhfach nach etwas Essbarem, fand jedoch nur ein paar uralte Pfefferminzpastillen, von denen er sich resigniert eine in den Mund schob. Er hätte heute Morgen frühstücken sollen, aber nachdem er fast eine halbe Stunde zu lange geschlafen hatte, war das nicht mehr drin gewesen.

Sehnsüchtig dachte er an sein Bett zurück, das momentan nur aus einer großen Matratze bestand. Ob er jemals dazu käme, seine Wohnung einzurichten? Wahrscheinlich musste das bis zum ersten Urlaub warten. Er schob die Vorstellung, noch ein halbes Jahr in einer nahezu leeren Wohnung zu campieren, von sich und bog auf die Hamburger Straße ein. Der riesige Parkplatz der Diskothek war bis auf ein Polizeifahrzeug und den Wagen seines Partners leer.

Mit einem tiefen Atemzug versuchte er, sich auf die Konfrontation mit einer Leiche vorzubereiten, den ersten Kontakt mit einer Geschichte, deren Leid ihn in der kommenden Zeit begleiten würde. Niemals würde er sich an diesen Moment gewöhnen, dachte er, diesen Augenblick, in dem das persönliche Grauen zu Gunsten professioneller Sachlichkeit zurückgedrängt werden musste. Weichei.

Suchend blickte er sich um und sah in einer entfernten Gasse die Beamten stehen.

Kollege Ulrich Wagner, dieser Sonnenschein, blickte bereits mit gewohnt muffiger Miene in seine Richtung. Anscheinend wartete man sehnsüchtig auf ihn. Der Tatort war schon abgesperrt, Wagner war also nicht erst seit fünf Minuten hier. Schön, dass er sich doch noch entschlossen hatte, seinen Chef zu informieren. Es ging doch nichts über eine gute Zusammenarbeit.

Schnell stieg er aus. Den Kragen seines eleganten Wollmantels gegen den eisigen, nasskalten Wind hochgeschlagen, näherte er sich mit langen Schritten seinem Kollegen.

Wagner grummelte etwas, von dem sich Beck nicht ganz sicher war, ob es ›Tag‹ oder ›Arsch‹ gewesen war und wies auf die Tote. Beck trat näher und sah langes, blondes Haar, verfilzt auf den Asphalt gebreitet.

»Stranguliert«, sagte Wagner und Beck erkannte die typischen blauroten Male an dem weißen zarten Hals, der durch die blonden Strähnen schimmerte. »Der Arzt ist gleich da. Wahrscheinlich ein Sexualverbrechen.«

Beck betrachtete den dünnen, kurzen Mantel, unter dem ein silbernes, noch kürzeres Kleid hervorblitzte. »Möglich«, antwortete er, die Vermutung lag nahe.

Motorengeräusch näherte sich und aus dem hinter der Absperrung haltenden Van sprangen die Kollegen von der Spurensicherung. Der Fotograf nahm Aufstellung und ließ mit seinen Blitzen das Kleid der Toten wie unter einer Lichtorgel glitzern.

Beck ging auf die andere Seite und betrachtete das durch den Erstickungstod entstellte Gesicht. »Sie war jung«, sagte er zu Wagner.

»Natürlich«, erwiderte sein Kollege, »mit 30 gehört man im Nights schon zu den Toten …« Er brach ab und räusperte sich unbehaglich.

»Wir wissen ja noch nicht, ob sie überhaupt im Nights gewesen ist.«

»In dieser Aufmachung? Zu Aldi wollte sie bestimmt nicht.« Wagner wies mit einem Kopfrucken auf den benachbarten Großmarkt hin. Klugscheißer.

Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr ein weiterer Wagen auf den Parkplatz und der Gerichtsmediziner sprang heraus, wie immer in Eile. Der große, überschlanke Mann schlenkerte beim Gehen mit seinen Gliedern wie eine Marionette. Er nickte kurz in ihre Richtung und wandte sich sofort der Leiche zu. »Stranguliert«, bestätigte er Wagners Vermutung, »wahrscheinlich ein dünner Strick oder etwas Ähnliches. Die Strangulationsfurchen sind sehr tief.« Er wartete darauf, dass der Fotograf seine Arbeit beendete. »Schade drum. Hübsche Frau.«

Beck antwortete nicht. Wäre es um eine weniger attraktive Frau nicht schade gewesen? Manchmal gingen ihm die Kommentare seiner Kollegen auf die Nerven.

Ein Bild tauchte auf, blonde Haare wirbelten zu einem unhörbaren Rhythmus, silberne Pailletten schimmerten im Schwarzlicht, ein Lachen ließ weiße Zähne aufblitzen.

Er runzelte die Stirn und wandte sich der Spurensicherung zu. »Irgendwas im Umfeld?«

Kollege Heese schüttelte den Kopf. »Keine Handtasche, kein Portemonnaie, kein Perso. Keine Fußspuren. Beton.«

Beck stöhnte. Die Verfolgung einer Straftat mit einer nicht identifizierbaren Toten war die Freude eines jeden Kriminalbeamten. Das konnte sich Wochen hinziehen.

Wer war diese tote Schönheit? Wen hatte sie geliebt? Wer würde um sie trauern?

*

Sarah blieb in der Mitte des großen gepflasterten Hofes stehen und sah sich um. Der vertraute Anblick der hellgelben Fassaden und der schmalen, hohen Sprossenfenster mit den grünen Fensterläden beruhigte sie und hob ihre Stimmung. Unter der riesigen alten Kastanie in der Mitte des Hofes froren die nackten Putten des Brunnens, aus ihren Amphoren perlten nur noch zu Eis erstarrte Tropfen.

Ihre Großtante hatte schon Licht angemacht, sein warmer Schimmer färbte den grauen Dunst des Dezembernachmittags vor ihren Fenstern golden.

Der kleinere Seitenflügel des Schlosses war ursprünglich nur von ihrer Großtante Luise bewohnt worden. Seit sie zurückgekehrt war, war auch ihre jüngere Tante Asta dort eingezogen, obwohl Sarah ihr mehrfach versichert hatte, dass der Platz im Haupthaus für sie beide mehr als ausreichend wäre. Asta war jedoch der Meinung, junge Leute sollten unter sich bleiben.

Nun, das war sie jetzt auch – sehr unter sich.

Sie öffnete die unverschlossene schwere Tür und rief nach ihrer Großtante. Begeistert kam Muffin aus dem Damenzimmer geschossen, Astas Golden-Retriever-Hündin, dicht gefolgt von Luises Malteserhündchen Marilyn. Entzückt wuselten sie um Sarahs Beine und brachten sie fast zu Fall.

Marilyns schrilles Gekläff brachte Sarahs Ohren zum Singen und sie stöhnte. »Aus!« Warum nur vergeudete sie immer wieder ihre Energie auf diese Erziehungsversuche? Der winzige Hund hatte eindeutig einen stärkeren Willen als sie. Resigniert streichelte sie die Hunde und ging durch eine hohe Flügeltür in Luises Wohnzimmer.

Die pfirsichfarbenen Wände warfen einen rosigen Schimmer über die weißen Möbel und Luises immer noch platinblondes Haar. Ihre Großtante lag auf einer Ottomane und zog an einer langen Zigarettenspitze.

»Rauchst du schon wieder? Du wolltest doch nur noch zu besonderen Gelegenheiten rauchen, allerliebste Luise.«

Ihre Großtante brachte ihre zierlichen Gliedmaßen in eine aufrechte Stellung und zog ihren weißen Satinmorgenrock zurecht. Ordnend griff sie in die sorgfältig gelegten silberblonden Wellen und zupfte eine Locke in die richtige Stellung. »Dies ist eine besondere Gelegenheit. Es ist ein besonders grauer, abscheulicher Wintertag. Da kann eine nicht mehr ganz so junge Person schon in Melancholie verfallen.«

»Das kann ich bestätigen.« Sarah lachte. Sie umarmte ihre Großtante und kam sich wie immer, wenn sie diesen zarten Körper berührte, groß und ungeschickt vor.

»Du! Komm du erst mal in mein Alter, wenn dir die Feuchtigkeit aus den Mauern direkt in die Knochen kriecht und dich jedes einzelne deiner Jahre spüren lässt.«

»Ach, Luise – deine 40 Jahre.« Sarah grinste.

»Nun übertreib mal nicht. 70 gebe ich ja zu, wenn auch ungern.« Luise griff nach Marilyn und nahm sie auf den Schoß. »Ich habe das Gefühl, die Heizung funktioniert nicht. Mir ist kalt.« Luise zog fröstelnd die schmalen Schultern hoch.

»Das tut sie doch nie. Warum hast du dir denn den Kamin nicht an gemacht?« Sarah wandte sich um und betrachtete die große Feuerstelle aus türkisfarbenem Marmor, auf deren Sims sich Luises gerahmte Familienfotos drängten. Über dem Kamin blendete Luises Idol, Marilyn Monroe, den Betrachter mit ihrem schneeweißen Lächeln.

»Es war kein Holz mehr da.« Luise zuckte mit den schmalen Schultern. »Anscheinend haben wir zu viel verbraucht. Jetzt gibt’s erst nächsten Monat wieder welches.«

»Ich habe noch genug. Ich bringe dir nachher ein paar Körbe rüber.«

»Das ist ganz reizend von dir, Kindchen. Ist denn schon Schulschluss?« Luise legte ihren Kopf zurück, um Sarah in das Gesicht schauen zu können.

»Ja, natürlich, es ist schon zwei. Ich konnte mich heute nicht aufraffen, noch Büroarbeit zu erledigen, mir war so trübsinnig.« Sarah fischte einen Keks aus der grünen Glasschale auf einem kleinen Biedermeiertisch vor der Ottomane, und steckte ihn in den Mund.

Er schmeckte köstlich nach Weihnachten, nach Zimt und Orangen und Kinderzeit. Ihre Tante Asta war ein Genie in der Küche, im Gegensatz zu Luise, die noch nicht mal ein Ei kochen konnte, ohne größere Verletzungen davon zu tragen. Grinsend nahm sich Sarah einen zweiten Keks.

Vielleicht war es ja doch nicht so verkehrt gewesen, nach Hause zurückzukehren.

»Hast du Milch da, Luise? Ich habe vergessen, welche zu kaufen.«

»Sieh mal nach, es müsste noch was da sein, allerdings nur dieses fettige Biozeug. Du kennst ja Asta. Und bring mal den Champagner mit. Ich brauche ein Schlückchen für meinen Kreislauf.«

Sarah verdrehte die Augen und ging durch die kleine Halle in die Küche. Sie prunkte mit elfenbeinfarbenem Lack und blinkendem Chrom im vergangenen Glanz der 50er-Jahre, der Zeit, in der sie Luise nach ihrer Scheidung in das ehemalige Frühstückszimmer hatte einbauen lassen. Sarahs Großtante hatte dem Skandal getrotzt, der aus der Trennung von ihrem herrischen Ehemann, einem bekannten konservativen Politiker, entstanden war, einen ordentlichen Batzen des angeheirateten Geldes mit sich genommen und sich freudestrahlend in ihrem Leben als ungebundene Frau eingerichtet.

Leider zu freudestrahlend – von dem Geld war nichts mehr übrig geblieben. Luise hatte immer eine große Vorliebe für schöne Dinge gehabt, schöne teure Männer eingeschlossen.

Manchmal kam sich Sarah älter vor als ihre lebenslustige und kapriziöse Großtante. Vielleicht sollte sie auch mal ein skandalöses Leben ausprobieren – bestimmt hatte Luise in einem einzigen Jahr ihres Lebens mehr Spaß gehabt als Sarah in ihren 30. Und mehr Männer im Bett wahrscheinlich auch.

Genau wie Claudia. Kein Wunder, dass sich ihre Freundin und ihre Großtante immer blendend verstanden hatten. Sie knallte die Kühlschranktür zu und klemmte sich dabei die Hand. »Scheiße.«

Sie ging zurück zu Luise und stellte die Champagnerflasche auf das zierliche Tischen. Luise hatte einen vergoldeten Taschenspiegel hervorgekramt und bemalte ihre Lippen mit äußerster Sorgfalt in dramatischem Blutrot. »Schenkst du mir ein Schlückchen ein, Schatz?« Luise flatterte mit den blauschwarz getuschten Wimpern.

Seufzend ging Sarah quer durch das Zimmer zu dem zierlichen Vertiko, das angeblich der letzten Mätresse des letzten Kaisers gehört hatte, und nahm eine Sektflöte heraus. Sie stutzte und suchte die Glasböden des Schränkchens mit den Augen ab. »Sag mal – wo sind denn deine wunderschönen Jugendstilkelche geblieben. Hast du sie …?«

»Verkauft.« Luise räusperte sich. »Weißt du, da war dieses entzückende Chanelkostüm und ich hatte einfach überhaupt nichts anzuziehen für das Gala-Dinner in Berlin.«

Sarah schnaubte. »Nichts anzuziehen? Du hast mindestens zehn Chanelkostüme im Schrank hängen.« In die ich leider nicht reinpasse.

Luise schnaubte auch. »Uralt! Ich kann ja wohl nicht in einem 30 Jahre alten Lappen zu einem Hardenberg–Dinner gehen.«

»Dann geh doch einfach nicht hin.« Sarah überlegte, ob sie sich auch einen Champagner genehmigen sollte, auf den sexlosen Rest ihres Lebens.

»Ab und zu muss ich hier auch mal raus.« Luise zog einen blutroten Flunsch.

»Hast du eigentlich mal mit Claudia gesprochen? Seit sie wieder hier ist, meine ich?«

Luise schüttelte die platinblonden Wellen und nahm einen Schluck. »Nein. Ich habe sie nur einmal kurz auf der Straße gesehen. Sieht immer noch gut aus, das Mädchen. Warum fragst du?«

»Ach, nur so. Ich habe mich gefragt, warum wir uns so fremd geworden sind.«

»So ist nun mal das Leben, Kindchen. Menschen kommen und gehen. Nichts ist für immer.«

Wohl wahr. Sarah seufzte und dachte an Ben.

»Claudia ist nicht wie du, sie hängt nicht an Menschen. Hat sie noch nie.«

»Woher willst du das wissen? So gut hast du sie ja nun auch nicht gekannt!«

»Verwandte Seelen erkennen einander.« Luise lächelte melancholisch.

»Sei nicht so dramatisch. Schließlich hängst du an Asta.« Und an mir auch hoffentlich ein bisschen. Sarah entschied sich gegen den Champagner. Irgendwie war ihr die Lust vergangen.

»Ich ›hänge‹ nicht an Asta. Sie ist mein rechter Arm. Und du bist mein linker.«

»Danke. Ich hoffe, du spielst nicht auf meine Ungeschicklichkeit an. Wo ist eigentlich Asta?«

»Ist sie immer noch nicht wieder da? Sie ist schon vor ein paar Stunden in die Stadt gefahren, sie wollte längst zurück sein.« Luise legte ihre vom Chirurgen geglättete Stirn in besorgte Falten und ging zum Fenster.

»Mach dir keine Sorgen, Luise. Wahrscheinlich lässt sie mal wieder ihre Chakren stärken. Das dauert.«

Beide lachten. Astas stetes Bemühen um die Gesundung ihres Astralleibes gab in ihrem Frauenhaushalt ständig Anlass zu Spötteleien. Sarah mopste sich schnell noch einen Keks aus der Schale und betrat den Hof.

Muffin nutzte die Gelegenheit und schlüpfte an ihr vorbei in den Hof, zielstrebig auf eine Schlammpfütze zusteuernd. »Muffin, nein!«, rief Sarah. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass die goldfarbene Hündin sich in Sekundenschnelle in ein braunes, borstiges Wildschwein verwandeln konnte. Muffin bog ab und schlenderte zum Pförtnerhäuschen hinüber, als habe sie nie etwas anderes vorgehabt.

In ihre eigene Küche zurückgekehrt, goss sich Sarah endlich einen großen Becher Kaffee ein. Sie schüttelte sich leicht, als sie die Fettaugen auf dem Kaffee sah. Wieder ein paar Gramm mehr auf den Hüften. Sie setzte sich an den Tisch, legte ihre Füße auf einen Stuhl und genoss den köstlichen Zusammenklang von Kaffee und Keks in ihrem Mund.

Das war nun ihr Leben. Schule, Tanten, Frustfraß.

Sie war immer noch erstaunt, dass sie überhaupt den Mut aufgebracht hatte, sich um die Schulleitung zu bewerben. Aber der Wunsch aus Berlin, von Ben wegzukommen, war stärker gewesen als ihre Bedenken. Wie ein kleines Mädchen war sie nach Hause gerannt, in die schützenden Arme ihrer Tanten.

Als sie gerade erwog, sich ein paar Tränen des Selbstmitleids zu gönnen, hörte sie die Eingangstür klappen. »Wer hat denn Muffin in die Pfütze gelassen? Sie sieht aus wie ein Schwein!« Sarah enthielt sich wohlweislich einer Antwort und grinste, als sie das frisch geflochtene Haar ihrer Tante erblickte.

»Na, du Freak?« Sie strich ihrer Tante über den mit Hunderten von hennaroten Zöpfchen geschmückten Schopf.

»Nicht«, kreischte Asta und wich zurück, »du machst ja alles kaputt! Ich habe keine 80 Euro bezahlt, um auszusehen wie ein Handfeger!«

»Aber ein cooler Handfeger«, lachte Sarah und nahm ihrer Tante zwei Tüten ab.

»Cool – in meinem Alter!«, schnappte Asta und schubste Sarah in die Küche. »Und du? Starrst du schon wieder depressive Löcher in die Luft?«

»Ich glaube, ich komme in die Wechseljahre.«

»Ja, klar, das erklärt einiges. Du solltest dir schon mal eine Grabstelle aussuchen.«

Sie stellten die Tüten auf den Tisch und fingen an auszupacken. »Mmm, Pizza«, sagte Sarah zufrieden. »Vom Campanella?«

»Natürlich, die verwenden wenigstens frische Zutaten«, erwiderte Asta und schob die Pizzen in den Backofen. »Geschmacksverstärker sind aber bestimmt darin. Dass du aber auch immer diesen Hang zu Fertiggerichten hast.« Sorgfältig strich Asta ihren langen braunen Wildlederrock glatt und setzte sich zu Sarah.

»Erlaube mal, Pizza vom edelsten Italiener in ganz Braunschweig kann man ja wohl nicht als Fertiggericht bezeichnen«, empörte sich Sarah. »Ich kann einfach nicht immer nur von Tofu und Sojasprossen leben.«

»Erstens ist Tofu wirklich lecker und zweitens erwartet das ja auch niemand von dir. Beschwer dich nur nicht, wenn du wieder Kopfschmerzen und Depressionen kriegst.«

»Dann machst du mir eine Bodyflow–Massage und alles ist wieder gut, allerliebste Asta.«

»Ja, ja. Iss du nur deinen Schrott. Warum bin ich bloß mit zwei so uneinsichtigen und engstirnigen Weibern in meiner näheren Verwandtschaft gestraft? Die eine qualmt und die andere isst Plastik.« Asta seufzte.

»Schlechtes Karma. Wahrscheinlich hast du in deinem letzten Leben ständig Hamburger gegessen und dicke Zigarren gequarzt.«

»So wird es sein. Und – gab’s heute etwas Neues in der Schule?« Asta richtete den intensiven Blick ihrer leuchtend blauen Augen konzentriert auf Sarah.

»Ich glaube, ich gehe nachher mal bei Karla vorbei«, sagte Sarah. »Sie war heute nicht in der Schule.«

»Wahrscheinlich ist ihre liebe Mutter mal wieder nicht aus den Federn gekommen.« Asta nahm einige Halbedelsteine aus einem Stoffbeutel und hielt sie prüfend gegen das Licht. »Du weißt doch, wie sie ist.«

»Schon«, erwiderte Sarah, »aber ich dachte, sie hätte sich jetzt gefangen. In der letzten Zeit war Karla immer pünktlich da.«

»Ich hatte schon befürchtet, dass Claudia das nicht durchhält, sie hat in ihrem ganzen Leben noch nichts zu Ende gebracht, keine Ausbildung, keinen Job, keinen Mann und davon hat’s weiß Gott genug gegeben.« Asta sah kopfschüttelnd nach der Pizza.

»Findest du nicht, dass du ein bisschen hart urteilst?«, fragte Sarah. »Sie hat es ja auch nicht leicht gehabt mit ihrem Alten.«

»Ach«, wehrte Asta ab, »ja, ihr Vater ist ein alter Grantkopf, aber meine Güte, da gibt es doch wirklich Schlimmeres.«

»Ich weiß nicht …« Sarah stellte zwei Teller auf den Tisch. »Ich hatte auch immer Schiss vor dem alten Ahrendt. Und ihre Mutter hatte doch überhaupt nichts zu melden.«

»Ich habe nie verstanden, was du an Claudia gefunden hast.« Asta arrangierte ordentlich das Besteck neben die Teller. »Ihr seid so unterschiedlich.«

»Das sind Filo und ich auch. Du weißt doch, Gegensätze ziehen sich an. Du hast Claudia einfach nie wirklich leiden können.«

»Nein«, gab Asta zu. »Ich bemühe mich zwar um Toleranz, aber Claudia ist mir einfach zu oberflächlich. Ihre Schönheit hat sie immer ziemlich berechnend eingesetzt, finde ich.«

»Na und? Das hat Luise auch oft getan. Und kannst du sie deshalb weniger leiden? Mein Gott, Claudia war damals achtzehn – zeig mir ein Mädchen in diesem Alter, das nicht mit seiner Wirkung auf Männer spielt!«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Aber was regst du dich so auf? Ihr seid doch gar nicht mehr befreundet!«

»Ich wär’s aber gern wieder. Ich mag sie eben.«

»Du und Hunderte von Männern auch«, erwiderte Asta und servierte die köstlich nach Oregano duftende Pizza.

*

»Wer hat die Leiche gefunden?«, wandte sich Beck an seinen Kollegen.

»Der Parkplatzwärter.« Wagner wies mit einem Kopfnicken auf einen an der Seite wartenden Mann in grauer Arbeitskleidung.

Beck ging auf den schmächtigen Mann zu und gab ihm die Hand. »Beck, Kriminalpolizei. Wann haben Sie die Tote gefunden?«

»Vor etwa aaner Stunde, so gegen elf, ich habe auch glaach auf die Uhr jesehen, Herr Kommissar«, antwortete der Mann eifrig.

»Kontrollieren Sie den Parkplatz immer um diese Zeit?«

»Ja, gegen 10 Uhr fange ich hier an, sauberzumachen«, er wies auf seinen Spießstock und einen Eimer, »Samstag- und sonntagmorgens sieht’s hier immer aus wie Sau!«

»Sie haben eine Stunde sauber gemacht, ehe Sie die Tote bemerkten?«, fragte Beck ungläubig.

»Na ja, ich hab’ vorne anjefangen und dann musste ich noch die Besoffenen vom Platz jagen, wie immer. Die pennen hier in den Autos und ich kann dann nicht ordentlich fegen, da weck’ ich se immer auf. Dann randalieren se maastens, weil se noch pennen wollen.«

Beck wurde hellhörig. »Wer hat hier geschlafen?«

»Junge Kerle, wie immer«, sagte der Mann, »die Mädels machen so was nich.«

»Wie viele?«

»Als ich kam, fuhr grade ein Wagen weg und dann stand noch aaner da, waren zwaa Typen drin. Ich hab ans Fenster jeklopft und jerufen. Lag alles voller Bierdosen, auch unterm Auto, da kam ich nich ran. Die müssen jesoffen haben wie die Löcher.«

»Sie haben sich nicht zufällig das Kennzeichen des Autos gemerkt«, fragte Beck ohne viel Hoffnung.

»Ne, maan’ Se denn, die warn’s?«

»Zumindest könnten sie etwas gesehen haben«, erklärte Beck. »Was war es denn für ein Wagen?«

»Könnte ’n alter Audi jewesen saan, dunkel – halt, jetzt fällt’s mir wieder aan, der hatte ein Braunschwaager Kennzaachen, ich hab noch jedacht, was fährt denn der mit dem Wagen in die Disco, wenn er saufen will. Sonst stehen hier immer eher die Gifhorner und …«

»Also ein Braunschweiger Kennzeichen, haben Sie sich sonst noch etwas gemerkt?«, unterbrach Beck den Mann, der die Aufmerksamkeit sichtlich zu genießen begann.

»Ne, ich glaub nicht oder warten Se mal …« Der Mann war nicht bereit, die Hauptrolle in diesem Drama so schnell abzugeben. »Ich glaub, nach dem BS kam ein A …«

Beck wartete, aber es kam nichts mehr. »Kannten Sie die Tote oder haben Sie sie hier schon mal gesehen?«

»Ne, hätt ich aber gerne.«

»Wissen Sie, wem die Diskothek gehört oder wer sie leitet?«

»Wem se gehört, waaß ich nich’, angestellt hat mich Haanen, der Geschäftsführer.«

Beck war irritiert. »Hanen oder Heinen?«

»Haanen, mit ei.«

Und die Braunschweiger glaubten doch tatsächlich, dass sie reinstes Hochdeutsch sprachen. Lachhaft. »Kennen Sie seinen Vornamen?«

»Brüderschaft jetrunken hab ich mit dem noch nich’.« Der Mann feixte und entblößte dabei ein lückenhaftes Gebiss.

»Mein Kollege nimmt Ihre Personalien auf. Falls Ihnen noch was einfällt, wenden Sie sich an ihn oder Sie rufen uns an.« Beck wandte sich zu Wagner um, der in seinen Notizblock kritzelte. »Lassen Sie sich auch noch die Beschreibung von den zwei Männern im Auto geben.«

Sein Kollege knurrte etwas, dass verdächtig nach »Wäre ich ja nicht drauf gekommen« klang. Beck zog es vor, die Äußerung zu ignorieren.

Er wusste, dass er bei seinem engsten Mitarbeiter nicht sonderlich beliebt war. Er hatte noch nicht herausgefunden, ob Wagner selbst auf den Beförderungsposten spekuliert hatte, obwohl er als Mann aus dem mittleren Dienst wahrscheinlich nicht zum ersten Mal einen Studierten vor die Nase bekam, oder ob Beck ihm einfach als Mensch nicht passte.

Beck war klar, dass er mit seiner eleganten Kleidung und dem modischen Haarschnitt bei weniger stilbewussten Kollegen mitunter auf Befremden stieß. Ein Exkollege aus Berlin, mit dem er manchmal ein Bier trinken gegangen war, hatte mal zu ihm gesagt, er passe in die Polizei wie David Bowie in einen Männergesangsverein. Netter Vergleich. Beck mochte David Bowie, hatte aber entschieden etwas dagegen, als Paradiesvogel gehandelt zu werden, bloß weil er seine Klamotten nicht bei C&A kaufte.

Der Gerichtsmediziner richtete sich neben der Leiche auf und klopfte sich die Knie sauber. »Stranguliert mit einem schmalen, strickähnlichen Gegenstand, wahrscheinlich aus sehr festem Material. Mitte bis Ende 20, über sechs Stunden tot, kein Reflex, Leichenstarre vollständig eingetreten. Wahrscheinlich kein Sexualdelikt. Alles Weitere dann im Bericht.«

»Kein Sexualdelikt?« Wagner und Beck sprachen unisono.

Der Arzt zuckte mit den mageren Schultern. »Sieht nicht so aus. Keine äußeren Spuren von Sperma, keine Verletzungen, keine Hämatome an den Oberschenkeln. Der Slip sitzt auch da, wo er hingehört. Kann mir nicht vorstellen, dass ein Mörder und Vergewaltiger seinem Opfer hinterher die Unterhose wieder anzieht. Aber – vielleicht gibt’s ja auch so was.«

Beck blickte kopfschüttelnd auf die Leiche. Der Gerichtsmediziner hatte das schimmernde Kleid sorgsam wieder über die langen Beine gezogen.

Warum war er eigentlich so überrascht? Also kein Triebmord. Aber was dann? Wer hatte die tote Schönheit so sehr gehasst – oder geliebt –, dass er sie umbringen musste? Oder war der Blonden eine zufällige Begegnung in der Diskothek zum Verhängnis geworden?

Eine unbekannte Tote, ein unbekanntes Motiv. Er freute sich schon auf seinen Bericht.

Beck dankte dem Arzt und blickte noch einmal über den zugigen Parkplatz, auf dem gerade der Krankenwagen einfuhr, nickte kurz in Wagners Richtung – ja, du mich auch – und ging zu seinem Wagen zurück.

Wider Erwarten hatte er immer noch Lust auf Spaghetti aglio e olio. Wahrscheinlich fing er an abzustumpfen.

2. Kapitel

Sarah pfiff nach Muffin und öffnete das Hoftor. Langsam schlenderte sie die alte Dorfstraße hinunter und betrachtete die alten Fachwerkhöfe, die links und rechts die schmale Straße säumten. Tote Hose, aber hübsch.

Bei Dörte Allers stand das Hoftor offen und Sarah konnte den Türkranz sehen, der die Haustür weihnachtlich schmückte. Kindliche Vorfreude auf das Weihnachtsfest durchfuhr sie plötzlich und sie bedauerte, dass sie keine Zeit gefunden hatte, ihr Haus zu dekorieren.

Aber am Samstag würde sie den großen Baum abholen und nach allen Regeln der Kunst mit Glitter behängen. Endlich konnte sie in Tannenzweigen und glitzernden Kugeln baden. Früher, als ihr Vater noch lebte, hatten sie immer einen gewaltigen Baum in der Halle aufgestellt, der mit Hilfe von Leitern geschmückt wurde. Seit sie die Halle nicht mehr beheizen konnten, stand er im kleinen Salon, den Sarah als Wohnzimmer benutzte. Na ja, war sowieso gemütlicher.

Ben, das Schwein, hatte jede weihnachtliche Gefühlsduselei abgelehnt und ihre zaghaften Versuche, die Wohnung zu schmücken, ebenso belacht wie Filo, ihre beste Freundin. ›Gottchen, Sarah, kommt mal wieder das Landei durch?‹ Zum Schluss hatte sie selbst geglaubt, dass Weihnachten spießig sei. Sie hatte ein Identitätsproblem.

Sarah seufzte und ging schneller, um die Melancholie abzuschütteln. Muffin war schon weit vorausgelaufen und sah sich immer wieder missbilligend nach ihrer langsamen Begleitung um. Sie folgte der Hündin und bog in die Driebe ein, in der Karla mit ihrer Mutter lebte.

Schon von weitem sah sie, dass sich niemand in dem kleinen Gärtchen aufhielt. Das winzige, schiefe Haus wirkte vernachlässigt und verlassen. Kein Licht brannte hinter den schmutzigen Fensterscheiben, obwohl Sarah wusste, dass es auch am frühen Nachmittag in den engen Räumen schon dunkel war. Das Haus hatte immer wieder leer gestanden und bot kaum Komfort. In der heutigen Zeit hatte kaum jemand noch Lust, einen widerspenstigen Kohleofen zu beheizen, der die feuchte Modrigkeit eines alten Hauses ohnehin nicht vertreiben konnte.

Unschlüssig stand sie vor der verrosteten Gartenpforte, während Muffin neugierig die Schnauze durch den Zaun steckte und schnüffelte. Zögernd drückte Sarah die Pforte auf und klopfte an der Haustür, von der dabei ein bisschen Farbe abblätterte. Nichts rührte sich im Haus.

Sie versuchte durch das oben in die Tür eingelassene Butzenfenster zu schauen, aber drinnen war es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Sie klopfte noch einmal energischer, was ein erneutes Farbgeriesel zur Folge hatte. Kein Laut war im Inneren des Hauses zu hören. Resigniert wandte sie sich ab und sah Muffin gerade noch um die Hausecke wischen.

»Nein, hierher«, rief sie und eilte hinter der Hündin her, um zu verhindern, dass sie in die Wobe sprang, einen kleinen Bach, der auch durch ihren Hausgarten sprudelte. Sie erwischte Muffin am Halsband und warf einen kurzen Blick auf die Rückseite des Hauses.

Da! War da nicht eine Bewegung am oberen Fenster gewesen? Angestrengt starrte sie nach oben.

»Karla? Claudia?«, rief sie. »Ich bin’s, Sarah!«

Nichts rührte sich. Sie wollte sich gerade abwenden, als ein kleines weißes Gesicht an der Scheibe auftauchte.

»Karla! Was ist los! Bist du krank?« Sie meinte ein Kopfschütteln zu erkennen. »Wo ist Claudia? Mach mir doch auf, bitte!«

In der Hoffnung, dass Karla sie verstanden hatte, ging Sarah zurück zur Vordertür und wartete. Ein leichtes Tapsen auf der Holzstiege verriet, dass ihre Bitte gehört worden war. Das Knirschen eines Schlüssels war zu hören und die Tür öffnete sich einen Spalt weit, durch den ein großes blaues Auge lugte.

»Keine Angst, Karla«, beruhigte Sarah die Kleine und drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich und gab den Blick auf ein blasses blondes Mädchen frei, das ganz offensichtlich geweint hatte.

»Was ist los?«, fragte Sarah erschrocken. »Ist Claudia da?«

Die Kleine schüttelte den Kopf und blickte auf ihre nackten Füße.

Sarah schob sie sanft in den Flur zurück und trat ein. Der freudig hereindrängenden Muffin schlug sie die Tür vor der Nase zu. Bevor sie die bei allen Kindern beliebte, aber sehr temperamentvolle Hündin hereinließ, wollte sie sich erst einmal umschauen. Sie ging in die kleine, kalte Küche und sah, dass der Ofen schon mehrere Stunden aus sein musste.

»Wo ist deine Mama?« Sarah beugte sich zu Karla hinunter und sah ihr in die Augen. »Warum warst du heute nicht in der Schule? Du weißt doch, wie wichtig du für unser Theaterstück bist!«

Karla nickte und sah weiter bedrückt zu Boden. »Mama ist nicht da«, flüsterte sie kaum vernehmbar.

Sarah sah sich in der Küche um. Schmutzige Teller stapelten sich neben und in der alten Spüle und angebrochene Packungen mit Brot und anderen Lebensmitteln lagen überall offen herum. Auf dem Herd hatte mit Sicherheit heute niemand ein warmes Essen für Karla gekocht, denn auch er war mit benutztem Geschirr vollgestellt. Auf einer Leine über der schwarzen Ofenplatte hingen neben Kinderhemdchen Nylonstrümpfe und ein frivoler Spitzen–BH zum Trocknen.

Sie wandte sich wieder an das Mädchen. »Wie lange ist Claudia denn schon weg? Schon länger, oder?«

»Seit gestern«, wisperte die Kleine und schaute wieder auf den Boden.

»Seit gestern?«, fragte Sarah entsetzt. «Du bist seit gestern allein zu Haus? Hast du heute schon was gegessen?«

»Zwieback«, antwortete das Mädchen, »und Schokolade.« Sie schaute vorsichtig zu Sarah empor, als könne diese sie für die Nachlässigkeit ihrer Mutter bestrafen.

Sie drückte die Kleine tröstend an sich und überlegte. Zuerst musste Karla mal Schuhe und Strümpfe anziehen. Auf dem kalten Steinfußboden konnte sie sich sonst eine üble Erkältung einfangen, wenn sie das nicht schon getan hatte.

Mit einem entsprechenden Auftrag schickte sie das Kind nach oben und sah sich in der chaotischen Küche um. Sollte sie zuerst Feuer machen? Aber sie konnte doch das Kind nicht hier allein mit einem brennenden Ofen zurücklassen! Oder sollte sie ihre Unterlagen holen und hier arbeiten, während sie auf Claudia wartete?

Das Kind musste unbedingt auch etwas essen. Sarah schaute verunsichert nach Lebensmitteln, die noch verwendbar waren. Was aßen Kinder eigentlich gern? Ob sie die Kleine einfach mitnahm? Aber wenn Claudia das als Einmischung auffasste? Andererseits ließ man ein siebenjähriges Kind doch auch nicht über Nacht allein in einem kalten Haus!

»Karla?«, rief Sarah die Treppe hinauf. Als keine Antwort kam, stieg sie die schmale Holzstiege empor und zog den Kopf ein, um sich nicht am Abschlussbalken zu stoßen. Leises Schluchzen wies ihr den Weg in das Kinderzimmer.

Dort saß die Kleine inmitten eines heillosen Durcheinanders von Kleidung und Spielsachen auf dem Bett, das das halbe Zimmer einnahm. An einem vorhanglosen Fenster blühten Eisblumen in frostiger Grazie. Mein Gott, Claudia!

Einen Strumpf hatte Karla bereits angezogen und weinte mit gesenktem Kopf. »Ich kann den anderen nicht finden!« Sie wischte sich mit einem Ärmel über die roten Augen.

In dem engen Raum war es eisig, Karla musste schleunigst in die Wärme. Sarah schlang die Bettdecke um das Mädchen und machte sich auf die Suche nach der Socke.

Sie wühlte einen Wollpullover aus dem Kleiderhaufen und zog den zweiten Strumpf unter dem Kopfkissen hervor. »Schnell, zieh das an, du kommst erst mal mit zu mir.« Sarah half dem Mädchen, den Pullover über ihren Schlafanzug zu ziehen. Sie schickte die Kleine nach unten und griff nach einer Jeans, die auf dem Boden lag.

Als sie nach unten kam, war das Mädchen schon dabei, ihre Stiefel anzuziehen. »Nein, erst noch die Hose«, wies Sarah sie an und half ihr hinein. »Möchtest du etwas mitnehmen?«

Karla schüttelte den Kopf und fragte mit dünner Stimme: »Kommt Mama nicht bald?«

»Doch, ich denke schon, aber es ist hier viel zu kalt für dich und ich bin nicht besonders gut darin, einen Ofen anzumachen!«

»Ich kann das«, erwiderte Karla, »ich habe Mama schon oft zugesehen.«

»Das ist aber ziemlich gefährlich«, wandte Sarah ein, »das solltest du lieber nicht machen. Kommt es denn oft vor, dass deine Mama dich allein lässt?«

»Nein.« Karla sah zu Sarah hoch. »Meistens ist sie da.«

»Na, komm, wir gehen, Muffin ist draußen bestimmt schon festgefroren.«

Die Miene der Kleinen hellte sich bei der Erwähnung des Hundes auf und sie öffnete eilig die Haustür, vor der sich Muffin gemütlich niedergelassen hatte.

Sarah nahm eine kleine Jacke von einem Haken im Flur und wollte Karla folgen, als ihr einfiel, dass sie Claudia unbedingt eine Nachricht hinterlassen musste. Sie gab dem Mädchen die Jacke und hastete in die Küche zurück. Auf einem Stück Einwickelpapier hinterließ sie einige Zeilen und deponierte es deutlich sichtbar auf einer freien Ecke des Küchentisches. Er würde Claudia hoffentlich gleich auffallen, wenn sie zur Küchentür hereinkam.

Als wenn sie nicht genug eigene Probleme hätte! Claudia, wo bist du?

*

Mürrisch setzte Beck seine Unterschrift unter die Anzeige an den Staatsanwalt. Die Spaghetti lagen ihm wie Blei im Magen. Anscheinend schlug ihm ein Mord doch auf die Verdauung. Jetzt noch die Nachricht an das Landeskriminalamt.

Eine Vermisstenmeldung, deren Beschreibung auf seine schöne Tote passte, war noch nicht eingegangen. Dazu war es aber eigentlich auch noch zu früh. Er musste so schnell wie möglich mit der Zeichnung, die hoffentlich schon fertig war, in die Diskothek. Die Fotos konnte man keinem Laien zeigen. Irgendwer würde sie schon erkennen, schließlich war die Tote auffallend schön gewesen. Da gab es sicher einen Barkeeper oder einen Türsteher, der sich ihrer erinnerte. Eine andere Möglichkeit hatte er zurzeit jedenfalls nicht.

Wenn die Tote allein gelebt hatte, konnten Tage, ja Wochen vergehen, bis sie von jemandem vermisst wurde. Aber wahrscheinlich war das nicht.

Irgendwo in Braunschweig, Wolfsburg oder Gifhorn vermisste jetzt jemand seine schöne Tochter, Frau, Freundin oder Mutter. Zunächst würde es nur eine vage Besorgnis sein, schließlich konnte die Frau ja auch bei jemandem übernachtet haben. Aber schon bald würde diese leichte Verunsicherung umschlagen in unruhige Sorge und sich schließlich in nackte Panik verwandeln. Irgendjemand würde mit nervöser Hand zum Telefonhörer greifen um die Polizei anzurufen. Und dann wäre es seine Aufgabe, die Angst, die noch von Hoffnung verbrämt wurde, in grauenhafte Gewissheit zu verwandeln.

Himmel, was war nur mit ihm los? Das war nun mal sein Job! Und dies war weiß Gott nicht der erste Mord, mit dem er befasst war. Es mussten die fettigen Spaghetti sein, die ihm auf die Stimmung drückten.

Irgendwie erinnerte ihn die Tote an Ayana, warum auch immer. Eigentlich konnte es keinen größeren Gegensatz geben als den der blonden Schönheit und der exotischen, dunklen Erscheinung seiner Exfreundin. Ayana hatte auch so ein silbern schimmerndes Kleid gehabt, vielleicht war es das? Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihn momentan alles an Ayana erinnerte.

War es doch ein Fehler gewesen, sie zu verlassen? Nein. Das hatte er doch nun oft genug durchgekaut. Immer wieder. Und war immer wieder zu ihr zurückgekehrt.

Aber jetzt war endgültig Schluss, er wollte nicht mehr. Diese Beziehung hatte einfach keine Zukunft. Ayana war als Chirurgin an einer großen Klinik in Berlin genauso eingespannt wie er in seinem Beruf. Und genauso besessen.

Am Anfang waren sie begeistert voneinander gewesen und hatten viel Verständnis für das Engagement des Anderen gehabt. Aber dann waren die Wochenenden, die sie gemeinsam verbracht hatten, immer seltener geworden. Sie hatten sich auseinander gelebt, zu wenig wirklich miteinander geteilt.

Ayana war die einzige seiner Freundinnen gewesen, die seinen Vater mochte. Und was noch erstaunlicher war – sein Vater mochte sie. Natürlich hatte sie als Chirurgin schon fachlich bei ihm als Kollegen einen Stein im Brett gehabt. Ihre exotische Attraktivität hatte sicher ebenfalls dazu beigetragen. Sie war Äthiopierin, anmutig und hoch gewachsen. Sein Vater hatte schon von Berufs wegen einen Blick für Schönheit. Schließlich wurde er als plastischer Chirurg Tag für Tag damit konfrontiert – oder zumindest mit dem Wunsch danach.

Ayana hatte Becks Blick magisch angezogen, als er ihr das erste Mal begegnet war. Er hatte einen Kollegen im Krankenhaus besucht und sie war die behandelnde Ärztin gewesen. Es hatte sofort gefunkt, jedenfalls bei ihm.

Sie war so in ihre Aufgabe versunken gewesen, dass sie ihn gar nicht wahrgenommen hatte. Sie hatte im Krankenzimmer gestanden und konzentriert auf die Patientenkarte gestarrt, in ihrem weißen Kittel auf der honigbraunen Haut, den er ihr in Gedanken sofort ausgezogen hatte. Dabei war sie eigentlich gar nicht schön, sie sah eher spektakulär aus. Man musste sie einfach ansehen. Sie konnte so herrlich lachen. Ihr Lachen hatte er wahrscheinlich am meisten geliebt.

Beck stöhnte. Es war so fruchtlos, in der Vergangenheit zu wühlen. Sie ging ohnehin irgendwann nach Äthiopien zurück. Und er konnte dort nicht arbeiten, jedenfalls nicht in seinem Beruf. Wie sangen doch die Stones so richtig? I’ve been loving you too long. Es war aussichtslos. Punkt. Schluss.

Also zurück zu diesem dämlichen Bericht, in den er so gut wie nichts hineinschreiben konnte.

*

Sarah setzte Karla auf einen Stuhl am Küchentisch. »Ich koche dir erst mal einen Kakao, okay?«

Das Mädchen nickte stumm. Spontan ging Sarah zur Haustür und rief Muffin hinein, die sie eigentlich wegen ihrer schmutzigen Pfoten draußen im Hof gelassen hatte. Die Hündin stürmte freudig auf Karla zu und begrüßte das Mädchen, als hätte sie es tagelang nicht gesehen. Die Kleine beugte sich zu ihr hinunter und strich sanft über das lockige Fell.

Sarah setzte Milch auf und holte den Kakao aus dem Küchenschrank. »Du musst doch Hunger haben, Karla«, sagte sie, um die Stille zu füllen, »worauf hättest du denn Lust?«

»Pommes?«, schlug das Mädchen zaghaft vor.

Natürlich. Die hatte sie aber nicht. Aus gutem Grund, schönen Gruß von den Hüften. »Tja, das sieht schlecht aus. Wie wär’s denn mit einer Pizza?«, schlug Sarah vor.

Karla überlegte. »Ohne Pilze?«

»Hm. Mal sehen.« Sarah wühlte im Tiefkühlfach des Kühlschranks. »Peperoni und Tomaten?«

»Gut.«

Gott sei Dank, das Menü war abgesegnet. Was sollte sie jetzt bloß als Nächstes tun? »Sag mal, Karla, habt ihr eigentlich inzwischen ein Telefon?«

»Mama hat ein Handy«, erwiderte die Kleine.

Natürlich, warum war sie da nicht gleich drauf gekommen? »Weißt du die Nummer?«

»Ja, klar«, Karla ratterte die Nummer herunter.

»Moment, ich brauch erst mal was zu schreiben.« Hastig riss Sarah einen Zettel vom Küchenblock und ließ sich die lange Nummer wiederholen. »Ich versuch mal, deine Mama zu erreichen, ich bin gleich wieder da.« Sarah ging in den Flur und wählte die Nummer. Nervös wartete sie auf die Verbindung. Was sollte sie überhaupt sagen? Hallo, Claudia, lange nicht gesehen, hast du eigentlich einen Sprung in der Schüssel?

Die Mailbox schaltete sich ein. Sarah fluchte lautlos und stammelte eine kurze Nachricht an Claudia in den Hörer. Warum ließ diese Frau ihr Kind allein und ging dann noch nicht mal ans Handy? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Ratlos ging sie zurück in die Küche.

Karla stand am Herd und drehte sich um. »Die Milch ist übergekocht. Mama sagt, dass macht sie immer, wenn man weggeht.« Ein kleines Lächeln huschte über Karlas blasses Gesicht. Hastig stürzte Sarah an den Herd und sah, dass Karla bereits umsichtig die Platte ausgeschaltet hatte.

»Heute ist anscheinend mein Glückstag«, schimpfte Sarah, froh über die Ablenkung, und begann die Schweinerei auf dem Herd zu beseitigen. »Ich kann deine Mutter nicht erreichen, Karla, ich glaube, ich sollte mal bei deinen Großeltern anrufen.«

Karla schüttelte heftig den Kopf und sah nach unten.

»Aber irgendjemand aus deiner Familie muss doch Bescheid wissen, dass du allein bist. Ich kann dich nicht einfach hier behalten!« Ich kann nämlich noch nicht mal auf mich selbst aufpassen, weißt du?

»Nur bis Mama wieder da ist«, flüsterte die Kleine, »bitte!«

»Bist du denn nicht gern bei deinen Großeltern?«, fragte Sarah.

Karla schüttelte den Kopf. »Die mögen uns nicht.«

Sarah dachte nach. Irgendetwas musste aber unternommen werden. »Pass auf, Karla, ich schiebe jetzt die Pizza in den Ofen und gehe dann kurz rüber zu meinen Tanten. Muffin bleibt bei dir, ich bin gleich wieder da, in Ordnung?« Karla nickte und streichelte die Hündin, die sich behaglich auf ihren Füßen nieder gelassen hatte.

Sarah eilte über den Hof, der schon im frühen winterlichen Dunkel lag, auf die hell erleuchteten Fenster des Seitenflügels zu. Ihre Tanten saßen zusammen in Luises Salon und tranken Tee aus hauchdünnen chinesischen Porzellantassen.

»Setz dich zu uns, Kind«, Luise klopfte einladend auf einen Stuhl.

»Nein, ich kann nicht, ich habe Karla Ahrendt drüben«, wehrte Sarah ab und berichtete, wie sie das Mädchen vorgefunden hatte. »Jetzt muss ich doch die alten Ahrendts informieren, oder? Was meint ihr?«

»Ich denke schon«, nickte Asta, »obwohl du wahrscheinlich wenig Unterstützung finden wirst. Ich glaube auch nicht, dass die wissen, wo Claudia ist. Aber sie müssen sie zu sich nehmen, bis die Dame wieder auftaucht, so oder so.«

»Na, dann viel Spaß, du musst einfach lauter schreien als der Alte«, meinte Luise. »Vielleicht will er sie ja gar nicht und wir können sie ein Weilchen behalten, das wäre doch schön. Du magst doch Kinder.« Sie lächelte entzückt.

»Sag mal, spinnst du? Karla ist doch kein herrenloser Hund.« Sarah schüttelte entnervt den Kopf.

»Ich meine ja nur.« Luise nahm einen Schluck Tee und zuckte mit den schmalen Schultern.

Sarah seufzte. Irgendwie hatte sie gehofft, um einen Kontakt mit dem ewig zornigen Großbauern herumzukommen. Früher hatte es zu den Mutproben gehört, auf dem Ahrendthof Kirschen zu klauen. Einige ihrer Freunde hatten von dem Alten dafür Prügel bezogen.

Sie erinnerte sich daran, dass sie keine acht Jahre mehr alt war, sondern eine erwachsene Frau in einer Führungsposition. Oder so was Ähnliches. In dieser Eigenschaft stand sie auf und reckte das Kinn. »Habt Ihr die Nummer?«

»Steht im Telefonbuch«, meinte Asta lakonisch.

Sarah ging in die kleine Halle und wühlte in der Schublade einer krummbeinigen Kommode nach dem Buch. Vielleicht war ja keiner da?

»Ahrendt.« Genauso freundlich, wie sie ihn in Erinnerung hatte, bellte der Bauer seinen Namen in den Hörer und ihr Magen krampfte sich zusammen.

Hastig teilte ihm Sarah den Grund ihres Anrufes mit und hasste sich für ihre dünne Kleinmädchenstimme. Am anderen Ende wurde geschwiegen, bis sie nervös nachfragte: »Haben Sie verstanden? Karla ist seit gestern Abend allein zu Hause! Sie hat auch noch nichts gegessen …«

»Ja, und? Was habe ich damit zu tun?«

Sarah stammelte: »Sie sind doch der Großvater. Ich … Ihre Tochter ist …«

»Unsere Tochter hat sich noch nie ordentlich um irgendetwas gekümmert«, wurde sie barsch unterbrochen. »Sie war schon immer eine Schlampe.«

»Ja, aber, was soll denn jetzt geschehen«, fragte Sarah verwirrt und fühlte sich doch wieder wie mit acht. »Ich kann ja die Kleine nicht einfach hier behalten!«

»Was haben Sie sie denn überhaupt zu sich geholt, das geht Sie doch überhaupt nichts an? Ihr vom Schloss meint immer noch, das Dorf gehört euch und ihr könnt euch in alles einmischen!« Ahrendt keuchte asthmatisch in den Hörer.

Sarah holte tief Luft: »Entschuldigen Sie, ich würde nicht sagen, dass mich das nichts angeht. Immerhin war Sarah heute unentschuldigt nicht in der Schule und ich bin ihre Schulleiterin und trage ein gewisses Maß an Verantwortung dafür, dass …«

»Nun mach mal halblang, Mädchen, ich kannte dich schon, als du noch in die Windeln geschissen hast, jetzt komm mir nicht so! Schulleiterin, dass ich nicht lache! Aber wenn es dich beruhigt, dann bring die Kleine vorbei, damit wir unserer Großelternpflicht nachkommen können!«

Ehe Sarah ihre Wut herausbrüllen konnte, hörte sie eine Frauenstimme im Hörer: »Hören Sie? Wir nehmen die Kleine auf gar keinen Fall. Ausgeschlossen.«

Ein Klicken beendete das Gespräch. Sarah starrte auf den Hörer und legte langsam auf. Waren die noch ganz gar?

Sie schlug mit der Faust gegen die Wand über dem Telefon und stellte sich vor, es wäre Ahrendts rote Säufernase. Da, nimm das, du, du … Noch nicht mal ein ordentliches Schimpfwort fiel ihr ein. Aggressionsgehemmt war sie also auch noch.

Wie eine kleine Maus hatte sie in den Hörer gepiept. Piep, piep, piep, niemand hat mich lieb.

Sie ging in die Küche zurück. »Sie nehmen sie nicht. Erst beleidigt mich der Alte und dann kommt seine Frau ans Telefon und weigert sich, ihre Enkelin für ein paar Stunden zu sich zu nehmen. Ich fasse es nicht. Die kriegt doch sonst nie den Mund auf! Und ich blöde Kuh stehe da wie ein dummes, kleines Mädchen und lasse mich anpöbeln. Toll, wirklich toll!«

Asta zog sie auf einen Stuhl. »Nun beruhige dich erst mal.«

»Was soll ich denn jetzt machen, ich muss wieder rüber zu Karla und … Was sagt man eigentlich zu einem blöden, alten Bauern, wenn man ihn beleidigen will?«

»Rübenfresse?«, schlug Luise vor und kicherte.

»Luise, also bitte …! – Ich gehe jetzt erstmal bei Claudia vorbei und gucke, ob sie inzwischen nach Hause gekommen ist, du kümmerst dich um die Kleine. Und dann sehen wir weiter.« Asta schüttelte ihre Zöpfe nach hinten und stand auf.

»Würdest du das tun? Ach, das wäre nett«, sagte Sarah erleichtert. »Ich geh dann mal wieder rüber – Gott, die Pizza!«

Sie stürmte über den Hof in ihre Küche. Ein Blick zum Backofen verriet ihr, dass noch nichts verbrannt war. Karla meinte altklug: »Ich habe auf die Pizza aufgepasst. Die muss noch.«

Sarah nickte und setzte sich.

»Muss ich jetzt zu Opa?«, fragte das Mädchen ängstlich.

»Nein, erstmal nicht.« Die alte Rübenfresse will dich nicht.

»Siehste, ich hab dir doch gleich gesagt, die können mich nicht leiden«, strahlte Karla erleichtert.

»Ach, das glaube ich nicht«, versuchte Sarah abzuschwächen, »dein Opa war schon immer so knurrig, wir hatten als Kinder auch ein bisschen Angst vor ihm. Wahrscheinlich meint er es gar nicht so!« Von wegen.

»Doch, der meint das so«, sagte die Kleine bestimmt. »Jetzt muss die Pizza raus.«

»Ach ja …« Zerstreut stand Sarah auf.

»Du bist wohl nicht so gut im Kochen, was?«, grinste das Mädchen.

»Nee, du freche Göre, bin ich nicht, aber ich habe mir fest vorgenommen, im neuen Jahr einen Kochkurs zu machen.« Am besten auch noch einen Häkelkurs und einen in Ikebana, damit mein Leben wieder einen Sinn hat.

»Mama kann auch nicht kochen, jedenfalls nicht gut. Wenn ich mal Kinder habe, koche ich denen jeden Tag was ganz Tolles und dann bastele ich mit ihnen. Und abends lese ich ihnen eine schöne Geschichte vor«, zählte Karla voller Zuversicht all die Dinge auf, die sie wahrscheinlich häufig entbehren musste.

Sarah servierte die zu trockene Pizza und setzte sich dazu. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken, während sie über Karlas rosige Zukunftspläne plauderten.

Als Asta in die Küche trat, schwand Sarahs Hoffnung, Claudia sei wieder da und ihre Sorge zu Ende, schlagartig. Ein Blick in das Gesicht ihrer Tante sagte ihr, dass sich überhaupt nichts getan hatte.

Sie ging mit ihr auf den Flur und flüsterte: »Verdammt – und jetzt?«

Asta sagte: »Weiß ich auch nicht. Ich habe auch schon bei Christian angerufen. Da geht keiner ran. Ich habe auf den Anrufbeantworter gesprochen, was Sache ist, und deine Nummer angegeben. Vielleicht meldet er sich ja bald.«

»Christian!« Sarah lebte auf. An Claudias älteren Bruder hatte sie überhaupt nicht gedacht. Dabei war sie früher mal ziemlich in ihn verknallt gewesen. Guck an, Sexy-Christian, den gab’s noch. »Wohnt er denn in der Nähe?«

»In Watzum.«

»Was macht der denn jetzt?«

»Der ist Ingenieur im Werk, verheiratet …«

Natürlich …

»… zwei Kinder, Friede, Freude, Eierkuchen.«

Das ›Werk‹ war der große Automobilkonzern, der der halben Region Arbeit und Brot gab und in dessen Rhythmus ganze Gemeinden aus- und einatmeten.

»Verheiratet? Kenn ich sie?«

»Susanne Weinert.«

»Susi!« Die blonde Susanne hatte zu den Mädchen gehört, denen sich Sarah immer hoffnungslos unterlegen gefühlt hatte. Zierlich, puppenhaft hübsch, natürlich das obligatorische Stupsnäschen, auf das alle Jungen standen und dabei so nett, dass man sie noch nicht mal hassen konnte. Bäh!

Ungeduldig schüttelte Sarah das pubertäre Gefühl völliger Unzulänglichkeit ab und wandte sich wieder der Gegenwart zu. »Und was mache ich, wenn Christian sich nicht meldet?«

»Dann behältst du die Kleine heute Nacht hier, was denn sonst? Ich bezieh dir schon mal ein Bett oben. Was ist denn bloß los mit dir? Du bist doch sonst nicht so zaghaft!« Tatkräftig wie immer, wandte sich Asta der alten Holztreppe zu.

»Du bist ein Schatz. Aber wenn Claudia morgen noch nicht zurück ist, dann müsste ich doch wohl …«

»Dann musst du die Polizei anrufen, ganz recht.«

»Oh Gott …«

Sarah öffnete die Küchentür und sagte munter: »Weißt du was, Karla, du könntest mir helfen, die Weihnachtsmänner für die Tische in der Schule vorzubasteln. Wie wäre das?«

Und morgen lassen wir dann deine Mama von der Polizei suchen. Ist das nicht fein?

3. Kapitel

Beck schüttete den Espresso hinunter, aus dem heute sein Frühstück würde bestehen müssen. Wenn er so weiter machte, hätte er bald das für seinen Beruf obligatorische Magengeschwür. Er hatte schon wieder verschlafen. Anscheinend wirkte Braunschweig einschläfernd auf ihn. Ein bisschen Entspannung durch den beruflichen Wechsel hatte er sich zwar erhofft, aber diese Schlaferei grenzte ja an Narkotisierung.

Langsam musste er sich aus dieser Lähmung befreien und sich wieder ein Leben aufbauen. Er lebte wie ein 80-Jähriger. No sex, no drugs, no Rock ’n’ Roll.

Er wollte endlich wieder Musik machen (gegen Sex hätte er, nebenbei gedacht, auch nichts einzuwenden), seine Gitarre hatte er seit Wochen nicht angefasst. Er ging mit der Tasse in sein Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. Seine Les Paul funkelte ihn beleidigt an. »Ja, Mädchen, ich weiß. Ich habe dich nicht verdient.«

Plötzlich kribbelte es in seinen Fingern. Gleich heute würde er sich kümmern, irgendeine Band finden. So schlecht war er schließlich nicht. Rock this town, buddy.

Er brauchte diesen Ausgleich, das Bad im Klangteppich einer gut harmonisierenden Band, das anerkennende Gejohle des Publikums. Eitelkeit, nichts weiter war es wahrscheinlich. Also doch David Bowie. Immerhin hatte er sich noch nicht liften lassen.

Sein Beruf, mit der mörderischen Mischung aus Behördenmühle und Psychostress, gepaart mit einer miesen Reputation in der Öffentlichkeit, bot nicht gerade Streicheleinheiten für die Seele. Für was hatte er sich eigentlich bestrafen wollen? Trotzdem konnte er sich nichts anderes vorstellen. Krank.

Er schob diese erbaulichen Gedanken beiseite und betrachtete befriedigt die teure Espressomaschine aus Edelstahl, die er gestern nach Dienstschluss erworben hatte. Seine neue Küche sah gleich ein bisschen bewohnter aus, bildete er sich ein. Er schaute auf die Uhr und verwarf den Gedanken, sich noch einen Espresso zu machen.