Else Lasker-Schüler in Berlin - Jörg Aufenanger - E-Book

Else Lasker-Schüler in Berlin E-Book

Jörg Aufenanger

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Beschreibung

Für Gottfried Benn war Else Lasker-Schüler die "größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte". Jörg Aufenanger schildert das Leben dieser faszinierenden Persönlichkeit inmitten der Berliner Künstlerbohème und ihre innige Beziehung zu der Stadt, aus der sie 1933 vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Er erzählt von ihren Ehemännern und Liebhabern, von ihrem extravaganten Auftreten in den Kaffeehäusern, aber auch von ihrer Einsamkeit in der großen Stadt. So entsteht das Lebensbild einer exzentrischen Künstlerin – und zugleich ein Panorama der schillernden Kulturwelt im Berlin der 1910er und 1920er Jahre.

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Jörg Aufenanger

            ELSELASKER-            SCHÜLER

IN BERLIN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2019

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin (Foto: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek)

ISBN 978-3-89809-161-9 (Buch)

ISBN 978-3-8393-0138-8 (E-Book)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Nachbemerkung

Zum Nachlesen

»Berlin, hier ist die Uhr der Kunst,

die nicht nach noch vor geht.«

Nahezu vierzig Jahre hat sie in Berlin gelebt, länger als je woanders. Als sie 1894 in die Stadt an der Spree kam, war sie fünfundzwanzig Jahre alt. Zuvor hatte sie seit ihrer Geburt in Elberfeld im Tal der Wupper gelebt. Als sie 1933 Deutschland verlassen musste, verbrachte sie in Zürich und Ascona sechs Jahre, in Palästina, wohin sie 1939 übersiedelte, ebenfalls sechs Jahre, bevor sie 1945 dort starb.

Knapp vierzig lange Jahre also hat Else Lasker-Schüler in Berlin gelebt. Hat sie die Stadt Heimat nennen können? Zwiespältig hat sie sie stets erlebt. Und doch scheint sie ohne Berlin nicht hat leben wollen, nicht leben können.

Heimat war ihr vor allem die Stadt ihrer Kindheit und frühen Jugend, Elberfeld, gewesen. Immer wieder kehrte sie in ihren Gedichten und Prosaminiaturen in sie zurück, besuchte sie bei jeder Gelegenheit. Und die stete Verklärung einer glücklichen Kindheit dort führte dazu, dass ihr das Erwachsenwerden und das Erwachsensein lebenslang schwer fiel, selbst noch in den letzten Jahren als alte Frau in Jerusalem.

»Es ist unverschämt, kein Kind mehr zu sein«, meinte sie 1923 und da zählte Else Lasker-Schüler immerhin schon vierundfünfzig Jahre.

~ 1 ~

Als sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1894 zusammen mit ihrem Ehemann Berthold Lasker in Berlin eintrifft, bezieht das Paar eine Wohnung nahe dem Tiergarten in der Brückenallee Nummer 16, die heute Bartningallee heißt. Dort eröffnet er auch seine Arztpraxis. Berthold Lasker hatte sie aus Elberfeld entführt, in die große Stadt, die damals 1,6 Millionen Einwohner zählte, Elberfeld nur ein wenig mehr als hunderttausend. Sie wird ihrer Heimatstadt nachgetrauert, aber Berlin auch als Möglichkeit gesehen haben, nunmehr ein neues, ein anderes Leben beginnen zu können.

»Die Leute nennen mich ein’ Luftikus« wird sie in einem Brief an ihren Schwager Franz Lindner schreiben, »vielleicht bin ich’s auch – ein bißchen ausgelassen, aber dann nur auch für mich«. Nun aber ist der Luftikus eine Ehefrau, die zusammen mit dem Dienstmädchen Hedwig Grieger, ebenfalls aus Elberfeld, einen gutbürgerlichen Haushalt zu führen hat. Der Abschied aus Elberfeld mag ihr nicht allzu schwer gefallen sein, da ihre Familie inzwischen auseinander gebrochen war, aber sie nahm die Stadt an der Wupper im Herzen mit nach Berlin. Ihre über alles geliebte Mutter Jeanette Schüler, geborene Kissing, war vier Jahre zuvor Ende Juli 1890 verstorben. »So nackt war nie mein Leben« wird sie in dem Gedicht »Mutter« schreiben, oder in der Prosaskizze »Das Meer«: »Wie meine Mutter starb, zerbrach der Mond.« Ihre Lieblingsschwester Anna hatte den Opernsänger Franz Lindwurm-Lindner, der am Elberfelder Theater engagiert war, geheiratet und so war auch sie aus dem Haus am Sadowaberg im großbürgerlichen Briller Viertel der Stadt verschwunden und bald nach Berlin verzogen.

Nun also lebte die höhere Tochter und nun auch Frau Doktor Else Lasker-Schüler in einem weiteren gutbürgerlichen Viertel, dem alten Hansaviertel. Es war seit 1874 am Rand des Großen Tiergartens erbaut worden, es grenzte östlich an das Schloss Bellevue, nach Norden an eine Brücke über die Spree, auf die die Brückenallee hinführte. In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts wurden für die rasant steigende Einwohnerzahl Berlins zahlreiche Mietshausviertel errichtet, aber auch Quartiere für die Alt- und Neureichen, so das Hansaviertel auf einem ehemaligen Wiesengelände. Auf Grund von stadtplanerischen Vorgaben wurden die Häuser auf höchstens drei Stockwerke begrenzt, es gab keine Fabrik- und Kleingewerbegebäude. Das ruhige Wohnen der Gutsituierten sollte nicht beeinträchtigt werden. Erst jenseits der Spreebrücke existierten in Moabit Fabriken und größere Mietshäuser. Ein Arbeiterviertel.

Die Brückenallee war nicht nur die Magistrale des Hansaquartiers, sondern bot auch die begehrtesten Grundstücke. In ihr lag die heute noch existierende Baumkuchenbäckerei Buchwald, in der man sich gut Else Lasker-Schüler als Baumkuchenkundin vorstellen kann.

Die Häuser des Hansaviertels wurden von bekannten Architekten der Zeit wie Alfred Messel, Hans Grisebach und Ludwig Hoffmann errichtet, und es wurde schnell beliebt bei arrivierten Künstlern, die hier ein Atelier bezogen, wie kurzzeitig auch Käthe Kollwitz, oder die hier wohnten wie Walter Leistikow. Damals bekannte Schauspieler sowie Schriftsteller wie Carl Sternheim, Alice Behrend, aber auch Verleger wie Walter de Gruyter, der Theaterkritiker Alfred Kerr, der Bühnendirektor Max Reinhardt und Politiker wie der preußische Ministerpräsident Botho zu Eulenberg, hatten sich ebenfalls hier für eine Weile angesiedelt. Auch Lenin hatte wenige Monate im Hansaviertel gelebt.

In diesem noblen Quartier mit illustren Nachbarn lebt nun Frau Lasker-Schüler mit ihrem Ehemann, der eine Arztpraxis für Haut- und Beinkrankheiten führt.

Jonathan Berthold Lasker wurde 1860 in Berlinchen in der Neumark geboren, war also neun Jahre älter als seine Frau, entstammte einer streng religiösen jüdischen Familie, die Vorfahren waren Rabbiner. Er studierte Medizin in Berlin, eröffnete aber seine erste Praxis in Elberfeld, in der Klotzbahn am Hang des sogenannten Ölbergs. Doch er war nicht nur Arzt, sondern auch ein begeisterter und exzellenter Schachspieler, der schon einige Turniere in Berlin bestritten hatte, nun Mitglied des Elberfelder Schachvereins wurde. Bald lernte er die Familie Schüler und somit auch Else kennen. Bei der Hochzeit ihrer Schwester Anna war er Trauzeuge. Kurz darauf gab Vater Aaron Schüler die Verlobung seiner Tochter Else mit Herrn Lasker öffentlich bekannt. Der spielte am Abend der Verlobung Schach, simultan gegen mehrere Gegner.

~ 2 ~

Berthold Lasker hat seinen um acht Jahre jüngeren Bruder Emanuel schon in Berlin in die Kunst des Schachspiels eingeführt, und die beiden spielen nicht wenige Partien gegeneinander. In dem Jahr 1894, in dem der ältere Bruder seine Frau Else nach Berlin mitbringt, wird der jüngere in New York in einer Partie gegen Schachweltmeister Wilhelm Steinitz spielen. Doch auch die Gebrüder Lasker spielen gelegentlich weiter gegeneinander. Es wird berichtet, dass sie sich während der Praxissprechzeiten auf dem Schachbrett duellieren, und dass Bertholds Ehefrau Else währenddessen die Patienten im Wartezimmer unterhalten und besänftigen muss, wegen der so verlängerten Wartezeit. Und eine Schachpartie kann dauern.

Wie ansonsten das Eheleben aussieht, darüber kann man nur spekulieren. Eine glückliche Zeit ist es für sie wohl nicht, das verraten die Schriften, die sie später über ihren Mann verfassen wird. So in ihrer Prosaskizze »Lasker-Schüler contra B. und Genossen«, in der sie von ihrer Kindheit und frühen Jugend schwärmt: »Manchmal hab ich so Sehnsucht, ich säß wieder nachmittags an einem großen, runden Tisch neben meiner Mama und so zwischen meinen Schwestern und Brüdern, und oben sitzt mein Papa, und wir trinken zusammen um vier Uhr Kaffee aus der silbernen Kaffeemaschine durch Filtrierpapier – und so ganz zusammengerückt sitzen wir, wie eine Insel aus einem Stück … Das ist lange her … Als ich mich zum ersten Mal vermählte. Aber ich fiel ins Haus und verletzte mir die Knie, die bluten seitdem.« Eine Schutz versprechende Insel scheint die Ehe für sie nicht gewesen sein, sondern eher von seelischen Verletzungen geprägt. Ihrem Mann wird von denen, die ihn gut kennen, seelische Kühle nachgesagt, zudem eine überaus starke Nervosität und Reizbarkeit, was auch sein Schachspiel beeinträchtigt haben soll.

In der Erzählung »Der tote Knabe«, die der Anarchist Johannes Holzmann, den Else Lasker-Schüler Senna Hoy nennt und dem sie sehr verbunden ist, in seiner Zeitschrift »Kampf« 1904 veröffentlichen wird, schreibt sie von einem Ehemann, der Lippen habe, »als ob sie Blut saugen möchten … Und als sie verheiratet waren, hatten sie Reue, da sie sich gegenseitig quälen mussten.«

Zudem verbringt die junge Frau Lasker-Schüler viel Zeit allein zu Hause, denn ihr Mann führt tagsüber seine Praxis, am Abend sucht er die Schachcafés Berlins auf, bleibt dort oft bis in die Nacht hinein. Eine Weile ist ihr heftiges Wesen gezähmt, doch bald kommen Unruhe und Verdruss auf und so soll sie Einsamkeit und Langeweile bekämpft haben, indem sie Möbel und allerlei Nippes sammelte und die Wohnung damit vollstopfte. Doch Berthold Lasker weiß auch, seine Frau hat künstlerische Neigungen und diese unterstützt er immerhin. Eine poetische und auch zeichnerische Ader war bei ihr in Kindheit und früher Jugend schon zum Vorschein gekommen. Als junges Mädchen habe sie gedichtet und gemalt, wird sie mehrfach beteuern. Nur Arztgattin und Hausfrau will sie nicht sein.

~ 3 ~

Berthold Lasker engagiert den mit ihm befreundeten Maler Simon Goldberg als Zeichenlehrer für seine Frau. Simson wird sie ihn nennen. Der stammte aus Litauen, war Jahrgang 1855, sollte auf Wunsch des Vaters, der Kantor war, Rabbiner werden, machte sich aber nach Berlin auf und studierte bei dem damals berühmten Historienmaler Anton von Werner und wohl auch bei Max Liebermann. Die ersten Malstunden für Frau Lasker-Schüler finden in den Praxisräumen statt, doch das nervt ihren Ehemann und es kommt deswegen einige Male zum Streit. 1935 wird Else Lasker-Schüler sich in dem Essay »Der achtzigjährige Maler Simson Goldberg« so daran erinnern: »Eigentlich war er mein Gouverneur, eigens für mich auf der Welt, engagiert von seinem Freund, meinem vielbeschäftigten Mann. Schon in der Frühe warteten auf ihn die Patienten. Neben seinem Sprechzimmer standen wir beide vor unsren großen Staffeleien … dann öffnete sich die Wartezimmertür des Arztes ob der Störung, und wir stoben auseinander.« Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, mietet Lasker für seine Frau ein Atelier, das nahe der Wohnung liegt, einige Häuser weiter in der Brückenallee 22.

Der Ausdruck Gouverneur klingt nach Gouvernante. Legt das nicht nahe, dass Lasker Goldberg nicht nur als Zeichenlehrer engagiert hat, sondern auch als einen Aufpasser für seine Frau? Aber die hat nun einen Freiraum, in dem sie zaghaft einen Ausbruch aus der Ehe wagen kann. Malend, zeichnend, fotografierend auch. Es gibt einige Fotos von ihr, die zeigen Else Lasker-Schüler nicht als bürgerliche Ehefrau, wie andere Fotos, die wir von ihr kennen, wie jenes als Braut oder wie das, das bei einem Familientreffen der beiden Ehepaare, Berthold Lasker und seine Frau Else sowie Anna Lindner und Franz Lindner, aufgenommen wird: Eine sehr bürgerlich brave Inszenierung. Franz Lindner setzt sich breitbeinig in Szene, ist eben Mann des Theaters, Lasker steht stocksteif mit angewinkeltem rechtem Arm, in den linken Arm hakt sich seine Frau Else ein, die introvertiert eher traurig schaut, während ihre Schwester Anna keck in die Kamera blickt.

Zwei Schwestern und ihre Ehemänner im Frühjahr 1894: Berthold Lasker, Else Lasker-Schüler, Anna und Franz Lindner (Lindwurm)

Die uns bekannten anderen Fotos, die wohl im Atelier von Else Lasker-Schüler entstanden sind, zeigen eine andere Frau. Einmal mit aufgelöstem, ein wenig wildem Haar und trotzigen Blicks, das andere Mal mit langem gelöstem Haar, das sich an den Enden verzottelt. Der Kopf ist nach vorn geneigt, und sie schaut von unten in die Kamera, ein zugleich lasziver und misstrauender Blick. Die Hände verschränkt sie vor der Brust.

Wer mag diese Ausdrucksstudien aufgenommen haben. Sie selbst? Ein anderer?

~ 4 ~

Ende 1898 ist Else Lasker-Schüler schwanger und am 24. August 1899 wird ihr Sohn geboren. Sie gibt ihm den Vornamen ihres über alles geliebten Bruders Paul, der schon früh mit einundzwanzig Jahren verstorben war. Aber wer ist der Vater ihres Kinds? Sie hat es nie verraten. Ihr Mann wohl kaum. Sie erfindet mal einen Griechen, Alcibiades de Rouan, mal einen spanischen Prinzen. Sie habe den Mann auf der Straße kennengelernt, wird sie später behaupten. Und ihn dann mit ins Atelier genommen, das ihr Liebesnest auch ist?

In »Die Nächte Tino von Bagdads«, so der Titel einer Sammlung von Prosaarbeiten, die 1907 erscheinen wird, erzählt sie von einer Liebesromanze mit einem schönen »Griechenknaben«. Und in dem Gedicht »Elegie« aus dem Band »Styx«, das kurz vor 1900 geschrieben sein wird, preist sie ein Liebesduett so: »Zwei Sommer hielten wir uns schwer umfangen / Ich tauchte in den goldenen Strudel Deiner Schelmenlaunen.«

Am 24. August 1899 bringt Else Lasker-Schüler ihren Sohn Paul zur Welt, und zwar in der Königlichen Frauenklinik Artilleriestraße, heute Tucholskystraße, in der auch mittellose Frauen aufgenommen werden. Es ist eine Demonstrationsgeburt vor Medizinstudenten. Im Oktober des Jahres erkennt Berthold Lasker Paul als seinen Sohn an, wohl wissend, dass er der Vater nicht ist. Die Ehe mit seiner Frau besteht indes nur noch auf dem Papier. Der gemeinsame Haushalt in der Brückenallee wird aufgelöst. Sie sucht eine neue Bleibe. »Heute war ich wieder aus, habe Wohnungen gesehen«, meldet sie ihrer Schwester Anna im September des Jahres und kündigt an: »Morgen kommt B. mit«, womit ihr Noch-Ehemann Berthold Lasker gemeint sein wird. Schließlich wohnt sie in der Schlüterstraße in Charlottenburg, er kurzzeitig in der Alexanderstraße, wo er auch seine Praxis weiterführt.

In den Tagen, in denen Else Lasker-Schüler Mutter wird, erscheinen ihre ersten Gedichte, drei an der Zahl, in der Zeitschrift »Die Gesellschaft«, herausgegeben von Ludwig Jacobowski, es sind die Gedichte »Vorahnung«, »Sinnenrausch« sowie die Verse »Verwelkte Myrthen«:

Bist wie der graue, sonnenlose Tag,

Der sündig sich auf junge Rosen legt.

– Mir war, als ich an Deiner Seite lag,

Als ob mein Herze sich nicht mehr bewegt.

Ich küsste deine bleichen Wangen rot,

Entwand ein Lächeln deinem starren Blick.

– Du tratest meine junge Seele tot

Und kehrtest in dein kaltes Sein zurück.

Else Lasker Schüler befreit sich vom kalten Sein, von ihrem Mann, von der Ehe. Dem von ihr verehrten Dichter Richard Dehmel teilt sie mit, sie hätte sich »mit einem Plebejerzigeuner verheiratet, der Tag und Nacht in verräucherten Cafés gespielt hat«. Mit les- und hörbarer Erleichterung fügt sie an: »Nun bin ich aber wieder frei.« Sie hat sich befreit zur Dichterin und Malerin, hat ihren Lebensweg mit Verve beschritten. »Habe mein Leben der Kunst ganz gegeben.« Sie wird aufs Ganze gehen im Berlin der kommenden Jahre.

~ 5 ~

Im Laufe des Dezembers 1901 erscheint ihr erster Gedichtband »Styx« im Axel Juncker Verlag Berlin in einer Auflage von 1.050 Exemplaren. Was für eine freudige Genugtuung wird das für Else Lasker-Schüler gewesen sein, ihr erstes Buch in der Hand halten zu können. »Hurra!« soll sie geschrien und das Buch epochemachend genannt haben. Ein Exemplar schickt sie umgehend an den bedeutenden Dichter der Zeit, an Richard Dehmel, und fragt nach seiner Meinung. Der aber hat den Band verschludert, wie er auf Nachfrage mitteilt. Sie sendet ein weiteres Exemplar nach Hamburg.

Den Umschlag ziert eine Zeichnung von Fidus. Das ist Hugo Höppener, der 1892 in Berlin eingetroffen war und um die Jahrhundertwende diverse Vereinigungen von Lebensreformern gründete, die wie er dem Nacktkult huldigten. So stellt der Umschlag auch einen nackten Jungen dar, der vor einer aufgehenden Sonne durch ein Feld springt.

Schon die Titel mehrerer Gedichte verraten, dass sie von Liebe und Begehren erzählen: »Meine Schamröte« – »Eifersucht« – »Trieb« – »Nervus Erotis« – »Orgie« – »Fieber« – »Sinnenrausch« und »Eros«:

O ich liebte ihn endlos!

Lag vor seinen Knie’n

Und klagte Eros

Meine Sehnsucht.

O ich liebte ihn fassungslos.

Wie eine Sommernacht

Sank mein Kopf

Blutschwarz auf seinen Schoß

Und meine Arme umloderten ihn.

Nie schürte sich so mein Blut zu Bränden,

Gab mein Leben hin seinen Händen,

Und er hob mich aus schwerem Dämmerweh.

Und alle Sonnen sangen Feuerlieder

Und meine Glieder

Glichen

Irrgewordenen Lilien.

So unverschämt und unverblümt erotisch dichtet da eine Frau um 1900. Oder in dem Gedicht »Sinnenrausch«: »Mein heißer Leib erglüht in seinem Hauch, / Er zittert, wie ein junger Rosenstrauch … / – Ich folge dir ins wilde Land der Sünde / Und pflücke Feuerlilien«, es folgt ein Gedankenstrich und dann: »Wenn ich die Nacht auch nicht wiederfinde.«

Eros und Sexus bringen allein und schlussendlich keine Erlösung und so findet sich in »Styx« auch ein Gedicht wie »Weltflucht«:

Ich will in das Grenzenlose

Zu mir zurück,

Schon blüht die Herbstzeitlose

Meiner Seele,

Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!

O ich sterbe unter Euch!

Da Ihr mich erstickt mit Euch.

Fäden möchte ich um mich ziehn –

Wirrwarr endend!

Beirrend,

Euch verwirrend,

Um zu entfliehn

Meinwärts!

Was für ein Fazit ihres bis dahin dreißigjährigen Lebens!

»Ich bekam teils sehr gute Kritiken und eine große Anzahl hinrichtender«, teilt sie Richard Dehmel zu der Resonanz auf ihre ersten Dichtungen mit, fügt indes hinzu: »Aber ich lebe noch.«

In der Zeitschrift »Ost und West« schreibt anlässlich des Chanukkafests der ihr verbundene Samuel Lublinski zu »Styx«: »Jede echte Lyrik beruht weit mehr als jede andere Dichtung auf dem Instinkt, und so wird man sich nicht wundern, daß in dem vorliegenden Gedichtbuch von Else Lasker-Schüler Zeile für Zeile ihre Herkunft von einer uralten und mächtigen Rasse zu erzählen weiß. Sie bewährt sich als späte und nicht unwürdige Enkelin jener uralten Sänger, die einst die Psalmen oder das Buch Hiob gedichtet haben … Wer über die moderne Lyrik mitreden will, der lese ›Styx‹ von Else Lasker-Schüler.«

Paul Remer meint hingegen in »Der Tag«: »Allermodernste Mystik beschert uns Else Lasker-Schüler in ihren Styxgedichten … Das Titelbild zeigt einen nackten Knaben, der mit wilden Arm- und Beinverrenkungen vor einer flackernden Sonne auf stacheligem Distelgestrüpp tanzt. Das ist ein treffendes Symbol für das Gewollte und Gequälte dieser Mystik, an der ein überhitzter Verstand und ein überreiztes Nervensystem mehr Anteil haben als ein wirklich mystisches Welt- und Gottempfinden.«

Solche Kritiken, die der Dichterin Überreizung und Verwirrtheit vorwerfen, wird es in den nächsten dreißig Jahren immer wieder geben. Doch Paul Remer meint auch ein »nüchtern-kleines dichterisches Vermögen« konstatieren zu können und schließt: »Das rast und jauchzt, das schluchzt und schreit, das flucht und segnet, breitet die Arme zum Empfang und hebt sie zur Abwehr, ein Fieber des Genießens, ein Taumel der Empfindungen, der die Dichterin rastlos und ruhelos durch das Leben jagt, der in seiner wollüstigen Qual Besitz von ihrer Seele ergreift.« Was hier der Rezensent als negative Kritik äußert, ist unabsichtlich zugleich Schilderung einer modernen Lyrik, die zuvor so kaum geschrieben wurde.

Wie hat die Dichterin Richard Dehmel, nachdem sie die Besprechungen zu »Styx« gelesen hatte, vermeldet: Ich lebe noch.

Dichtung sei doch »Amt und Geschäft der Männer« hatte Jacob Grimm noch 1823 gemeint. Gleich mit ihrem ersten Gedichtband hat sich Else Lasker-Schüler im Jahr 1902 eingeschrieben als bedeutendste deutsche Lyrikerin in der Nachfolge von Annette von Droste-Hülshoff, vierundfünfzig Jahre nach deren Tod.

~ 6 ~

»Ich war aus der Stadt geflohen«, wird sie im »Peter Hille-Buch« schreiben. Nicht Weltflucht war es, denn Fluchtort ist Friedrichshagen, vor den Toren von Berlin am Müggelsee gelegen, damals noch ein großes Dorf, später in die Stadt eingemeindet. Und sie flieht an den Schlachtensee, damals ebenfalls noch nicht Stadtgebiet. Keine Flucht »Meinwärts« ist das, denn »Neue Gemeinschaft« nennt sich der Verein, dem sie sich anschließt. Eine Gemeinschaft außerhalb der bürgerlichen Ehe, die sie gerade verlassen hat.

In Friedrichshagen hatte es seit 1888 schon eine Vereinigung von Schriftstellern um Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und die Gebrüder Julius und Heinrich Hart gegeben, den Friedrichshagener Dichterkreis. Man propagierte eine »Freie Bühne für das wahre Leben« und »zwar in Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt«, so Bruno Wille. Jeder solle eine »eigenfreie Lebensweise« führen.

In den Jahren um 1900 bildeten sich allerorten derartige Lebensreformgemeinschaften, besonders in Berlin und in seiner ländlichen Umgebung: Eine Gründerzeit für Zeitschriften, Buch und Zeitungsverlage und Vereinigungen, die das Leben ändern wollten und zwar zumeist mithilfe der Künste, war das zudem.

Auch der erste Verleger der Gedichte von Else Lasker-Schüler, Ludwig Jacobowski, zählte mit der Zeitschrift »Die Gesellschaft« dazu. 1868 in Polen geboren, war er schon sechs Jahre später nach Berlin gekommen, hatte studiert und 1889 seinen ersten eigenen Gedichtband veröffentlicht, dann Romane wie »Werther, der Jude«. Doch er propagierte nicht nur das eigene Werk, sondern gab in der Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik »Die Gesellschaft« ebenso anderen literarischen Stimmen ein Forum, verband aber, wie vielfach in diesen Jahren üblich, die Künste mit utopischen Ideen, die das Leben radikal ändern sollten. Nachdem er schon zuvor einen »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« gegründet hatte, installierte er im Jahr 1900 den Club »Die Kommenden«, der an jedem Donnerstag im Casino am Nollendorfplatz Soireen veranstaltete. Ein wichtiger Ort für das literarische Leben, an dem auch Else Lasker-Schüler ihre Gedichte vorträgt.

Doch für die »Neue Gemeinschaft«, in der auch Else Lasker-Schüler eine temporäre Heimat findet, heißt die Devise: Raus aus der Stadt. Als der Friedrichshagener Dichterkreis sich auflöst, auch weil eine seiner Säulen, Wilhelm Bölsche, in die Schweiz geht, gründen die Gebrüder Hart zusammen mit Gustav Landauer und Felix Holländer in Nachfolge des Dichterkreises eine Vereinigung, die sich in den Wäldern und an den Seen um Friedrichshagen herum trifft. »Orden vom wahren Leben«, nennt man sich wie auf dem Titelblatt ihrer Flugschrift zu lesen ist. Die »Neue Gemeinschaft« veranstaltet Weihefeste, Liebesmahle, hält zudem Vorträge und Ansprachen, wie es weiter in der Schrift heißt. Ethisch – religiös – ästhetisch sollte laut Julius Hart die »Neue Gemeinschaft« sein. Walter Benjamin wird das in den »Illuminationen« indes so nennen: »Ungesittet benahmen sich die Menschen im Friedrichshagener Milieu.« Geradezu kindisch hätten sie sich aufgeführt.

Zu denen, die sich in der »Neuen Gemeinschaft« treffen und Vorträge halten, gehören auch Martin Buber, Erich Mühsam und Rudolf Steiner, der in dem von ihm herausgegeben »Magazin für Literatur« dreizehn Gedichte der Lasker-Schüler abdruckt. Doch man trifft sich nicht nur im Berlinfernen Friedrichshagen, die Bahn vom Bahnhof Zoo brauchte dorthin eine gute Stunde, sondern auch in Berliner Cafés und in einer Wohnung in der Charlottenburger Uhlandstraße 144. Schließlich mieten die Gebrüder Hart ein großes Haus mit Garten und Wald am Schlachtensee in der Seestraße 35–37, das an der Trasse der Wannseebahn liegt. Sie haben eine Siedlung im Sinn, wie sie Jahre zuvor in Eden bei Oranienburg von stadtmüden Charlottenburgern gegründet worden war und die bis heute existiert. Diese aber lebten konsequent ein neues Leben und sprachen darüber, ernährten sich autark und gesund, trugen poröse Kleidung, verachteten Eigentum an Grund und Boden.

Für Else Lasker-Schüler ist diese neue Gemeinschaft ein Versprechen auf eine Heimat und auf Glück, wie sie es in der Gemeinschaft im Hause Lasker mit ihrem Mann nicht erlebt hatte, zumal der »Orden« stets von Liebe untereinander spricht. Und diese ist und wird das alles überstrahlende Thema ihrer Lyrik und Prosa sein. Denn: »Ich bin eine Liebesnatur!«

~ 7 ~

In der »Neuen Gemeinschaft« lernt sie drei Männer kennen, die sie in unterschiedlicher Art und Weise lieben wird und die eine besondere Bedeutung für sie gewinnen werden, Johannes Holzmann, Peter Hille und Georg Lewin, den sie Herwarth Walden taufen wird. Der 1882 geborene Johannes Holzmann gibt die Zeitschrift für gesunden Menschenverstand »Kampf« heraus. Ein wöchentliches Anarchistenblatt, für das auch Erich Mühsam, Peter Hille und Paul Scheerbart schreiben und das gegen die Zensur, den Militarismus und den § 175 streitet, für die Freie Liebe eintritt. In »Kampf« erscheinen im Jahr 1904 die Gedichte »Weltende« und »Vollmond« sowie die Erzählung »Der tote Knabe« von Else Lasker-Schüler. In dieser erzählt sie von einer jungen Frau und deren qualvoller Ehe mit Reinhold, einem Mann, der katzenhafte Züge trägt. Als sie eines Nachts neben ihm wach im Bett liegt, überfällt sie ein Tagtraum. In ihm visioniert sie, wie ein Knabe langsam verhungert. Als er tot ist, spielt eine Katze mit seiner Seele, als wäre diese eine Maus. In diesem Augenblick weiß sie, der tote Knabe ist das, was sie an ihrem Reinhold mal geliebt, aber unter seiner Grausamkeit verloren hat. »Du kannst nicht spielen, ohne weh zu tun«, und seine Lippen seien »kalt wie die Grausamkeit und voller Gelüste«. So ähnlich hat Else Lasker-Schüler auch schon an anderer Stelle über ihren Mann Berthold Lasker geurteilt.

Johannes Holzmann flieht in die Schweiz, nachdem seine Zeitschrift »Kampf« verboten worden war. 1907 zieht er weiter nach Russland, schließt sich den Aufständischen an, wird verhaftet und zu fünfzehn Jahren Kerker verurteilt. »Während der Revolution wurde er in einem Garten gefangen genommen, ganz grundlos, wie damals solche Verhaftungen nach Gutdünken der Polizei stattfanden«, wird Else Lasker-Schüler schreiben und sich für ihn einsetzen, ihn 1913 in Moskau besuchen, um ihn frei zu bekommen, vergeblich. Kurz danach stirbt er.

Peter Hille wird ihr zu einem Heiligen, von dem sie in einem Bibelton erzählen wird. St. Peter Hille wird sie ihn nennen. Es existiert nur ein einziges uns bekanntes Gruppenfoto mit fünfundzwanzig Mitgliedern der »Neuen Gemeinschaft«, aufgenommen in einer Waldlichtung. Ob in Friedrichshagen oder am Schlachtensee ist nicht herauszufinden. Fast alle schauen in die Kamera, die dritte von links jedoch zeigt Profil, denn Else Lasker-Schüler blickt hinüber zu dem Fünften am anderen Gruppenrand. Zu Peter Hille.