Emotiondancer - E.F. v. Hainwald - E-Book
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Emotiondancer E-Book

E.F. v. Hainwald

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Beschreibung

Die Frage nach dem "Warum" hatte schon immer die Macht, ganze Nationen zugrunde zu richten – oder denjenigen, der sie stellt. Unsere Zukunft erstrahlt in makellosem Glanz. Die Menschheit arbeitet darauf hin, einen Evolutionssprung zu machen. Wissenschaft, Industrie und Kunst verschmelzen zu einem Gesellschaftssystem, das alle Schwächen überwunden hat. Nicht zuletzt durch das Cybernet – die digitale Vernetzung der Emotionen. Kaja hat keine Kontrolle über sich. Sie leidet schon ihr ganzes Leben lang an massiven Gefühlsausbrüchen. Der Sturm dieser Emotionen löscht ihre kostbarsten Erinnerungen aus – ihr Selbst droht vernichtet zu werden. Als sie dadurch ihre Mitmenschen in Lebensgefahr bringt, beginnt sie in ihrer verblassten Vergangenheit zu graben, doch sie stößt auf eine eiserne Mauer des Schweigens. Einen Ausweg bergen womöglich die Tiefen des Cybernets. Um dort einzudringen, benötigt Kaja jedoch die Hilfe von Menschen, die sich gegen die Prinzipien der Gesellschaft auflehnen. Aber kann sie so jemandem überhaupt vertrauen? Auf ihrer Jagd nach Antworten offenbart sich schnell, dass manche Schleier vielleicht lieber ungelüftet bleiben sollten. Kann Kaja Erlösung finden oder wird sie an der Wahrheit endgültig zerbrechen?     Ein Roman, der erneut das Tor zur Welt von "Cyberempathy" aufstößt. Dieses SpinOff kann unabhängig vom Hauptroman gelesen werden.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung

Der Autor

GedankenReich Verlag

Neumarktstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

EMOTIONDANCER

Text © E.F. v. Hainwald, 2020

Coverzeichnung: BoarHeart-Studio

Umschlaggestaltung & Typographie: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

E-Book: Grit Bomhauer

Innengrafiken © shutterstock, Künstler: Liu Zishan

ISBN: 978-3-947147-58-8

© GedankenReich Verlag, 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Triggerwarnung:

Achtung - diese Geschichte widmet sich u.a. kritisch den Handlungen, zu denen Menschen fähig sind (physische, mentale & emotionale Gewalt). Nichts davon ist explizit beschrieben. Dennoch können manche Geschehnisse den Leser aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrungen sehr unangenehm berühren.

Ein warm-feuchtes Gefühl zwischen den Fingern ließ Kajas geschlossene Lider zucken. Sie tastete umher und stocherte mit dem Zeigefinger in einer weichen Masse herum. Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild eines leckeren Vanillepuddings auf.

Als der jedoch begann an ihren Fingerspitzen zu knabbern, zog sie missbilligend die Augenbrauen zusammen. Sie öffnete ihre Augen und blickte schlaftrunken zur Seite.

Dort fummelte sie gerade offenkundig im Maul ihres Hausfuchses herum, der sie unschuldig anglotzte. Seine großen, schwarzen Ohren zuckten neugierig, während er langsam aufhörte, an ihrer Hand herumzukauen. Als Kaja völlig verwirrt die Brauen hochzog, öffnete er langsam seinen Kiefer und ließ ihre angesabberte Hand herausrutschen wie ein langweilig gewordenes Spielzeug. Er setzte sich auf sein Hinterteil, legte den buschigen Schweif sorgsam um seine Beine und tat so, als wäre es das Normalste der Welt, auf diese Art um eine Mahlzeit zu bitten.

»Schon gut, Sioux«, murmelte Kaja schläfrig. »Es gibt ja gleich Futter.«

Sie erntete ein bestätigendes Fiepen und hörte dann, wie große Tatzen gemächlich Richtung Küche tapsten. Sie schielte mit nur einem offenen Auge hinüber und erspähte gerade noch, wie ein Fuchsschwanz hinter dem Türrahmen verschwand.

Ächzend streckte Kaja alle viere von sich und versuchte die Müdigkeit wegzublinzeln. Das schmale Sofa war alles andere als bequem, trotzdem war sie während eines Filmes eingenickt.

Über ihr zogen kleine Wölkchen langsam durch einen cyanfarbenen Himmel ihre Bahnen. Doch grobe Linien und scheinbar abgefressene Kanten zerstörten das makellose Blau. Es war die nackte Realität einfallender Sonnenstrahlen, die das Licht der Prismastrahler verdrängte. Holo-Anlagen, die Tageslicht überstrahlen konnten, waren in der Energiebilanz geradezu wahnwitzig. So etwas brauchte es nicht in einer kleinen Wohnkuppel.

»System?«, säuselte sie müde und gähnte herzhaft.

»Online«, reagierte die Wohnungsverwaltungs-KI mit der üblichen, standardisierten Frauenstimme.

»Decke als Spiegelung«, wies Kaja es mit knappen Worten an.

»Scanne Rauminhalte«, sprach das System bereitwillig. »Visualisiere.«

Die Holografie über Kaja zerfloss wie Ölfarbe und formte ein Abbild ihrer Wohnung. Die Perspektive war tatsächlich so, als wäre die gesamte Decke verspiegelt.

Träge blinzelnd hob sie ihren Arm. Das Hologramm war zu weit entfernt, um es zu erreichen. Ihr Zeigefinger zeichnete die zerfetzten Kanten nach, welche das Sonnenlicht aus den kleinen, schmalen Luken in die Holografie ihres Selbst riss.

Kaja beobachtete die reflektierten Bewegungen ihrer fehlerhaften Kopie. Die Realität erschien ihr durch die Störungen greifbarer – ein Blick hinter die modernen Schleier aus Glas, Stahl und Prismaprojektionen. Das gab ihr das Gefühl, nicht ganz so weltfremd zu sein.

Was für eine Ironie.

»System«, sprach sie erneut. »Zoom Gesicht.«

Kurz blinkten biometrische Punkte in ihren Gesichtszügen auf. Ein weißes Rechteck umschloss den Kopf in der Holografie, dehnte sich aus und zerrte den Ausschnitt mit sich. Nach einem kurzen Augenblick des Scharfstellens blickte Kajas eigenes, riesiges Abbild auf sie herab. Die Detailschärfe war hyperrealistisch.

Die fein strukturierten Iriden erinnerten an den Boden eines Waldes – grasiges Grün, gemischt mit schlammigem Braun. Sie huschten umher und beäugten das chaotische, lange Haar. Zöpfe unterschiedlicher Dicke, manche fein geflochten, andere grob geknüpft, breiteten sich um ihre schmalen Schultern aus. Teile dieses Gewirrs waren mit einer matten Metallspange seitlich nach oben gesteckt. Die roten und schwarzen Strähnen passten recht gut zu den dunklen Augenbrauen.

»Langweilig«, urteilte Kaja jedoch, griff mit einer Hand zu der Metallspange und tippte gegen eines der Ornamente.

Ein kleines Holo-Bedienfeld erschien. Mit geübten Handgriffen tippte sie darauf herum, drehte es zur Seite und ließ es wieder verschwinden. Einen Wimpernschlag später veränderten die Nanobots in Kajas Haar dessen Struktur. Die vorherigen Pigmente wurden gelöst und mit hellgrünen ersetzt. Ab der Hälfte wandelte es sich in einem Verlauf zu einem honigfarbenen Blond, welches die Spitzen beinahe metallisch wirken ließ.

»Viel besser«, stellte Kaja fest und drehte ihren Kopf hin und her. »Passt gut zur Augenfarbe.«

Die große Spiegel-Holografie grinste ihr entgegen. Makellose Zahnreihen blitzten zwischen geschwungenen Lippen hindurch. Ihr ovales Gesicht war hübsch anzusehen, entsprach aber nicht dem derzeit populären Ideal der runden, hochwangigen und spitzlippigen Werbebilder.

»Hey!«, murrte Kaja, kniff ein Auge zusammen und grinste schief, als sich eine schwarze Nase in das Bild schob.

Sie schaute zur Seite und blickte gutmütig auf ihren Fuchs. Das Tier überragte das Sofa problemlos und war selbstverständlich genetisch aufbereitet, damit es ein wunderbares Haustier darstellte – kein Fellwechsel, zutraulich, sehr verständig und nicht fortpflanzungsfähig.

Einer der Vorteile hier draußen zu leben war, einen solchen Gefährten leicht genehmigt zu bekommen. Die winzigen Wohnungen in den Wolkenkratzern der Städte boten oft keinen Platz. Abgesehen davon benötigte man sie dort auch nicht.

Emotionale Nähe gewährte jederzeit das Cybernet.

Die digitale Vernetzung von Emotionen hatte der Menschheit nicht nur Frieden gebracht, sondern auch die Gesellschaft revolutioniert, Glaubenssysteme unnötig gemacht und die Wirtschaft boomen lassen. Man fühlte Freud und Leid seiner Mitmenschen – zumindest ab einer bestimmten Mindeststärke der Intensität.

In den dicht besiedelten Städten konnte man also leicht Anschluss finden. In solch kleinen Siedlungen, wie der von Kaja, war das schon schwieriger. Man konnte hier schnell vereinsamen. Die optimierten Haustiere boten da Abhilfe. Ihre Gefühle waren durch Züchtungen und genetische Handwerkskunst so ausgearbeitet, dass sie ebenfalls tauglich für das Cybernet waren. Sicher, Sioux war kein Ersatz für einen Menschen, aber trotzdem so etwas wie ein enger Freund.

Zumindest sah Kaja das so.

Der Fuchs verlor langsam die Geduld und begann erneut an Kajas Fingern herumzuknabbern. Außerdem fühlte sie plötzlich ein Gefühl der Dringlichkeit von ihm ausgehen.

»Okay, okay, du frecher Kerl!« Sie lachte auf. »Kein Grund, direkt das Cybernet auf mich zu hetzen!«

Kaja richtete sich auf und schwang die Beine über die Sofakante. Die Schultern rollend reckte sie ihren Hals nach links und rechts, bis ein leises Knacken im Nacken ertönte. Sie seufzte wohlig.

»System?«, rief sie, während sie die mit unterschiedlich farbigen Socken ausgestattete Füße in ihre klobigen Stiefel schob.

»Online«, tönte es monoton.

»Nahrung für Sioux«, orderte Kaja.

In der Küche ertönte ein Brummen, als die Mischung aus Proteinen und Vitaminen für den Fuchs zusammengestellt wurde. Der stürmte daraufhin euphorisch in den Nebenraum, als die Schüssel aus der Kühlschrankausgabe scheppernd auf den Boden plumpste. Kaja hatte vor die Essensausgabe eine kleine Rutschenkonstruktion gebaut, damit sie nicht jedes Mal selbst hingehen musste – Faulheit machte eben erfinderisch.

»Deckenprojektion auf Standard«, wies sie weiter an.

Über ihr verwandelte sich der Spiegel wieder in das Abbild einer offenen Kuppel. Sofort wirkte der Raum wesentlich größer.

Die kleine Wohneinheit war komfortabel und mit modernster Technik ausgestattet. Tische und Arbeitsplatten waren mit elektromagnetischen Anti-Grav-Systemen ausgestattet, damit sie wenig Platz verbrauchten und beliebig versetzt werden konnten. Außerdem ließ sich das Solar-Kristall-Heizsystem punktgenau für jeden Zweck einstellen – sei es Wasser-, Luft-, Boden- oder gar Wandtemperatur. Holo-Flächen in Wänden und Decken sorgten für optische Größe und Umgestaltungen mit nur einem Handwink. Außerdem konnte man darauf auch Filme schauen oder sich mit der entsprechenden Geräuschkulisse an ganz andere Orte auf der Welt – oder in andere Sphären – träumen.

Kaja hatte jedoch von ihrem Ersparten etwas ganz Besonderes einbauen lassen: eine extra starke Emotionsdämmung. Dadurch konnten keine Gefühle von außerhalb zu ihr durchdringen. Abgesehen davon, war draußen niemand in der Lage, Kajas Emotionen zu fühlen, selbst wenn sie noch so heftig waren.

Dies war ihre Bastion.

Eine Blase emotionaler Stille, in der sie sich keine Sorgen darum machen musste, anderen wehzutun. Beinahe fühlte es sich wie ein Zuhause an – insofern ein selbst gewähltes Exil eines sein konnte.

Kaja griff zu ihrem Fingerreif. Das schlichte, um ihren Ringfinger gewundene Metallband hatte sie stets begleitet. Sie besaß nur wenig persönliche Dinge, doch dieses war ihr heilig. Sie hob ihre Hand, streckte die Finger aus und formte mit der Handinnenseite eine gerade Fläche. Der Daumen strich kurz über das glatte Metall.

Eine kleine Projektion erschien über dem Ring: eine kleine, blonde Frau, ein wuchtiger Mann mit Drei-Tage-Bart und dazwischen ein Mädchen mit schulterlangem, hellbraunem Haar.

Sie selbst.

Kaja lächelte, als sie das kleine Familienbild betrachtete. Ihr Herz schlug schneller, teils vor nostalgischer Freude, teils vor schmerzenden Wehmut. Kurz brannten ihre Augen. Es wollten sich ein paar Tränen über ihre Lider drängen, doch die Wärme der Erinnerungen in ihrem Bauch schien sie zu verdampfen. Sie atmete tief durch. Dies war ein ganz besonderer Schatz – nicht der Gegenstand selbst, sondern das, was er in ihr zu wecken vermochte.

»Sie haben eine neue Nachricht«, riss sie das System aus der geliebten Erinnerung.

»Absender?«, fragte Kaja und ließ das Hologramm wieder verschwinden, indem sie ihre Finger krümmte.

»Das NWF.« Es wirkte beinahe so, als würde das System abschätzig klingen – was natürlich unmöglich war.

»Das wird wohl Arbeit bedeuten«, mutmaßte Kaja, denn die New-World-Formation beschäftigte sie oft mit Wartungsaufträgen.

Sie liebte ihren Job – dabei konnte sie hinaus in die Natur. Gutgelaunt eine Melodie vor sich hin summend, packte sie ihre Werkzeuge zusammen. Kaja schlüpfte in ihre synthetische Jacke, strich dem sie umschleichenden Sioux zum Abschied über den Kopf und trat zur Tür.

Sie öffnete sich und das warme Tageslicht verdrängte jegliche Holografie in der Wohnkuppel. Kaja trat hinaus und warf keinen Blick zurück in den Raum, dessen Wände nun kahl und grau waren.

Der Gestank war ekelerregend. Die Nase in ihrer Armbeuge vergraben, hockte sich Kaja hin und schöpfte etwas von dem seltsam mehrfarbigen Schlick in den Glasbehälter. Er quoll aus einem breiten Riss im Erdboden und verfestigte sich nach einer Weile wie Zuckerguss.

Das Erbe alten Wohlstandes.

Man hatte noch bis vor einigen Jahrzehnten den Planeten rücksichtslos ausgebeutet. Die globale Industrie hatte die Rohstoffe aus ihm herausgesaugt und die Hohlräume mit Schutt und Industrieabfällen gefüllt. Getreu dem Motto Aus den Augen, aus dem Sinn, hatte man den radioaktiven Rückständen der damals populären Atomkraftwerke gleich auch noch einen kräftigen Schubs über die Kante gegeben. Fertig war ein Gemisch, welches die Natur langsam aber sicher vernichtete.

Ein Irrtum.

Nichts konnte die Natur wirklich aufhalten. Ihre Fähigkeit, sich anzupassen, war bemerkenswert. Ein Gedanke, der Kaja schmunzeln ließ, während sie auf die blubbernde Masse blickte. Selbst hochverseuchte Gebiete hatten nach einer relativ kurzen Zeitspanne wieder eine kräftige Flora und Fauna aufgewiesen – vor allem, wenn der Parasit Mensch diese Orte nicht mehr betreten konnte.

Der wiederum war allerdings nicht in der Lage, seinen eigenen Organismus schnell genug anzupassen. Der Generationswechsel waren zu lang, die physische Adaption zu schwach und die Genstrukturen zu anfällig. Der Kreislauf des Lebens schlug unerbittlich zurück, denn der Planet brauchte die Menschheit nicht – sie war stets nur ein geduldeter Gast gewesen.

Deshalb hatte der gestohlene Reichtum niemanden mehr retten können. Das Umdenken der Schönen und Reichen war beinahe zu spät erfolgt.

Die wissenschaftlichen Durchbrüche in Kybernetik und Genetik brachten gerade noch rechtzeitig die rettende Wende. Natürlich hatte man nicht sofort damit begonnen, Menschen zu verändern. Stattdessen hatte man Pflanzen, Tiere und Bakterien moduliert und sie die Drecksarbeit erledigen lassen. So war das wissenschaftlich-industrielle Terraforming-Programm entstanden, für das Kaja nun arbeitete – und der feste Entschluss, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Kaja versiegelte das Gefäß, rümpfte noch einmal die Nase, als sie dem Schlick einen letzten abschätzigen Blick zuwarf, und wandte sich ab. Sie warf es in ihren abgenutzten, schwarzen Rucksack. Dann zückte sie den kleinen Peilsender, schaltete ihn ein und betrachtete nachdenklich die angezeigten Diagramme.

»Die Terraforming-Einheit sollte in dieser Richtung sein«, murmelte sie und wandte sich gen Süden.

Der Wald wuchs hier sehr dicht. Die Stämme der Bäume waren manchmal seltsam verdreht, doch gesund und kräftig. Eine leichte Brise wiegte ihre Kronen und entlockte den Blättern ihren rauschenden Gesang. Der Boden war überwuchert mit hohem Gras, weichem Moos und wildem Gestrüpp. Kaja lief unbeirrt voran. Das Unterholz knackte und brach unter ihren festen Stiefeln. Kein einziger Kratzer blieb auf den entblößten Waden zurück.

Nach einem kurzen Marsch sah sie das Gerät: ein wuchtiger Doppel-Ring aus Stahl und Keramik. Doch der Terraformer war wesentlich größer, als es den Anschein machte. Das Gerät war biomechanisch mit dem Wurzelsystem der eigens dafür genetisch modulierten, kybernetisch ergänzten Bäume verbunden. Deren Fotosynthese-Überschuss sorgte für die Energieversorgung, gleichzeitig verteilten sie die Frequenzen und stimulierten Stoffwechselprodukte in der Umwelt.

Damit stellte das gesamte Waldstück die Apparatur dar.

Kaja zerrte ein paar Ranken von der Oberfläche und suchte die Bedienschnittstelle. Sie öffnete die Schalttafel, legte den Peilsender in die entsprechende Vertiefung und tippte den ihr mitgeteilten Code ein. Ohne jedes Stocken erwachte das Gerät.

Unzählige Diagramme, Tabellen und Grafiken wurden über die Terraforming-Einheit projiziert. Das Gerät funktionierte tadellos – schließlich war es für eine jahrzehntelange Arbeit konstruiert worden. Die von Kaja initiierte Selbstanalyse zeigte, dass alle Prozesse korrekt abliefen. Allerdings waren sie nicht auf den heftigen Ausbruch der Industrieabfälle eingestellt.

Hier draußen in den Reservaten – umgangssprachlich nur als Schorf bezeichnet – waren großflächige Technik und Besiedlung weitestgehend verboten. Daher lief alles vollautomatisch, man musste nur die neuen Parameter festlegen. Die integrierten Hilfsprogramme waren derart idiotensicher, dass es selbst Laien verstehen konnten. Es musste sich nur ein robuster Depp finden, der sich hier hinauswagte, um sie anzupassen.

So jemand wie Kaja.

Der Sender würde jedoch noch einige Messungen vornehmen müssen, damit das Hauptbüro prüfen konnte, ob die Korrekturen erfolgreich sein würden. Nachdem die Modulationen beendet waren, kehrte sie zu der Austrittsstelle zurück.

Kaja schwenkte das Gerät über die übel riechende Substanz, während sie die Öffnung umrundete. Der Riss war deutlich länger, als sie zunächst vermutet hatte.

Plötzlich gab der Boden unter ihren Füßen nach. Sie strauchelte, als ihr rechtes Bein in den Boden einbrach. Der stinkende Schlamm quoll hervor und umhüllte es bis zum Knie. Kaja reagierte sofort. Sie warf sich auf den Rücken, stemmte die Ellbogen in den Boden und versuchte sich zu befreien – ohne Erfolg. Ihr Fuß musste sich irgendwie verhakt haben.

Panik stieg in ihr auf. Der Gedanke, dass gleich alles unter ihr zusammenbrechen und sie in der verseuchten Masse ertrinken könnte, ließ ihren Puls in die Höhe schnellen. Hier draußen würde ihr niemand zu Hilfe kommen. Sie warf den Kopf in den Nacken, biss die Zähne zusammen und zerrte, so fest sie konnte.

Auf einmal ertönte ein ekelhaftes Knacken. Der Widerstand verschwand und Kaja rutschte mit Schwung aus dem Loch.

Ohne Fuß.

Mit vor Schrecken geweiteten Augen glotzte sie auf ihren Beinstumpf, aus dem hydraulische Rohrknochen ragten und bunte Drähte Funken schlugen. Währenddessen fraß sich der chemische Abfall weiter in den Stahl ihres kybernetischen Beines. Ein seltsam bläulicher Dampf stieg auf und biss in ihre Nasenschleimhäute.

Kaja schnaubte angewidert, griff nach vorne, schob den Stoff der Hose hoch und entblößte ihren silbern glänzenden Oberschenkel. Naturgetreue Verkleidungen waren schrecklich teuer, daher hatte es nur für ihre Waden gereicht. Dafür hatte sie auf Nervensensoren verzichtet. Das kam ihr gerade zugute, denn wer wollte schon fühlen, wie einem das Bein weggeätzt wurde?

Kaja grub ihre Nägel hinter die Kunststoff-Kniescheibe und suchte den Nothebel. Ihre verschwitzten Finger tasteten eilig umher. Währenddessen fraß sich die Masse weiter nach oben. Sollte sie in den Flüssigkeitskreislauf des kybernetischen Systems gelangen, wäre sie schlagartig bewegungsunfähig.

»Komm schon, komm schon«, presste sie zwischen ihren Zähnen hervor.

Endlich fand sie den kleinen Widerstand und drückte dagegen. Mit einem befreienden Klicken löste sich das untere Bein von dem Gelenk und plumpste mit einem dumpfen Ton in den Dreck. Kaja drehte sich auf den Bauch und kroch von der Unglücksstelle weg. In sicherem Abstand blieb sie kurz liegen und atmete hörbar auf. Ihr Herz hämmerte noch immer heftig gegen ihre Rippen.

»Verdammter Mist, ich muss hier weg. Wer weiß, was die Änderungen in der Terraforming-Einheit hier bewirken«, grollte sie, zog ihren Rucksack von ihren Schultern und wühlte darin herum.

Leider fand sich daran nichts wirklich Brauchbares, um das Bein provisorisch zu ersetzen. Also griff sie nach einem krummen, dicken Ast neben sich und band ihn mit den reißfesten Synthetikbandagen aus dem Erste-Hilfe-Kit an ihrem Oberschenkel fest.

Sie stemmte sich nach oben und versuchte mit den Armen rudernd die Balance zu halten. Schreiend kippte sie zur Seite und landete erneut im Dreck. Fluchend rammte Kaja die Faust in den Boden, kroch weiter und suchte sich einen weiteren langen Ast.

Schließlich humpelte sie wie eine Piratenbraut mit Holzbein davon – eine in die Jahre gekommene Piratenbraut mit Gehstock.

Kaja hielt den Blick stur nach vorne gerichtet und vermied es, ihren kybernetischen Beinen weitere Beachtung zu schenken. Sie hasste diesen Teil ihres Körpers, auch wenn ihr vermutlich genau dieser gerade das Leben gerettet hatte.

Ihre Beine waren komplett mechanisch, der Teil ab den Knien abwärts naturnah verkleidet. Immerhin musste sie so nur ihre Oberschenkel unter der Kleidung verbergen und wirkte dadurch voll biologisch. Beide kybernetische Gliedmaßen liefen in einem Modul aus Kunststoff und Keramik in ihrem Steiß zusammen. Die untere Wirbelsäule hatte man künstlich neu aufgebaut und bildete damit das Verbindungsglied zwischen den biologischen und den kybernetischen Komponenten.

Genetik hingegen war, Kajas Meinung nach, die schillernde Sprache der Natur – und ihre Entschlüsselung ein wahrer Segen.

Die gezielten Veränderungen in den Grundbausteinen der Natur konnte Tiere die tiefgreifenden Veränderungen an der Natur überstehen lassen. Abgesehen davon war die Optimierung von Pflanzen für eine effizientere Nahrungsproduktion zur Versorgung der hohen Weltbevölkerung unvermeidbar gewesen. Die Modifikation des Menschen selbst stellte die Krone dieser Wissenschaft dar. Man half der Evolution auf die Sprünge – das konnte immerhin Jahrtausende sparen.

Metall, Kunststoff und Keramik in Organismen zu stopfen, empfand Kaja jedoch fast schon als abstoßend.

Hätte die Natur gewollt, dass Metall einer der Grundbausteine des Lebens sein sollte, wäre das zumindest in den Grundzügen so angelegt worden. Doch jeglicher Organismus auf diesem Planeten basierte auf Kohlenstoff.

Kybernetik empfand Kaja als unheimlich und fremd, trotzdem hatte sie ihr wohl vor langer Zeit schon einmal das Leben gerettet. Zumindest vermutete sie das. Warum sonst hatte sie diese Technik in ihrem Körper? Vielleicht hatte es auch schlicht keine geeigneten Spenderbeine gegeben, denn eine Zucht aus Stammzellen war für normale Leute unbezahlbar.

Sie konnte sich nicht daran erinnern. Wenn sie es versuchte, war da schlicht … Nichts.

Ein weiteres, klaffendes Loch in ihrem Selbst.

Ein fehlender Fuß ist nichts im Gegensatz zu den Lücken in meinem Kopf, dachte sie mit zunehmend sinkender Laune.

Wenn Kaja jedoch ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nur diesen Job, weil ihr Körper eben durch diese Technik wesentlich robuster war. Außerdem verbesserte es ihre Ausdauer für Rennen und Springen. Das war bei den Gewaltmärschen im Schorf unabdingbar.

Natürlich barg dies auch eine gewisse Gefahr – aufgrund ihrer fehlenden Sensoren warnten weder Schmerz noch Schwäche vor Überlastung oder Schäden. Eigentlich ließ das sogar auf Hehlerware vermuten, denn ohne Kontrolleinheit oder Nerven wurden solche Prothesen heutzutage nicht mehr zugelassen. Zudem war die Funktion wirklich sehr rudimentär. Mit den optimierten Geräten in den Großstädten hatte das wenig zu tun.

Kaja atmete tief die süße, saubere Luft ein. Es roch nach Gras, Blumen und frischem Holz. Der Tag war angenehm mild und die Lichtflecken, die das Blätterdach auf dem Boden erzeugte, schienen aus schillerndem Blattgold zu bestehen. Das Zwitschern der Vögel und das Rascheln von Kleintieren im Unterholz gaben ihr das Gefühl, freundliche Gesellschaft zu haben.

Es vertrieb die deprimierenden Gedanken. Hier war Kaja losgelöst von dem Segen der Menschheit, getrennt von der künstlichen Evolution des Friedens – dem Cybernet. Hier konnten ihre Emotionen niemandem Schaden zufügen.

Der Warengleiter bewegte sich mit einem leisen Surren vorwärts. Obwohl das Gelände darunter alles andere als eben war, schaukelte er nicht im Geringsten, denn die Anti-Grav-Module aus rotierenden, eiskalten Supraleitern trotzten mühelos der Schwerkraft.

Die festen Uhrzeiten für die Warentransporte durch den Schorf waren ziemlich praktisch, denn so hatte Kaja stets eine Mitfahrgelegenheit. Auch dieses Mal saß sie hinten auf der Ladenfläche des Gleiters – auch wenn sie ihn wegen ihres Handicaps beinahe verpasst hatte.

Kaja lag auf einem der Container. Die Ferse ihres intakten Fußes tippte dumpf gegen das Metall, während der Stumpf des anderen rhythmisch klackte. Mit den Händen hinter ihrem Kopf blickte sie nachdenklich zum Himmel hinauf.

Über ihr zog einer der langsamen Solar-Zeppeline vorbei. Das bauchige Luftschiff hatte flossenähnliche Sonnensegel. Diese mobilen Forschungsstationen wirkten ein wenig wie faule Wale und widmeten sich seltsamen Formationen im Infrarotbereich, weit oben in der Atmosphäre. Man wusste nicht viel darüber. Vor allem ihr etwaiger Einfluss auf das Ökosystem interessierte die Wissenschaftler. Diese neuentdeckten Formen verhielten sich teilweise wie Lebewesen, aber da sich ihr kompletter Körperbau in anderen Frequenzspektren befand, war organisch nicht das korrekte Wort dafür.

Wie es wohl ist, losgelöst von der Last der Körperlichkeit dort oben zu schweben, überlegte Kaja, senkte die Lider und ließ damit die Wolkenformationen und den Zeppelin in ihrem Sichtbereich verschwimmen. Ob auch diese … Dinger Gefühle haben?

Ein strahlendes Licht erschien am Rand ihres Blickfeldes – so hell, als wollte es der Sonne Konkurrenz machen. Kaja beschattete ihre Augen mit einer Hand, drehte den Kopf und schaute auf die schlanke Formation am Horizont.

Wie ein erstarrter Sonnenstrahl ragte diese vom Boden hinauf und verlor sich in der Weite des blauen Himmelszelts. Teile davon schienen zu glühen, manchmal flackerte ein gleißender Lichtpunkt in der scheinbar glatten Linie wie ein facettierter Diamant. Breite Ringe schwebten in regelmäßigen Abständen um das Gebilde – gigantische Plattformen, die so dünn wie Papier erschienen.

Es war das Symbol dieses Zeitalters. Der Stolz der Menschheit. Ein Wahrzeichen, das die gesamte Welt verändert hatte.

Skyscrape.

Eine Stadt deren Aufbau, Sozial- und Wirtschaftssystem der Maßstab für die gesamte moderne Zivilisation geworden war.

Ihre Grundfläche war die einer Kleinstadt, doch die Ebenen erhoben sich kilometerweit in die Luft. Diese platzsparende, umweltschonende Bauweise barg natürlich große Herausforderungen in Architektur und Logistik, doch Skyscrape hatte sie alle gemeistert. Hochwissenschaft reichte Industrie und Politik die Hände. Die geeinte Kraft der Menschheit, ermöglicht durch das Cybernet, hatte die dunkle Vergangenheit überwunden.

Ganz so wunderbar, wie Geschichtsschreibung und Medien das Ganze darstellten, war es natürlich nicht abgelaufen. Auf dem Weg dahin hatte es selbstverständlich auch viele Fehlschläge gegeben, doch der Gewinn wog sie alle mehr als auf. Oft hätte man der Obrigkeit vorwerfen können, dass sie eine gewisse Zahl an Opfern für das Wohl aller wissentlich in Kauf genommen hatte. Doch so kaltherzig und skrupellos das womöglich gewesen war, die Erfolge hatten die Kritiker schnell verstummen lassen.

So etwas funktionierte jedoch nur, wenn man nicht zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehörte – und diese wiederum in einer vernachlässigbaren Unterzahl waren. Selbstaufopferung hatte ihre Grenzen, wenn man ein Herz hatte, welches ebenfalls leben, lieben und frei sein wollte.

Vor allem, wenn man durch das Cybernet alles mitfühlen konnte. So war eine produktive Balance entstanden, welche die Evolution des Menschen immer weiter beflügelte.

Kaja gehörte leider zu den weniger Glücklichen.

Nicht jeder kann ein Gewinner sein. So ist das Leben, dachte sie nüchtern, den Blick wieder von dem Mahnmal des Fortschritts abwendend.

Der Gleiter wurde langsamer und stoppte schließlich.

»Kaja«, knarzte die raue Stimme des Fahrers. »Ich muss weiter ins Dorfzentrum. Willst du mit?«

»Nein«, entgegnete sie und seufzte laut. »Du weißt doch, Gesellschaft ist nicht so mein Ding.«

Sie richtete sich auf und wollte von dem Container springen, da erinnerte sie ihr fehlendes Unterbein an ihr geringfügiges Problem.

»Ach, scheiße«, grummelte sie und rieb sich genervt die Augen. »Hab's mir anders überlegt! Ich komme diesmal doch mit!«, rief sie dem Fahrer zu.

»Alles klar«, erwiderte er gut gelaunt und der Gleiter setzte sich erneut in Bewegung.

Nach kurzer Zeit kamen die ersten Wohnkuppeln in Sicht. Eingebettet in Gewächsmodule wirkten sie wie kleine Oasen der Zivilisation. Mit ihren Sonnensegeln und den integrierten Treibhaussegmenten boten sie beinahe autarke Lebensbedingungen. Lediglich diverse Luxuswaren und Gebrauchsgegenstände wurden in regelmäßigen Abständen geliefert.

Bei einer größeren Kuppel, welche das Einkaufszentrum darstellte, hielt der Warentransport an. Der Fahrer half Kaja von der Ladefläche. Sein faltiges Gesicht zeigte ein ehrliches Lächeln. Seine andere Hälfte war zwar mit Metall verkleidet und das Auge hatte eine künstliche Iris aus violettem Kristallglas, er wirkte jedoch keineswegs bedrohlich.

»Auch wenn du nur wegen deinem Bein hier bist, genieß ein wenig die Gesellschaft, ja?«, meinte er und zwinkerte Kaja aufmunternd zu.

»Ich versuch's«, murmelte sie, erwiderte jedoch sein Lächeln freundlich. »Tut mir leid, dass ich beim Abladen nicht helfen kann, aber … na ja …« Sie machte eine Geste zu ihrer Hüfte.

»Schon in Ordnung.« Er lachte. »Ich bin zwar nicht der Jüngste, aber meine kybernetischen Verbesserungen gleichen das absolut aus.«

Kaja nickte, hob zum Abschied die Hand und humpelte in Richtung der Klinik davon. Hohe Bäume säumten die Wege und ließen die Wohnkuppeln beinahe verschwinden. Vögel, Eichhörnchen und andere Kleintiere tummelten sich in dem Unterholz aus Beerensträuchern und farbenprächtigen Blumen. Ein kleiner Garten Eden.

Hier leben zu dürfen, war eine Art Privileg. Sicher, man hatte ordentlich investiert, um Leute in den technisch rückständigen und recht einsamen Schorf zu locken, doch die Plätze waren begrenzt. Man würde nicht erneut zulassen, dass sich Siedlungen geschwürartig über die Erdoberfläche verbreiteten. Ballungszentren wie Skyscrape boten natürlich viel mehr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, doch manche Menschen hatten so ihre Gründe, dem entfliehen zu wollen – manchmal zu viele.

Daher gab es ein offizielles Losverfahren. Herkunft und Ausbildung waren völlig irrelevant, da die örtlichen Systeme darauf ausgelegt waren, dies zu kompensieren. Die autarke Terraforming-Einheit war ein gutes Beispiel dafür. Wenn man doch mehr Wissen brauchte, bot das Internet ausreichend Weiterbildungsseminare.

Auf Kajas Weg grüßten die anderen Bewohner freundlich. Hier kannte jeder jeden. Es war beinahe so etwas wie eine große Familie. Doch Kaja wollte ihnen möglichst fernbleiben. Allerdings überwältigte die Freundlichkeit ihr Herz schon nach wenigen Minuten. Ein verräterisches Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben.

Die Dörfler drückten offen ihre Sorge um ihr Bein aus. Manchmal war ihr Mitgefühl so stark, dass es durch das Cybernet übertragen wurde und Kajas Brustkorb zusammenzog, obwohl sie sich wenig für den Schaden an dem ungeliebten mechanischen Teil interessierte. Sie gab ihr Bestes, um zu den anderen Menschen hier keine Verbindung aufzubauen, doch deren ehrliche Herzlichkeit machte es ihr unmöglich, sie nicht irgendwie gern zu haben.

Schließlich stand sie vor der lokalen Klinik. Bis eben war sie noch durch die anderen Siedler recht gut gelaunt gewesen, aber ihre Abneigung gegen Kybernetik klopfte wie ein alter Bekannter an ihre Psyche. Kaja schaute noch einmal hinab zu dem Beinstumpf, brummte verstimmt und humpelte dann durch die automatisch öffnende Tür.

Nach der typischen Anmeldeprozedur und kurzem Warten, lag Kaja auf dem Behandlungstisch. Das breite Teil aus Edelstahl war nicht gepolstert und ihr Stumpf kratzte unangenehm über die glatte Fläche.

»Das sollte kein Problem sein«, diagnostizierte die Ärztin, während sie mit einem Finger durch die Akten auf der Holo-Anzeige wischte. »Da das Unterbein mit der Notvorrichtung sauber abgetrennt wurde, gibt es keinerlei Schäden am Gelenk.«

Das war genau das, was Kaja am meisten an der Kybernetik störte: Man wurde wie ein Ersatzteillager behandelt. Natürlich war ihr klar, dass dieses Urteil zu hart war und die Kombination aus Arztstudium sowie technischer Ausbildung dazu führen musste, aber Emotionen waren nun einmal nicht rational.

»Wie hast du überhaupt dein Bein verloren? Du hast es doch sicher nicht einfach so irgendwo verlegt wie eine Chipkarte«, fragte die Ärztin. »Abgesehen davon kannst du mich wirklich überhaupt nicht leiden«, stellte sie weiter trocken fest, weil sie Kajas Abneigung durch das Cybernet fühlen konnte.

»Das hat nichts mit deiner Person zu tun«, erwiderte Kaja und lief ein wenig rot an. »Es ist die Sache an sich. Und das Bein wurde vom Erdboden verschluckt – buchstäblich.«

Die Ärztin seufzte, schnappte sich ein kleines Holo-Tablet und hielt es ihr hin. Unfälle im Schorf waren tatsächlich nichts Besonderes. Einzelgänger wie Kaja jedoch schon.

»Schau dir die Prothesen im Katalog an und such einen Ersatz aus. Modelle, die ich hier habe, sind markiert. Ich könnte sie direkt einbauen.« Mit diesen Worten ließ sie Kaja kurz allein.

Außergewöhnliches lag außerhalb ihres Budgets. Ihre Krankenkasse zahlte geradeso genug dazu, damit sie normal laufen konnte. Verstärkungen waren nicht inbegriffen. Natürliches Aussehen auch nicht. Das Bein würde aussehen wie ein klobiger Wagenheber.

Frustriert mit den Zähnen knirschend, wählte sie eines der einfachsten, vorrätigen Modelle. Allerdings wühlte sie sich noch durch die realistischen Verschalungen. Es gab einen Kunststoff, der nicht nur eine frei wählbare Hautfarbe bot, sondern auch weich und angewärmt war. Er reagierte zwar nicht auf natürliche Bräunungsprozesse, aber es war besser, ein etwas andersfarbiges Bein zu haben, als eine hässliche Stahlstelze.

Als Kaja mitsamt Liege in den Installationsring mit seinen vielgelenkigen Werkzeugarmen geschoben worden war und die Kybernetikspezialistin ihre Wahl begutachtete, hob diese skeptisch eine Augenbraue.

»Wieder keine Nervensensoren?«, fragte sie und musterte Kajas Gesicht aufmerksam. »Auch wenn es einen rudimentären Sicherheitsmechanismus gibt, muss ich dich darauf hinweisen, dass die Gefahr einer Cyberpsychose gegeben ist – durch zu viele Optimierungen hat das Hirn zunehmend Probleme mit der Eigenwahrnehmung. Es kann zu Persönlichkeitsstörungen kommen. Ohne Nervensensoren ist das Risiko viel höher.«

»Ich habe schon immer keine Sensoren«, hielt Kaja wortkarg dagegen. »Werd schon nicht durchdrehen.«

Obwohl die Ärztin diese Entscheidung so sehr missbilligte, dass ihr Gefühl auch Kajas Magen einen kleinen Salto vollführen ließ, machte sie sich an die Arbeit. In der Großstadt hätte man sich vermutlich geweigert, aber in einer solch kleinen Kommune sah man das nicht so eng. Die neue Prothese wurde mit den Werkzeugarmen installiert. Laservermessungen analysierten das andere Bein und formten den Kunststoff nicht einfach nur perfekt gespiegelt, sondern fügten ihm noch kleine Unregelmäßigkeiten hinzu, damit es auch wirklich echt aussah.

Krückenfrei und auf zwei Beinen, wenn auch auf einer Seite barfuß, trat Kaja aus der Klinik. Zudem war sie nun absolut pleite. Die künstliche Haut wäre billiger gewesen, wenn sie nur die Wade umschlossen hätte, doch feingliedrige Füße waren schrecklich teuer.

Der Tag kann echt in den Müll, dachte sie missmutig und stapfte nach Hause.

Sie spürte weder den Stahl noch das Gras unter ihrem nackten Fuß. Dennoch fühlte sie sich wieder mehr wie sie selbst, weil man nicht mehr auf den ersten Blick erkennen konnte, dass ihre Beine künstlich waren. Es würde niemand negativ bewerten, wenn dem so wäre, dennoch hing ihr Selbstwertgefühl ordentlich schief.

Nach ein paar Minuten begann plötzlich Kajas Herz schneller zu schlagen. Ihr Magen wurde immer schwerer und ihr Kiefer verspannte sich. Sie blickte auf und versuchte herauszufinden, ob es einem der Passanten nicht gut ging. Die Menschen verhielten sich allerdings normal.

Auf einmal begannen Kajas Augen zu brennen, als müsste sie jeden Moment losweinen. Sie blinzelte ein paar Mal und schluckte schwer. Ein reißendes Kribbeln flutete ihre Knochen und zu dieser seltsamen Traurigkeit mischte sich kochende Wut. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus.

Kaja kannte diese Momente sehr genau.

Sie rannte sofort los.

Ohne darauf zu achten, wie die anderen reagierten, stürmte sie die Straße entlang. Die Geräusche ihrer festen Stiefelsohle und des nackten Fußes drangen nur dumpf an ihre Ohren. Ihr Atem wollte nicht tief genug in ihre Lunge strömen. Sie begann zu husten, blieb jedoch nicht stehen. Sie fühlte innerlich, wie sich eine Art emotionale Mauer aufbaute.

Kaja stolperte und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, während ein unbändiger Hass ihre Innereien zu verbrennen schien. Ihr Blut raste prickelnd durch ihre Adern. Gleichzeitig begannen Tränen ihre Wangen hinabzulaufen, als eine eiskalte Trauer ihr Hirn zu lähmen schien.

»Was ist los?«, hörte sie eine scheinbar weit entfernte Stimme sagen. »Leute, es geht ihr nicht gut!«, rief jemand.

Nein, nein, nein, dachte Kaja und versuchte weiter zu laufen.

Die Siedler fühlten mit ihr. Das Cybernet ließ Kaja nicht damit allein. Die Menschen traten heran, versuchten sie zu stützen und redeten gutmütig auf sie ein. Einige begannen von geliebten Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit zu berichten, damit Glücksgefühle auf Kaja übertragen wurden, um ihr Leid zu mindern.

»Nein«, röchelte Kaja.

Es sind gute Menschen, dachte sie.

»Lasst mich in Ruhe«, rief sie mit rauer Stimme und wand sich aus den Griffen der Helfer.

Sie dürfen nicht hier sein, schoss es ihr durch den Kopf.

»Geht weg!«, schrie sie voller Verzweiflung.

Wild um sich schlagend, brüllte sie wüste Beschimpfungen und hoffte, dass die Dörfler endlich verschwinden würden. Doch diese hatten nur noch mehr Mitgefühl mit ihr. Hilfsbereitschaft und Verständnis überfluteten Kaja – und doch waren es nur kleine Funken in einer Welt absoluter Dunkelheit.

Die emotionale Wucht fuhr auf Kajas Herz nieder wie ein einstürzendes Gebäude.

»Nicht jetzt …«, keuchte sie mit erstickter Stimme.

Nicht hier, brüllten ihre Gedanken.

Wut und Trauer brachen aus ihrem Innersten hervor. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und stolperte rasend weiter. Alle ihre Muskeln spannten sich an und tausend Nadeln schienen ihre Innereien zu malträtieren.

Gefühle, nah und fern, fremd und doch erschreckend als die eigenen erkennbar, ließen ihre Nervenbahnen singen. Kaja sank auf ihre Knie und fühlte sich ihrem Wesen so nah wie noch nie. Ihr Selbst brannte vor Wut und ertrank in Trauer. Kaja warf ihre Hände in die Luft und umschloss ihren Schädel fest mit den Armen, als würde sie ihn so vor dem Bersten bewahren können.

Ihre Augen waren in den Himmel gerichtet. Sein strahlendes Blau reflektierte sich in ihren Augen und bildete klare Seen inmitten des tobenden Schlammes aus Braun und Grün. Ein gellender, gequälter Schrei, der kaum dem eines Menschen glich, ertönte aus ihrem weit aufgerissenen Mund.

Eine Schockwelle aus Gefühlen ließ die Nervenbahnen der anderen Menschen um sie herum erzittern. Sie schlugen rasend vor Wut aufeinander ein, weinten bitterliche Tränen um niemals erlittene Opfer oder lagen spastisch zuckend im Dreck. Ihre Gesichter waren verzerrt vor Emotionen, die das Cybernet ihnen ungefiltert zuteilwerden ließ.

Inmitten dieses Kreises aus Leid kniete Kaja wie eine dunkle Göttin, umringt von ekstatisch jaulenden Jüngern, die sich ihr zum Opfer darboten.

 

 

 

Als die Tür hinter Kaja ins Schloss klickte, hatte sie das Gefühl, dass sich die Emotionsdämmung ihrer Wohnkuppel wie ein schützender Umhang um ihr Herz legte. Vorwärtstaumelnd rang sie noch immer nach Atem. Ihr Sichtfeld war am Rand verschwommen und pulsierte im Takt ihres Blutes. Ihr schmerzten alle Organe, als hätte man sie verprügelt.

Nachdem der Anfall vorüber gewesen war, hatte Kaja die Flucht ergriffen. Die sie umgebenden Menschen waren ebenso überlastet gewesen wie sie. Doch sie wollte ihre verzerrten Gesichter nicht sehen – sie wusste nur zu gut, was sie jedes Mal anrichtete. Außerdem hatten die negativen Emotionen noch immer wie giftiger Nebel in der Luft gehangen. Kaja hatte das Leid der anderen spüren können. Es hatte sich tief in ihre Magengrube gebohrt. Die kalte Ehrlichkeit des Cybernets war unumstößlich.

Ihr Fuchs Sioux kam herangetapst. Er schnupperte an ihrem Bein, hob den Kopf und fiepte leise. Ein zaghaftes Gefühl der Sorge strich durch Kajas Wahrnehmung. Sie rang sich zu einem Lächeln durch und tätschelte dem Tier den Kopf. Kaja stolperte zum Sofa und warf auf dem Weg ihren Rucksack in die Ecke. Sie ließ sich in die weichen Polster fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Lichtblitze zuckten durch die Dunkelheit hinter ihren Lidern und das Rauschen ihres Blutes in den Ohren vermischte sich mit einem unangenehmen Klingeln. Der Atem wollte nur schwer in ihre Lunge strömen.

Die Emotionsdämmung schloss die anderen Menschen aus. Bisher hatte sie immer das Glück gehabt, dass diese Anfälle innerhalb der Wohneinheit gekommen waren. Die Dörfler wussten nichts von ihrer Situation, kannten sie nur als eigenbrötlerische Terraformerin, die ihre Beine nicht leiden konnte. Dadurch war ihr Leben fast normal abgelaufen – schon seit einigen Jahren.

Kaja hatte sich in trügerischer Sicherheit gewogen.

»Ich muss weg«, keuchte sie zwischen ihren Händen, während ihr der eigene, warme Atem entgegenwehte.

Der Anfall war viel zu auffällig, um als kleine Depression abgetan zu werden, dachte sie weiter und vergrub frustriert die Finger in ihrem Haar.

Kurzentschlossen sprang Kaja auf. Sie stürmte zu dem Rucksack, drehte ihn um und schüttete den gesamten Inhalt aus. Dann wirbelte sie hektisch durch ihre Wohnung, zerrte Schubladen auf, wühlte in Schränken und stapelte Kleidung sowie kleine Geräte auf einen bunten Haufen. Unter Sioux’ neugierigen Augen begann sie ihn weiter auszusortieren.

Nur das Nötigste landete in ihrem alten Rucksack: Wechselkleidung, Not-Reparaturwerkzeug für ihre so ungeliebten, kybernetischen Prothesen, dazu ein einfaches Diagnosegerät und eine identitätslose Bezahlkarte, die sie auf dem Schwarzmarkt ein kleines Vermögen gekostet hatte. Schließlich griff sie zu ihrem schmalen Notiz-Tablet. Kaja hielt inne und starrte die weiß-glänzende Oberfläche an. Mit einem gezielten Tippen an dessen Seite erwachte das Gerät zum Leben. Mit dem Zeigefinger scrollte sie durch endlosen Text.

»Kalte Fakten ohne Leben«, flüsterte sie resigniert.

Nichts der geschriebenen Worte konnte ihr Herz bewegen. Die festgehaltenen Erinnerungen besaßen keinen emotionalen Anker in Kajas Geist und waren damit nur leere Hülsen. Sie hatte gehofft, mit der Niederschrift ihrer Erlebnisse dem Verlust entgegenwirken zu können, doch nun waren sie nur ein weiterer Beweis der unumstößlichen Wahrheit.

Sie seufzte laut, schaltete das Tablet wieder aus und steckte es in den Rucksack. Es zurückzulassen würde bedeuten, auch das Wissen zu verlieren. Schließlich streckte sie ihre Hand aus, wie sie es schon heute Morgen getan hatte, und aktivierte das Hologramm ihres Fingerreifs mit einem Fingerstreich. Das Bild erschien über ihrer Handfläche.

Kaja starrte es an. Ihre Augen weiteten sich.

»Nein«, keuchte sie erschrocken auf.

Die am Morgen noch so geliebte Projektion, war für sie nun ein Abbild von Fremden. Sie wusste, dass dies ihre Eltern sein mussten, dennoch gab es keinerlei Gefühl in Kajas Innerem. Ein fremder Mann und eine unbekannte Frau lächelten sie an. Die einzige Person, welche ihr eine Emotion entlockte, war das kleine Mädchen – sie selbst.

Doch dessen freundliches Gesicht erzeugte nur Niedergeschlagenheit und Abscheu. Kaja hasste sich in diesem Moment einfach nur noch.

Sie sackte in sich zusammen. Ihre Hand fiel leblos an ihrer Seite hinab. Das Hologramm erlosch. Sie würde so gern weinen, doch für welchen Verlust sollte sie noch Tränen vergießen? Zwei Menschen, die ihr wichtig sein sollten, waren schlicht verschwunden und hinterließen nichts als eine alles verschlingende Leere in ihrem Herzen.

»Ich habe doch alles versucht«, murmelte sie, erschüttert vor sich hinstarrend. »Ich habe so viele neue Erfahrungen gemacht und mich extra auf die Gefühle konzentriert. Warum?«

Wut stieg in ihr auf. Sie schlug sich, so fest sie konnte, gegen ihre Brust, wodurch sie heftig husten musste.

»Warum?!«, brüllte sie das auf dem Rucksack liegende Notiz-Tablet an, als wäre darin die Antwort verborgen.

Kaja hatte viele neue Erfahrungen gesucht, Emotionen durchlebt und versucht diese zu bewahren. Doch so zufällig die Anfälle sie auch heimsuchten, so unwillkürlich entrissen sie ihr Erinnerungen.

Mit jedem Schock zerbrach etwas in ihrem Selbst, verlor ein Andenken seinen emotionalen Anker. Ohne diese Kopplung waren es nur unwichtige Informationen für ihren Geist – und das menschliche Gehirn löschte unnötigen Ballast.

Nachdem Kaja auf diese Weise jegliche Verbindung zu einer etwaigen Heimat oder Freunden verloren hatte – Freunde … hatte sie je welche gehabt? Sie wusste es nicht mehr –, waren die Gefühle für ihre Familie ein unendlich wertvoller Schatz gewesen. Doch auch dieser war nun trüb und wertlos geworden.

»Wann werde ich mein eigenes Aussehen vergessen?«, flüsterte Kaja.

Bei diesem Gedanken verrauchte die Wut und verwandelte sich in einen paradoxen, inneren Schmerz. Sobald sie aus ihrem Spiegelbild eine fremde Person anblickte, hätte sich Kaja völlig verloren. Würde sie diesen Menschen mögen, oder das neue Gesicht hässlich finden?

Kälte kroch ihre Adern hinauf. Kajas Körper begann plötzlich zu zittern. Der drohende Verlust ihres Selbst lähmte ihre Gedanken. Tränen fingen an ihre Wangen hinabzulaufen, obwohl es keine Emotion gab, die sie hätte verursachen können.

Doch bevor sie der mentale Zusammenbruch völlig vereinnahmen konnte, holte sie die Türklingel zurück. Kaja sprang auf. Mit abgesenktem Oberkörper, wie ein Tier in Erwartung eines Angriffs, starrte sie die blanke Metallfläche ihrer Tür an.

Ein erneutes Klingeln.

»Sie haben Besuch«, trällerte das Haussystem. »Es wurde eine Nachricht aufgesprochen.«

Kaja blinzelte ein paar Mal.

»Wiedergeben.« Ein Wort, das sie alle Überwindung kostete.

»Hallo, Kaja«, spielte das System eine tiefe Männerstimme ab. »Bitte öffne die Tür. Wir müssen über das eben Geschehene sprechen.«

Ihre Finger zuckten. Schweiß lief ihre Schläfen hinab.

Sie sind schon hier. Ich habe zu lange herumgebummelt, schoss es ihr durch den Kopf. Verdammt.

»System«, ächzte sie.

»Online.«

Die stets zuvorkommende, zugleich kalte Stimme, begann Kaja unwillkürlich zu nerven.

»Nachricht: Einen kleinen Moment, bitte«, wies sie gereizt an.

»Übertrage.«

Kaja zwang sich, ihren Körper aufzurichten. Sie atmete ein paar Mal tief durch, ballte ihre Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. Schließlich zappelte sie ein wenig herum, damit ihre verkrampften Muskeln wieder weich wurden.

Okay, okay. Ich schaffe das. Nur eine kurze Zeit ganz normal wirken. Die Emotionen unter der Übertragungsgrenze lassen. Zwischendurch an etwas Schönes denken, ermahnte sie sich in Gedanken und warf einen Blick auf Sioux, der besorgt dreinblickend neben ihr saß. Guter Gedanke. Lieber Hausfuchs. Niedlich. Flauschig.

»System«, krächzte Kaja und räusperte sich. »Öffne die Tür.«

Mehrere Personen traten daraufhin in ihre Wohnung. Der dunkelhaarige Mann an der Front war leicht einzuordnen, denn er trug eine Polizeiuniform. Es folgten die Ärztin aus der Klinik sowie der Verwalter dieser Siedlung. Kaja kannte ihn von den digitalen Konferenzen über ihre Arbeitseinsätze. Dort hatte er mit stets locker sitzendem Hemd umgänglich gewirkt, doch dieses Mal war er auffallend gut gekleidet – als müsste er eine offizielle Bekanntmachung regeln.

Die Artillerie, dachte Kaja und spürte, wie ihr Magen einen Salto machte. Schnell schaute sie zu Sioux. Niedlich, flauschig, liebevoll. Panik und Zuneigung hielten sich gerade noch so die Waage.

»Wie kann ich helfen?«, fragte sie mit leicht wankender Stimme.

»Keine Sorge, Kaja. Wir sind hier, um zu helfen«, versuchte die Ärztin sie zu beschwichtigen. »Ich hatte dich bei der Reparatur wiederholt gewarnt.«

Kaja zog verwundert die Augenbrauen nach oben.