Ende der Handschrift - Heiner Müller - E-Book

Ende der Handschrift E-Book

Heiner Müller

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Beschreibung

»Heiner Müllers Gedicht, darin liegt seine Stringenz, geht jedesmal von der schlimmstmöglichen Gewißheit aus. Nicht die zarte Versuchung, die vage Hoffnung auf eine veränderte Welt, es ist die schlechte Nachricht, die es in Gang setzt. Optimismus ist Mangel an Information, war eine Sentenz, die er am liebsten zitierte, am besten mit stoischer Miene.« Durs Grünbein

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Heiner Müller

Ende der Handschrift

Gedichte

Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Durs Grünbein

Suhrkamp Verlag

Inhalt

[Die Hyäne …]

LACH NIT ES SEI DANN EIN STADT UNTERGANGEN

UND ZWISCHEN ABC UND EINMALEINS

BILDER

GESPRÄCH MIT HORAZ

HORAZ

ZWEI BRIEFE

DER VATER

ALTES GEDICHT

SELBSTBILDNIS ZWEI UHR NACHTS AM 20. AUGUST 1959

MOTIV BEI A. ‌S.

ORPHEUS GEPFLÜGT

NAPOLEON ZUM BEISPIEL

DER GLÜCKLOSE ENGEL

TRAKTORISTENLIED

BUNTSCHUK I

REUTLINGER ELEGIEN

LEAR

FISCHKADAVER MIT SILBERBAUCH

BABELSBERGER ELEGIE 1960

FILM

NEUJAHRSBRIEF 1963

KINDHEIT

E. ‌L.

DU BIST GEGANGEN DIE UHREN

GESTERN HABE ICH ANGEFANGEN

FAHRT NACH PLOVDIV

ABSCHIED VON HEMINGWAY; SOFIA 1969

PROJEKTION 1975

GESTERN AN EINEM SONNIGEN NACHMITTAG

ALLEIN MIT DIESEN LEIBERN

BEIM WIEDERLESEN VON ALEXANDER FADEJEWS DIE NEUNZEHN

BRUCHSTÜCK FÜR LUIGI NONO

Ich bin der Engel der Verzweiflung

NACHTZUG BERLINFRIEDRICHSTRASSE

Bei der Vorbeifahrt am Schloßpark Charlottenburg plötzlich die Trauer

MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE

ZAHNFÄULE IN PARIS

BRIEF AN A. ‌S.

KULTURPOLITIK NACH BORIS DJACENKO

WIEDERSEHN MIT DER BÖSEN COUSINE

ABSCHIEDE

HERZ DER FINSTERNIS NACH JOSEPH CONRAD

SELBSTKRITIK 2 ZERBROCHNER SCHLÜSSEL

GLÜCKLOSER ENGEL 2

AHNENBRÜHE

SEIFE IN BAYREUTH

KLAGE DES GESCHICHTSSCHREIBERS

HERZKRANZGEFÄSS

SENECAS TOD

STERBENDER MANN MIT SPIEGEL

MÜLLER IM HESSISCHEN HOF

MOMMSENS BLOCK

ICH HAB ZUR NACHT GEGESSEN MIT GESPENSTERN

NACHDENKEN ÜBER MICHELANGELO

TRISTAN 1993

SCHWARZFILM

GESPRÄCH MIT YANG TSCHU »DEM PESSIMISTEN«

SHOWDOWN

IBSEN ODER DER TOD ALS EMBRYO FAHRT DURCH EINE FREMDE STADT

THEATERTOD

FREMDER BLICK: ABSCHIED VON BERLIN

LEERE ZEIT

FELDHERRNGEFÜHLE

AJAX ZUM BEISPIEL

TRAUMWALD

Über ein Blatt mit Gedichten

WELCOME TO SANTA MONICA

VAMPIR

NOTIZ 409

ENDE DER HANDSCHRIFT

im schädel königreiche universen

ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD

Vor meiner Schreibmaschine dein Gesicht

Bogen und Leier

[Die Hyäne …]

Die Hyäne liebt die Panzer, die in der Wüste stehen bleiben, weil die Besatzung stirbt. Sie kann warten. Sie wartet bis der tausendunderste Sandsturm den Stahl zerfrißt. Dann kommt ihre Stunde. Die Hyäne ist das Wappentier der Mathematik, sie weiß, daß kein Rest bleiben darf. Ihr Gott ist die Null.

LACH NIT ES SEI DANN EIN STADT UNTERGANGEN

(Grobianus)

ICH WILL EIN DEUTSCHER SEIN

(Eintragung im Schulheft eines elfjährigen jüdischen Jungen

im Warschauer Ghetto)

DER TERROR VON DEM ICH SCHREIBE KOMMT NICHT

AUS DEUTSCHLAND ES IST EIN TERROR DER SEELE

(Edgar Allan Poe)

DER TERROR VON DEM ICH SCHREIBE KOMMT AUS DEUTSCHLAND

UND ZWISCHEN ABC UND EINMALEINS

Wir pißten pfeifend an die Schulhauswand

Die Lehrer hinter vorgehaltner Hand

HABT IHR KEIN SCHAMGEFÜHL Wir hatten keins.

Als Abend wurd wir stiegen auf den Baum

Von dem sie früh den Toten schnitten. Leer

Stand nun sein Baum. Wir sagten: DAS WAR DER.

WO SIND DIE ANDERN? ZWISCHEN AST UND ERDIST RAUM.

BILDER

Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig.

Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung.

Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom Flugzeug

Aus: ein Dampf der die Sicht nimmt. Der Kranich nur noch ein Vogel.

Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte

Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag

Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von Schweiß blind

Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt und Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden endlichen Gattung

Zwischen den Zeilen Gejammer

        auf Knochen der Steinträger glücklich

Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.

GESPRÄCH MIT HORAZ

Silbenzähler beiläufig dein Vers unterm Schritt der Kohorten

Die Kohorten wo sind sie Mein Vers geht ins zweite Jahrtausend

HORAZ

1

Der Arrivierte mit dem Haß auf sein Startloch.

Unter Brutus ist er Demokrat

Tod dem Tyrannen und mir auch ein Landgut

Pazifist bei Philippi, er skandiert den Boden.

Dann lernt er seine Lektion (er auch), wechselt

Die Laufbahn; Schwamm drüber Augustus. Das Landgut

Schenkt Mäcen ihm für einen Platz in den Oden

Acht Spiegel im Schlafzimmer und kein Wort mehr von Brutus.

Er macht seinen Weg in die Chrestomathien

Aere perennius Liebling der Philologen.

2

Rom die Hure mit den sieben Brüsten.

Lob der Mäßigkeit, Mutter der Weltreiche

Aufgefressen von den wachsenden Kindern

Mit vollkommenen Versen, sonst wozu, braucht

Luxus. Satt singt Horaz. Den Lorbeer

Würzt das Fleisch. Kappadozisches Wildbret!

(Und die Baumblüte in den Albanerbergen!)

Dreiundzwanzig Dolchstöße, der zweite tödlich

In ein fallsüchtiges Fleisch, was sind sie

Gegen den Furz des Priap in der achten Satire.

ZWEI BRIEFE

1

Ich seh dich an der Schreibmaschine schwitzend

Mißbrauchbare Verse herstellen

Über den Erstickungstod im Netzwerk

Notwendiger Gesetze. Die Maurer, schreibst du

Wurden als Mörtel gebraucht schon

Beim Bau der Großen Mauer, und immer noch

Werden Große Mauern gebaut. Nichts Neues

Unter der Sonne, schreibst du. Du schreibst nichts Neues.

Du hast gelernt, Antworten zu befragen.

Der Beifall, der dich taub macht, ist er keine?

Die schnellen Wirkungen sind nicht die neuen.

Eine Begegnung am Abend nach unserm Gespräch:

Zwei Republikaner auf dem Weg in die Betten

Diskutieren über Demokratie

GutdasistdieFormaberwoistderInhalt

Sie zählen die Jahre nach Gehaltsaufbesserungen

Die Monate nach dem Erscheinen des Magazin

Jeder ein Weiser nach Keuners Entwurf

Kein Gedanke, der nicht durch den Magen geht

Und keine Angst vor Pfützen wie bei Büchner

Kleine Köpfe, aber sie haben recht

Wenn sie, deine Verse lesend, sagen:

Was sagt uns dieser Jemand eigentlich?

Hat er die Rolle der Bodenreform nicht begriffen?

2

Was richtet ein Reim aus gegen die Strohköpfe

Fragst du. Nichts, sagen einige, andere: Wenig.

Shakespeare hat Hamlet geschrieben, ein Trauerspiel

Geschichte eines Mannes, der sein Wissen wegwarf

Sich beugend unter einen dummen Brauch.

Er hat die Dummheit nicht ausgerottet.

Wollte er nichts weiter schreiben als einen Steckbrief?

Hamlet der Däne Prinz und Wurmfraß stolpernd

Von Loch zu Loch aufs letzte Loch zu lustlos

Im Rücken das Gespenst das ihn gemacht hat

Grün wie Ophelias Fleisch im Wochenbett

Der Horizont die Rüstung dauert länger

Und knapp vorm dritten Hahnenschrei zerreißt

Ein Narr das Schellenkleid des Philosophen

Schlüpft ein beleibter Bluthund in den Panzer.

Oder der mißverstandene Bertolt Brecht

Mit großer Zähigkeit und etwas Hoffnung

Mehr als den Bogen spannen konnte auch er nicht

Wieviele Strohköpfe überlebten ihn.

Sein Leben lang suchte er eine Möglichkeit

Den Nächsten nicht zu töten. Gegen Ende

Hatte er sie von weitem gesehn

Halb verdeckt von einem blutigen Nebel.

Becher hat Schweiß vergossen beim Sonettbau

Für den Zusammenfluß von Wolga und Neckar

Werden die Jurabauern das Sonettwerk

Gelesen haben, wenn der Kommunismus

Ihnen den Boden von der Schulter nimmt?

Für uns ist die Spanne zwischen Nichts und Wenig.

DER VATER

1

Ein toter Vater wäre vielleicht

Ein besserer Vater gewesen. Am besten

Ist ein totgeborener Vater.

Immer neu wächst Gras über die Grenze.

Das Gras muß ausgerissen werden

Wieder und wieder das über die Grenze wächst.

2

Ich wünschte mein Vater wäre ein Hai gewesen

Der vierzig Walfänger zerrissen hätte

(Und ich hätte schwimmen gelernt in ihrem Blut)

Meine Mutter ein Blauwal mein Name Lautréamont

Gestorben in Paris

1871 unbekannt

ALTES GEDICHT

Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick

Der dich in Frage stellt Es gibt keinen andern mehr

Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist

Aus einem Buch das du nicht geschrieben hast

Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein

Ausbleichendes Farbband Der Text schlägt durch

SELBSTBILDNIS ZWEI UHR NACHTS AM 20. AUGUST 1959

An der Schreibmaschine sitzen. Blättern

In einem Kriminalroman. Am Ende

Wissen, was du jetzt schon weißt:

Der glattgesichtige Sekretär mit dem starken Bartwuchs

Ist der Mörder des Senators

Und die Liebe des jungen Sergeanten der Mordkommission

Zur Tochter des Admirals wird erwidert.

Aber du wirst keine Seite auslassen.

Manchmal beim Umblättern ein schneller Blick

Auf das leere Blatt in der Schreibmaschine.

Das wird uns also erspart bleiben. Wenigstens etwas.

In der Zeitung stand: irgendwo ist ein Dorf

Dem Erdboden gleich gemacht worden durch Bomben.

Das ist bedauerlich, aber was geht es dich an.

Der Sergeant ist gerade dabei den zweiten Mord zu verhindern

Obwohl die Admiralstochter ihm (zum erstenmal!)

Die Lippen hinhält, Dienst ist Dienst.

Du weißt nicht, wie viele tot sind, die Zeitung ist weg.

Nebenan träumt deine Frau von ihrer ersten Liebe.

Gestern hat sie versucht sich aufzuhängen. Morgen

Wird sie sich die Pulsadern aufschneiden oder wasweißich.

Wenigstens hat sie ein Ziel vor den Augen.

Das sie erreichen wird, so oder so

Und das Herz ist ein geräumiger Friedhof.

Die Geschichte der Fatima im Neuen Deutschland

War so schlecht geschrieben, daß du darüber gelacht hast.

Die Folter ist leichter zu lernen als die Beschreibung der Folter.

Der Mörder ist in die Falle gegangen

Der Sergeant schließt den Preis in die Arme.

Jetzt kannst du schlafen. Morgen ist wieder ein Tag.

MOTIV BEI A. ‌S.

Debuisson auf Jamaika

Zwischen schwarzen Brüsten

In Paris Robespierre

Mit zerbrochenem Kinn.

Oder Jeanne d'Arc als der Engel ausblieb

Immer bleiben die Engel aus am Ende

FLEISCHBERG DANTON KANN DER STRASSE KEIN FLEISCH GEBEN

SEHT SEHT DOCH DAS FLEISCH AUF DER STRASSE

JAGD AUF DAS ROTWILD IN DEN GELBEN SCHUHN.

Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt

WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN.

In der Zeit des Verrats

Sind die Landschaften schön.

ORPHEUS GEPFLÜGT

Orpheus der Sänger war ein Mann der nicht warten konnte. Nachdem er seine Frau verloren hatte, durch zu frühen Beischlaf nach dem Kindbett oder durch verbotnen Blick beim Aufstieg aus der Unterwelt nach ihrer Befreiung aus dem Tod durch seinen Gesang, so daß sie in den Staub zurückfiel bevor sie neu im Fleisch war, erfand er die Knabenliebe, die das Kindbett spart und dem Tod näher ist als die Liebe zu Weibern. Die Verschmähten jagten ihn: mit Waffen ihrer Leiber Ästen Steinen. Aber das Lied schont den Sänger: was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen. Bauern, durch den Jagdlärm aufgeschreckt, rannten von ihren Pflügen weg, für die kein Platz gewesen war in seinem Lied. So war sein Platz unter den Pflügen.