Ende Juli, Anfang August - Kristina Magdalena Henn - E-Book

Ende Juli, Anfang August E-Book

Kristina Magdalena Henn

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Beschreibung

Ein Jugendbuch über einen Roadtrip von Sylt nach Portugal mit ungewissem Ende Juli findet den namenlosen Jungen an einem rauen Sommertag, angespült an die Küste. Körperlich scheint ihm nichts zu fehlen, aber er hat sein Gedächtnis verloren, nicht einmal seinen Namen weiß er noch. Also tauft sie ihn August und beschließt, ihm bei seiner Suche nach der Erinnerung zu helfen. Dabei ist Juli selbst auf der Suche. Seit ihre Zwillingsschwester Mira vor drei Jahren im Meer ertrunken ist, gibt es Juli nur noch zur Hälfte. Wie soll sie einfach weitermachen, wenn Mira vielleicht doch noch leben könnte? Gemeinsam mit August haut Juli ab, sie fahren Richtung Süden. Dort wollen sie mehr über August herausfinden, denn ein portugiesisches Lied hat bei ihm etwas ausgelöst. Aber auf was werden sie in Portugal stoßen? Und kann auch Juli ihre Suche endlich abschließen?

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Seitenzahl: 265

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Kristina Magdalena Henn

ENDE JULI, ANFANG AUGUST

INHALT

1. TREIBGUT

2. EBBE UND FLUT

3. DER SCHIFFBRÜCHIGE

4. LEINEN LOS!

5. RÜCKENWIND

6. DAS KORALLENRIFF

7. DER KOBOLDHAI

8. STRÖMUNGEN

9. DIE MEERJUNGFRAU

10. DAS GEISTERSCHIFF

11. DIE RUHE VOR DEM STURM

12. DER ORKAN

13. AUF DEM MEERESGRUND

14. IM SCHIFFSWRACK

15. FESTLAND

DANKSAGUNG

PROLOG

ALLES VERSCHWINDET

ALLES VERSCHWINDE

ALLES VERSCHWIN

ALLES VERSCHWI

ALLES VERSCHW

ALLES VERSCH

ALLES VERSC

ALLES VERS

ALLES VER

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ALLES V

ALLES

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ALL

AL

A

(Juli Sommer)

Juli heißt Juli, obwohl sie im März geboren wurde. Und August heißt August, weil er im August gefunden wurde. Zumindest hat Juli ihn damals so getauft. Niemand wusste, wer er ist. Nicht einmal er selbst. Wie eine verlorene Mütze, von der man vergessen hat, dass man sie jemals besaß.

Und so fing alles an.

1. TREIBGUT

Juli rannte. Und rannte. Es war fast noch Nacht. Nebelschwaden lagen über dem Meer und kündigten einen heißen Sommertag an. Das Wasser schwappte um Julis nackte Füße. Spitze Muschelkanten bohrten sich in ihre Haut, doch sie spürte den Schmerz nicht, während sie den Strand entlanglief. Vielmehr spürte sie Wut, die in ihr überschäumte wie auf dem Herd vergessene Milch. Die ganze Welt konnte sie mal gernhaben, ja, das ganze Universum! Sie hatte es satt, sich von ihren Helikoptereltern herumkommandieren zu lassen. Hans und Helene nahmen sie einfach nicht ernst und der gestrige Streit war der beste Beweis dafür gewesen. Wieder einmal hatten sie ihre Tochter vor vollendete Tatsachen gestellt: Sie wollten Mira endgültig für tot erklären lassen. Doch das würde Juli niemals zulassen. Das hatte sie Mira hoch und heilig versprochen, bei den Göttern der Ober- und Unterwelt, bei Allah und bei dem Typen am Kreuz, den sie obendrein für einen Versager hielt und an den sie schon lange nicht mehr glaubte. Sie würde ihre Schwester niemals aufgeben. Mira war die Einzige, die sie verstand. Die sie fühlte. Auch wenn sie bereits seit drei Jahren verschwunden war.

Lieber stürze ich mich in die Wellen, dachte Juli trotzig, und als hätten sie ihre Gedanken erraten, hörte sie über sich das Geschrei zweier Lachmöwen. Juli blickte nach oben und folgte dem Flug der Möwen, die frei im Wind über das Meer hinwegsegelten. Wie gerne hätte sie diese schwebende Leichtigkeit gegen ihre eigene Schwere eingetauscht! Stattdessen kämpfte sie sich weiter durch den feuchten Sand, der klumpig war und an ihren Waden hängen blieb wie Zement. Juli war zwar etwas dünn geraten, aber sie hatte einen starken Willen. »Zart und zäh«, hatte Helene immer gesagt, wenn Juli als Kind einen Aufstand an der Supermarktkasse gemacht hatte. Auch wenn die Leute in der Schlange ihre Mutter schon befremdet angeschaut hatten, Juli hatte so lange weitergemacht, bis Helene vor Scham einen hummerroten Kopf bekommen hatte und Juli endlich das, was sie wollte: ein Tütchen Pokémon-Aufkleber für ihr Sammelalbum, wo nur noch Groudon fehlte.

Juli keuchte, obwohl sie gerade mal zwei Kilometer zurückgelegt hatte, was eigentlich keine Distanz für sie war. Früher war sie mit ihrem Vater oft stundenlang am Strand marschiert, denn Hans war ein leidenschaftlicher Treibgutsammler. Mit vollbepacktem Rucksack jedoch fühlte sich die Strecke gleich ganz anders an. Ihr Tagebuch wog bestimmt drei Kilo, und sie ärgerte sich, dass sie ihre Decke und ihr Kopfkissen noch mit reingestopft hatte.

Juli versuchte, den gestrigen Abend aus ihrem Gedächtnis zu streichen, doch je mehr sie den Streit mit ihren Eltern vergessen wollte, desto weniger gelang es ihr. Vergessen war noch nie ihre Stärke gewesen, ganz im Gegenteil: Juli vergaß nie etwas. Manchmal kam sie sich vor wie eines dieser Superhirnkinder, die in einer Fernsehshow auftraten, um endlose auswendig gelernte Zahlenreihen oder Spielkarten-Abfolgen aufzusagen. Ihre Eltern waren da anders, sie mieden die Erinnerung wie die Motten das Licht. Spätestens als Juli ihrem Vater vor drei Monaten vorgeworfen hatte, dass er einfach, ohne sie zu fragen, ihr Etagenbett am achten September um dreizehn Uhr neunundzwanzig aus ihrem Zimmer abgebaut hatte, um es, nach ihrem vehementen Protest, um sechzehn Uhr elf als Kompromiss im Keller wiederaufzubauen, vermutete ihr Vater ein hyperthymestisches Syndrom bei ihr. Das ist eine Krankheit, die Menschen nichts vergessen lässt. Die Sache mit dem Etagenbett lag nämlich bereits zwei Jahre zurück. Hans hatte seine Tochter einigen psychologischen Tests unterzogen, doch weder war Juli krank noch hochbegabt. Sie hatte einfach nur ein sehr gutes Gedächtnis. So als hätte sie im Kopf eine Videokamera installiert, die alles exakt aufzeichnete: Tag, Ort und Wetter, welche Kleidung sie getragen und mit wem sie geredet hatte. Wobei Letzteres nicht wirklich schwer war, da Juli nicht viele Freunde hatte. Außer Milchreis, dem wuscheligen Mischlingsrüden, den ihre Eltern ihr gekauft hatten, damit sie »jemanden zum Reden hat«. Juli hatte ihn nach ihrer Lieblingsspeise getauft, denn Milchreis war Julis Trostessen. Das aß sie immer, wenn es draußen regnete. Oder drinnen. Und danach ging es ihr immer besser.

Ihre Stirn glänzte, Schweißtropfen liefen in ihre Augen, doch Juli rannte einfach weiter. Ohne Pause. Die Worte ihres Vaters drangen durch ihren Kopf, der vor Anstrengung pochte. Die Worte, die Juli veranlasst hatten, gleich in der Früh die Flucht zu ergreifen.

»Wir haben gedacht, dass es für uns alle das Beste wäre, wenn wir Mira beerdigen. Wir haben auch schon eine Grabstelle und einen Grabstein ausgesucht«, hatte Hans in seiner Psychotherapeutenstimme gesagt, die immer eine Oktave tiefer klang, sobald es ernst wurde. Er hatte einen großen Schluck aus seinem Weißweinglas genommen und dabei auf das Scrabble-Brett gestarrt, das vor ihnen ausgebreitet und der vorgetäuschte Anlass der Familienzusammenkunft war.

»Schau es dir doch wenigstens mal an«, hatte Helene hinzugefügt und auf den Grabsteinkatalog gezeigt, den sie zwar wie von Zauberhand, aber ohne Zauberei, sondern voller Kalkül hervorgeholt hatte. In geschwungenen Buchstaben stand darauf: »Grabsteine Fröhlich – Wir bieten fünfhundertdreiundzwanzig Einzelgrabsteine aus Meisterhand, kunstvoll gefertigt, von modern bis klassisch, mit oder ohne Einfassung, in Granit, Marmor, Sandstein oder Kalkstein. Alles handgefertigt!«

Juli hatte einen Schreikrampf unterdrückt und auf den Katalog gestiert, aus dem drei gelbe Post-its ragten, Helenes und Hans’ Favoriten.

»Uns gefällt der hier am besten«, hatte Helene leise hinzugefügt und eine Seite des Katalogs aufgeschlagen, auf der ein Grabstein aus Elbsandstein mit einer Sternenguckerin drauf zu sehen war. »Was meinst du, sieht doch schön aus, oder?«

»Das ist jetzt nicht euer Ernst«, hatte Juli gestammelt und dabei die Scrabble-Steine hin- und hergeschoben, mit denen sie das Wort KLOSS legen wollte. Passend zu dem Kloß, der sich unmittelbar in ihrem Hals gebildet hatte. Sie hatte genau gewusst, wie das jetzt ablaufen würde: Helene und Hans hätten sie vermeintlich in die Entscheidung integriert, sich dabei aber schon längst auf die Beerdigung geeinigt. Das war Psychologie. Darin kannten sich ihre Eltern bestens aus. Schließlich arbeiteten sie beide als Psychotherapeuten in ihrer hauseigenen Praxis. Und wenn die Familie demokratisch abstimmte, waren es immer zwei gegen einen – oder besser eine. Denn immer war es Juli, die übrig blieb. Egal, was sie erwiderte, sie hatte keine Chance. Ihre Eltern waren wie Pech und Schwefel, immer einer Meinung, und wenn Juli ihrer Mutter etwas anvertraute, wusste sie, dass sie es spätestens am Abend ihrem Vater erzählen würde. Daher hatte Juli eines Tages beschlossen, sich keinem ihrer Elternteile mehr anzuvertrauen. Nur Mira teilte sie sich in ihrem Tagebuch mit. Und manchmal auch noch Milchreis. Aber ein Hund war eben kein Mensch. Und ein Tagebuch auch nicht.

Erwartungsvoll hatten ihre Eltern sie nach dem vermeintlichen Vorschlag angesehen, doch Juli hatte geschwiegen wie ein totes Meerschweinchen (schweigen konnte sie besser als schwimmen – und das konnte sie schon ziemlich gut). Während ihre Eltern synchron auf sie eingeredet hatten, hatte Juli gedanklich schon ihren Rucksack gepackt, den sie jetzt bei sich trug.

»Überleg es dir doch wenigstens mal. Wir meinen es doch nur gut mit dir«, hatte ihre Mutter ihren Monolog beendet und sie dabei angeschaut, als würde sie mit der Muttergottes unter einer Decke stecken. In Juli hatte sich ein Sturm zusammengebraut, denn das war der Killersatz, der jede weitere Diskussion mit ihren Eltern zunichtemachte. Was hätte sie auch darauf antworten sollen? Ja, das ist lieb von euch, dass ihr mich bei jeder größeren Entscheidung übergeht. Super. Danke. Ihr seid die Besten.

»Wie wollt ihr wissen, was das Beste für mich ist, wenn ihr mir gar nicht zuhört? ICH werde Mira niemals beerdigen. Sie ist nicht tot, wie könnt ihr so was nur denken!« Juli hatte sich selbst über die Lautstärke und die Vehemenz in ihrer Stimme gewundert und gleichzeitig die Scrabble-Buchstaben vom alten gebeizten Holztisch gefegt. Das C war in hohem Bogen im Weinglas ihres Vaters gelandet.

Wenn Einsamkeit eine Farbe hätte, dann wäre sie Schwarz. Schwarz wie das Loch, das Juli in ihrer Mitte spürte, seit Mira fort war. Atemlos blieb sie stehen, schaute auf das Meer, von dem eine magnetische Anziehung ausging. Obwohl Hochsaison war, waren zu dieser frühen Stunde kaum Touristen an dem weitläufigen Sandstrand unterwegs. Nur wenige Angestellte waren in der Ferne zu sehen, die Strandkörbe herrichteten, ein paar Möwen, die sich um einen toten Fisch stritten, und die unendliche Weite der Nordsee. Juli keuchte. Die Gurte des Rucksacks hinterließen bereits erste Striemen auf ihrer hellen Haut. Sie hatte kein Ziel gehabt, als sie in der Früh losgelaufen war, und kurz spielte sie mit der Möglichkeit, wie es wäre, hinaus ins Meer zu laufen, zu Mira, sich treiben zu lassen, unterzugehen, um nie wieder aufzutauchen. Einfach alles hinter sich lassen. Endlich wiedervereint mit ihrer Zwillingsschwester. Juli versuchte, den Gedanken zu stoppen, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen lief sie wie ferngesteuert ins Wasser, setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie knietief mit ihrem Rucksack im Meer stand, angezogen von etwas Größerem, etwas, das außerhalb ihres Willens lag.

»Juli, komm zu mir!«, hörte sie die Stimme ihrer Schwester. Hörte sich so der Ruf der Sirenen an? Juli erinnerte sich an eine Zeichnung in ihrem Geschichtsbuch, auf der Odysseus an den Mast seines eigenen Schiffes gefesselt war, um dem betörenden Gesang dieser Fabelwesen zu trotzen, die ihn töten würden. Würde auch Juli es schaffen, an ihrer inneren Stimme vorbeizusegeln? Dem tiefen Wunsch zu widerstreben, Mira wieder nah zu sein? Würde sie je wieder diese Nähe spüren, die nur ein anderer Zwilling nachvollziehen konnte?

Etwas Dunkles, das auf der Meeresoberfläche trieb, riss Juli aus ihrer Gedankenwelt. War das ein Holzklotz, ein Plastikkanister oder ein verlorener Turnschuh, der da in den schäumenden Wellen auf und ab schwappte? Juli kniff die Augen zusammen und schirmte die Sonne mit ihrer Hand ab. Es sah aus wie ein Fischernetz, das sich an einem lose dahintreibenden Stück Holz verheddert hatte. Aber irgendwas darin bewegte sich. Vielleicht hatte sich ein kleiner Seehund im Fischernetz verfangen? Seehunde gab es zu dieser Jahreszeit auf Sylt viele, sie bekamen ihren Nachwuchs im Juni und Juli.

Das Wasser ging Juli mittlerweile bis zum Bauchnabel und die nahende Flut erschwerte ihr den Zugang zu dem unbekannten Wasserobjekt. Juli strich sich die Haare aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Je näher sie kam, desto bleicher wurde sie. Das war kein Seehundbaby, das sich da im Netz verfangen hatte! Das war ein Mensch! Juli erstarrte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Panik flutete ihren Körper und ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust. Gestochen scharf sah sie alles plötzlich wieder vor sich: Miras rot gepunkteter Schlafanzug. Der Vogel mit dem gelben Schnabel. Das Verschwinden. Alles in Juli brannte. Wollte die See ihr das zurückgeben, was sie ihr vor drei Jahren genommen hatte? Das konnte nicht sein, das musste ein Traum sein. Einer der Albträume, in denen Juli immer wieder wach wurde, obwohl sie im Tiefschlaf war. »Mira!«, schrie sie ohne Ton, und in dem Moment rauschte eine große Welle auf sie zu und verschlang sie. Die Kälte des Wassers riss Juli aus der Schockstarre, denn die Nässe, die sie jetzt bis zur Unterhose spürte, war blanke Realität. Ohne zu zögern, sprang sie durch die tosenden Wellen, paddelte zu dem Holzstück, das weiter abzutreiben schien.

»Ich bin gleich bei dir! Lebst du noch?«, ächzte Juli und stellte simultan fest, wie bescheuert die Frage war. War das wirklich Mira, die sich da im Netz verfangen hatte? Der Unfall lag drei Jahre zurück, wie konnte das möglich sein? Juli streckte die Hand nach dem glatten Holz aus. Schlack und Algen verbargen den Körper wie einen Schatz. Sie suchte selbst nach Halt, da der Inhalt ihres Rucksacks sie mächtig nach unten zog. Die Bettdecke, das Kissen und ihr Tagebuch waren mittlerweile so durchdrungen von Wasser, dass sie das dreifache Gewicht auf ihren Rücken ausübten. Juli musste sich von der Schwere befreien, sonst würde sie mit ihrem Bettzeug untergehen. Sie strampelte wie wild, um sich an der Oberfläche zu halten, und schaffte es mit einer Hand, den linken Gurt zu lösen. Nicht aber den rechten. Sie hatte schon einige Salzwassercocktails geschluckt, als sie eine große Welle überrollte und nach unten drückte. Einmal unter Wasser, zog es sie in die Tiefe. Tiefer, immer tiefer. Das Meer war so viel kraftvoller als sie! Hier kämpfte David gegen Goliath. Unter Wasser startete sie einen zweiten Versuch, sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie griff nach dem rechten Gurt, weitete den Riemen und streifte ihn von sich. Sogleich sank ihr Rucksack hinab in das dunkle Blau des Meeres.

Nach Luft schnappend tauchte Juli auf, um erneut nach dem Holzstück zu greifen. Dreimal rutschten ihre Hände auf dem feuchten Brett ab, bis sie mit dem Schwung einer Welle endlich die Planke zu fassen bekam. Noch immer lag der leblose Körper darauf.

»Ich hab dich«, keuchte Juli und schob sich mit ihrer nassen Kleidung über das Holz. Splitter verfingen sich in ihren Händen, doch jetzt war keine Zeit für Selbstmitleid. Sie hing mit ihrem Oberkörper über der Holzplanke, um mit der Kraft ihrer Beine ans Ufer zurückzupaddeln. »Wir haben’s gleich geschafft«, japste sie, durch und durch mit Salzwasser getränkt, als plötzlich das Tagebuch neben ihr im Wasser auftauchte. Die Flut hatte es aus dem Rucksack herausgespült. Ihre heilige Schrift! Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.

»Scheiße«, fluchte sie laut und hievte es mit auf das Floß. Sie schwamm um ihr Leben, und erleichtert atmete sie auf, als sie den feinen Sand unter ihren Füßen spürte. Nie hätte sie gedacht, dass ein spitzer Stein unter ihrer Fußsohle sie so glücklich machen konnte. Sie sprang von dem Holz, schob es mit der nächsten Welle ans Ufer. Die Flut war längst in vollem Gange. Eine halbe Stunde später und sie hätte keine Chance mehr gegen das stürmische Meer gehabt. Juli tastete ihre Jeans nach ihrem Handy ab. Wasser schwappte auf und in dem Display, das kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Verflucht! Suchend blickte sie um sich, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie waren in einem abgelegenen Naturschutzgebiet gestrandet, das Juli kannte. Sie war oft mit Mira hier gewesen, um anatomische Erkundungen durchzuführen. Sonst wimmelte es hier vor nackten Sonnenanbetern, aber ausgerechnet heute waren ein paar Krebse die einzigen Gäste. Juli kniete sich in den Sand und wickelte den von Meerespflanzen umschlungenen Körper vorsichtig aus dem Fischernetz. Enttäuschung breitete sich in ihr aus und mit jedem weiteren Handgriff schwand ihre erste Vermutung. Es war nicht Mira. Es war ein Junge, vielleicht etwas älter als sie. Die Hoffnung hatte ihr einen ganz schönen Streich gespielt.

»Kannst du mich hören?« Juli berührte den Jungen am Oberarm, aber er bewegte sich nicht. War er tot? Tote sahen doch immer so friedlich aus, schoss es Juli durch den Kopf, und sie erinnerte sich an das Gesicht ihres Großvaters, der vor fünf Jahren aufgebahrt in der Kirche gelegen hatte. Ohne eine einzige Falte und mit einem entspannten Gesichtsausdruck, den er zu Lebzeiten nie gehabt hatte. In der Miene des Jungen hingegen lagen Kampf und Zorn. Zum Glück hatte Juli so oft mit ihrem Vater und seinem jüngeren Bruder Max Erste Hilfe geübt. Zweimal im Jahr kam Max seit Miras Verschwinden zu ihnen nach Hause, samt Plastikpuppe und Defibrillator, um im Garten der Sommers den Erste-Hilfe-Kurs aufzufrischen. Anfangs hatte Juli sich geweigert mitzumachen, mit dem Argument, dass Mira davon auch nicht wiederauftauchen würde. Jetzt war sie froh, dass ihr Vater sie zu der Maßnahme gezwungen hatte.

»Hallo?«, versuchte es Juli erneut und rüttelte den Fremden etwas fester. Wieder keine Reaktion. Im Kopf ging sie den Erste-Hilfe-Ablauf durch: erst auf den Rücken legen, dann den Oberkörper freimachen, als Nächstes in der Mitte der Brust den Handballen platzieren, die zweite Hand darauf, den Schwerpunkt auf den Druckpunkt legen. Und dann? Da gab es doch dieses Lied, um den richtigen Rhythmus der Herzdruckmassage zu finden? Bei jedem Kurs hatte Juli sich über die alberne Melodie gewundert und jetzt wollte sie ihr einfach nicht einfallen. War es Stayin’ Alive gewesen oder Highway to Hell? Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, fing leise an, die Stayin’ Alive-Melodie zu summen, und presste dazu ein paarmal den Oberkörper des Jungen nach unten. Er war schmächtig, und sie hatte Angst, ihm die Rippen zu brechen. »Jetzt atme doch endlich, komm schon, atme«, flehte sie den leblosen Jungen an. Doch nichts geschah. Nach einer weiteren Strophe und den rhythmischen Druckbewegungen streckte sie seinen Hals zurück, klemmte mit Daumen und Zeigefinger seine Nase zu, um mit der anderen Hand seinen Mund aufzuschieben – und zögerte. Noch nie zuvor hatte sie einen Jungen geküsst. Sie wollte Mira nicht betrügen. Dass ein Mensch ihr näher kommen würde als ihre Schwester, war für sie tabu. Aber jetzt ging es wirklich um Leben und Tod. Juli schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie beugte sich zu dem Jungen runter, sodass ihre Lippen seine berührten. Oberhalb seiner Lippen wuchs ein zarter Flaum. Er schmeckte nach Salz und Seetang. Obwohl Juli am ganzen Körper zitterte, schaffte sie es, die Luft gleichmäßig in seinen Mund zu blasen. Bestimmt zehn Mal wiederholte Juli den Vorgang, bis sie plötzlich einen Atemhauch wahrnahm. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie setzte gerade zu einem weiteren Beatmungsversuch an, als der Junge plötzlich hustete. Noch nie war Juli so glücklich über eine Salzwasserdusche in ihrem Gesicht gewesen! Röchelnd krümmte sich der Junge zusammen und schnappte nach Luft. Es dauerte ein paar Minuten, bis er sich von seinem Hustenanfall erholt hatte.

»Hallo!« Juli strahlte den Jungen an, der sich genau in dem Moment übergeben musste. So herzlich wurde sie noch nie begrüßt, dachte Juli, die das Gesicht des fremden Jungen interessiert musterte, amüsiert. Um seine Augen hatte sich eine dünne Salzkruste gebildet, die seine Wimpern verklebte, und er schaffte es nur mit Mühe, sie zu öffnen. Der ausdruckslose Blick des Jungen ließ Juli erschaudern und eine Mischung aus Mitgefühl und Angst durchströmte sie. Vielleicht hat jemand Mira auch so gefunden?, ratterte es durch Julis Kopf.

»Ich wusste, dass du lebst«, sagte sie schnell, um die Stille zu durchbrechen. »Wie heißt du denn?«

Bewegungslos lag der fremde Junge auf dem Rücken und schaute sie an, auch wenn er durch sie hindurchzuschauen schien. Seine Augen waren von einer seltsamen Leere erfüllt. Er war da, ohne wirklich da zu sein.

»Ich heiße Juli«, fuhr Juli fort, »wie der Monat.«

Doch anstatt einer Reaktion des dunkelhaarigen Jungen schwappte eine Welle über sie beide hinweg und erinnerte sie an die nahende Flut. Reflexartig griff Juli nach ihrem meergetränkten Tagebuch, das drauf und dran war, wieder davonzuschwimmen, und legte es behutsam außer Reichweite des Wassers. Die Welle hatte den Jungen zur Seite gestoßen, stöhnend versuchte er, sich wieder aufzurichten. Doch es gelang ihm nicht, sich im nassen Sand hochzustemmen. Er war zu schwach.

»Das Wasser kommt immer höher, am besten, ich helfe dir aufzustehen.« Juli packte ihn an den Oberarmen, zog ihn auf den trockenen Sand.

»Aaaahhh«, stöhnte der Junge. Juli ließ ihn los, keuchend rollte er auf die Seite. Er griff nach Julis Hand, hielt sie fest. Und für einen Moment wirkte er ziemlich wach. Seine Augen blitzten auf, ein unerwartetes Wetterleuchten. Es war, als würde er in sie hineinsehen, tief bis in ihr beleidigtes Herz. Dann wurde er wieder ohnmächtig. Seine Hand lag schlaff in Julis Hand.

»Hallo … HALLO?«, rief Juli. Verzweifelt blickte sie sich um. Sie musste Hilfe holen! Dringend! Weil immer noch kein Jogger oder Spaziergänger in Sichtweite war, rannte sie los.

2. EBBE UND FLUT

Liebe Mira, heute hat das Meer einen Jungen an Land gespült. Ich habe ihn August getauft. Er riecht nach Fisch und redet nicht viel, also eigentlich gar nix. Der hat splitternackt vor mir gelegen. Ich habe ihn sogar geküsst, stell dir vor, ich musste ihn von Mund zu Mund beatmen. Wahrscheinlich hast du sowieso alles beobachtet, so wie immer. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber für einen kurzen Augenblick habe ich geglaubt, das bist du. Hast du was damit zu tun? Ist das schon wieder eines deiner Zeichen? So wie neulich, als mir die Zahnpasta runtergefallen ist und sich ein schiefes M auf den Fliesen gebildet hat? Dabei wollte ich eigentlich abhauen. Stell dir vor, Mama und Papa wollen dich beerdigen, pah! Sie glauben nicht mehr daran, dass du lebst. Aber die haben auch keine Ahnung von nichts und erst recht nicht von unserer Verbindung. Die sehen alles nur durch ihre randlose Psychotherapeutenbrille. Wahrscheinlich hat Mama wieder ein neues Buch gelesen, »Loslassen für Anfänger« oder so. Weißt du noch, wie wir damals Schnitzel gespielt haben, aus dem Meer in den Sand gerannt sind, wie wir uns gegenseitig paniert haben, um uns dann neben die Strandkörbe der Touristen zu legen und Zombie zu spielen? Mannomann, haben die sich erschreckt. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich dich niemals verlassen werde. Niemand kommt zwischen uns. Kein Grabstein, kein Hund, kein Junge. Die Erwachsenen sagen immer, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Wunde schließt einfach nicht, jede Erinnerung kratzt sie wieder auf. Mit jedem Tag, der vergeht, vermisse ich dich mehr.

Julis Tagebuch lag zum Trocknen ausgebreitet neben ihr auf dem Sitz. Aus dem Buch ragten Klopapierfetzen, die sie sorgfältig zwischen die Seiten gelegt hatte. Sobald sich die Feuchtigkeit aus den Seiten verzogen hatte, hielt Juli ihre Gedanken darin fest. Ihre sandigen Füße baumelten in der Luft und knallten abwechselnd gegen die Stuhlbeine des unbequemen Hartschalensitzes des Krankenhausflures. In ihrem weißen Flügelhemd, das sie von dem Personal bekommen hatte, sah sie aus wie ein verirrter Schutzengel. Wenigstens war sie trocken, denn mittlerweile waren mehr als zwei Stunden vergangen. Warum vergeht Zeit so unterschiedlich schnell, wenn wirklich jede Stunde exakt sechzig Minuten hat?, dachte Juli, während sie seit einer Ewigkeit darauf wartete, dass ihr die Ärzte Auskunft über den Zustand des fremden Jungen geben würden. Je unbequemer die Zeit war, desto länger dauerte eine Stunde. Eine Stunde Bauchweh war wie drei Stunden; eine Stunde Physikunterricht von Herrn Brenneisen, der langsamer redete, als eine Nacktschnecke sich fortbewegte, war wie ein halber Tag; eine Stunde Diskussion mit ihren Eltern ein ganzer Tag; eine Stunde ohne ihre Schwester Mira kein Leben. Dafür galt: Eine Stunde mit Milchreis am Strand um die Wette rennen war wie eine halbe Stunde; eine Stunde Milchreis mit frischer Himbeersoße essen zwanzig Minuten; eine Giggelstunde mit Mira eine Minute.

»Gehörst du zu dem Jungen?«

Vor ihr stand eine Krankenschwester, die sie anschaute, als hätte Juli sie zu einem Boxkampf herausgefordert. Aus ihren Gedanken herausgerissen, sprang sie auf.

»Ja!«

»Familie?«, hakte die Krankenschwester nach.

Sie beugte sich zu Juli herunter und ihr Atem roch nach Salbeibonbons.

»Nein, aber ich habe ihn gefunden«, erwiderte Juli stolz.

Die Pflegerin kniff misstrauisch die Augen zusammen.

»Ach was«, erwiderte sie emotionslos. »Dann darf ich dir leider keine Auskunft geben. Nur Familie.«

Juli stemmte die Arme in die Seiten. Der grimmige Ausdruck der Frau erinnerte sie an Frau Hofmanns Terrier, der Hund aus der Nachbarschaft, der jeden ankläffte, der an seinem Zaun entlangkam.

»Haben Sie schon mal einen Igel gerettet?«

Die Krankenschwester sah Juli perplex an. Wollte dieses Mädchen sie gerade auf den Arm nehmen?

»Also, ja oder nein?«, hakte Juli nach und kratzte sich am Arm.

»Schau, dass du nach Hause kommst«, knurrte die Krankenschwester.

»Wenn ein Igel über die Straße will und Sie ihm über die Straße helfen und auf der anderen Seite ins Gras setzen, dann fühlen Sie sich doch auch für ihn verantwortlich, oder?«

Juli ließ sich nicht abwimmeln.

»Dein Igel«, schnaubte die Krankenschwester, »hat nicht mal ’ne Versicherungskarte. Geschweige denn, verrät er uns seinen Namen. Und jetzt Abmarsch, Fräulein.« Damit drehte sie sich um und stapfte durch den langen Flur.

Juli hingegen rührte sich nicht vom Fleck.

»Das heißt, er lebt?«

»Ja, das heißt es dann wohl«, kläffte der Terrier, ohne sich nochmals umzudrehen.

Juli atmete erleichtert auf, und die Luft strömte so tief durch sie hindurch, dass sie erst jetzt bemerkte, wie kurz sie geatmet hatte.

»Juli!«, schrie ihre Mutter in dem Moment so laut durch den Flur, dass sich alle Patienten und Pfleger gleichzeitig umdrehten und zusahen, wie Julis Eltern ihre Tochter in die Arme schlossen. Es war ein Spektakel.

»Wo ist denn dein Handy? Wir haben bestimmt hundert Mal versucht, dich anzurufen«, wimmerte Helene, während Juli fast in ihrer Umarmung erstickte.

»Wenn das mal reicht«, fügte ihr Vater humorvoll hinzu und warf seiner Tochter einen verschwörerischen Blick zu.

Juli wusste, dass er die Wahrheit sagte. Helenes helle Haut war übersät mit roten Flecken, ein Stressindiz, das sie seit Miras Verschwinden fast täglich bekam.

»Mein Handy geht nicht mehr, aber mir geht’s bestens«, nuschelte Juli und kämpfte sich aus der Umarmung frei. »Es sei denn, du erwürgst mich, dann kann ich gleich hierbleiben.«

»Haben die denn noch was frei auf der Geschlossenen?«, scherzte Hans. »Mit dem Outfit bist du dort bestimmt willkommen.«

Juli versetzte ihm lachend einen ordentlichen Tritt ans Schienbein.

»Ja, ich hab mir extra mein schönstes Abendkleid dafür ausgesucht«, erwiderte sie. »Die haben dort einen strengen Dresscode.«

»Allerdings ein bisschen knapp«, konterte Hans, und Helene nickte bestätigend. Hans streifte Juli sein Jackett über die Schulter und Juli schnappte sich ihr Tagebuch. Als sie das Krankenhaus verließen, fühlte sich Juli zwischen ihren Eltern sicher und gleichzeitig irgendwie auch gefangen.

Nachdem Juli ihren Eltern von dem gestrandeten Jungen berichtet hatte, herrschte nachdenkliches Schweigen im Auto der Sommers. Julis strähnige Salzhaare flatterten im Fahrtwind. Sie saß im Fond des Wagens und zerlegte ihr durchnässtes Handy, um wenigstens die SIM-Karte zu retten. Das Einzige, was in dem Auto für gute Laune sorgte, war ein alter Song der Beatles, der im Radio lief.

»Gut, dass wir so oft Erste Hilfe geübt haben, was?«, murmelte Hans mehr zu sich als zu Juli, die nur ein schwaches »Mmmmhhhmmmhh« hervorbrachte.

»Was hast du eigentlich so früh am Strand gemacht?«, wollte Helene wissen, und ihre Stimme klang dabei wie eine Tatortkommissarin beim Verhör eines lang gesuchten Täters.

»Nichts«, entgegnete Juli knapp.

»Das hast du doch gestern schon gemacht«, antwortete ihr Vater.

»Bin nicht fertig geworden«, konterte Juli, und Hans grunzte amüsiert, wofür er gleich einen bösen Blick von Helene einkassierte, die am Steuer des VW Touran angespannt in den fünften Gang schaltete.

»Das war nur ein Vorschlag gestern«, sagte Helene leise und suchte über den Rückspiegel Kontakt zu Juli, die keinerlei Interesse an einem Friedensgespräch hatte.

Sie kannte ihre Mutter zu gut – ihre behutsame Art, sich ihrer Beute anzunähern, um sie dann mit einem Biss zu zerfleischen. Kein Kommentar. Lieber schaute Juli aus dem Fenster, wo die Dünenlandschaft vorbeiflog, die sie so sehr liebte und die nach Sommer roch, nach Meersalz, Heide und Dünengras. Vertraute Gerüche beruhigten sie.

»Ich brauch dringend ’n neues Handy«, entgegnete Juli. »Da war mein ganzes Leben drin.«

»Deine Mutter meint es doch nur gut mit dir«, mischte Hans sich ein.

»Seid ihr zusammen auf die Welt gekommen oder was?«

»Jetzt reiß dich mal zusammen, noch haben wir nichts entschieden«, brach es aus Helene heraus.

»Man kann sich gar nicht zusammenreißen. Entweder man wird auseinandergerissen oder man wächst zusammen!«, widersprach Juli, Pfeil und Bogen innerlich gespannt.

Hans schien ernsthaft über Julis Worte nachzudenken, Helene hingegen gab keine Ruhe.

»Aber es muss sich etwas verändern!«

Juli spannte den Pfeil, schoss ihn los: »Woher willst du überhaupt wissen, was das Beste für mich ist?«, äffte sie die Stimme ihrer Mutter nach. »Du kennst mich doch gar nicht.«

»Wir sind deine Eltern«, versuchte es Hans mit mehr Diplomatie, doch weiter kam er nicht, denn Juli beugte sich nach vorne zwischen die Sitze und starrte in die Gesichter ihrer Eltern, die Julis Wutanfälle allzu gut kannten.

»Ich kotz gleich. Dann sagt mir doch, was ich gerade denke?«

»Niemand weiß, was der andere denkt, und das ist auch gut so«, wandte ihr Vater schnell ein.

»Wir sind Psychotherapeuten und keine Hellseher«, bestätigte Helene. Typisch! Zwei Menschen, eine Stimme. Ihre Eltern waren zusammen eine unüberwindbare Mauer, eine Front mit klaren Siegern. Mit einem Ruck warf sich Juli zurück in ihren Sitz, verschränkte die Arme vor der Brust wie ein trotziges kleines Kind.

»Mira wusste immer, was ich dachte«, brummte sie leise und verletzlich.

»Mira ist tot«, entgegnete ihre Mutter entschieden, sich der Kraft ihres Satzes nicht bewusst.

Plötzlich sagte niemand mehr etwas.

Mira ist tot.

Die drei Worte bohrten sich wie ein giftiger Stachel durch Julis Körper, erreichten ihr Herz, das sich auf die Größe eines Sesamkorns zusammenzog. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es je wieder Blut durch ihren Körper pumpen würde. Seit Miras Verschwinden war ihr Herz beleidigt, das Einzige, was Juli ab und zu spürte, war diese taube Enge in ihrem Brustkorb. Wie konnten Menschen diesem Symbol nur so viel Bedeutung beimessen, einschließlich sie selbst? Es war ein Muskel. Nur ein verkrüppelter Muskel!

Die Stille im Auto wurde unerträglich, und Juli atmete erleichtert auf, als sie endlich in ihr Wohnviertel einbogen, eine verkehrsberuhigte Straße, an deren Ende das Haus der Sommers lag. Sie fuhren vorbei an den alten Hüpfkästchen, die sie noch mit Mira mit echter Graffitifarbe auf die Straße gesprüht hatte, fuhren vorbei an der alten Frau Hofmann, die mit ihrem Schäferhund spazieren ging, oder besser: er mit ihr. Die Leine gespannt, zog der Hund sein Frauchen hinter sich her, die aufgrund ihrer fortschreitenden Altersdemenz niemanden mehr erkannte. Die alte Frau löste in dem Moment ein tiefes Mitgefühl in Juli aus. Früher war sie mit ihrer Schwester oft bei ihr gewesen, die alle im Dorf für verrückt und eigenartig hielten. Nur weil sie mit ihren Hühnern mehr redete als mit den Einheimischen. Dabei war es die Einsamkeit, die seltsame Dinge mit den Menschen machte, das wusste Juli jetzt. Sie kurbelte das Fenster weiter runter, winkte Frau Hofmann zu, die sie nicht sah und mit gesenktem Kopf über den Bürgersteig stolperte. Bei ihr in der Küche hatte es immer die weltbesten Nutellabrote gegeben. Der Deal bestand darin, dass Frau Hofmann die Haare der Zwillinge kämmen durfte, so lange sie wollte, dafür bekamen sie bei ihr Nutellabrote unlimited. Miras Rekord lag bei acht, Julis bei zwölf. Wehmütig drückte sich Juli in den Autositz, wollte sich gerade von der alten Frau abwenden, die sie in dem Moment geradewegs anstarrte, als würde sie sie wiedererkennen. Gänsehaut flutete Julis Körper.

»Schätzchen, das Leben bedeutet Veränderung«, durchbrach Hans das Schweigen.

Er drehte sich zu Juli um, aber Juli war in Gedanken noch bei der alten Frau.

»Du musst endlich weiterleben, Juli. Du hast kaum noch Freunde. Gibt es keine netten Jungs an deiner Schule?«, redete Helene auf Juli ein, die stumm die Lippen zusammenpresste, obgleich alles in ihr schrie. Ihre Mutter hatte so viel Feingefühl wie eine grobe Leberwurst! Ständig diese Frage nach ihren Freunden. Dreimal hatte Helene in den letzten Wochen einen Filmabend mit Luise, einem gleichaltrigen Mädchen, das in derselben Straße wohnte, organisiert, dreimal war Juli nicht aufgetaucht. Sie war stattdessen in ihrem Kellerversteck geblieben, mit knurrendem Magen und einer ordentlichen Portion Wut im Bauch, die nicht sättigte. Verlockend war der Duft des selbst gemachten Popcorns gewesen. Doch Mira war ihre beste Freundin. Forever.

Noch im Fahren wollte Juli die Tür öffnen, sie musste dringend