Engel des Vergessens - Maja Haderlap - E-Book

Engel des Vergessens E-Book

Maja Haderlap

4,4

Beschreibung

Ein großes Romandebüt, das von einem Leben in der Mitte Europas erzählt; mit kraftvoller Poesie; Geschichten, die uns im Innersten betreffen. Maja Haderlap gelingt etwas, das man gemeinhin heutzutage für gar nicht mehr möglich hält: Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, einer Familie und zugleich die Geschichte eines Volkes. Erinnert wird eine Kindheit in den Kärntner Bergen. Überaus sinnlich beschwört die Autorin die Gerüche des Sommers herauf, die Kochkünste der Großmutter, die Streitigkeiten der Eltern und die Eigenarten der Nachbarn. Erzählt wird von dem täglichen Versuch eines heranwachsenden Mädchens, ihre Familie und die Menschen in ihrer Umgebung zu verstehen. Zwar ist der Krieg vorbei, aber in den Köpfen der slowenischen Minderheit, zu der die Familie gehört, ist er noch allgegenwärtig. In den Wald zu gehen hieß eben "nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln". Es hieß, sich zu verstecken, zu flüchten, sich den Partisanen anzuschließen und Widerstand zu leisten. Wem die Flucht nicht gelang, dem drohten Verhaftung, Tod, Konzentrationslager. Die Erinnerungen daran gehören für die Menschen so selbstverständlich zum Leben wie Gott.Erst nach und nach lernt das Mädchen, die Bruchstücke und Überreste der Vergangenheit in einen Zusammenhang zu bringen und aus der Selbstverständlichkeit zu reißen - und schließlich als (kritische) junge Frau eine Sprache dafür zu finden. Eindringlich, poetisch, mit einer bezaubernden Unmittelbarkeit.Maja Haderlap hat eine gewaltige Geschichte geschrieben ...Die Großmutter wie noch keine, der arme bittere Vater wie noch keiner, die Toten wie noch nie, ein Kind wie noch keines.(Peter Handke)

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Maja Haderlap

Engel des Vergessens

Roman

WALLSTEIN VERLAG

Großmutter gibt mir ein Zeichen mit der Hand, ich solle ihr folgen.

Wir gehen durch die schwarze Küche in die Speisekammer. Am Gewölbe klebt alter Rauch wie dunkles, speckiges Harz. Es riecht nach Geselchtem und frischgebackenem Brot. Ein saurer Dunst hängt über den Futterkübeln, in denen Essensabfälle für die Schweine gesammelt werden. Der Boden ist lehmig und an den häufig begangenen Stellen glänzend wie poliert.

In der Speisekammer schöpft Großmutter gehärtetes Schweineschmalz aus einem Topf und streicht es in den Bräter, dann fährt sie mit einem Löffel in die Apfelmarmelade und nimmt eine weißgraue Schimmelschicht ab, die sie zu den Abfällen wirft. Malada steht auf den Etiketten, die sie mit einem Brei aus Mehl, Milch und Speichel auf die Gläser geklebt hat. Ihre Malada ist dunkelbraun und schmeckt bittersüß.

Sie legt mir eine Handvoll Eier in den Rock, den ich hochhalte. Im Durchzug lösen sich Rußflocken von den Wänden in der schwarzen Küche und legen sich auf die Brotlaibe, die hochgestellt auf einem Holzregal lagern. Unter dem Ofenloch, neben der Eingangstür, liegt zusammengekehrt ein Häuflein Asche.

Großmutter arbeitet in der Küche. Die Speisen, die sie zubereitet, schmecken nach schwarzer Küche, nach der dunklen, schlecht beleuchteten Grotte, die wir täglich ein paar Mal durchqueren. Alles Essbare, scheint mir, nimmt den Geruch und die Farbe der Rauchküche an. Der Speck und das Heidenmehl, das Schmalz und die Marmelade, sogar die Eier riechen nach Erde, Rauch und gesäuerter Luft.

Während des Kochens teilt Großmutter den Speisen Eignungen zu. Ihre Gerichte haben eine verborgene Kraft, sie können das Diesseits mit dem Jenseits verbinden, sichtbare und unsichtbare Wunden heilen, sie können krank machen.

Ich trinke den Malzkaffee aus der Flasche, die sie für mich in der untersten Lade der Küchenkredenz versteckt hält. Du bist zu groß für die Flasche, sagt sie, aber solange du willst, werde ich sie dir bereiten. Ich lege mich auf die Küchenbank, um mich aus dem Blickfeld zu nehmen, und sauge den frisch zubereiteten Kaffee. Viel zu groß, wiederholt Großmutter. Wenn jemand kommt, stellst du die Flasche sofort auf den Boden.

Großmutter meint, dass meine Mutter zu unerfahren sei für die Küche. Sie habe keine Ahnung, wie man koche, und was ihr die Nonnen in der Schule beigebracht haben, passe nicht in unser Haus. Sie wisse auch nicht, dass es Speisen für Lebende und für Tote gibt, dass man Menschen mit eigens zubereiteten Gerichten heilen oder verderben kann, das wolle sie ihr tatsächlich nicht glauben.

Ich hingegen glaube Großmutter aufs Wort und drehe begeistert die Kurbel, wenn sie den Hafer röstet für den Kaffee. Ich höre ihr zu, wenn sie erzählt, für wie viele Menschen sie schon gekocht hat, damals zu Hause, als es noch Knechte und Mägde gab und sehr viele Kinder. Sie sagt, sie habe auch Essen gestohlen für sich und die anderen, sie habe nach jeder Kartoffelschale gesucht, nach allem, was essbar schien, damals, als sie die Kessel gewaschen hat, das war noch ein Glück, sagt sie, dass sie dahin gekommen sei, in die Küche, im Lager, ich weiß.

Nach dem Abwaschen legt sie die emaillierten Schälchen und Töpfe zum Abtropfen auf das Fensterbrett. Das Abwaschwasser aus der Blechschüssel schüttet sie ins Freie. Ihre langen geröteten Finger sind nach dem Spülen violett. Sie sehen aus wie Krallen eines Greifvogels. Ab und zu pocht sie mit ihnen auf meinen Kopf. Mit einem Schürhaken hebt sie ein tellergroßes Gusseisenteil aus der Herdplatte des Sparherds und zerteilt die Glut, damit sie rascher auskühlt.

Kaum setzt sie sich in Bewegung, folge ich ihr. Sie ist meine Bienenkönigin und ich bin ihre Drohne. Ich habe den Duft ihrer Kleidung in der Nase, den Geruch nach Milch und Rauch, einen Hauch von bitteren Kräutern, der an ihrer Schürze haftet. Sie gibt mir den Rundtanz vor und ich tänzle ihr nach. Ich passe meine kleinen Schritte ihren schleppenden an, ich summe eine zarte Melodie aus Fragen und sie spielt den Bass.

Wir gehen in die Stube und sehen nach der Milchzentrifuge hinter der Tür, die wir ein paar Mal in der Woche drehen, um den Rahm von der Milch zu trennen. In der Kammer dahinter werden die Fenster geöffnet, die Betten, in denen wir schlafen, gelüftet, die Strohsäcke, die gefüllt sind mit getrockneten Maisblättern, aufgelockert, die Kräuter, die auf dem Fensterbrett liegen oder an Vorrichtungen aufgehängt sind, gewendet und kontrolliert, wird die Treppe hinauf auf den Dachboden gestiegen, der unheimlich wirkt, in die Dachkammer geschaut, in die sich vor Jahren Gespenster geflüchtet haben zu den Schlafenden und sie aus dem Zimmer gejagt haben, wie Großmutter erzählt.

Großmutter tänzelt ins Freie und bindet den gelben Ranunkelstrauch vor der Scheune an den Zwetschkenbaum. Sie spricht den Holunderbusch neben dem Misthaufen an, damit er rascher erblühe. Dann kommt sie zurück, um mich zu holen. Wir gehen über den Hof zu den Futterquellen im unteren Keller und im Speicher. Sie öffnet Mehlsäcke, Truhen und Holzkübel, sie füllt ihre Schürzentaschen mit frischem oder gedörrtem Obst, sie streut Weizen und Maiskörner für die Hühner aus. Ihre Stirn ist gerunzelt wie die Schindelbretter des Daches über dem Getreidespeicher. Sie eilt mir voraus, will zur Dörre am Bach und nach den Lattenrosten sehen, auf denen im Herbst die Zwetschken und Birnen getrocknet werden.

Zweimal in der Woche überprüft sie mit mir die Legeplätze der Hennen in den Geräteschuppen und auf der Tenne. Liegen bis Ende der Woche in einem Nest keine Eier, sucht sie das Tier, das sie im Verdacht hat, mit dem Legen zu trödeln. Kommt es in ihre Nähe, greift sie überfallsartig nach dem kreischenden Federvieh und fährt ihm mit dem Zeige- und Mittelfinger in den After. Blitzt unter ihren Fingern etwas Weißes hervor, sagt sie, das Ei komme morgen oder übermorgen, es habe noch eine weiche Schale.

Einmal holt sie zu meinem Vergnügen ein Ei aus der Henne, das in ihren Händen zerfließt. Ich muss lachen. Eiermädchen, nennt mich Großmutter. Den Namen habe mir Großvater gegeben, erzählt sie, als er krank auf der Ofenbank lag und auf mich achtgeben musste. Ich sei ein Schoßkind gewesen, kaum mehr als ein Jahr alt, und habe die Eier in der untersten Lade der Stubenkredenz entdeckt, sie einzeln über den Holzboden rollen lassen und, sobald das Eigelb aus der Schale getreten war, sonci gre gerufen, das Sonnchen geht auf! Großvater habe mich beobachtet und sei so begeistert gewesen, dass er mich die Schüssel ausräumen ließ und ihr verboten habe, mit mir zu schimpfen. Er habe gemeint, während sie die Eierspeise vom Boden aufwischte, dass man mit mir und mit ihm Mitleid haben müsse. Bald danach sei er gestorben, obwohl ich ihn unterhalten hätte.

Nur beim Teigkneten schätzt Großmutter die Hilfe von Mutter. Dann schaut sie ihr zu, wie sie das Mehl rührt. Im Teigtrog schmatzt es und patzt es. Schweißtropfen bilden sich auf Mutters Stirn und fallen ins werdende Brot. Sie richtet sich auf und wischt mit dem Oberarm den Schweiß aus dem Gesicht. Ihre Wangen sind rot, die Ärmel der Bluse hochgekrempelt, im Halsausschnitt kann ich ihr Unterhemd sehen. Sie fragt, wie das Verhältnis von Roggen und Weizenmehl sei und das von Sauerteig und Wasser, sie würde gern wissen, wie viele Kilo Mehl. Großmutter sagt, wenn das Mehl diese Rille der Trogwand bedeckt, ist es gut. Dann beugt sich Mutter wieder über den Teig. Wenn er sich von ihren Fingern zu lösen beginnt und der Trog nicht mehr knarrt, hat sie die Arbeit geschafft. Großmutter schneidet ein Kreuz in den Teig und bedeckt ihn zum Gehen.

Zwei Stunden nachdem Großmutter den Ofenrachen mit den grauweißen Mehlbäuchen gefüttert hat, gibt der Ofen die Brotlaibe wieder her. Das heiße gebackene Brot wird aus dem Ofenmaul gezogen, mit einem Tuch abgewischt, bekreuzigt und in meine Schürze gelegt. Ich trage das Brot in die Stube zum Kühlen und schiebe es auf den Tisch oder auf die geräumige Ofenbank. Der Duft nach frischem Brot durchweht das Haus. Großmutter schreitet die Räume ab, als ob sie sich vergewissern wollte, ob die Sauerteigschwaden wohl jede Ecke des Hauses erreicht haben.

So wenig Brot gab es zu essen im Lager, so wenig, deutet sie mit dem Daumen und dem Zeigefinger die Größe der Brotstücke an, die den Häftlingen zugeteilt wurden. Es musste reichen für einen Tag, manchmal für zwei. Später bekamen wir nicht einmal das, sagt sie, und haben das Brot phantasiert. Ich blicke sie an. Sie sagt, wie sie immer sagen wird, je bilocudno, es war befremdend, sagt sie und meint, es war schrecklich, aber grozno fällt ihr nicht ein.

In ihren Schürzentaschen lagern Brotkrümel und alte Brotrinden. Wenn sie über den Hof geht und in den Stall, verteilt sie das Brot an die Tiere. Den Hühnern wirft sie im großen Bogen die Krumen zu, den Kühen und Schweinen stopft sie die Rinde ins Maul. Man müsse mit dem Brot auch die Tiere bedenken, sagt Großmutter, denn das Brot, das du verteilst, kommt wieder zurück.

Zu Allerseelen stellt sie einen Laib und eine Schale Milch auf den Tisch für die Toten. Damit sie zu essen haben, wenn sie in der Nacht kommen, und dass sie uns in Ruhe lassen, sagt sie.

Ich stelle mir vor, wie die Toten mit unsichtbaren Händen essen, aber am Morgen scheint nichts berührt worden zu sein. Das Messer liegt neben dem Brotlaib, die Milch steht auf dem Tisch, als hätte kein Hauch sie bewegt. Waren sie da, frage ich. Ja, sagt Großmutter. Sie muss es ja wissen, denke ich, sie ist vertraut mit dem Tod. Sie hat ihn ja damals gesehen, als er sich gezeigt hat jeden Tag und jede Stunde.

* * *

Mutter arbeitet außer Haus. Beim Frühstück kann ich sie durch das Küchenfenster im Stall werken sehen. Mit einem Weidenkorb auf dem Rücken eilt sie auf die Tenne und wieder zurück in den Stall, sie beugt sich breitbeinig über die Futterkübel, aus denen es dampft, und mischt mit der Hand büschelweise geschnittenes und gesiebtes Heu in den Schweinetrank. Kommt sie mit einem Werkzeug in der Hand am Haus vorbei, tritt sie gewöhnlich ans Küchenfenster, um nach mir zu sehen. Sie klopft an die Fensterscheibe und ruft, wo ist meine kokica, was Hühnchen bedeutet. Manchmal blinzelt sie nur mit den Augen und geht schweigend davon.

Sie trägt hellere Schürzen als Großmutter und liebt es, während der Arbeit zu singen.

Je nachdem, aus welcher Richtung ihr Singen zu hören ist, kann ich schließen, wo sie sich gerade aufhält. Ist sie in heiterer Stimmung, lockt sie mich mit Koserufen, mit denen sie auch die Tiere bedenkt, ins Freie, um mir eine Arbeit aufzutragen oder mich an sich zu drücken. Ihre Zärtlichkeiten sind ungestüm. Sie greift nach mir, wie Großmutter nach den Hühnern greift, und zieht mich an sich, sie kitzelt und beißt mich, wenn ich versuche, ihr zu entkommen. Ist sie einmal niedergeschlagen, lässt sie mich nicht an sich heran. Ihr Kummer übt auf mich eine große Anziehung aus. Ich wünsche mir in solchen Momenten, auf ihr herumkriechen zu können, wie eine Katze auf einem Baum herumkriecht, und ihr von oben, vom Scheitel herab in die Augen zu blicken, ihre Wangen zu lecken, ein wenig um ihre Nase zu streichen oder mich in ihren Rücken festzukrallen, falls sie versuchen sollte, mich abzuschütteln. Mutter hat allerdings kein Verständnis für meine Wünsche. Kaum berühre ich ihre Hüfte, drängt sie mich ab wie ein unwilliges Muttertier ihre Jungen und fragt, wann ich vorhätte, die Arbeit, die sie mir aufgetragen hat, auszuführen. Ich sage, gleich, hoffend, dass Großmutter alles mitgehört hat, um meine Pflichten zu übernehmen, was sie übrigens gerne tut, um Mutter zu ärgern.

Zuweilen finde ich Mutter weinend im elterlichen Schlafzimmer. Dann sitzt sie, mit Gummistiefeln an den Füßen, auf dem Bett. Es ist ihr unangenehm, wenn ich sie in diesem Zustand überrasche. Was suchst du hier, fragt sie. Dich, sage ich, dich! Ihre Verzweiflung muss groß sein, denn die Gummistiefel und ihre befleckte Schürze passen so gar nicht zur hellen, leinenen und mit bunten Blumen bestickten Tagesdecke, die sie über das Ehebett gebreitet hat.

An lauen Abenden sitzt sie hinter dem Haus auf der Wiese, schaut in den Himmel oder lehnt auf dem Holzbalkon an der südlichen Seite des Auszugshäuschens, wo man sie nicht sehen kann. Einmal kniet sie im Vorraum vor einem Kühlschrank, der gerade geliefert wurde. Großmutter schimpft aus der Küche, wozu dieses Gerät gut sein solle, es koste nur Geld. Mutter wischt den Kühlschrank mit einem weißen Stofffetzen aus, den sie immer wieder in eine Waschschüssel mit heißem Wasser taucht und auswringt. So einen Kühlschrank brauche man heutzutage in jedem Haushalt, sagt sie trotzig. Ach was, meint Großmutter, sie habe noch nie einen Kühlschrank besessen, niemand habe einen Bedarf an so einem Gerät.

Eines Abends befestigt Mutter zwei gerahmte Engelbildchen über meinem Bett in der Kammer, die ich mit Großmutter teile. Seit ich einen Bruder bekommen habe, schlafe ich nicht mehr im Schlafzimmer der Eltern im Auszugshäuschen, sondern bin zur Großmutter gezogen, was mich sehr freut, weil Großmutter mein Kindheitsstock ist, an dem ich mich festhalte. Mutter sagt, während sie zwei kleine Nägel in die Wand schlägt, um die Bildchen aufzuhängen, dass sie mir zwei Schutzwesen mitgebracht habe, die über mich wachen sollen. Ein Goldkopf mit lockigen Haaren und Flügeln, die aus seinem Rücken wachsen, soll auf mich achtgeben. Ein unvorsichtiger junger Mann, wie ich feststelle, der mit offenen, untauglichen Sandalen zwei Kinder über eine Hängebrücke führt; darunter klafft eine tiefe Bergschlucht. Mutter betet mit mir sveti angel varuh moj, bodi vedno ti z menoj, stoj mi dan in noc ob strani, vsega hudega me brani, amen und sagt, dass Engel in die Seele eines Menschen blicken und ihre geheimsten Gedanken lesen können.

Ich betrachte die pausbäckigen, wohlgenährten Wesen mit Skepsis, weil ich glaube, dass meine Gedanken nicht dazu da sind, um ausgespäht zu werden, und weil ich befürchte, dass die Engel zu naiv und zu unerfahren sind, um auf mich aufzupassen. Sie haben einen verklärten, verträumten Blick, der gegen den Himmel gerichtet ist, tragen, soweit sie nicht halbnackt sind, wertvolle Kleider, spielen die seltsamsten Instrumente und sind in den Wolken zu Hause, nicht auf der Erde. Wollen diese Flügelwesen wirklich alles wissen und sehen, was ich vor den Menschen geheim halten möchte, überlege ich. Es ist mir nicht wohl dabei, obwohl mir die singenden Mädchenknaben gefallen und von da an in Schwärmen auf Kirchenaltären und Fresken hocken werden, wie die Schwalben im Spätsommer auf den Stromleitungen, bevor sie in wärmere Gegenden fliegen.

Erschrocken stelle ich eines Morgens nach dem Aufstehen fest, dass mein Vater vom Himmel gefallen oder von einer Brücke gestürzt sein könnte. Er liegt mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Küchenboden. Großmutter schiebt ihm ein Pölsterchen unter den Kopf und deckt ihn mit einer Wolldecke zu. Mutter hat ein Lavoir mit kaltem Wasser neben Vater gestellt. Sie will ihm das Blut von den Wangen wischen, aber er hebt abwehrend die Hand.

Wir können ihn doch nicht hier liegen lassen, sagt Mutter mit hoher Stimme.

Lass ihn doch, wenn er will, bestimmt Großmutter und drängt Mutter zur Seite.

Als Vater bemerkt, dass ich mich verstört an den Herd drücke, lächelt er. Ein kleiner Blutschwall rinnt aus seinem Mund die Wange hinunter und versickert im hellen Hemdkragen, der schon mit Blut getränkt ist.

Er hat seine Zähne verloren, jammert Mutter und stürzt aus der Küche. Vor der Haustür bleibt sie stehen und zupft an den Blumen herum, die in den Blumenkisten zu blühen beginnen. Was ist geschehen, will ich wissen. Vater ist mit dem Motorrad gestürzt, schluchzt Mutter, man müsse einen Arzt verständigen. Dann läuft sie davon.

Am Nachmittag wird Vater zum Arzt gefahren. Ein Nachbar holt ihn mit dem Auto ab.

Er habe viele Schutzengel gehabt, sagt Mutter. Haben die Engel sein Motorrad im Sturz weich aufprallen lassen, denke ich, oder haben sie einen Nachbarn geweckt, der Vater in der Wiese liegend gefunden und ihm geholfen hat aufzustehen? Ich sollte mir die Geschichte mit den Engeln noch einmal durch den Kopf gehen lassen, beschließe ich, vielleicht sind sie doch nicht so unnütz, wie ich geglaubt habe.

* * *

Vater trägt am liebsten Knickerbocker aus Schnürlsamt. Im Gehen pendelt der offene Klemmverschluss an seiner Wade, weil er in der Eile vergessen hat, ihn zu schließen. Er hat eine zupackende Art zu gehen, als ob er sich immerfort die Hände reiben müsste vor Ungeduld oder vor Freude. Im Sommer springt er barfuß in die Holzzockeln, die vor der Haustür aufgestellt sind. Im Winter presst er seine in Wollsocken steckenden Füße so ungeduldig in die Lederkappe der Holzschuhe, dass sich an den meist geflickten Fersen die Wollwülste stauen. Alles setzt sich in Bewegung, wenn er über den Hof eilt. Der Hund Piko läuft an der Kette hin und her, die Katzen nähern sich der Stalltür, die Säue lärmen durchdringend in ihren Kojen. Mutter hastet mit Eimern, aus denen das Schweinefutter schwappt, in den Stall.

Vater hat die Kühe schon von der Kette gelassen und treibt sie zur Tränke. Er hat keine Zeit gehabt, die Haselnussrute aufzuheben, die neben der Stalltür liegt, er dirigiert die stolpernden Tiere mit der Hand und schreit. Zuweilen hört sich das an wie ein Jauchzen.

Die Kühe sind für sein Zeitmaß zu langsam. Kaum kehren sie an ihre Plätze zurück, hat er die Geduld verloren und wirft mit Flüchen um sich, als vertreibe er lästige Fliegen. Wenn er das Heu in den Stall trägt und von der Stallschwelle den Namen der Kuh ruft, die ihm Platz machen muss, tritt die aufgerufene Kuh tatsächlich zur Seite, damit er das Futter in die Krippe stopfen kann. Seine Bewegungen sind ausholend und rhythmisch. Das Reinigen der Schweinekoben muss laufen wie geölt, die Mistgabel soll sich mit Schwung in einen Haufen Streu bohren, die Mistschaufel im gleichmäßigen Rhythmus am Stallboden kratzen. Die dampfenden Kuhfladen warten nur darauf, aus der Kotrinne gehoben und in nahezu unveränderter Form auf den Misthaufen befördert zu werden. Am Mistflug ist zu erkennen, in welcher Laune Vater ist. Wirft er den Mist im hohen Bogen auf die Hinterseite des Misthaufens, ist er zuversichtlich, werden die Kuhfladen mit Wucht gegen die vordere Mistwand geklatscht, ist er zornig.

Die Schweine drängen gegen das schwenkbare Gitter zum Trog. Mutter schiebt mit ihrem bestiefelten Fuß das Gitter zurück und mahnt die Tiere zur Geduld. Ihr werdet es schon noch erwarten, sagt sie und gießt den Trank im großen Bogen in den Trog. Kaum schwenkt das Gitter zurück, fallen die Schweine schmatzend über den Brei her.

Mutter beginnt mit dem Melken. Mit einem Tuch reinigt sie das Euter der ersten Kuh, dann hockt sie sich auf den Schemel und stemmt ihren Kopf gegen die Flanke des Tiers. Ihr Griff nach den Zitzen fördert einen kräftigen Milchstrahl zutage, der laut auf den Boden des Eimers prallt. Auf dieses Zeichen hin beruhigt sich alles. Die Schweine schmatzen leiser, die Hühner ziehen ihre Köpfe ein, die Katzen haben sich lautlos zur Katzentränke gesetzt, die Milch im Eimer schäumt. Nach dem Melken der ersten Kuh gibt Mutter den Katzen zu trinken. Sie gießt die Milch in ein Gefäß, das Vater aus einem Stück Holz geschnitzt hat. Rosa Katzenzungen fahren schlabbernd in die weiße Flüssigkeit, die Mäuler der Katzen sind milchnass. Die Milch wird von den über das Fell fahrenden Zungen aufgefangen und abgeleckt.

Ich stehe in einem Dunstschleier aus Behaglichkeit und lasse meine Blicke über die dreckigen Wände streifen. Meine Hände riechen nach den Schweinen, die nach dem Fressen ihre massigen Körper gegen das Gitter gedrückt haben in der Hoffnung, dass ich sie kratze. Der Hund Piko hat seinen Tagesschweiß in meinen Rock gewischt. Auf meinen Wangen kleben schon milchfeuchte Katzenhaare. Ich frage Mutter, wann wir das nächste Kalb bekommen, weil ich es liebe, die Tiere mit der Flasche zu füttern. Ihre stoßenden Kopfbewegungen während des Saugens bringen mich immer zum Lachen. Nach dem Füttern lasse ich mir von den Kälbern die Hände ablecken, bis ich Angst bekomme, meine Arme könnten zur Gänze im warmen Schlund hinter ihren noppenbesetzten Zungen verschwinden. Du wirst es schon noch erwarten können, sagt Mutter. Vater bleibt vor der Stalltür stehen und schaut in den Himmel. Das Wetter wird schön, sagt er, wir werden uns morgen beeilen müssen, das Wetter wird schön!

An warmen Frühlingswochenenden sitzt er auf der Bank neben dem Bienenhaus und beobachtet den Bienenflug. Er hat eine Hand auf die Banklehne gelegt und tut, als ob er nichts dagegen hätte, wenn ich mich zu ihm setzte. Er schaut zu den Flugbrettchen vor den Fluglöchern der Bienenstöcke, auf denen die Sammlerinnen landen und ihre Richtungstänze aufführen. Heuer wird es eine gute Ernte geben, sagt er, oder, der zweite Stock bereitet mir Sorgen. Im späten Winter hat er bei einsetzendem Tauwetter den Schnee vor dem Bienenhaus weggeschaufelt, damit die Sonne den Platz vor den Stöcken schneller erwärmen konnte. Er hat Holzrähmchen angefertigt, Drähte gespannt und die Wachsblätter an die Drähte gelötet. Er hat die Waben ins Bienenhaus gebracht und den mit toten Tieren übersäten Boden des Bienenhauses gekehrt. Am letzten Tag im Januar hat er mich in das Bienenhaus geschickt, damit ich an den Stöcken horche, ob die Völker ein Lebenszeichen gäben. Als ich ihm von einem geheimnisvollen Summen berichtete, tat er, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Nun fragt er, ob ich bereit wäre, ihm bei der Frühjahrskontrolle zu helfen und die Bienen einzurauchen. Ich nicke und spüre im nächsten Moment, dass ich einen Fehler begangen habe, aber für einen Rückzug ist es zu spät.

Das Innere des Bienenhauses ist halb dunkel. An der hinteren Seite des Holzbaus fällt milchiges Licht durch ein kleines verschmutztes Fenster, neben dem zwei Schränke stehen, in denen Großmutter ihre Kleider verwahrt. Auf der Vorderseite türmen sich die Bienenstöcke wie eine breite, summende Wand. Im Frühjahr sind über die Bienenstöcke noch Wolldecken gebreitet. In einem abgetrennten Raum dahinter steht die Honigschleuder, auf einem Tischchen neben der Tür stapeln sich frische Wachsblätter.

Vater ist fröhlich, wenn ich mit ihm das Bienenhaus betrete. Er arbeite nicht gern allein, sagt er und drückt mir das Rauchgerät in die Hand. Mit einem behutsamen Handgriff öffnet er den ersten Bienenstock und ich presse die Rauchstöße in das Innere des Kastens. Flugs laufe ich ins Freie. Vater zieht die Waben einzeln aus dem Stock, streift mit einer Adlerfeder die am Rahmen hängenden Bienen ab und tritt mit jeder Wabe vor das Bienenhaus, um sie zu kontrollieren. Ich warte in angemessener Entfernung, bis Vater mit einer Wabe, auf der sich die Bienen drängen, ins Freie kommt und mich mit einer Kopfbewegung herbeiwinkt, damit ich einen Blick auf das Gewimmel werfen kann. Wer zuerst die Bienenkönigin entdeckt, darf jubeln. Mit langgestrecktem Hals beuge ich mich über das Volk und rufe matica, matica, sobald ich die Königin gefunden habe. Vater seufzt und sucht mit der Spitze der Adlerfeder nach Königinnenzellen. Manchmal fegt er ein winterschwaches Volk, wie er sagt, vor dem Flugloch eines anderen Bienenstocks ab und hofft, dass die geschwächten Bienen vom Nachbarvolk aufgenommen werden. Er rät mir, ruhig zu bleiben und keine schnellen Bewegungen zu machen. Er sagt, er habe den richtigen Tag gewählt, die Bienen seien ausgeflogen, ich solle mir keine Sorgen machen, an so einem Tag werde man nicht gestochen. Ich traue seiner Zuversicht nicht ganz, weil ich ihn öfters mit Schwellungen gesehen habe, die von Bienenstichen stammten. Mit Vorliebe bläst er den Bienen seinen Zigarettenrauch auf den Rücken, das mögen sie besonders, sagt er, sein Tabak lähme die grimmigsten Tiere. Er lächelt, wenn er sieht, wie ich meinen Kopf einziehe aus Angst, von einer wütenden Arbeiterin angegriffen zu werden.

Gewöhnlich kommt Großmutter ins Bienenhaus, um sich nach dem Zustand der Bienen zu erkundigen. Sie nimmt ein braunes, vergilbtes Heftchen aus einer Lade des Kleiderschranks und beginnt die Anzahl der diesjährigen Völker und der Königinnen in das Heftchen zu notieren. Auf der Umschlagseite des Heftchens prangt der deutsche Reichsadler. Arbeitsbuch steht darunter geschrieben, Name und Sitz des Betriebes, Staatsangehörigkeit: Deutsches Reich. Das Heftchen habe dem Großvater gehört, sagt Großmutter, er habe es jedoch nie benutzt. Er habe den Hof am 1. Februar 1927 übernommen und am 27. Februar 1927 geheiratet, stehe im Büchlein, alles Weitere habe sie auf der Innenseite der Schranktür notiert, sagt Großmutter, wo die Hochzeitstage und Todestage der Familienmitglieder mit einem Bleistift vermerkt sind.

Großmutter könne nichts wegwerfen, sagt Vater, sie verwende sogar die Hitlersachen so lange, bis sie kaputt seien. Ach was, erwidert Großmutter, den Wintermantel, den sie in diesem Schrank aufbewahre, habe sie zum Beispiel nur einmal getragen und würde ihn nie wieder anziehen. Sie öffnet die Schranktür und zeigt auf einen dunklen, graugrünen Wollmantel, der zusammengelegt auf dem Boden liegt. Den habe sie sich in Ravensbrück organisiert und ihn von da an nicht aus den Augen gelassen, sagt sie. Bei der Räumung des Lagers habe sie den Mantel getragen. Es sei ihr schönster Wintermantel geblieben. Ja, ja, sagt Vater und wendet sich wieder den Bienen zu. Ich werfe einen neugierigen Blick auf den Mantel, bevor Großmutter die Schranktür wieder schließt und aus der Kammer mit der Schleuder ein Glas Honig holt. Ich wundere mich, dass sie das Wort organisiert verwendet hat, das ich noch nie aus ihrem Mund gehört habe. Das hat wohl mit der geheimnisvollen Tätigkeit zu tun, die sie damals am Leben gehalten hat, denke ich.

Sobald der Sommer fühlbar wird und die Wiesen wegen des hohen Grases nicht mehr betreten werden können, ziehen die Bienen nach kurzen Regenschauern wieder die Aufmerksamkeit auf sich. An solchen Tagen kann man das Dröhnen eines Bienenschwarms hören, der in der Nähe des Hauses einen ausladenden Ast anfliegt oder weitab vom Hof auf einem Baum hängen bleibt wie eine wimmelnde Traube. Aus allen Ecken des Hofes wird nach Vater gerufen, er solle die Ausreißerinnen mit der alten Königin zurückholen.

Vater eilt mit einem Holzkasten und einer Holzleiter gerüstet zu den verdächtig summenden Bäumen. Er hat diesmal einen weißen Hut mit einem Schleier über den Kopf gestülpt, und seine Bitten, ihm bei der Heimholung des Schwarms zu helfen, bleiben meistens ungehört.

Einmal wird Mutter, die sich bei der Befestigung der Holzzarge unter den Schwarmbienen nützlich machen wollte, von mehreren Bienen gestochen und fällt in Ohnmacht. Mein kleiner Bruder und ich stehen erschrocken neben der am Boden liegenden Mutter. Vater hat ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn gelegt und richtet sie langsam auf, bis sie wieder das Bewusstsein erlangt und sich erbricht. Von diesem Tag an hat Mutter große Angst vor den Bienen, und auch ich kann meinen Argwohn nur schwer überwinden.

Was man herausgefordert hat, muss man ertragen, sagt Mutter, nachdem ich leichtfertig die Flugwege der Bienen gekreuzt habe.

Diesmal helfe ich Vater beim Honigschleudern. Er hat alle Honigwaben, die Bäuche bekommen haben, in die Schleuderkammer gebracht und begonnen, mit einer breiten Gabel die oberste Wachsschicht von den Waben zu entfernen. Das zusammengeschobene Wachs streift er am Rand einer mit Blumenmotiven bemalten Tonschüssel ab, die nur für die Honigernte verwendet wird. Ich nehme ein paar Wachsteilchen in den Mund und kaue so lange auf ihnen herum, bis ich die Honigreste ausgelutscht habe. Bricht beim Schälen ein kleines Stück Wabe aus dem Rähmchen, reicht Vater es mir, damit ich das triefende Wabenstück in den Mund nehme. Wie ein klebriger Lichtbrei strömt der Honig über meinen Gaumen und erfüllt mich mit Entzücken.

Vater stellt die geschälten Waben, in denen der Honig nun sichtbar wie eine geschmeidige Harzflüssigkeit stockt, in die Schleuder und beginnt an der Kurbel zu drehen. Sobald der Honig zu fließen beginnt und Vater zum Lob seiner Farbe ansetzt, kommt Großmutter wieder ins Bienenhaus. Sie zückt das braune Büchlein und beginnt die Anzahl der Liter pro Bienenstock zu schätzen und zu notieren.

Nach dem Schleudern trete ich ins vordere Bienenhaus, in dem ein paar Arbeiterinnen wild herumfliegen. Meine Finger sind klebrig und feucht. Die Bienen werfen sich plötzlich auf mich, und noch während ich versuche, sie aus meinen Haaren zu vertreiben, spüre ich die Stiche auf der Kopfhaut, die sich vor Schmerz zusammenzieht wie nach einem stumpfen Aufprall. Ich beginne zu schreien und hoffe, nicht ohnmächtig zu werden. Vater und Großmutter eilen herbei und reden auf mich ein, aber der Schmerz, der nunmehr den ganzen Körper überzieht, ist stärker als jedes noch so beschwörende Wort.

Meine Augenlider sind geschwollen von Tränen und Bienenstichen, als ich aufhöre zu weinen. Der Schädel ist überzogen mit schmerzenden Beulen, die sich unter meinen Haaren abzeichnen. Großmutter hat mir zum Trost eine Flasche mit Milchkakao auf den Tisch gestellt und legt mir kalte Umschläge auf Stirn und Schläfen. Als ich die Flasche zum Mund führe, tritt Michi, ein Cousin meines Vaters, in die Küche. Das große Mädchen trinkt noch aus der Flasche, das kann doch nicht wahr sein, sagt er vorwurfsvoll. In seinen Vorwurf mischt sich so viel Erstaunen, dass ich trotz meiner misslichen Lage begreife, dass ich mich alsbald dem Alter entsprechend mit einer Tasse begnügen sollte. Lass sie doch, sagt Großmutter, sie ist von Bienen gestochen worden. Dann zeigt sie Michi die Einstichstellen, indem sie meine Haare Schicht für Schicht auseinanderzieht, als würde sie Karteikarten ordnen. Michi setzt sich zu uns auf die Küchenbank und streicht tröstend über meine brennenden Wangen.

* * *

Mutter übt mit mir das Aufsagen slowenischer Gedichte, die ich für die Schule auswendig lernen muss. Sie sagt, das machen wir gemeinsam, ich lerne mit dir! Während sie bügelt, lese ich aus den Gedichtbüchern und Schulbüchern vor. Wir lassen zu zweit die Blumen wachsen, krähen mit den Hähnen und läuten mit den Kirchenglocken. Wir quacken mit den Fröschen und singen Tralala und Hopsasa auf ihren Hochzeiten. Wir lachen mit den Raben die Vogelscheuchen aus, lassen Seifenblasen emporsteigen wie Sonne, Erde und Mond, die ohne Räder kreisen und ohne Flügel fliegen. Wir verladen den Frühling mit seinen Blumengirlanden auf ein Schiff und segeln mit ihm in die Ferne. Wir sitzen stundenlang in den Sprachwiesen und reden im Rhythmus der Reime. Wir kommen zur Erkenntnis, dass die Natur mit Versen behängt werden müsste und die Blumen zu Kränzen geflochten werden sollten. Reime lassen uns von Strophe zu Strophe springen wie Schmetterlinge von Blumenkelch zu Blumenkelch, ohne Angst davor, abzustürzen. Sie bringen alles an ein gutes Ende, sie verwandeln Weinen in Lachen und Schweigen in Schwelgen. Was vertrocknet war, wird wieder erblühen, was erstarrt war, wird tanzen können. Wir glauben, dass jedes verstoßene Kind wie Videk von den Waldtieren ein Hemdchen bekommen wird und zu essen, was der wilde Garten hergibt. Mutter liebt Gedichte, in denen der Winter droht, alle faulen Kinder zu holen, und die Vögel den Eltern versprechen, die Erziehung ihrer Kinder zu übernehmen.

Im Frühjahr steckt sie mir Löwenzahnblüten ins Haar und sagt, dass ich mit einfachen Dingen zufrieden sein müsse. Sie benötige für ihren Frohsinn nur die Natur, die Lieder und die katholische Kirche. Sie sagt, es gebe nur einen Weg, in Gnade zu leben, den Fleiß und das Einhalten der Gebote Gottes. Sie sagt, die katholischen Feiertage müsse man einhalten, die Messfeiern müsse man besuchen, die morgendlichen und abendlichen Gebete müsse man verrichten. Vor den Holzkreuzen an Wegen und Wiesenrainen solle man innehalten, vor den Altären müsse man sich bekreuzigen. Mutters Wunschraum ist der Altarraum. An der Wand über ihrem Bett müssen Heiligenbilder befestigt sein. Im Herrgottswinkel sollen sich kleine Wölkchen bilden und göttliche Schnörkel ranken. Sie liest kleine Heftchen und Bücher, die von Märtyrern erzählen, die verstümmelt und umgebracht wurden oder die dem Leben und den Genüssen freiwillig entsagt haben, um in den Himmel aufsteigen zu können bei lebendigem Leib. Sie erzählt, dass einem die heilige Maria erscheinen könne, wenn man fleißig gewesen sei und ein reines Herz besitze. Sie schickt mich und meinen jüngeren Bruder regelmäßig in die Kirche und findet nichts daran, wenn wir den sieben Kilometer langen Weg nach Eisenkappel zu Fuß gehen müssen. Zu Gott führe immer ein steiniger Weg, sagt Mutter.

Ich jedoch glaube, dass sie unter Aufbietung von Liedern und Wundern gegen Großmutters Einfluss auf mich kämpft. Komm, sagt sie, wenn du mir gehorchst und deine Aufgaben machst, kannst du zu Michi gehen und fernsehen.

Ich mache mich nützlich und gehe zuweilen am Abend mit meinem Bruder über die Wiese und durch ein Wäldchen zu den freundlichen Nachbarn, bei denen wir auf der Couch sitzen und fernsehen dürfen. Oft hoffen wir vergeblich, hinter dem schwarzweißen Rieseln auf dem Bildschirm menschliche Wesen erkennen zu können.

An manchen Tagen versucht Michi mit Vaters Hilfe einen besseren Empfang einzurichten. Die Männer schreiten mit der Antenne, die aussieht wie ein kahler Christbaum, die Umgebung des Hauses ab, und wir rufen aus dem Fenster, jetzt, jetzt, wenn sich die Konturen der Figuren auf dem Bildschirm deutlicher abzuzeichnen beginnen. Der Almhirte Kekec kann bald wieder sein Sonnenlied trällern und auf der wundersamen Flöte spielen, er kann gleich wieder Menschen und Tiere verzaubern und die dunklen Kräfte aus dem Bergdorf verjagen.

Das slowenische Fernsehen kann nicht immer empfangen werden, schon gar nicht offiziell. Die Politik wird es für die Kärntner Slowenen nicht einrichten wollen, sagt Michi zu Vater. Das wäre das achte Weltwunder. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit dem Schattenfernsehen zu begnügen und uns wie Piraten im Nebel zu fühlen.

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Großmutter hat ihre eigenen Absprachen mit der Natur. Sie glaubt, dass man Feld und Wald freundlich stimmen müsse und nicht mit Versen bekränzen. Ein Gedicht bedeute für die Natur überhaupt nichts, sagt sie, man müsse sich der Natur gegenüber untertänig zeigen.

Sie hat Weidenruten auf dem Dachboden gesammelt, die sie aus den gebundenen Palmbuschen herauszieht, welche jährlich am Palmsonntag in der Kirche geweiht werden. Aus den Weidenstängeln fertigt sie kleine Kreuze an, die wir im Frühjahr auf die Felder tragen, um sie in die gepflügte Erde zu stecken, damit der Kartoffelacker fruchtbar bleibe und der Weizen gedeihe. Wenn sich ein Gewitter zusammenzieht, legt sie Weidenstücke auf die Glut und trägt sie in einer Eisenpfanne durch das Haus. Der bittere Rauch soll die Luft klären und die Gewalten der Atmosphäre besänftigen. Den Glauben an Gott müsse man im Herzen tragen, sagt Großmutter, es genüge nicht, ihn in der Kirche zur Schau zu stellen. Auf die Kirche sei kein Verlass, findet sie, man könne ihr nicht trauen.

Großmutter vertraut nur ungewöhnlichen Zeichen am Himmel und kann sie deuten. Sie glaubt an die Quatemberfeiertage und an den 8. Mai, an dem sie jedes Jahr zur Messe geht, um sich für das Ende der Nazizeit zu bedanken. Sie glaubt an die Sprache, die an den Willen gerichtet ist, nicht an das menschliche Ohr. Sie sagt, dass Worte über eine große Macht verfügten, dass sie Gegenstände verzaubern und Menschen heilen könnten, dass ein besprochenes, mit einer Fürbitte versehenes und bedachtes Brot in Krankheit und Not helfen könne. Ihr älterer Sohn sei von einer Schlange gebissen worden, erzählt sie. Seine Wunde wollte nicht heilen und die Ärzte wussten ihm nicht mehr zu helfen. Sie sei zum alten Rastocnik gegangen, damit er ihr einen Zauber gegen das Schlangengift in das Brot lege. Der alte Rastocnik habe sich jedoch geweigert, weil er fürchtete, das gefährliche Odium zu verstärken. Daraufhin sei sie zur Želodec gewandert, die ihr das Brot geweiht habe. Du giftiges Tier sollst dein Gift zurücknehmen aus diesem Menschen, habe die Želodec vom Schlangengeist erbeten. Ich banne nicht sein Fleisch, ich banne nicht sein Blut, ich banne den schrecklichen Krampf, seien die Worte gewesen, mit denen die Želodec das Brot geweiht habe. Nachdem ihr Sohn jeden Tag einen Bissen von diesem Brot gegessen und ein Vaterunser gebetet habe, ohne am Ende Amen zu sagen, sei er wieder genesen. Das Gift sei aus ihm gewichen. Und das Wort ist Brot geworden und hat in ihm gewohnt, sooft er das heilende Wort eingespeichelt hatte. Das gesprochene Brot, das verzehrte Wort.

Ein Gerstenkorn, eine Entzündung am Augenlid, die ich zuweilen bekomme, kann Großmutter abbeten. Ich müsse auf ihre Fürbitten mit ne verujem − ich glaube nicht, antworten und an die Heilung glauben, sagt sie. Sie spricht ihre Beschwörung und ahmt mit der Hand über meinem kranken Auge die Bewegungen einer Schnitterin nach. Jecmen žanjem, sagt sie, jecmen žanjem, während ich wiederhole, dass ich nicht glaube, dass sie die Gerste schneide. Weil ich meinen Zweifel bekenne, sage ich die Wahrheit, und der Wortzauber wirkt, bilde ich mir jedenfalls ein, weiß es jedoch nicht.

Großmutter vertraut mir auch an, dass sie von ihrer Mutter einen Haussegen bekommen habe, als Mitgift, als Wortdach über ihrem Kopf. Sie solle ihn in Notzeiten aufsagen oder an die Tür des Hauses nageln, damit es beschützt bliebe, vor Hagel und Blitz und vor allem Unheil. Sie verwahre diesen Segen in einem Kuvert, das man nicht ungefragt öffnen dürfe. Die Gebete könnten vom Blatt gelesen und berührt werden, allerdings sei es besser, wenn sie auswendig gelernt würden, denn die Wirkung liege im Gesprochenen, nicht im Geschriebenen.

Ich stelle mir vor, wie die Worte aus dem Brief über die Augen in den Kopf steigen und von dort in unbekannte Höhen; wie die Worte auch unberührt, aus dem Kuvert heraus ihre Wirkung entfalten können; wie sie mit der Stimme der Sprechenden einen Wortfittich über die Beschwörer breiten.

Die alte Keberin habe meinem Großvater, bevor er zu den Partisanen gegangen ist, auch einen Segen mitgegeben, in ein samtenes Tuch eingefasst, damit er ihn behüte vor plötzlichem Tod, vor Verrat und vor einer üblen Tat, erzählt Großmutter. Fünf Vaterunser täglich und fünf Ave-Maria sollte er beten. Er habe täglich gebetet und habe überlebt als Partisan. Er kam aus dem Wald zurück. Wie auch jener Mann den Krieg überlebt habe, an den sich Romana aus Remschenig erinnern könne, sagt Großmutter. Romana sei damals, zur Zeit ihrer Verhaftung, kaum zehn Jahre alt gewesen. Man habe sie im Gefängnis in Klagenfurt verhört und an den Haaren gerissen, als ein Partisan ins Zimmer gebracht wurde, den sie nicht kannte und bei dem man den göttlichen Schild, wie er sagte, den šcit božji, gefunden habe. Die Gestapo habe den Partisan gefragt, wozu das gut sei, und er habe geantwortet, ich stehe unter Gottes Schutz. Daraufhin hätten sie ihn so lange geschlagen, bis er blutüberströmt unter den Schlägen zusammengebrochen sei. Das Mädchen musste alles mit ansehen, aber der Partisan habe überlebt und sei bewusstlos aus dem Zimmer getragen worden. Er hat den Schutz gehabt durch das Wort, sagt Großmutter.

Es schaudert mich. Ich bitte den göttlichen Schild, mich davor zu bewahren, daran denken zu müssen, was er abwenden konnte. Denk nicht darüber nach, sagt Großmutter, du hast zu viel gehört und zu viel geglaubt. Sie lächelt ihr dünnes, verhaltenes Lächeln und schiebt mich aus unserer Kammer hinaus auf den Hof.

Piko läuft bellend an seiner Kette hin und her. Die Hühner rennen mit lautem Gegacker den Wiesenhang hinter unserem Haus hinab. Sie spreizen die Flügel und versuchen zu fliegen.

Das muss ein Habicht sein, sagt Großmutter, jetzt jagt er schon vor unserer Haustür! Sie werde den Vorfall den Jägern berichten, damit sie den Raubvogel schießen. Mutter kommt mit einem blutenden Hahn im Arm hinter dem Haus hervor. Er habe mit dem Habicht gekämpft, sie musste den Räuber regelrecht vom Hahn herunterreißen, so sehr habe er sich in seine Flügel gekrallt, erzählt sie und stellt das verletzte Tier auf den Boden. Der Hahn schüttelt sich und streckt die blutenden Flügel aus. Hinkend und krähend hüpft er auf den Stall zu.

Wirst du seine Wunden verbinden, frage ich Mutter.

Das wird schon verheilen, sagt sie, da hilft kein Verband.

Nachdem wir allein sind, will ich wissen, was ein Partisan sei. Mutter ist überrascht. Hat dir Großmutter wieder ihre Geschichten erzählt? Die Partisanen haben in Erdbunkern gelebt und sich vor den Deutschen versteckt, antwortet sie. Das sei lange her und müsse mich nicht beschäftigen. Großvater, habe Großmutter gesagt, sei auch einer gewesen, sage ich.

Mutter geht wortlos ins Haus. Gleich darauf sehe ich Großmutter ins Freie treten. Von dir lasse ich mir nicht vorschreiben, wie ich das Mädchen zu behandeln habe, von dir nicht, sagt sie vorwurfsvoll und setzt sich an den Brunnen vor der Haustür. Mutter bleibt auf der Hausschwelle stehen. Ich drehe meinen Kopf zu ihr und habe auch Großmutter im Blick. Unmerklich zieht es das niedrige Hausdach zu Boden. Im Brunnen plätschert das Wasser minutenlang in unser Schweigen.

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Großmutter beschließt, meine Erziehung zu übernehmen. So könne es nicht weitergehen mit dem Lied-Larifari und den unnützen Geschichten, findet sie. Sie beargwöhnt meine Begeisterung für die Bücher, die ich aus der Schule mitbringe. Was willst du mit dem Blödsinn, sagt sie, wenn sie mich beim Lesen erwischt, ein Mädchen soll nicht nur lesen können. Tanzen zum Beispiel sei ebenso wichtig. Nach der Befreiung aus dem Lager habe sie den jungen Mädchen das Tanzen beigebracht. Wann immer jemand aufspielte, habe sie sich eine Frau geschnappt und sich mit ihr im Kreis gedreht. Das war ein Lachen und Jauchzen, nachdem wir dem Teufel entkommen sind, sagt Großmutter.

Wenn das Radio in der Stube eine Polka oder einen Walzer spielt, nimmt sie mich an der Hand und zeigt mir die Tanzschritte, während sie mich in ihre Drehung zieht. Ich klammere mich an ihre Unterarme und schaue auf ihre Beine, die in Hauspantoffeln stecken und sich im Rhythmus der Musik bewegen. Es dauert nicht lange und ich habe den Polka- und den Walzerschritt erlernt. An Feiertagen, an denen Vater die steirische Knopfharmonika spielt, fordert mich Großmutter mit einem Anflug von Stolz zum Tanz auf. Das gefällt auch den Nachbarn, die bei solchen Anlässen in unser Haus kommen. Dass in der Stube wieder einmal getanzt wird, schwärmen sie, sie hätten das Tanzen bei uns zu lange vermisst!