Nachtfrauen - Maja Haderlap - E-Book

Nachtfrauen E-Book

Maja Haderlap

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Beschreibung

Aus dem Leben dreier Generationen von Frauen und ihrem Ringen um Autonomie

Als Mira ins Auto steigt, um sich auf den Weg nach Südkärnten zu machen, weiß sie, dass ihr schwierige Tage bevorstehen: Ihre alte Mutter muss auf den Auszug aus dem Haus vorbereitet werden, in dem sie vor Jahrzehnten als ungelernte Arbeiterin mit den damals noch kleinen Kindern Obdach gefunden hat. Tatsächlich verdichten sich im Lauf der folgenden Wochen die Erinnerungen an eine als traumatisch erlebte Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters genauso belastet war wie von der rigiden patriarchalen Ordnung und den Dogmen der katholischen Kirche. Die alten, unaufgelösten Konflikte verschaffen sich neuen Raum, und Mira beginnt zu verstehen, dass sie von den lang beschwiegenen Lebensgeschichten ihrer Ahninnen befeuert werden: Tagelöhnerin die eine, die unter dramatischen Umständen ums Leben kam, Partisanin die andere, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr nach Kärnten zurückkehrte.

In eindringlichen Bildern erzählt Maja Haderlap in ihrem neuen Roman aus dem Leben dreier Generationen von Frauen, von ihren Verstrickungen in aufgezwungene und verinnerlichte Leitbilder und ihrem Ringen um Autonomie. Die Geschichte der Nachtfrauen ist eine der Verluste, des Schweigens und der Schuld, in der trotz allem die Nachsicht und der Respekt füreinander, vielleicht sogar die Liebe, nicht aufgegeben werden.

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Seitenzahl: 350

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Cover

Titel

Maja Haderlap

NACHTFRAUEN

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Arbeit am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung : Justina Gvaizdikaitė, Games to Play, 2001, Acryl und Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm

eISBN 978-3-518-77736-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

TeilI

TeilII

Informationen zum Buch

NACHTFRAUEN

TeilI

Mira zögerte, bevor sie den Koffer aus dem Abstellraum holte. Mit der Kaffeetasse in der Hand blickte sie fast trotzig aus dem Fenster in den Innenhof ihrer Wiener Wohnung, um sich etwas Zeit zu gönnen, in der nichts geschah, in der sie nichts entscheiden musste.

Im Schlafzimmer warf sie den Koffer auf das Bett, klappte die Hälften auseinander und begann, die vorbereitete Kleidung in die Gepäckschalen zu schlichten. Die Unterwäsche, die Strümpfe und Socken hatte sie in Stoffsäcke gelegt, damit sie nicht ungeordnet herumlagen. Im Laufe der Jahre hatte Mira eine eigene Technik des Packens entwickelt, nach der sie ihre Garderobe in durchdachter Reihenfolge in den Koffer legte. Diesmal musste sie nicht lange überlegen, sie würde nur Bequemes für zu Hause mitnehmen, keine eleganten Schuhe oder schwarzes, modisches Zeug, das Mutter nicht mochte.

Den Laptop hatte sie schon am Vorabend in den Rucksack geschoben, in dem sie auch ein paar Bücher verstaut hatte, die sie für die Erschließung durchsehen wollte. Seit sie einmal vergessen hatte, ihre Medikamente einzupacken, und daraufhin in Paris in Panik geraten war, achtete sie darauf, dass sich ihre Tabletten und Globuli immer griffbereit in den Seitenfächern des Reisegepäcks befanden.

Martin hatte schon vor ihr gefrühstückt und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt. Er hatte sie auf die Stirn geküsst, bevor er die Wohnung verließ. Schöne Zeit, hatte er gesagt, fahr vorsichtig. Was soll das, dachte Mira, aber Martin glaubte wohl, etwas Aufmunterndes sagen zu müssen. Mira ärgerte sich darüber, dass sie sich ärgerte.

Die Garagentür hob sich rasselnd, draußen eilten Passanten vorbei, die Sonne schien, immerhin war das Wetter auf ihrer Seite. Sie war froh, nicht bei Regen unterwegs sein zu müssen, und wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Tiefgarage des Wohnblocks in ein Auto stieg und losfuhr.

Die frühmorgendlichen Staus hatten sich aufgelöst, ohne Verzögerung erreichte sie die Stadtgrenze und fuhr auf die Südautobahn. Auf der rechten Fahrspur drängten sich die Lastwagen. Mira trat aufs Gas, um den massigen Transportern zu entkommen, was ihr nur für Minuten gelang.

Stankos Stimme am Telefon fiel ihr ein, seltsam tonlos. Er schien sich nur mit Mühe zu beherrschen. Mira war darauf gefasst gewesen, dass er ihr alle verschuldeten und nichtverschuldeten Versäumnisse vorwerfen würde, aber offenbar fand er in der Kürze keinen Weg, all das loszuwerden, was sich in ihm aufgestaut hatte. Du wirst dich um Mutter kümmern müssen, hatte er gesagt. Wenn er nur an die Kellertreppe denke, die Mutter hinabstürzen könnte. Ich weiß, sagte Mira. Wann kommst du? In zwei Tagen. Stanko legte auf.

Seit langem fiel Mira das Verreisen schwer. Die Leichtigkeit, mit der sie einmal ihre Koffer gepackt hatte, hatte sich inzwischen in etwas Umständliches, Lähmendes verwandelt. Vorbei die Zeit, in der sie kurzentschlossen ihre Siebensachen in eine Tasche gestopft hatte, um mit Martin aufs Land, auf die Rax oder in eine europäische Hauptstadt aufzubrechen. In letzter Zeit achtete Mira darauf, ihr Zeug aufgeräumt und geordnet zurückzulassen, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Sie wusste nicht, woher dieser Impuls kam, und ging der Sache auch nicht nach. Sie räumte, bevor sie wegfuhr, ihren Schreibtisch auf, schlichtete die Arbeitsunterlagen aufeinander und platzierte die Dokumentenmappe mit den Versicherungspolizzen gut sichtbar im Ablagenschrank.

Die regelmäßigen Besuche im heimatlichen Süden strapazierten sie mehr, als sie zugeben wollte. Obwohl sie es seit Jahrzehnten gewohnt war, dorthin zu fahren, brachten sie die Wechsel aus der städtischen in die dörfliche Welt in Bedrängnis. Nach außen hin waren ihre Ausflüge ohnehin nicht als Reisen erkennbar. Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.

Sie redete sich ein, mit dem Kofferpacken einen Teil ihrer städtischen Existenz ablegen zu müssen. Niemand hatte das ausdrücklich von ihr verlangt, und doch gab sie einem diffusen Gefühl nach, das es ihr nahelegte. Während sie auf der einen Bettseite Wäsche und Kleidung für zu Hause stapelte, streifte sie auf der anderen einen Teil ihrer Person ab, ihr tägliches Hasten in die Bibliothek, ihre Gespräche und Diskussionen, ihre Shoppinglaunen und Ausflüchte, die abendliche Müdigkeit, das Gefühl, es trotzdem nicht geschafft zu haben. Die befüllten Gepäckschalen gemahnten sie an den Aufbruch. Bevor Mira die Wohnungstür abschloss, sperrte sie ihre Wiener Existenz in den Kleiderschrank. Das schien ihr vernünftig.

Am Wechsel schob sie eine John-Coltrane-CD in den Player. Das gedämpfte Spiel des Saxophonisten lockerte ihre Anspannung. Sie reagierte willig auf seine Musik, wie auf einen Menschen, der ihr mit eleganter Geste das Reisegepäck aus der Hand nahm, um es für sie zu tragen.

Stankos Anruf hatte sie nicht überrascht. Insgeheim hatte sie auf den Augenblick gewartet, an dem eine Entscheidung getroffen werden musste, denn ihre Mutter Anni wurde von Monat zu Monat gebrechlicher. Zudem hatte ihr Stanko eröffnet, dass ihr Cousin Franz, der das Häuschen geerbt hatte, eigene Pläne damit hatte, man werde für Mutter eine andere Unterkunft suchen müssen. Mira wollte den Moment des Abschieds hinauszögern, solange es ging, auch, um weiterhin mit den alten, etwas abstrusen Erwartungen nach Hause zu fahren. Mit Bedürfnissen, die sich für einen Menschen, dessen Haare ergraut waren, nicht mehr ziemten. Sie bemitleidete sich im Stillen, als wäre sie immer noch eine Heranwachsende, obwohl ihr bewusst war, dass der Moment gekommen war, in dem sie für Mutter mehr Verantwortung würde übernehmen müssen.

Der Verkehr hatte sich beruhigt, Mira fuhr zügig, aber ohne Hast. Die Wälder auf dem Wechsel waren ihr in all den Jahren, in denen sie über den Pass fuhr, zu einer Wiederholungsschleife geraten, vertraut und eintönig. Manchmal zählte Mira die Brücken und Radarboxen, die sie passierte, oder sie drehte die Musik so laut auf, dass sie glaubte, in einem Strom aus Tönen zu treiben und nicht auf einer Autobahn zu fahren.

Sie hatte sich vorgenommen, zwei Wochen in Jaundorf zu bleiben. Sie wollte Mutter nicht zu einer Entscheidung drängen. Nein, drängen wollte sie Mutter nicht, aber vielleicht ihr den Gedanken an eine Veränderung nahebringen. Wie sollte man einem alten Menschen erklären, dass er in naher Zukunft, genau genommen demnächst, in Bälde, würde ausziehen müssen. Es war, als wollte man ihn ins Sterbezimmer abschieben, auf die letzte Station einer langen Reise.

Das kann ich Mutter nicht antun, dachte Mira. Sie würde noch einmal mit Franz reden, obwohl sie sich ausgerechnet über dieses Thema nie offen mit ihm oder gar mit Stanko unterhalten konnte. Immer drucksten ihr Cousin und ihr Bruder um eine Antwort herum oder fragten, wenn ihnen nichts anderes einfiel, ob sie denn nie daran gedacht hätte, zurück in den Süden zu ziehen, in die Nähe der betagten Mutter. Als wäre ihr Leben in der Stadt eine Existenz auf Abruf, gewissermaßen eine Leihgabe. In den Augen der Verwandtschaft galt Mira als Stadtmensch. Ein Stadtmensch, sagten sie, womit sie meinten, ein Mensch ohne Zugehörigkeit, der vorgab, etwas Besseres zu sein, und in Wirklichkeit kaum mehr als eine Abtrünnige war.

Nach mehr als drei Jahrzehnten in Wien fühlte sich Mira im Gewühl einer Stadt genauso wohl wie auf einem einsamen Feldweg. Dass sie vom Land kam, verriet nur ihre Angewohnheit, sich selbst als Stadtmensch zu bezeichnen. Kein echter Stadtmensch hatte das Bedürfnis, sich so oft zu verorten, wie Mira glaubte, von Jaundorf abrücken zu müssen.

Hingegen das Dorf ließ nicht von ihr ab. Es klammerte sich regelrecht an sie. Mira hatte zwar gehofft, dass mit der Zeit die Distanz zwischen ihr und dem Dorf größer würde, aber es erwies sich als hartnäckig. Es gab vor, ein Gedächtnis, mehr noch, ein Gewissen zu haben. Es wurde von Miras Mutter Anni verkörpert. Sie war sein lautstarkes Sprachrohr. Das Dorf glaubte sich unentwegt gegen die Städterin behaupten zu müssen. Es begehrte auf gegen die Wichtigtuerei der Weggegangenen. Wir hier, sprach Anni, haben auch was zu sagen, wir sind nicht so sehr auf den Kopf gefallen, wie du glaubst. Wir machen uns auch Gedanken über Gott und die Welt, obwohl wir wissen, dass unser Dorf nicht viel taugt. Was ist denn so schön daran, wegzugehen? Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.

Seit das Dorf in die Jahre gekommen war, glaubte Mira, nachsichtiger mit ihm sein zu müssen. Sie rang sich insgeheim zu einem Kompromiss durch, indem sie sich gestattete, ein etwas geschöntes Bild über die Vorlage zu legen. Dabei gerieten ihr die Hofnamen und Himmelsrichtungen durcheinander, sie sah Gebäude und Ställe, wo in Wahrheit nie welche gestanden hatten. Manche Weiler und Städtchen in der Nachbarschaft versetzte sie in eine andere Gegend. Weit entfernte dagegen beförderte sie in den näheren Umkreis des Dorfes. Zuweilen geschah es, dass ihr Fantasiedorf über seine Ränder rutschte, sich ungehörig aufbauschte oder in sich zusammenfiel. Bevor ihr alles durcheinandergeriet, telefonierte sie mit Anni und fragte sie ausführlich nach den Dörflern aus. Sie versprach, bald wiederzukommen, demnächst, in den Ferien, sehr bald.

In ihren depressiven Phasen erfand Mira ein Stadt-Land-Pendelspiel, bei dem sie sich, sobald es in der Bibliothek zu Konflikten kam, in ihr imaginäres Dorf zurückziehen konnte. Das half ihr, sich gedanklich so weit von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen, dass sie die Streitereien nur am Rande betrafen. Ihr wisst nicht, woher ich komme und welche Erfahrungen ich gemacht habe, redete sie sich ein, als wäre ihr wegen des Aufwachsens in einem Dorf eine tiefere Wahrheit, eine größere Klarsicht zuteilgeworden, was natürlich Unsinn war, aber die Vorstellung, dass es so sein könnte, behagte ihr trotzdem.

Das Dorf beanspruchte seinen Platz. Es bestand darauf, sich zwischen Miras Erinnerungen zu schieben, es wuchs und schrumpfte, es glühte und dunkelte. Es gehörte zu Miras Gesicht und alterte mit ihr. Zuweilen erschien es ihr fern wie ein Himmelskörper und ließ sie doch in den Nächten nicht schlafen.

Mira stemmte sich mit ausgestreckten Armen gegen die Rückenlehne. Der Abschnitt der Südautobahn, über den sie jetzt fuhr, zog sich hin. Wiederholt wurden größere Waldparzellen von kahlen, welligen Äckern unterbrochen, auf denen später Mais oder Raps gedeihen würden. Dem fahlen Sonnenlicht gelang es zwar, die Silhouette der Landschaft hervortreten zu lassen, aber der Feinstaubschleier, der über der Autobahn lag, weichte sie wieder auf.

Zeit, die CD zu wechseln, dachte Mira. Wieder zog sie eine Jazzeinspielung aus dem Seitenfach, die sie lange nicht gehört hatte. Sie mochte die elegischen, getragenen Soulmelodien, die sie entspannten und in eine Stimmung der Melancholie versetzten. Selten geschah es, dass eine Textpassage aus einem Roman oder gar ein Gedicht eine derart intensive Empfindung in ihr auslösten, wie es die Musik vermochte, sodass sie Mira als eigentliche Sprache empfand und mehr liebte als alle Wörter zusammen. Manchmal summte sie die Melodien mit unsicherer Stimme mit oder stimmte in einzelne Liedzeilen ein, auch wenn sie ihr zumindest in Teilen unverständlich blieben.

Nina Simone sang Beautiful Land, als wäre das Leben ein Kinderspiel, herausgeputzt mit Schwermut und Vergänglichkeit. Irgendwann klang die Musik aus. Auf dem kleinen Display zeigte sich eine durchbrochene Linie.

Mira war müde geworden und fuhr zu einer Raststätte, um einen Kaffee zu trinken. Der größere Teil der Strecke lag bereits hinter ihr. Im ausladend dekorierten Restaurant nahm sie in einer schwach ausgeleuchteten Ecke Platz. Die Sprachen der Reisenden vermischten sich mit den Schlagern aus den Lautsprechern zu einem klebrigen Klangfluss. Mira blätterte lustlos in der bebilderten Menükarte und bestellte einen Apfelstrudel zum Kaffee. Nach kurzer Rast brach sie wieder auf.

Sobald sie über den Packsattel fuhr, rückte auch das heimatliche Jaundorf näher. Es schälte sich aus Miras Gedanken und wirkte zunächst noch lieblich und vertraut. Für Augenblicke kam es ihr vor, als könnte man sein Abbild als Souvenir in der Raststätte verkaufen. Aber mit jedem weiteren Kilometer, den sie hinter sich brachte, traten die Ecken und Kanten des Bauerndorfes schärfer zutage. Sie wuchsen in die Höhe oder breiteten sich aus. Sogar die Erinnerungen an die Ausdünstungen der aufgelassenen Jauchengruben und an den Duft der feuchten, etwas modrigen Holzbretter stellten sich ein. Zu ihrer Verblüffung hatte Mira immer noch eine Andeutung von trockenem Stroh und würzigen Heuaromen in der Nase, obwohl längst die Silageballen mit ihren feuchtsauren Ausdünstungen den Heuduft verdrängt hatten.

Im Süden leuchteten die Karawanken. In der Nacht musste es geregnet haben, denn ihre hellen Spitzen trugen einen grauen Rand. Die markante Bergkette präsentierte sich stets in einem anderen Licht, einmal schroff umrissen, dann wieder sanft und in die Breite gezogen, ein Schattenkonglomerat, das aus der Ebene emporwuchs. Die Berge als Synonym für das Beständige sind in Wirklichkeit wandelbar, dachte Mira, als wäre ihnen ein besonderer Mechanismus eigen, der sie von innen formte.

Der Himmel erschien ihr stets um eine Nuance heller, sobald sie, aus Nordosten kommend, die letzten Tunnel hinter sich gelassen hatte. Das Tageslicht war weicher, mit einer weißlichen und hellblauen Farbbeimengung. Vielleicht liegt es an den Reflexionen des hellen Kalkgesteins, dachte sie und glitt mit dem Blick den Horizont entlang. Im Geist memorierte sie die Namen der Gipfel und Kuppen, eine Angewohnheit, von der sie nicht wusste, ob sie sie selbst entwickelt oder von Martin übernommen hatte.

Bei Völkermarkt verließ sie die Autobahn, um über die Drau Richtung Jaundorf zu fahren, einer Ansammlung von bewaldeten Kuppen entgegen, die die Jauntalebene im Süden abschlossen.

Jaundorf hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum vergrößert. Es gehörte fünf Bauern, die ihre Felder und Äcker bewirtschafteten, sowie ein paar Arbeitern und Angestellten, deren Häuser sich zwischen die größeren Anwesen schoben. Wenige Gebäude waren im Lauf der Jahre hinzugekommen, sei es, dass jemand einen Stall erneuert und ausgebaut oder den Holzschuppen aufgestockt hatte, sei es, dass man ein neues Haus für die Jungen errichtet hatte und das alte als Auszugshäuschen für die Eltern oder Großeltern nutzte. Am hässlichsten ragte ein Futtersiloturm in die Höhe, der im Herbst, wenn die Sonne niedrig stand, seinen Schatten über das Dorf warf.

Das Dorf hatte kein Zentrum, obwohl in seiner Mitte eine Linde stand, direkt neben der asphaltierten Straße, die im angemessenen Abstand an den Gebäuden vorbeiführte. In den Erzählungen versammelten sich die Dörfler zu allen möglichen Anlässen unter der Linde, aber Mira konnte sich an keine einzige Zusammenkunft dieser Art erinnern. In den siebziger Jahren, als ihre Familie zugezogen war, waren allenfalls die Alten vor den Häusern gesessen und hatten sich von Zeit zu Zeit etwas zugerufen. Aber auch diese Angewohnheit war in Vergessenheit geraten, seit das Fernsehen den Rhythmus der Abende bestimmte.

Mira fuhr in direkter Linie auf Jaundorf zu, aber die schmale Landstraße bog kurz vor dem Ortsschild noch einmal ab und führte an den Häusern vorbei. Erst am westlichen Ende des Dorfes konnte man die Richtung ändern und in den Ort einfahren. Sie bog in die schmale Hofeinfahrt und brachte das Auto neben dem Aufgang zur Tenne zum Stehen. Im Zwerchfell verspürte sie einen leichten Schmerz. Nach dem Aussteigen lockerte sie ihren verspannten Nacken und ließ die Autotür zufallen. Die Tür des Häuschens, in dem ihre Mutter lebte, war nur angelehnt. Im Flur roch es unbestimmt nach Kraut und Speck.

Anni lag in der Küche auf dem verschlissenen Diwan und schlief. Sie hatte ihren Kopf auf den Arm gebettet und atmete mit offenem Mund. Als ihr Mira die Hand auf die Schulter legte, öffnete sie die Augen.

Dober dan, sagte Mira und lächelte. Anni wirkte etwas desorientiert.

Ich hab dich erst am Abend erwartet.

Ich bin schon da, sem že prišva, sagte Mira.

Die ersten slowenischen Worte kratzten in ihrem Hals. Mira räusperte sich, denn die Stimme, mit der sie sprach, klang ihr selbst einigermaßen fremd. Sobald sie Slowenisch sprach, erwachte in ihrem Kehlkopf ein tieferer Sprechton, der sie stets von neuem überraschte. Sie unterhielt sich mit Anni gewöhnlich im Dialekt, in einer Sprache, die sie im Nu in eine andere Haltung zwang. Der slowenische Dialekt war das Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt betrat, die von Menschen bevölkert wurde, von Lebenden und Toten, die etwas von ihr wollten. Etwas, nach dem sich Mira sehnte, das sie zugleich aber auch ablehnte. Es war ein Sprechen, das Vertrautheit bewirken wollte. Man stimmte ein und stimmte zu, man hinterfragte nicht. Der Dialekt glich einer Tracht, mit der man in einer unüberschaubaren Menge erkennbar blieb und nicht verlorengehen konnte, es war eine Sprache, die vorgab, ein rettendes Ufer zu sein, wo man ankommen und verschnaufen konnte. Miras Kindheit hatte in dieser Sprache stattgefunden, der slowenische Dialekt war ihre Spielzeugkiste gewesen, in der sie alle ihre Wünsche, ihre frühen Ängste und Einsichten verstaut hatte. Überall sonst war sie von dieser Sprache getrennt, sie ruhte, einem Geheimnis gleich, in ihr, sie barg die Geschichte ihrer Vorfahren. Es war eine Sprache der Kindheit, aber auch die Sprache ihrer Verluste, über die sich Mira selbst nicht recht im Klaren war.

Anni fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn und den Mund.

Hast du schon gegessen? Es gibt Endiviensalat und Erdäpfel, magst was?

Ja, gern!

Anni humpelte zur Kredenz. Sie zog das linke Bein nach und stemmte ihre Arme in die Hüften.

Hast du Schmerzen?

Ein wenig, sagte Anni und griff nach einer grellgrünen Plastikschüssel, in der sie den Salat vorbereitet hatte.

Mira schmunzelte, als sie die gebratenen Speckstreifen im Endiviensalat entdeckte.

Das schmeckt gut!

Wie lange bleibst du?

Ich habe Zeit, sagte Mira und wunderte sich über ihre Unbekümmertheit.

In der Nacht schlief sie schlecht. Sie konnte sich an ihr altes Bett nicht gewöhnen. Alles störte sie, die durchgelegene Matratze, die Bettwäsche, die etwas muffig roch, die kalten Wände. So rasch sie sich im heimischen Dialekt einrichten konnte, im Wissen, dass der Sprachumzug nur ein paar Tage dauern würde, so schwer fiel es ihr, sich in ihrem ehemaligen Schlafzimmer zu Hause zu fühlen. Sie hatte irgendwann aufgehört, diesen Raum zu erneuern, und alles beim Alten gelassen. Kein Möbelstück war hinzugekommen, auch wenn sie sich, sobald sie das Zimmer betrat, ärgerte, dass es ihr nicht gelungen war, ein schickes Accessoire oder ein ausreichend breites Bett zu kaufen, so dass Martin stets auf dem Sofa neben dem Schrank schlafen musste.

Sie hatte ihr Jugendzimmer aufgegeben, wie man einen Lebensabschnitt fallen lässt, an den man sich nicht mehr erinnern möchte. Der kaum bewohnte Raum wurde deswegen von Anni als Abstellzimmer genutzt. Eine Schachtel mit einem Multi-Zerkleinerer und zwei Vasen standen auf dem Schreibtisch. Ein verdorrter Kaktus steckte in einem scheußlichen gelben Übertopf. Wieso habe ich ihn nicht gleich entsorgt, überlegte Mira, als hätte der Kaktus Einfluss auf ihre Schlaflosigkeit.

Es gab keine andere Tageszeit, in der sie sich so eingesperrt fühlte wie in der Nacht. Immer wenn sie nicht einschlafen konnte, sah sie sich mit ihren mühsam getarnten Ängsten konfrontiert. Dieser Zustand machte sie nervös und reizbar. In der Stadt konnte sie zur Not aufstehen, sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher setzen, aber hier würde die Trostlosigkeit nur zunehmen, wenn sie begänne, im Zimmer auf und ab zu gehen. Alle Versäumnisse würden ihr ins Auge springen, jeder Fleck an der Wand, der Staub auf dem Bücherregal, der abgenutzte Fichtenholzschrank und seine klemmende Schiebetür. Sie würde die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen spüren, die unterschiedlichen Lebensabschnitte miteinander zu verknüpfen. Vielleicht aber, dachte Mira, hatte ihr altes Zimmer auch sie vergessen und war in eine Art Erstarrung gefallen, die der gegenseitigen Entfremdung nachfolgte.

Sie dachte an Martin, der ihr, bevor sie sich schlafen gelegt hatte, am Telefon berichtete, dass es in der Lehrerkonferenz zum Streit mit einem Kollegen gekommen war, der eskaliert sei. Sie hatte versucht, ihn zu beruhigen, aber Martin war immer noch außer sich. Du mit deinen psychologischen Erklärungen, fuhr er sie an. Das war eine untragbare Aussage, stell dir vor, er verlangte, dass ich aufhören solle, die Euthanasiegeschichte an die große Glocke zu hängen. Er hat das tatsächlich im Konferenzzimmer gesagt, aber die Kollegen nehmen ihn offenbar nicht ernst.

Rede in einer ruhigen Minute mit ihm, schlug Mira vor.

Das mach ich sicher nicht, sagte Martin, und als Mira schwieg, fragte er nach Mutter. Kann sie allein gehen?

Ja, aber sie ist wackelig. Ihren Rollator hat sie im Flur stehen.

Hast du sie von mir gegrüßt?

Aber ja.

Ich muss noch arbeiten, die Tests vorbereiten.

Hab einen schönen Abend, sagte Mira und stutzte. Gerade hatte sie Martins nichtssagende, wenn auch freundliche Verabschiedung von heute Morgen wiederholt.

Sie streifte sich einen Pullover über und trat vor die Haustür. Es war kalt, obwohl die Wiesen zu grünen begannen und die Narzissen unter den Obstbäumen büschelweise blühten.

Eigentlich mochte es Mira, in die dörfliche Nacht hinauszutreten, die wie geschaffen war, ohne Menschen auszukommen. Die Verhältnisse im Dorf waren dann außer Kraft gesetzt, es herrschte eine andere Ordnung, eine Ordnung der Stille und des Einhalts. Man konnte sich getrost dieser Stimmung hingeben und musste nicht ständig darauf gefasst sein, dass sie jemand wichtigtuerisch ruinierte. Mira spürte die Gegenwart des Dorfes, auch wenn sich die Gehöfte nur als Schatten zeigten. Endlich konnten sich die Nachttiere bewegen, endlich ihre Jagdreviere oder das Freie aufsuchen, aber heute raschelte nichts, nichts huschte an Mira vorbei. Es war noch zu früh, um die ersten Vögel zu hören, und es war kalt. Das Dunkel im Dorf drängte Mira ins Haus zurück. Sie überlegte noch, Tee aufzusetzen, aber dann legte sie sich ins Bett und schlief endlich ein.

Als sie aufstand, war Anni schon aus dem Haus gegangen. Die Kaffeemaschine fauchte. Im Kühlschrank lagerten bräunliche Nudeln und welke Karotten. Eine angeschnittene Streichwurst trocknete vor sich hin, neben verpackten Käsescheiben lag eine Zitronenhälfte, die auch nicht mehr frisch wirkte. Mira roch an der Milch und stellte Butter und Marmelade auf den Tisch. Sie ärgerte sich über die Haushaltshilfe, die sich offenbar daran hielt, nur einzukaufen, was Anni ihr auftrug. Ich hätte etwas mitbringen sollen, dachte Mira, denn sie wusste, dass Anni abgelaufene Lebensmittel hortete. Es regte sie stets auf, wenn Mira oder Martin den Kühlschrank inspizierten und frische Esswaren hineinstellten. Darin war Anni unbelehrbar. Wenn das Brot und die Semmeln zu schimmeln anfingen, trug sie sie zum Nachbarn, damit er sie an die Schweine verfütterte.

Mira hörte Schritte hinter dem Haus und sah, wie Anni, auf einen Stock gestützt, um die Ecke hinkte. Ihr Schnaufen hörte sich besorgniserregend an.

Du solltest nicht allein herumgehen, sagte sie, als Anni in die Küche trat.

Warum besorgst du mir nicht eine richtige Pflegerin? Ich wäre einverstanden, dass eine kommt, aber Slowenisch muss sie können, damit ich mich ungezwungen mit ihr unterhalten kann, sagte Anni.

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Mira. Stanko hatte Mutter also nichts gesagt. Offenbar kein Wort, der Feigling. Jetzt blieb alles an ihr hängen.

Anni schaltete das Radio ein, der Regionalsender war eingestellt. Ein deutscher Schlager lärmte los, Mira verzog das Gesicht. Ist es zu laut?, fragte Anni.

Nein, nein, es geht schon. Ich werde mich etwas nützlich machen, sagte Mira.

Nach dem Frühstück öffnete sie die Fenster und wischte den Staub von den Möbeln und Gegenständen in ihrem Zimmer. Der Raum hatte sich mittlerweile etwas erwärmt. Anni vergaß, in den Zimmern, die nicht bewohnt waren, zu heizen. Gewöhnlich dauerte es zwei Tage, bis man es etwas gemütlicher hatte.

Mira räumte ihre Kleider in den Schrank und trug die Vasen in die Küche.

Wieso hast du alle Fenster aufgerissen?, fragte Anni, ich heize ja nicht, um die Wärme wieder hinauszulassen.

Mira schloss die Fenster und stellte die Orchideen, die Anni in der Küche auf den Fensterbänken stehen hatte, wieder an ihren Platz.

Wir müssen über deine Zukunft reden, Mama.

Was gibt es da zu reden? Viel Zeit bleibt mir sowieso nicht mehr.

Franz will mit seiner Familie auf den Hof zurück, begann Mira.

Ah, ja? Anni blickte erstaunt.

Er möchte unser Häuschen abreißen und eine Werkstatt an dieser Stelle bauen.

Das Haus abreißen? Ihr spinnt! Eine Tischler-Werkstatt bauen, im Dorf? Anni konnte es nicht glauben.

Stanko hat es mir erzählt.

Anni kramte in der Küchenkredenz, als würde sie nach etwas Wichtigem suchen.

Stanko hat mir ein Taschentelefon geschenkt. Es ist schon seit Tagen tot. Was soll ich mit diesem Gerät?

Er hat dir ein Handy geschenkt?

Ich soll es immer bei mir tragen, falls ich einmal stürze, damit ich ihn anrufen kann.

Anni legte das Handy und ein Bündel Postkarten auf den Tisch.

Schau, die habe ich aufgehoben. Die Postkarten, die du und Stanko mir aus allen möglichen Ländern geschickt habt. Damals habt ihr noch geschrieben. Jetzt hört man nichts mehr von euch.

Wir müssen miteinander reden, Mama, versuchte es Mira erneut.

Nicht jetzt, sagte Anni.

Die Postkarten lagen wie ein ungehörter Appell auf dem Küchentisch. Sie wurden von einem Gummiband zusammengehalten. An den Rändern waren sie gelbbraun, die dünne Pappe aufgeweicht. Mira löste das Band. Sogar der Gummi war in die Jahre gekommen und brüchig. Sie hatte völlig vergessen, dass sie am Beginn des Studiums noch Postkarten aus Wien geschrieben hatte, und erkannte ihre Schrift auch auf den Karten aus Rom, Venedig, Genua und Lissabon. Die Welt, die sie in der Hand hielt, war eine Welt der Fantasiebilder, der Projektionen, eine Welt aus der Mottenkiste, wie ihr schien, voller künstlicher Paradiese, mit Palmen und Kirchen vor leeren Stränden und architektonischen Sehenswürdigkeiten. Die Städte und Strände waren vergilbt, die Farben, soweit sie erkennbar waren, noch unwirklicher als vormals.

Am liebsten hätte Mira die Karten wieder in die Kredenz zurückgelegt, aber sie zögerte. Auf dem Tisch breitete sich ein merkwürdiger Geruch nach Talg und verwelkenden Blumen aus. Sie wusste nicht, ob die Postkarten diesen Duft verströmten oder ob er aus dem Flur kam, in den alle Ausdünstungen des Hauses mündeten.

Sie trug die Postkarten in ihr Zimmer und legte sie auf das Nachtkästchen. Dann holte sie den Staubsauger und begann, in den Räumen zu saugen. Sie wusste, dass sie Anni damit nervös machte, weil sie befürchtete, dass ihr Mira die Ordnung durcheinanderbringen könnte.

So dreckig habe ich es nicht, wie du tust, sagte Anni. Saj nisem šlampasta.

Mit ruckartigen Bewegungen zerrte Mira den Sauger hinter sich her und rieb in den Zimmern, im Flur und in der Küche mit der Bürste kräftig über den Boden. Den Saugschlauch stieß sie in alle Ecken. Im Flur stand eine schmale Kommode, auf der das alte Telefon mit Wählscheibe stand. Auf dem Rest der Ablagefläche hatte Anni bestickte Deckchen ausgebreitet und eine Vase mit bunten Stoffblumen abgestellt. Mira hatte große Lust, die Deckchen zu entfernen und zu waschen, aber sie hielt sich zurück. Sogar die Küchenkredenz hatte Anni mit Souvenirs geschmückt, die sie von ihren Reisen mit dem Seniorenbund mitgebracht hatte.

Im Dachzimmer, das ehemals Stanko bewohnt hatte, fielen Mira Schimmelflecken an den Wänden auf. Du solltest öfters lüften, rief sie Anni zu, die ihr bis unter die Stiege gefolgt war.

Bring nicht alles durcheinander, sagte Anni, wie soll ich denn meine Sachen wiederfinden.

Zuletzt saugte Mira Annis Schlafzimmer, einen Raum, den man nie grundlos betreten durfte. Er lag an der Ostseite des Hauses, und die Fenster öffneten sich auf eine weitläufige Wiese. Noch immer stand das Doppelbett, das sich Anni in den achtziger Jahren angeschafft hatte, an seinem Platz. Damals rätselten alle, ob Anni nicht doch einen Geliebten hatte, den sie allen verheimlichte, aber Anni behauptete, dass die zweite Betthälfte dazu da sei, die Erinnerung daran wachzuhalten, dass an der Seite eines Menschen immer noch Platz für einen Geist bliebe. Nun hatte sie eine Häkeldecke über das Bett gebreitet, zusammengenäht aus Sechsecken, deren bunte Kontrastfarben den ganzen Raum dominierten.

An die Wand zwischen den Schlafzimmerfenstern hatte Anni einen Tisch geschoben, über den ein Tuch ausgebreitet war. Es war an den Rändern mit Nelkenmotiven bestickt. Auf dem Tisch lagen Jahresalmanache, zusammengefaltete Wochenzeitungen und Bücher, die Anni gelesen hatte oder immer noch las. Sie las, was ihr in die Hände fiel oder was die jährlichen Buchpakete der slowenischen Verlage enthielten. Ganz oben auf einem Bücherstapel lagen ein Bildband über Gambia und zwei dunkle Steine mit ockergelben Kristallen, von denen Mira wusste, dass sie Anni stets an unterschiedlichen Stellen im Raum platzierte. Die Kristalle verbreiteten zuweilen einen mysteriösen Schimmer, der sogar zwischen Annis Devotionalien hervorstach.

Unterstützt du eine Mission in Gambia?, wollte Mira wissen.

Ich spende für Uganda, sagte Anni. Lass die Sachen in Ruhe, rühr nichts an!

Auf Annis Nachtkästchen herrschte ein kunterbuntes Durcheinander. Neben einer kleinen Madonnenstatue aus fluoreszierendem Kunststoff stand ein größeres Bildnis der Gottesmutter aus Fiberglas. In einem Porzellanschüsselchen hatte Anni ein paar aus hellen und dunklen Perlen geknüpfte Rosenkränze gesammelt. Daneben lagen, gefaltet und gestapelt, abgegriffene Gebetsbildchen. Jeder noch so kleine Schlüssel, der in einem Schlüsselloch am Kleiderschrank oder an den Schubläden des Nachtkästchens steckte, war mit einer Quaste aus Wolle versehen. An der Wand zwischen den beiden Fenstern hatte Anni ihr Hochzeitsfoto aufgehängt. Über dem Kopfende des Bettes war das Bildnis der Heiligen Familie angebracht, in einer Reproduktion, die schon das ehemalige Schlafzimmer der Eltern in Bela geschmückt hatte. Das Bild zeigte die Heilige Familie in völliger Eintracht. Das Gotteskind sitzt auf dem Schoß Mariens und füttert ein Lamm mit einem grünen Ölzweig. Daneben steht Josef mit einem Holzbrett in der Hand, das er gerade gehobelt hat, und beobachtet die Idylle, deren Teil er zugleich ist. Das obligate Kreuz mit dem sterbenden Jesus hatte Anni über dem Türstock angebracht.

Mira hatte sich an Annis Zimmergestaltung längst gewöhnt, aber auf Martin hatte das Schlafzimmer, als er es das erste Mal betreten hatte, geradezu grotesk gewirkt. Es sehe aus wie das Spielzimmer eines Mädchens vor der Pubertät, hatte er damals gemeint. Es würde jeden erwachsenen Mann in die Flucht schlagen, und Mira fand, dass er recht hatte. Sie schmunzelte, aber es fiel ihr auch auf, dass Mutters Zimmer in der Zwischenzeit weniger überladen wirkte als ehedem. Die Vorhänge aus festem, ungebleichtem Leinenstoff gefielen ihr sehr, und Mutters Bücherstapel war inzwischen ansehnlich geworden. Mira fuhr nur vorsichtig mit der Staubsaugerbürste darüber und ließ alles andere unberührt.

Wie es aussah, hatte Franz Wind davon bekommen, dass sie sich im Dorf aufhielt, denn er fuhr am frühen Abend mit seinem schwarzen BMW auf den Hof. Er überragte Mira um einen Kopf und genoss es sichtlich, in jedem Raum mehr Platz und Aufmerksamkeit zu beanspruchen als alle anderen. Er trat zuerst ans Haupthaus, das seit dem Tod seiner Eltern leer stand, und maß mit einem Zollstock die Eingangstür ab.

Mira war ihrem Cousin, seit er zu seiner Partnerin nach Völkermarkt gezogen war, nur mehr selten begegnet. Franz hielt zwar das Anwesen instand, aber er hatte offenbar kein Interesse daran, neben seiner Arbeit als Tischler eine Landwirtschaft zu betreiben. Die wenigen Wiesen und Äcker, die zum Hof gehörten, hatte er an die Nachbarn verpachtet. Nun wollte er sich selbstständig machen, das Elternhaus renovieren und das Auszugshäuschen, in dem Mira und Stanko mit ihrer Mutter aufgewachsen waren, abreißen lassen.

Gibt es denn keine andere Möglichkeit?, fragte Mira, nachdem Franz seine Beine unter dem Küchentisch ausgestreckt hatte. Was hast du mit dem Stall vor?

Den Stall werde er zu einem Depot umfunktionieren, und die Tenne eigne sich als Aufbewahrungsort für das Werkholz, sagte Franz. Eine Baugenehmigung für die Werkstatt bekomme er nur, wenn er sie an der Stelle errichte, an der sich das Häuschen befinde. Seit neuestem stünden die Bürgermeister bei Baugenehmigungen auf der Bremse. Es tue ihm sehr leid, aber mit Tante Anni könne es sowieso nicht ewig so weitergehen.

Das Gerümpel auf der Tenne kommt auch weg, Tante, hörst du?

Wann willst du mit dem Abriss beginnen?

Im Herbst. Die Pläne sind eingereicht.

Das geht aber schnell!

Anni stand in der Mitte des Raumes. Weit ist es gekommen, sagte sie mit weinerlicher Stimme. Jetzt wirft mich der Sohn meines Bruders aus dem Haus!

Franz machte eine abwehrende Handbewegung und räusperte sich. Es tue ihm leid, aber was solle er machen. Das Leben müsse weitergehen, und dem Dorf würde es auch guttun, wenn die Menschen wieder zurückkehren. Sie habe ja noch etwas Zeit, sich mit der Situation anzufreunden. Angeblich habe sich Stanko im Altenheim erkundigt, im Winter soll ein Platz frei werden, es sehe nicht schlecht für Anni aus. Worauf Franz es eilig hatte, sich zu verabschieden und die Küche zu verlassen.

Den Auszug werde ich nicht mehr erleben, sagte Anni nach einer Weile. Von mir aus soll mich der Tod holen.

Red nicht so, Mama!

Mira berührte Mutters Hand, die auf dem Tisch lag. Sie erschrak, wie zart sich der Handrücken anfühlte. Ich habe ihn ganz anders in Erinnerung, unnahbar und kalt, dachte sie.

In der Nacht ließ Mira noch lange das Licht brennen. Sie hörte, wie Anni in ihrem Zimmer die Schranktüren öffnete und herumkramte. Das Bett knarrte, wenn sie sich hinsetzte, sein Kopfende stieß gegen die Wand. Mira meinte ein Murmeln zu vernehmen. Erst gegen Mitternacht verstummten die Geräusche aus Mutters Zimmer.

Auf dem Nachtkästchen lagen die abgegriffenen Postkarten, ganz oben im Bündel Karten aus Wien. Damals hatte sie noch Ansichtskarten geschrieben, womöglich weil sie sich wie eine Touristin vorkam und von der Stadt überwältigt gewesen war, die sie vorher noch nie besucht hatte. Beim Überfliegen der Karten fiel Mira auf, dass sie in ihren kurzen Berichten kein Wort über ihre eigenen Verunsicherungen verloren hatte. Ihre knappen Sätze waren nur von der Sorge um Mutter bestimmt, wie es ihr wohl gehe, ob zu Hause alles in Ordnung sei, ob Anni immer noch Schmerzen in den Handgelenken habe.

Eine Ansichtskarte aus Venedig versetzte Mira in Aufregung. Sie wies dunkelgelbe Flecken auf, als hätte man Tee über sie gegossen. Mira starrte auf die Karte. Schlagartig konnte sie sich wieder an den Ort erinnern, an dem sie sie geschrieben hatte, auf dem Boden sitzend, den Rücken an die Wand der Fondazione Vedova gelehnt, während sie auf die Lichter über dem Giudeccakanal blickte. Das Flimmern und Leuchten auf dem von den Booten aufgewühlten Wasser, das Säuseln des Windes, das Aufschlagen der Wellen an den Kanalmauern, die ganze Stadt fächerte sich vor Miras Augen auf. Sie hätte sich noch einmal auf den warmen, staubigen Steinboden setzen und die Beine anwinkeln können. Sie hätte noch einmal mit der Hand die Zigarettenkippen und die vertrockneten Algenreste wegwischen können.

Mira presste die Karte an die Brust. Lange hatte sie nicht mehr daran gedacht, dass eine ihrer ersten Liebschaften ausgerechnet in Venedig zu Bruch gegangen war, in der Jugendherberge auf der Giudecca, wo sie sich geweigert hatte, im Mehrbettzimmer, unter fremden Menschen, mit ihrem Begleiter, an dessen Name sie sich nicht mehr erinnern wollte, zu schlafen. Es war ihr peinlich gewesen. Sie ließ ihn mit steifem Glied im Bett zurück, flüchtete in die Nacht, irrte die Fondamenta San Biagio auf und ab. Sie wusste nicht, wie sie sich ihm erklären sollte.

Er hatte nicht nach ihr gesucht, war einfach im Stockbett liegen geblieben und stellte sich schlafend, als sie zurückkam. Am nächsten Tag benahm er sich so distanziert, als wären sie nicht gemeinsam mit dem Zug nach Venedig gereist.

Mira knipste die Nachttischlampe aus und starrte ins Dunkel. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er war kaum mehr als ein Einnicken aus Übermüdung, das in etwas Überreiztes, Banges mündete. Sie glitt an der harten Oberfläche des Schlafes entlang, ohne dass er sich öffnete und sie aufnahm. Sie lag vor seiner Tür, oder träumte sie nur davon, auf etwas Hartem, Unnachgiebigem zu liegen und nicht eingelassen zu werden? Erst als es langsam hell wurde, schlief sie ein und träumte, dass sie nach Bela gekommen war. An der Stelle, wo sich einstmals der Ort befand, erstreckte sich eine Vorstadt, die an den Ozean grenzte. Die Uferpromenade war betoniert worden und die Häuser kaum wiederzuerkennen. Das Tageslicht erschien angegraut. Sie wusste, dass es gewöhnlich kaum heller würde, dass diese Vorstadt immer zur Dunkelheit neigte. Sogar die Menschen waren in fremdartige Körper geschlüpft und unterhielten sich im Präteritum, es war.

Nach dem Aufwachen war Mira so zerschlagen, als hätte sie nach stundenlangem Schwimmen in einem schweren, dunklen Wasser mit letzter Anstrengung das Ufer erreicht.

Anni saß mit eingefallenem, grauem Gesicht am Küchentisch. Sie hatte sich einen Buchweizensterz zubereitet und goss löffelweise warme Milch darüber. Sie habe die halbe Nacht gebetet, damit sie vor dem Umzug sterbe. Nočem več vandrati, wiederholte sie, als hätte man sie zeit ihres Lebens von einer Wohnung in die andere gehetzt, als wäre sie sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Mira fand das übertrieben und dramatisch, obwohl ihr nicht entging, dass sich hinter Annis Angst ein wirklicher Schmerz verbarg. Mira zögerte, sie konnte sich nicht überwinden, Mutter zu trösten oder zu umarmen, sie rang nach Worten und mit sich.

In ihrer Familie war man mit dem Äußern von Gefühlen nie zurechtgekommen, denn es lag, seit Mira denken konnte, eine Art Schweigegebot über allem, was man gerne, von sich aus, unbeschwert oder geradeheraus, von Herzen, sagen wollte. Die einfachsten Sätze waren mit einem unausgesprochenen Verbot belegt, als könnte man mit Zärtlichkeitsbekundungen alle in Gefahr bringen. Man unterließ es, etwas zu sagen, denn die unterdrückten Empfindungen muteten, sobald sie ausgesprochen wurden, einen selbst fremd und hinterfragbar an, man machte sich allenfalls verwundbar.

Mit den Worten, die man füreinander fand, war man ständig unzufrieden, denn sie offenbarten einen Mangel, an dem die Angehörigen ihrer Familie lange herumkauten. Gelang es einem doch, im richtigen Moment etwas zu sagen oder gar seine Zuneigung auszudrücken, war man stets peinlich berührt. Erst später, im Nachsinnen, ließ man die herzwarmen Worte an sich heran und kostete etwas von der vermeintlich unverdienten Süße, die sich darin verbarg, um sie gleich wieder abzuwehren. Nichts Schlimmeres, als zu verweichlichen.

In Miras Familie vertraute man den spröden Tönen, denn sie waren allen am geläufigsten. Sie hatten die längste Tradition und hielten sich über Generationen, sie waren so gebräuchlich, dass man etwas vermisste, wenn diese Worte einmal ausblieben. Mit dieser Sprache war Mira aufgewachsen, es war ihre eigentliche Muttersprache, ruppig und auf das Notwendigste reduziert, eine Sprache, die Mira geformt hatte, gegen die sie sich anders nicht zur Wehr setzen konnte, als sie von sich fernzuhalten, sich von ihr zu distanzieren.

Ach, Mama, sagte Mira, bevor sie den Raum verließ, so kannst du doch nicht reden, das hilft niemandem, weißt du.

In der Umgebung des Holzschopfs herrschten inzwischen angenehme Temperaturen. Die Sonne hatte seit den Morgenstunden das hölzerne Gebäude erwärmt und würde noch bis Mittag darauf scheinen. Kein Wunder, dass Frieda und Paul an dieser Stelle einen Gemüsegarten angelegt hatten, der jetzt verwildert und unbestellt aussah. Mira stand mit dem Rücken zur Holzwand und blickte auf den Innenhof des Gehöfts, wo schon lange keine Tiere mehr herumstrichen, keine Hühner, keine Kaninchen, weder Katzen noch Gänse. Das ebenerdige, schlanke Stallgebäude wirkte zwar gepflegt, aber unbelebt. Früher hatte der Stall zu jeder Tages- und Nachtzeit Geräusche von sich gegeben, die Nutztiere hatten geraschelt, gegrunzt und gemuht, man glaubte einem Riesenbauch beim Verdauen zuzuhören.

Auf dem Holzgeländer der Auffahrtsbrücke zur Tenne, die aus dicken Lärchenbrettern gezimmert war, hatte jemand eine Wolldecke zum Trocknen ausgebreitet. Mira löste sich von der Mauer und spähte durch das seifige, matte Fenster in den Stall. Sie öffnete die Tür und blickte hinüber zu den ausgetrockneten Standplätzen, wo ehemals zwei Kühe eingestellt waren. Heute war der Stall ein Abstellraum für Werkzeug und fleckige Blechkanister. Es roch nach Stroh und Maschinenöl, nicht mehr nach Dung und Urin. Sogar die kotbespritzten Stallwände hatte man geweißt. Auf den betonierten Fenstersimsen überwinterten Pelargonien in grünen Plastiktrögen.

Das Haus von Paul und Frieda, das wenige Schritte vom Stall entfernt stand, wirkte in sich gekehrt, kühl und verschlossen. Die Erkaltung des Hauses hatte mit Pauls Erkrankung eingesetzt. Frieda hatte ihren Mann bis zu seinem Tod gepflegt. Nachdem er gegangen war, wollte auch sie nicht mehr bleiben. Sie starb ein knappes Jahr nach ihm, an Erschöpfung, wie Mira schien, denn sie hatte sich von der kraftraubenden, monatelangen Krankenpflege nie wieder erholt. Sie hatte davon geträumt, zu verreisen, besonders das Meer hätte sie gerne noch einmal gesehen. Aber der Wunsch war nur ein letztes Aufbäumen vor dem endgültigen Nachgeben.

Als Frieda und Paul noch gelebt hatten, war auf dem Platz zwischen den Gebäuden immer etwas los gewesen. Stets trat jemand aus einer Tür und überquerte den Hof, ein Hinaus und Hinein, ein Hin und Her, die Menschen drängte es ins Freie, stets musste etwas abgestellt, geholt oder weggetragen werden, erinnerte sich Mira. Kleine Missgeschicke wurden inszeniert, seht her, was gerade passiert ist, der Melkeimer ist umgefallen. Seht her, wie ich ausschaue, Onkel Paul tritt mit ausgestreckten Armen aus dem Holzschopf, sein Gesicht übersät mit Ölspritzern, nachdem er versucht hat, die Motorsäge zu reparieren. Das angebrannte Gulasch, das man zum Auskühlen ins Freie stellen musste, die frischgelegten Eier, die einem auf den Boden fielen, weil man der Meinung war, sie mit einer Hand aus dem Nest fischen und in die Küche tragen zu müssen. Waren einmal im Hof keine Menschen zu sehen, scharrten dort die Hühner oder ließen sich vom Hahn bezirzen, der sie mit gespreizten Flügeln umkreiste.