Engel und Tod - Die Berufung der Zwillingsbrüder - M.D. Land - E-Book

Engel und Tod - Die Berufung der Zwillingsbrüder E-Book

M.D. Land

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Beschreibung

Im mittelalterlichen Dorf "Oldfield" haben sich die meisten Bürger von Gott abgewandt, da sie von nicht endenden Unglückswellen heimgesucht werden. Lydia O'Malley, eine Wunderheilerin, hält dennoch an ihrem Glauben fest und möchte diesen an ihre Zwillingssöhne weitergeben. Sarandon treibt sich allerdings lieber auf Friedhöfen herum und Senedin ist ein Unruhestifter, der andauernd in Schwierigkeiten gerät. Doch nachdem Senedin von einer mysteriösen Krankheit befallen wird, wird ihm bewusst, dass Oldfield von unheimlichen Kreaturen heimgesucht wird. Auch Sarandons Leben ändert sich schlagartig, denn Menschen und Tiere sterben, sobald er sie berührt. Außerdem erscheinen ihm plötzlich furchteinflößende Geister. Ist es möglich, dass Oldfield gar nicht so gottlos ist, wie zunächst angenommen? Mit 14 exklusiven, farbigen Illustrationen.

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Table of Contents

Title Page

Impressum

Über das Buch

Der Großvater und seine Enkeltochter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Schlafenszeit für Lilian

Danksagung

 

M. D. Land

 

 

Impressum:

1. Auflage, 2022

© Alle Rechte vorbehalten.

Copyright Text © M.D. Land 2022

 

 

Autoren: M.D. Land

Korrektorat und Lektorat: Karin Taglang

Buchsatz: Jana Walther

Lektorat Klappentext: Stefanie Zainer

Cover Zeichnung: M.D. Land

Coverdesign: M.D. Land

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Stockgrafiken von Rolling Stones; Magnia; Devotion / Shutterstock sowie Tatyana Siydukova / Adobe Stock

Illustrationen: M.D. Land

 

 

Kontakt:

Manuela und Daniela Landertshammer

Laxenburgerstraße 85/1/6

1100 Wien

Email: [email protected]

Facebook: engelundtod

Instagram: https://www.instagram.com/engelundtod/

 

 

Dieses Werk darf nicht ohne schriftliche Genehmigung vervielfältigt und oder verbreitet werden, sei es schriftlich, elektronisch oder bildlich. Alle in diesem Buch vorkommenden Personen sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Ereignissen und Orten ist rein zufällig.

 

 

Über das Buch

 

Im mittelalterlichen Dorf „Oldfield“ haben sich die meisten Bürger von Gott abgewandt, da sie von nicht endenden Unglückswellen heimgesucht werden. Lydia O’Malley, eine Wunderheilerin, hält dennoch an ihrem Glauben fest und möchte diesen an ihre Zwillingssöhne weitergeben. Sarandon treibt sich allerdings lieber auf Friedhöfen herum und Senedin ist ein Unruhestifter, der andauernd in Schwierigkeiten gerät. Doch nachdem Senedin von einer mysteriösen Krankheit befallen wird, wird ihm bewusst, dass Oldfield von unheimlichen Kreaturen heimgesucht wird. Auch Sarandons Leben ändert sich schlagartig, denn Menschen und Tiere sterben, sobald er sie berührt. Außerdem erscheinen ihm plötzlich furchteinflößende Geister. Ist es möglich, dass Oldfield gar nicht so gottlos ist, wie zunächst angenommen?

 

 

Der Großvater und seine Enkeltochter

 

Weinend stand Lilian am geöffneten Dachbodenfenster ihres Großvaters. Hier auf dem Land verbrachte sie ihre Schulferien am liebsten, da sich das Haus am Rande eines großen Waldes befand und Großvater Vincent oft verletzte Tiere bei sich aufnahm, um sie wieder gesund zu pflegen. Wenn man Glück hatte, konnte man früh am Morgen sogar ein paar Rehe beobachten oder zutrauliche Eichhörnchen füttern, die bereits auf der Fensterbank warteten.

Es war eine laue Sommernacht, die Luft roch nach Gräsern und Blumen. In der Ferne zirpten einige Grillen und die Rufe eines Uhus waren zu vernehmen. Eine Brise brachte die Blätter der alten Eiche zum Rauschen. Lilian jedoch hatte nur Augen für Tim, die kleine, tote Amsel. Mit zittrigen Fingern steckte sie sich eine ihrer braunen Locken hinters Ohr und schaute wehmütig auf den Vogel herab. Tim lag in einer Schachtel auf der Fensterbank, die Lilian mit Blumen geschmückt hatte.

Der Vollmond, der gerade durch die Wolken brach, warf milde seinen Schein über das leblose Tier, was den Anblick für Lilian noch unerträglicher machte.

»Lilian! Liliaaan!«, zerriss die heisere Stimme eines alten Mannes die getrübte Atmosphäre. Es war Lilians Großvater, der nach ihr suchte. Wenige Sekunden später wurden auch schon die mottenzerfressenen Vorhänge hinter dem Rücken des Mädchens auseinandergezogen.

»Finde ich dich endlich!«, keuchte Vincent und strich sich ein paar graue Haare aus dem Gesicht, dabei fiel sein Blick auf die Schachtel neben seiner Enkelin. »Du bist sehr traurig wegen Tim, nicht wahr?«, fragte er und machte einen Schritt auf sie zu. »Warum hast du ihn denn auf den Dachboden gebracht?«

Den Blick wehmütig auf den kleinen Vogel gerichtet, erwiderte Lilian trotzig: »Ich wollte so nah wie möglich bei Gott sein, damit er hört, wie wütend ich auf ihn bin, weil er Tim hat sterben lassen! Tagelang habe ich für seine Besserung gebetet, aber er ist trotzdem gestorben! Du sagst immer, Beten ist wichtig, aber wofür, wenn es nichts bringt?«

Verständnisvoll nickend richtete der Großvater seinen Blick gen Nachthimmel. Im selben Moment durchzog ein kräftiger Windstoß den Raum, der die Vorhänge und die Flämmchen der bunten Kerzen auf der Fensterbank zum Tanzen brachte. Vincent legte seine faltige Hand auf Lilians Schulter, dann sprach er mit ruhiger Stimme: »Als wir Tim vor dem Haus fanden, war er abgemagert und sein linkes Bein gebrochen. Ich habe dir gesagt, dass seine Chancen, zu überleben, sehr gering sein werden.«

Schluchzend zog Lilian durch die Nase auf. »Aber er war doch noch ein Küken und muss furchtbare Angst gehabt haben, als er starb! Ich hoffte, Gott würde ihn retten, wenn ich genug bete!«, stammelte sie.

»Gott wusste, dass Tims Verletzung zu schwer war. Um ihm weiteres Leid zu ersparen, sandte er den Tod aus, um ihn in den Himmel zu bringen!«, erklärte der weise Mann, während er Lilian ein Stofftaschentuch reichte. »Mit der Zeit wirst du erkennen, dass alles im Leben aus einem bestimmten Grund geschieht. Es kann manchmal jahrelang dauern, bis dir der Sinn klar wird.«

»Mag sein, aber das tröstet mich im Moment auch nicht …«, seufzte Lilian und warf nochmal einen wütenden Blick zum Himmel. »Ich mag einen solchen Gott nicht, und Angst vor dem Tod hab ich auch!«

Großvater Vincent schloss die müden Augen. »Ich möchte dir gerne eine Geschichte über den Glauben an Gott und die Angst vor dem Tod erzählen! Sie hatte auf die Menschen, die sie gehört haben, unterschiedliche Einflüsse. Viele fanden ihren Glauben wieder, anderen wurden die Augen geöffnet und sie erkannten die wahren Werte des Lebens. Es gab sogar solche, die danach die Angst vor dem Tod verloren haben«, verkündete Vincent mit einem Augenzwinkern. Lilian warf ihrem Großvater einen skeptischen Blick zu, doch dieser ließ sich nicht beirren. Er nickte nur selbstsicher und steckte sich eine Pfeife an.

»Das glaube ich nicht!«, sagte Lilian.

»Du wirst es erleben …«, flüsterte Vincent und sog kräftig an seiner Pfeife. »Noch heute kann man das Weinen der törichten Dorfleute im Heulen des Windes hören … O’Malley, O’Malley Blue.«

Er begann zu erzählen.

 

 

 

Kapitel 1

Das Dorf, das im Elend versank

 

Vor vielen Jahrhunderten, in einer kühlen Märznacht, strahlte der Mond auf ein mittelalterliches Dorf herab, das Oldfield genannt wurde. Dieser Ort wurde von den Nachbardörfern streng gemieden. Man nannte es auch das gottloseDorf. Je näher man Oldfield kam, desto zahlreicher wurden die Warnschilder an den verrotteten Bäumen, die Fremde zur Umkehr bewegen sollten.

»Ich würde mich von dort fernhalten! In Oldfield geht es nicht mit rechten Dingen zu!«, wurden Durchreisende hinter vorgehaltener Hand gewarnt, und das aus gutem Grund. Der Ort war vom Pech verfolgt, als ob ein Fluch darauf läge. Mysteriöse Stürme machten den Bauern die Ernte zunichte oder schwere Krankheiten befielen das Vieh. Die heftigen Blitze brannten Häuser und ganze Felder nieder.

Diese Vorfälle schienen mit jedem Jahr schlimmer zu werden und die Bürger entwickelten allmählich eine große Ablehnung gegen Gott, den sie für das Geschehen verantwortlich machten. Die Dorfkirche wurde geschlossen, viele verbannten Kruzifixe, Gebetsbücher, Rosenkränze und Heiligenfiguren aus ihren Häusern. Mit der Zeit begann auch der angrenzende Wald ein gespenstisches Eigenleben zu entwickeln, als ob er versuchen würde, das ganze Dorf zu verschlingen. Häuser versanken nacheinander im Erdreich oder wurden von den wild wuchernden Wurzeln der Bäume stark beschädigt. Es schien fast so, als sollte Oldfield dem Erdboden gleichgemacht werden.

Inmitten dieser elenden Zustände saß ein Minnesänger, mit dem Rücken an eine schräg in die Erde gesunkene Hütte gelehnt, und zupfte eine traurige Melodie auf seiner Harfe. Er ahnte nicht, dass sich hinter den Wänden dieser Hütte gleichzeitig etwas Seltenes ereignete.

 

Lydia O’Malley, eine junge, wunderschöne Frau, hatte soeben ein Zwillingspaar auf die Welt gebracht. Ihre Schwiegermutter Meredith, eine füllige Dame mit roten Apfelbäckchen und grauem, hochgestecktem Haar, legte der stolzen Mutter gerade behutsam das zweitgeborene Söhnchen in die Arme, während diese überglücklich über die winzige Nase ihres erstgeborenen Jungen strich und Gott von ganzem Herzen dankte. Lydia und ihre Schwiegermutter zählten zu den wenigen Bewohnern im Dorf, die trotz allem weiterhin an Gott glaubten – nicht zuletzt deshalb, weil die junge Frau mit der Gabe des Wunderheilens gesegnet war. Sie konnte kranke oder verletzte Menschen von ihren Leiden befreien, indem sie ihnen die Hände auflegte.

Um ihre Familie zu schützen, ging sie dieser Tätigkeit allerdings nur heimlich nach. Lydia verlangte aus Nächstenliebe nichts für ihre Arbeit, die Tatsache, dass so mancher Augenzeuge nach einer Heilung seinen Glauben wiederfand, war ihr Lohn genug. Ihren Lebensunterhalt verdienten die Frauen auf dem Markt, während Ingrim O’Malley, Lydias launischer Schwiegervater, es vorzog, sich den ganzen Tag in diversen Tavernen herumzutreiben.

»Dem Himmel sei Dank – alles ist ohne Komplikationen verlaufen!«, jubelte Meredith und strich ihrer erschöpften Schwiegertochter eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich kann es gar nicht glauben«, keuchte Lydia in heller Aufregung, erschöpft und überglücklich zugleich.

»War meine Mutter nicht der Überzeugung, dass ich eine wunderhübsche kleine Tochter bekommen würde?«

Kopfschüttelnd öffnete Meredith einen der beiden hölzernen Fensterläden. »Ja, ja … Und genauso war Osila sicher, dass wir heute und morgen wundervolles Wetter haben würden«, seufzte sie und musterte die Gewitterwolken am Nachthimmel.

Lydia nickte, dann wurde ihr Blick traurig. »Schade, dass Gabriel dieses besondere Ereignis nicht mehr erleben durfte«, sagte sie wehmütig und Tränen stiegen in ihre braunen Augen.

Gabriel O’Malley, der Vater der Zwillinge, war wenige Monate vor der Geburt seiner Kinder ums Leben gekommen. Wie so oft hatte es ihn ins Gebirge gezogen, um Greifvögel zu beobachten. Dort war er allerdings von einem Unwetter überrascht und beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, von den Habergeißen in den Tod gestürzt worden. Familie O’Malley vermutete dies zumindest. Gabriels Körper wurde nie gefunden.

Habergeißen waren riesige Vögel mit drei Beinen, Ziegenhörnern und schwarz schillerndem Gefieder. Sie galten als unverwundbar und hatten einen langen, sichelförmigen Schnabel. Die Dorfleute erzählten sich allerlei Schauergeschichten über sie, zum Beispiel, dass sie nachts hoch oben in den Baumwipfeln schaukeln und vom Tod singen würden.

»Ich bin mir ganz sicher, dass Gabriel in diesem Moment bei uns ist«, sagte Meredith und legte Lydia dabei tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ein Teil von ihm wird für immer in den Kindern weiterleben.«

Lydia schenkte der älteren Frau ein dankbares Lächeln.

»Und? Hast du dir denn schon hübsche Namen für deine beiden Söhne einfallen lassen?«, kicherte Meredith. Lydia musterte erst das eine und dann das andere Baby eingehend. Ihr fiel auf, dass ihr erstgeborener Sohn ein blauschwarzes Haarschöpfchen hatte, während das seines Bruders hellbraun war.

»Vielleicht Senedin und Sarandon?«, schlug sie nach ein paar Sekunden Bedenkzeit vor.

»Die Namen gefallen mir! Sie sind ähnlich und doch verschieden, genau wie die Kinder! Aber – wer wird nun wie heißen?«, wollte Meredith neugierig wissen, als sie am Bettrand ihrer Schwiegertochter Platz nahm und dieser ein paar Schweißtropfen von der Stirn wischte.

»Der Erstgeborene wird Sarandon heißen, der Zweitgeborene Senedin«, verkündete Lydia feierlich.

»Ist dir aufgefallen, dass es hier im Raum nach Rosen riecht?« Meredith blickte sich in der von Kerzenlicht erfüllten Stube suchend um.

»Du hast recht«, entgegnete Lydia. »Dieser Duft geht von den Kindern aus. Senedin riecht nach Rosen und Sarandon nach Weihrauch.«

»Das ist wahr«, stellte Meredith verzückt fest. »Die ganze Stube ist erfüllt von einem Geruch der Heiligkeit.«

Sie strich ihren Enkelkindern behutsam über die zarten, rosigen Wangen und sprach: »Herzlich willkommen in Oldfield, Sarandon und Senedin. Auf dass Gott euch immer zur Seite stehen möge.«

 

Dreizehn Jahre später

 

Die Sonne ging langsam auf und färbte den Himmel rot, als eine prächtige schwarze Kutsche den Wegweiser mit der Aufschrift Oldfield streifte. Das Ortsschild mit dem kaum lesbaren Schriftzug brach augenblicklich in sich zusammen.

»Was war das?«, murmelte eine ängstliche Mädchenstimme, die gedämpft klang. Sie gehörte Anjuly, die gemeinsam mit ihrer Großmutter und Pater Antonius – ihrem langjährigen Freund und Wegbegleiter seit ihrer Geburt vor fünfzehn Jahren – in der Kutsche saß. Das Mädchen hatte das Gesicht gegen den Oberarm seiner Großmutter gepresst und krallte sich daran fest. Anjuly trug ein kostbares Kleid aus blaugrauer Seide. Ihr schneeweißes, knöchellanges Haar war zu zwei Zöpfen gebunden und wurde von pink-blau gestreiften Schleifen zusammengehalten. Eine weitere Schleife zierte ihren Hals. »Warum antwortet keiner?«, nuschelte Anjuly erneut. Ihre Großmutter rollte mit den Augen und strich ihr dunkles Samtkleid glatt. »Nun, ich vermute, irgendein wildes Tier versucht, in die Kutsche zu klettern. Womöglich wird es uns jeden Augenblick in Stücke reißen!«

»Waaas!?«, brüllte Anjuly entsetzt und versuchte sich hinter ihrer Großmutter zu verkriechen.

»Sehen Sie, Pater Antonius, genau deshalb wollte ich das Kind für eine Weile nach Oldfield mitnehmen. So kann es wirklich nicht mehr weitergehen. Anjuly hat ja Angst vor ihrem eigenen Schatten«, erklärte die Großmutter und schüttelte dabei den Kopf. Pater Antonius nickte beipflichtend und gab sich große Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Er besaß freundliche Augen, dichtes, grau meliertes Haar und einen Schnauzbart.

»Wir werden sterben, ihr werdet sehen!«, jammerte Anjuly verzweifelt. »Bestimmt kommt jeden Moment ein scheußlicher Vogel durchs Fenster geflattert und pickt uns nacheinander die Augen aus! Warum bin ich nur mitgefahren?«

»Lass meinen Arm wieder los, Anjuly, wir haben nur Spaß gemacht.« Die Großmutter machte ein ratloses Gesicht.

»Nur, wenn wir auf der Stelle umkehren!«, sagte Anjuly stur. Pater Antonius ergriff das Wort: »Ich würde mir nicht so viele Sorgen machen, Liebes! Immerhin ist diese Reise eine ganz abenteuerliche Erfahrung.« Er senkte den Blick auf die kleine schwarze Katze, die eingerollt auf seinem Schoß döste. »Sollte wirklich ein wilder Vogel hier reinflattern, würde Rip ihn sicherlich in die Flucht schlagen!«

Es vergingen einige Minuten, bis Anjuly sich endlich dazu überwinden konnte, langsam aus ihrem Versteck zu kommen. Sie blickte missmutig zu Pater Antonius und zog durch die Nase auf. Ihre Großmutter legte eine Hand an die Brust und atmete theatralisch auf. »Gott sei Dank! Ich hatte schon fast vergessen, wie du aussiehst.«

»Was doch jammerschade wäre, bei diesem bezaubernden Gesicht«, entgegnete Pater Antonius. Er beugte sich vor und strich Anjuly über die linke Wange, die ein nobles, herzförmiges Muttermal zierte. Auf den ersten Blick sah Anjuly mit ihren großen, traurigen Augen aus wie eine lebensgroße Puppe. Ihre vollen Lippen waren so perfekt geformt, als wären sie aufgemalt worden. Anjuly lächelte geschmeichelt, dann blickte sie beschämt an ihrer Großmutter hoch und ließ deren Arm los.

»Vielen Dank, Schatz, meine Finger waren schon ganz taub«, sagte die Frau, als sie ihrer Enkelin verschmitzt zuzwinkerte und danach ihr kostbares Perlencollier zurechtrückte. Anjuly nestelte an einem ihrer Spitzenhandschuhe herum, dann beobachtete sie, wie Pater Antonius das selig schlummernde Kätzchen kraulte. Da sie bislang von der äußerst holprigen Fahrt nicht viel mitbekommen hatte, nahm Anjuly allen Mut zusammen und riskierte einen kurzen Blick aus dem Fenster. Nach vier gescheiterten Anläufen konnte sie sich endlich überwinden, dabei auch die Augen zu öffnen. Was sie dann sah, verschlug ihr die Sprache. Die Kutsche kam gerade aus dem düsteren, von unzähligen Dornenranken überwucherten Waldstück heraus und fuhr eine schmale Schlucht entlang, die geradewegs zu einer wackeligen Hängebrücke führte. Doch das war im Moment eher nebensächlich, denn Anjuly konnte sich nicht erinnern, jemals so einen Himmel gesehen zu haben. Die Wolken waren pechschwarz und zirkulierten bedrohlich, so, als ob sich ein schlimmer Sturm zusammenbrauen würde. Der Horizont glühte feurig und in allen Richtungen leuchteten immer wieder Blitze auf. Der Himmel schien zu brennen. Anjuly griff instinktiv an ihren Hals und zog einen golden gefassten Anhänger aus dem Kragen ihres Kleides. Er war von runder Form und zeigte das Abbild der betenden Jungfrau Maria. Immer wieder änderte das Bild seine Farbe, erst von violett auf grün, dann von rot auf blau. Anjuly umklammerte den Anhänger so fest sie konnte, dann entdeckte sie zu ihrer Linken inmitten der Nadelbäume einen Kirchturm, dessen Fenster das Sonnenlicht reflektierten.

Die Kutsche hielt abrupt und die Pferde wieherten. Anjuly riss die Augen auf, während Pater Antonius eine beschwichtigende Geste mit den Händen machte.

»Thomas, warum halten wir?!«, rief Anjulys Großmutter dem Kutscher zu, nachdem sie die Wagentür einen Spalt geöffnet hatte.

»Es tut mir leid, Mrs. Colette, aber die Pferde scheuen, sie wollen die Brücke nicht betreten«, rief der junge Mann zurück.

»Wir wollen doch nicht allen Ernstes mit der Kutsche über eine Hängebrücke fahren?!«, sagte Anjuly entrüstet und blickte Hilfe suchend an ihrer Großmutter hoch, die sie diesmal zu ignorieren schien.

»Sie wird uns nie und nimmer tragen können«, stammelte das Mädchen aufgelöst und hielt sich die Augen zu. Pater Antonius kaute nervös an seiner Unterlippe, dann wagte auch er einen kurzen Blick aus dem Fenster. Sein überrascht klingender Aufschrei machte es für Anjuly nicht besser.

»Soweit ich weiß, ist es der einzige Weg, über den man das Dorf erreichen kann. Wir können von Glück reden, dass die Holzplanken dicht aneinander liegen. So können die Pferde nicht mit den Beinen stecken bleiben. Eine solche Brücke habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte der Pater.

»Das ist glatter Selbstmord«, protestierte Anjuly.

»Wie wäre es mit etwas mehr Zuversicht? Wir werden schon heil rüberkommen«, entgegnete Mrs. Colette gelassen und brachte nebenbei ihr Haar wieder etwas in Form. Anjulys Miene fror ein und sie lehnte sich resignierend zurück. Sie schloss die Augen, seufzte wehmütig und faltete anschließend die Hände:

»Oh lieber Gott, jetzt, wo der Tod unumgänglich ist, habe ich nur noch eine Bitte: Lass uns ein schnelles Ende finden!«

»Amen«, fügte Pater Antonius überspielt fröhlich hinzu, dann beugte er sich nochmal aus dem Fenster: »Wie sieht’s aus, Thomas, können wir weiterfahren?«

Der Kutscher brauchte zwei Anläufe, um das verängstigte Pferdegespann wieder anzutreiben, dann setzte sich die Kutsche mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Anjuly gab einen derart schrillen Aufschrei von sich, dass Kätzchen Rip entsetzt hochfuhr. Ein ohrenbetäubendes Donnern ertönte. Anjuly hielt sich zitternd die Ohren zu. Sie beobachtete, wie die ersten Regentropfen gegen ihre Fensterscheibe prasselten. »Das fehlte grade noch«, flüsterte sie verzweifelt. Der Regen ging bald in einen heftigen Wolkenbruch über, der die mit Unkraut und Zweigen übersäten Brückenplanken noch glitschiger machte. Die Brücke geriet durch den Sturm immer mehr ins Wanken und Anjuly hob es den Magen. Das Gespann kam nur im Schneckentempo voran, immer wieder wurden sie gezwungen, anzuhalten. Eine Planke brach komplett ein, eines der Pferde blieb mit dem Huf stecken und geriet in Panik. Der Kutscher beschloss, abzusteigen und die Pferde zu Fuß weiterzuführen. Kaum hatte er das aufgelöste Tier befreit und es am Halfter gepackt, wurde er von einem Habicht attackiert. Thomas verlor das Gleichgewicht, schaffte es aber noch rechtzeitig, sich an einem der verrotteten Seile festzuhalten. Er schluckte und sah aus, als müsste er sich gleich übergeben, als er den tosenden Fluss in der Tiefe erblickte. Dieser hatte soeben eine Baumkrone mit sich gerissen. Der junge Mann pausierte kurz, dann hob er entschlossen einen Fuß nach dem anderen, schleppte sich gegen die Windböen zurück zu den Pferden und führte sie einige Meter weiter. Als die Kutsche die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, geriet die Brücke so stark ins Wanken, dass das Gefährt zu kippen drohte. Einige bange Sekunden lang passierte überhaupt nichts und Anjuly hatte den Eindruck, dass sie jeden Moment in die Tiefe stürzen würden. Glücklicherweise ließ der Wind nach, das Gefährt fand sein Gleichgewicht wieder und konnte langsam weiterfahren. Kutscher Thomas musste zuvor Äste, altes Gestrüpp und sonstiges Gerümpel aus dem Weg räumen; es war unschwer zu erkennen, dass diese Brücke nur sehr selten benutzt wurde.

»Kein Wunder, dass keiner nach Oldfield will, hier ist ja der Teufel los«, fluchte er, während er angewidert einige Steinklumpen von der Brücke kickte. Plötzlich riss eines der Seile und die Kutsche wurde kräftig durchgeschüttelt.

»Hilfe! Wir stürzen ab!«, brüllte Anjuly.

Pater Antonius reichte der Großmutter die Katze, um das Mädchen in den Arm zu nehmen.

»Nein, das werden wir nicht! Beruhige dich, ich verspreche dir, wir kommen heil auf der anderen Seite an«, sagte er mit ernster Stimme. Er drückte das zitternde Mädchen nochmal fest an sich.

»Ich werde mal nachsehen, ob ich Thomas etwas zur Hand gehen kann!«, rief er, wobei es ihm bei dem Sturm sichtlich schwerfiel, die Tür der Kutsche zu öffnen.

»Nein, bitte, gehen Sie nicht weg!«, rief ihm Anjuly hinterher. Die alte Mrs. Colette nahm ihr Schultertuch ab und wickelte ihre Enkelin darin ein. »Es wird alles gut werden, du wirst sehen, Kind. Wir müssen einfach versuchen, Ruhe zu bewahren.«

 

Als Pater Antonius es endlich geschafft hatte, sich nach vorne zu den Pferden zu schleppen, gelang es ihm nur noch mit Mühe und Not, die sich aufbäumenden Tiere zu beruhigen. Von Thomas fehlte jede Spur. Nachdem Pater Antonius einige Male nach Thomas gerufen hatte, hörte er zu seiner Rechten plötzlich ein schwaches Wimmern. Er senkte den Blick und entdeckte Thomas, der sich mit aller Kraft am Brückenrand festgeklammert hatte und jeden Moment in die Tiefe zu stürzen drohte. Pater Antonius bückte sich, um ihn so schnell wie möglich hinaufzuziehen. Er reichte ihm die Hand, doch kaum hatte Thomas seine Hand gegriffen, rutschten seine Finger wieder ab und Thomas hing einen Moment lang nur noch mit einer Hand an der Brücke. Als er sich wieder gefangen hatte, griff ihm Pater Antonius mit beiden Händen unter die Schultern und zog aus Leibeskräften, bis Thomas schließlich ächzend die Beine hochschwingen konnte. Die beiden Männer saßen einige Sekunden keuchend da und der Regen prasselte ihnen auf die Köpfe und Schultern.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Vielen Dank, Pater«, stammelte der jüngere und rieb sich fröstelnd die Hände. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, ich hatte plötzlich das Gefühl, mich hätte jemand von der Brücke gestoßen«, erklärte er atemlos und blickte schaudernd nochmal hinab in die tosenden Fluten. Pater Antonius klopfte ihm auf die Schulter und lächelte erleichtert. »Die Hauptsache ist, dass Sie heil davongekommen sind. Jetzt lassen Sie uns endlich hier verschwinden!« Der Pater half dem geschwächten Kutscher auf die Beine. Die beiden einigten sich darauf, dass Thomas sich wieder auf den Kutschbock setzen sollte, während Pater Antonius versuchte, die Tiere zu Fuß weiterzuführen.

Endlich hatten sie die Brücke überquert. Die Pferde hatten wieder festen Boden unter den Hufen, als die schlammige Erde unter den beiden Hinterrädern mit einem Krachen wegbrach. Es gab einen heftigen Ruck und für einige Sekunden sah es aus, als würde der Erdrutsch die Kutsche mit in die Tiefe reißen. Pater Antonius zog mit aller Kraft am Halfter, indessen versuchte Thomas panisch, die Tiere mit den Zügeln anzutreiben.

»Herr, ich weiß, du hast deine eigenen Regeln, aber bitte tu mir den einen Gefallen und hilf uns hier raus. Ansonsten hätte Anjuly nämlich recht gehabt und das möchte ich mir ersparen«, zischte Pater Antonius mit zusammengebissenen Zähnen und blickte für einen Bruchteil einer Sekunde zum stürmenden Horizont. Thomas sprang vom Kutschbock und stellte sich auf die andere Seite, sodass jeder einem Pferd beim Ziehen helfen konnte. Es gelang den beiden Männern nur Zentimeter für Zentimeter, die Kutsche wieder über den Abhang zu ziehen und am Ende hatte es ihnen alle Kraft abverlangt, aber nun konnte die Fahrt endlich fortgesetzt werden. Auch das Unwetter schien langsam nachzulassen und einige Sonnenstrahlen tauchten die Baumwipfel in leuchtendes Orange. Pater Antonius blickte erleichtert zum Himmel und machte ein dankbares Kreuzzeichen, dann stieg er völlig zerzaust und durchnässt wieder in die Kutsche.

»Ich will es gar nicht wissen«, sagte Mrs. Colette sofort, als er ihr gegenüber Platz nahm, während sie ihre schluchzende Enkelin noch immer fest im Arm hielt.

»Ein bezaubernder Ort, dieses Oldfield, muss ich sagen«, gab Pater Antonius kurz angebunden zurück und streichelte dabei Kätzchen Rip, die sich verstört in der Sitzbank festgekrallt hatte, über das gesträubte Fell.

»Ich will nur noch nach Hause, bitte, lass uns endlich umkehren, Großmutter«, murmelte Anjuly durch die Hände, mit denen sie ihr Gesicht verdeckt hielt. Pater Antonius blickte nachdenklich aus dem Fenster und entdeckte, überwuchert von dichten Dornenranken, die ersten Häuser. »Aber Kind, doch nicht jetzt, wo es anfängt, spannend zu werden! Sieh mal, auf dem Hof grast sogar ein Esel!«, versuchte er das Mädchen zu ermuntern und zückte ein Taschentuch.

»Ein Wunder, dass der noch lebt«, mischte sich Mrs. Colette unvermittelt ein, woraufhin Anjuly lachen musste und die Hände vom Gesicht nahm, um sie auf dem Schoß zu falten.

»Wie wir sehen, hat Oldfield auch die eine oder andere positive Überraschung parat«, sagte Pater Antonius heiter und warf gleichzeitig mit Anjuly einen irritierten Blick aus dem Fenster, als plötzlich der schiefe Gesang eines Spielmannes im Vorbeifahren erklang.

Er beugte sich nach vorne, um dem Mädchen eine blutige Träne von der Wange zu wischen, dann steckte er das Taschentuch, das bereits etliche getrocknete Blutflecken aufwies, schnell wieder ein. Die Kutsche bog rechts ein und fuhr geradewegs auf die verriegelte Dorfkirche zu, hinter der sie langsam verschwand.

 

Ein paar Stunden später auf dem Oldfielder Markt

 

Eilenden Schrittes versuchte sich ein dreizehnjähriger Junge den Weg durch eine trübselige Menschenmenge auf dem Marktplatz zu bahnen. Dabei rempelte er etliche Passanten an und kassierte die wüstesten Verwünschungen. Doch der Junge hatte andere Sorgen, denn offensichtlich hatte Marty – einer seiner besten Freunde – wieder einmal vergessen, dass sie eigentlich Geld verdienen sollten. Es war ein trüber Vormittag und der Himmel wie so oft von grauen Wolken übersät. Zufällig hörte der Junge im Vorbeigehen, dass zwei Bauern weitere Brände durch Blitze befürchteten, was er ihnen kaum verdenken konnte, immerhin waren diese und ähnliche Vorfälle hier in Oldfield an der Tagesordnung. Das trug wohl dazu bei, dass die Menschen hier stets betrübte Gesichter machten. Es dauerte nicht lange, da fielen auch schon die ersten kühlen Regentropfen.

»Sie stehen mir im Weg!«, sagte der Junge laut, nachdem zwei Frauen vor ihm angeregt zu schnattern begonnen hatten. Sie taten so, als hätten sie nichts gehört, und zeigten ihm die kalte Schulter.

»Ich muss hier durch!«, rief der Junge mit dem zerschlissenen Federhut und der notdürftig zusammengeflickten, weinroten Jacke. Wieder wurde er keines Blickes gewürdigt und so drängte er sich einfach durch die beiden hindurch.

»Was soll denn das?!«, rief die magere Frau, die einen Eierkorb trug. Ihre in die Jahre gekommene Gefährtin schüttelte verständnislos den Kopf.

»Wer nicht hören will, muss fühlen!«, rief der Junge frech über die Schulter zurück und rannte weiter. Zurück blieben die beiden aufgebrachten Schnepfen.

»Sag mal, war das nicht einer von den O’Malley Zwillingen?«, fragte die jüngere Frau mit der spitzen Nase ihre Begleiterin, die heftig nickte und noch immer vor Schreck eine Hand an ihre Brust drückte.

»Der Unruhestifter oder der Krüppel?«, hakte sie besorgt nach und überprüfte ihren Korb mit den Eiern, um sicherzugehen, dass keine fehlten.

»Das kann ich dir auch nicht sagen, ich kann die beiden kaum auseinanderhalten«, entgegnete die ältere seufzend.

»Das gibt es doch nicht! Es fehlen tatsächlich vier Eier!«, rief die jüngere und ließ ihren Blick auf der Suche nach dem diebischen Jungen über die wuselnden Passanten schweifen, doch der schien bereits über alle Berge zu sein.

»Ah!«, schrie die ältere Frau auf und zog dabei die zittrige, faltige Hand aus der Rocktasche. Eiklar hing in langen Fäden von ihren Fingern und sie blickte ihre Begleiterin fassungslos an. »Die muss mir dieser Bengel in die Taschen gestopft haben!«, versuchte sich die Frau zu verteidigen. Der jüngeren entgleisten wortlos die Gesichtszüge.

 

In der Zwischenzeit hatte der Junge den restlichen Weg im Lauftempo zurückgelegt und lehnte sich keuchend gegen eine morsche Eiche, um kurz zu verschnaufen. Es nieselte und er wischte sich flüchtig mit dem Handrücken über die Stirn. Ein paar Meter weiter befand sich ein kleiner Hof und er war erleichtert, sein Ziel endlich erreicht zu haben. Immerhin warteten die anderen auf ihn! Die »anderen«, das waren sein Zwillingsbruder Sarandon und ihr gemeinsamer Freund Adan. Wendig wie ein Eichhörnchen kletterte er den Baum vor dem alten Bauernhaus hinauf und klopfte anschließend dreimal an die geschlossenen, hölzernen Fensterläden. Dahinter verbarg sich Martys Schlafkammer. Es vergingen ein paar Minuten, also klopfte der Junge erneut und endlich vernahm er ein säuerlich klingendes Gemurmel hinter dem Fensterladen. Es war Dimitrina, Martys zehnjährige Schwester. Das Fenster wurde von dem gähnenden Mädchen unter lautem Quietschen aufgeschwungen.

Noch bevor sie zu einer Begrüßung ansetzen konnte, war der Junge – nach einem mehr als waghalsigen Sprung – auf der Fensterbank gelandet und zu ihr in die Kammer geklettert.

»Nicht schlecht, aber wenn du so weitermachst, brichst du dir irgendwann noch alle Knochen, Senedin«, sagte Dimitrina.

»Wo ist Marty? Wir warten seit fast einer Stunde auf ihn!«, erkundigte sich Senedin völlig außer Atem, dabei war er nach vorne gebeugt und hatte schnaufend beide Hände an die Knie gelegt.

Das Mädchen mit dem honigblonden Pferdeschwanz und den großen, grünbraunen Augen legte überrascht eine Hand an die Lippen.

»Vielleicht hat er es wiedermal vergessen. Er ist mit den Gänsen unten am Teich«, erklärte sie fast ein wenig beschämt. »Er wollte den Küken das Schwimmen beibringen …«

Senedins Miene verfinsterte sich schlagartig. »Ach Dimitrina«, seufzte er und ließ sich dabei auf den Boden sinken. Er betrachtete schlecht gelaunt einen seiner unterschiedlichen Stiefel, die bis übers Knie reichten. »Er geht bei dem Wetter schwimmen?«

»Schimpf nicht mit mir! Sogar ich war nicht sicher, ob ihr heute auftreten müsst«, sagte das Mädchen und zupfte dabei an der dunkelblauen Schleife in ihrem Haar.

»Ich muss los«, sagte Senedin kurz angebunden und kletterte wieder auf die Fensterbank.

Für Senedin war es ein Segen, dass sich der Teich mit seinen prächtigen Trauerweiden gleich hinter dem Haus befand. Senedin ging die letzten Meter langsam, wobei er immer wieder seinen Hut in die Luft warf und wieder auffing. Es hatte ohnehin keinen Sinn mehr, sich zu beeilen, Ärger mit seinem Großvater war vorprogrammiert. Die Sonne bahnte sich langsam ihren Weg durch die dicke Wolkendecke, trotzdem nieselte es immer noch. Schon von weitem konnte Senedin Martys unverkennbares Gelächter, Gänsegeschnatter und das Plätschern des Teichwassers vernehmen. Senedin war soeben eine Idee gekommen. Er versteckte sich hinter den Bäumen in Ufernähe und beobachtete, wie sein Freund mit der Gänseschar fröhlich im Teich herumplanschte. Seine Kleidungsstücke hatte Marty fein säuberlich am Ufer zusammengelegt. Senedin wartete so lange, bis sein Kumpel sich die Nase zuhielt und untertauchte, dann schnappte er sich Martys Kleider. Er wollte damit am Ufer stehen bleiben, bis Marty wieder auftauchte. Es dauerte länger als erwartet und in dem Moment, als Senedin schon drauf und dran war, sich zur Rettung seines Freundes ebenfalls in die Fluten zu stürzen, tauchte dieser endlich – entsetzlich nach Luft japsend – wieder auf. Offensichtlich stolz auf seinen neuen Tauchrekord drehte Marty sich immer wieder um die eigene Achse und tippte dabei einer der zehn Gänse auf den Schnabel.

Senedin räusperte sich und Marty schrie so laut und schrill wie ein Mädchen. Zwei der Gänse erhoben sich vor Schreck flatternd in die Luft. Marty, der splitternackt war, tauchte bis zur Nase unter, damit Senedin auch ja nichts sehen konnte.

»Ich kenne jemanden, der schon wieder seine Freunde vergessen hat«, sagte Senedin und hielt Martys trockenes, weißes Hemd drohend übers Wasser.

»Tu das nicht!«, flehte Marty zähneklappernd und mit beschämter Miene. »Komm, leg es wieder hin! Ich hab sonst nichts Trockenes anzuziehen!« Er griff nach seinem Hemd, doch Senedin zog es weg und seine Hand ging ins Leere.

»Da werden die Leute aber lachen, wenn sie dich heute in einem klatschnassen Hemd sehen!«, neckte ihn Senedin und grinste von einem Ohr zum anderen.

»Lachen tun sie ja sowieso! Sie lachen uns immer nur aus!«, rief Marty und schluckte dabei eine Menge Wasser. Es war nicht zu übersehen, dass er damit bei seinem Freund Senedin einen wunden Punkt getroffen hatte. Er und Senedin starrten sich lange wortlos an, dann begannen sie zu lachen.

»Das war fies! Jetzt komm schon raus, Sarandon und Adan warten!«, sagte Senedin kopfnickend und drehte sich um, damit Marty aus dem Teich kommen und sich anziehen konnte.

Einen Augenblick später war der rundliche Junge mit demselben honigfarbenen Haar wie seine Schwester Dimitrina angezogen und klopfte Senedin auf die Schulter, um ihm zu signalisieren, dass er sich wieder umdrehen durfte. Marty war in Senedins Alter und hatte es sich in den Kopf gesetzt, später einmal Gänsehirt zu werden. Um sich darauf vorzubereiten, gestatteten ihm seine Eltern, die familieneigenen Hausgänse zu hüten.

»Du wirst sehen, früher oder später wird ihnen das Lachen schon noch vergehen«, schwor Senedin und beobachtete, wie eine Gans nach der anderen quakend aus dem Wasser gewatschelt kam, um sich folgsam um Marty zu scharen.

»Ich bin nur froh, dass ich nicht nass gehen muss«, lachte Marty. Senedin nickte und lachte mit, bevor er seinen Kumpel – vollständig angezogen – mit einem kräftigen Schubs zurück in den Teich stieß.

»Das war dafür, dass du es wiedermal vergessen hast!«

 

Auf dem Weg zurück zum Marktplatz erblickten die beiden einen Bauern, der einen großen, mit Äpfeln gefüllten Korb auf dem Rücken trug. Er stöhnte unter der schweren Last bei jedem Schritt. Direkt gegenüber wartete eine blökende Schafherde auf ihren Hirten und während Marty fröhlich ein Wanderlied vor sich hin trällerte, konnte Senedin dem Drang, dem gebrechlichen Mann ein Seil vor die mageren Beine zu spannen, kaum widerstehen.

»Die Leute würden bestimmt Augen machen, wenn er jetzt so plötzlich mit seinem vollen Korb auf der Nase landen würde«, murmelte Senedin leise lachend und blickte sich nach etwas Seilähnlichem um. Marty zog ihn an der Schulter zurück.

»Das ist keine gute Idee. Dann passiert am Ende das Gleiche wie vorgestern, als die mollige Korbflechterin mit einem Bein in deine Falle geraten und dann zwei Stunden lang vom Ahornbaum gebaumelt ist«, erinnerte sich Marty schaudernd.

»Was war daran so schlimm?«, wollte Senedin, belustigt über die erfrischende Erinnerung, wissen. Marty seufzte kopfschüttelnd.

»Ich fand es ganz schön ermüdend, von ihrem Mann und seinen zwei Hunden mit der Jagdflinte über die Felder gejagt zu werden.«

»Ach, so schnell waren die doch gar nicht.«

»Für dich vielleicht nicht, aber ich bin nicht so schnell wie du und mich hat die Flucht im Vergleich zu dir beide Schuhe gekostet. Meine Mutter war so enttäuscht von mir, dass sie fast geheult hätte.«

»Ist ja gut, du hast gewonnen«, gab Senedin nach und stahl dem Mann im Vorbeigehen zwei Äpfel aus dem Korb. In den einen biss er hinein, den anderen hielt er seinem Freund Marty unter die Nase.

»Ich werde den nicht essen. Du hast ihn gestohlen. Hör lieber auf mit dem ganzen Unsinn, wer weiß, was noch passieren kann!«

»Du willst ihn nicht? Na gut …«, sagte Senedin schulterzuckend und warf den Apfel dem Schafhirten, der soeben aus der Hütte nebenan gekommen war, hart gegen die Schulter. Wutentbrannt fuhr er herum, erblickte das Wurfgeschoss einen Meter weiter auf dem staubigen Boden und gleich darauf den klapprigen Mann mit dem Apfelkorb auf dem Rücken.

Senedin hatte Marty – mit dem Zeigefinger an den Lippen – hinter einen Baum gezogen und verbiss sich ein Grinsen. Sie hörten, wie der unschuldige, gebrechliche Mann von dem Schafhirten wüst beschimpft und mit Steinen beworfen wurde.

»Das hättest du nicht tun dürfen, was, wenn uns hier jemand erwischt? Die wissen doch, dass du es warst, wenn sie dich sehen. Überall, wo du auftauchst, gibt es Ärger!«, zischte Marty. Doch Senedin hörte nicht auf ihn. Er warf einen verstohlenen Blick um den Baumstamm und sah, wie nun auch der alte Mann dazu überging, sich einen großen Stein zu greifen und ihn auf seinen Angreifer zu feuern. Das war der Moment, auf den Senedin gewartet hatte. In dem Augenblick, als der alte Mann den Stein warf, zog er seine Steinschleuder und schoss das Tongefäß, das auf dem geöffneten Fensterladen direkt neben der Schafherde stand, in tausend Scherben. Es klirrte laut und die Schafherde stieß blökend in alle Himmelsrichtungen davon. Hufgetrampel ließ den sandigen Boden beben, als eine ganze Gruppe von ihnen am Versteck der beiden Jungen vorbeikam.

Marty biss sich schockiert auf die Lippe. Senedin bog sich vor Lachen. In seinen Augen machte Marty sich immer viel zu viele Sorgen.

»Es wird Stunden dauern, wieder alle einzufangen«, sagte Senedin zufrieden und fächerte sich dabei mit seinem Federhut Luft zu. Dass Martys Laune mit jeder Sekunde sank, war ihm jedoch nicht entgangen.

»Okay, ich sage dir was. Das war das letzte Mal, dass ich jemandem einen Streich gespielt habe – wenn du dabei warst. Ich will ja nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten kommst«, schwor Senedin und legte Marty eine Hand auf die Schulter.

»Das hast du das letzte Mal auch gesagt.«

»Aber diesmal meine ich es ehrlich! Ich schwöre es!«

 

 

 

Kapitel 2

Die Straßenmusiker

 

»Ist sie nicht einfach nur wunderschön, Sarandon?«, schwärmte Adan, den Blick verträumt auf die kleine Gänseblume in seiner Hand gerichtet.

»Für eine Gänseblume schon«, antwortete ihm Sitznachbar Sarandon und baumelte gut gelaunt mit einem Bein. Es passierte häufiger, dass Adan ziemlich melancholisch wurde, meist dann, wenn er Zeit zum Nachdenken hatte oder Marty mal wieder zu spät kam. Sarandon fand manchmal, dass sein Kumpel für einen Zwanzigjährigen zu sehr mit dem Kopf in den Wolken hing.

Die beiden hatten es sich in der Zwischenzeit am Rande ihrer Zeltbühne bequem gemacht. Ein Holzschild mit der Aufschrift Minderbrüder schaukelte quietschend über ihren Köpfen. Bunte Wimpelgirlanden zierten die Zeltdecke und an der Rückwand waren unterschiedliche Flaggen, Langbanner und bemalte Stofftücher angebracht.

»Sie strahlt so etwas Zerbrechliches aus«, ergänzte Adan, bevor er mit einem Zeigefinger erst über die weißen Blütenblätter strich, um anschließend verzückt an der Blume zu schnuppern, als duftete sie wie eine Rose. Mit einer hochgezogenen Augenbraue beäugte Sarandon seinen etwas molligen Freund mit den dunklen, gewellten Haaren von der Seite. »Die kann doch nach nichts riechen, oder?«, lachte er und ergriff Adans Handgelenk, um selbst an der Blüte zu schnüffeln. Gleich darauf ließ er Adan wieder los und grinste zufrieden. »Na bitte, ich hatte recht!«

»Ach, Unsinn! Für mich duftet sie wie ein Garten voller Sommerblüten, die am Morgen von den Tautropfen begrüßt werden!«

»Du hast vielleicht eine Fantasie«, kicherte Sarandon kopfschüttelnd, bevor er seine geflickte Mütze vom Kopf nahm und sich damit frische Luft zufächelte.

»Na so was, ihr musiziert noch gar nicht?«, fragte plötzlich eine freundlich klingende Männerstimme aus den beinahe leeren Sitzreihen. Sie gehörte Mr. Herrick, der gerade mit seiner Frau in der vordersten Reihe Platz genommen hatte. Er war von magerer Gestalt, hatte stark eingefallene Wangen und glanzloses, struppiges Haar. Seinen rechten Arm trug er an diesem Tag in einer Schlinge um den Hals. Wann immer er konnte, nahm er sich gerne die Zeit, den vier Jungen bei ihren Auftritten zuzusehen.

»Bedauerlicherweise nicht!«, antwortete Adan und verwarf die Hände, dann entfaltete er elegant einen seiner selbst gebastelten Fächer, um sich nun ebenfalls Luft zuzufächeln.

»Tja, Marty hat es wiedermal vermasselt. Haben Sie ein neues Hemd?«, wollte Sarandon wissen und deutete mit seinem Krückstock in Mr. Herricks Richtung.

»Oh ja, Virgina hat es für mich genäht!«, erklärte er und warf einen liebevollen Blick auf seine Frau, die sich gerade zärtlich an seine Schulter schmiegte. Mrs. Herrick hatte glattes, langes Haar, war von zierlicher Statur und wich ihrem Mann nur selten von der Seite.

»Kompliment, Mrs. Herrick«, rief Sarandon begeistert. »Es muss ewig gedauert haben, die ganzen Holzperlen anzunähen …«

»Nett, dass dir das Hemd aufgefallen ist!«, entgegnete Virgina und strich sich eine feine Haarsträhne aus dem erröteten Gesicht. Sarandon zwinkerte anerkennend mit dem rechten Auge. Adan, der sich in der Zwischenzeit die Gänseblume hinters Ohr gesteckt hatte, mischte sich nun auch in das Gespräch ein: »Was ist mit Ihrem Arm passiert?«

Jeremy Herricks eben noch heitere Miene verfinsterte sich. »Ich habe seit gestern Abend ein taubes Gefühl in der Hand und kann die Finger kaum bewegen. Es schränkt mich bei der Arbeit unheimlich ein …«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Sarandon mitfühlend, während er kurz mit dem Krückstock gegen sein linkes Bein tippte. Seit einem schweren Unfall vor einigen Jahren war er hauptsächlich auf sein rechtes Bein angewiesen, das andere war so gut wie steif. Mr. Herrick nickte milde lächelnd und ergriff, ohne den Blick von Sarandon und Adan abzuwenden, die Hand seiner Frau Virgina, die sich große Mühe gab, ihre feuchten Augen vor den anderen zu verbergen.

Einen Moment lang schwiegen alle und eine angenehm warme Brise wehte über den Marktplatz. Immer mehr Pferdekarren rollten über die Pflastersteine, die Luft war erfüllt von den Rufen der Marktleute. In der Ferne spielte jemand eine deprimierende Melodie auf einer Flöte. Sarandon atmete tief ein und schloss die Augen – er genoss das Gefühl des Windes, der ihm durchs Haar fegte. Die Sonne brannte in den Gesichtern der Jungen. Sarandon fächerte sich nun auch mit dem Kragen seines Hemdes Luft zu, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen, und spürte, dass er seitlich auch von Adan befächelt wurde. Er grinste anerkennend.

»Es wird immer wärmer, nicht?«, stöhnte Sarandon und ließ sich rücklings auf die rissige Holzbühne fallen.

»Das kann man wohl sagen … Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kann nicht länger hier in der Hitze sitzen bleiben!« Adan warf eine lange, lockige Haarsträhne zurück und erhob sich schwerfällig.

Auch Sarandon rappelte sich langsam auf, um gleich wieder resignierend nach hinten zu fallen. »Ich kann so nicht singen!«, grummelte er durch seine ins Gesicht gepressten Hände. »Ich kriege noch einen Sonnenstich!«

»Das darf doch nicht wahr sein, komm, steh auf!«, schimpfte Adan, dann schnappte er Sarandon am Handgelenk und zog ihn wieder auf die Beine. »Zeig doch ein bisschen mehr Zuversicht!«

Sarandon hing mit seinem ganzen Körpergewicht auf dem Krückstock und warf seinem Freund ein gequältes Grinsen zu.

»Zuversichtlicher! Noch zuversichtlicher!«, befahl Adan. Er bemerkte nicht, dass sich Sarandons Augen plötzlich weiteten und kratzte sich nur gelassen mit einem seiner langen, spitzen Fingernägel am Mundwinkel.

Sarandon wurde immer hibbeliger und schien gar nicht mehr richtig zuzuhören. »E… ein… eine …«, stammelte er entsetzt. Adan drehte sich mit gerunzelter Stirn um, doch außer einem Pferdewagen mit einem großen Fass im Anhänger war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. »So sprich doch«, forderte er seinen Freund auf, »ich sehe nichts!«

»Jieeeehhhhhh!« Wie von der Tarantel gestochen stieß Sarandon einen schrillen Schrei aus und deutete panisch mit dem Zeigefinger auf Adans Kopf.

»Was …?«, setzte Adan an, doch das hässliche Surren an seinem Ohr beantwortete ihm die Frage, bevor er sie gestellt hatte. Eine Biene hatte Gefallen am Gänseblümchen hinter seinem Ohr gefunden und versuchte, darauf zu landen.

»Hilf mir … schnell!«, quiekte er, seine Stimme überschlug sich leicht.

»Okay … beweg dich nicht! Ich … ich verscheuche sie …«, stotterte Sarandon, dann umklammerte er entschlossen seine Krücke mit beiden Händen und holte zu einem weiten Schlag aus. Adan kam noch zu einem entsetzten »Nicht!«, bevor er sich gerade noch rechtzeitig duckte, um dem vernichtenden Stock auszuweichen. Dies machte die Biene aggressiv und sie setzte zum Angriff an. Sie nahm im Sturzflug die Verfolgung auf und jagte die beiden Jungen kreuz und quer über die Zeltbühne, was bei dem panischen Geschrei bald die Aufmerksamkeit sämtlicher Bürger erregte.

»Sagt mal, seid ihr wahnsinnig geworden?!«, dröhnte die Stimme von Sarandons Großvater Ingrim von unten durch das Gekreische. In dem Moment stolperten die beiden Jungen unbeholfen übereinander und blieben reglos liegen.

»Das war mein Kiefer«, stöhnte Sarandon, der irgendwo unter Adans Ellenbogen gelandet war.

»Wir sind vor einem angriffslustigen Insekt geflüchtet«, keuchte Adan und deutete – auf allen Vieren – auf die Biene, die sich in seinen langen Haaren verfangen hatte. Fast im selben Moment erschlug Ingrim das wild zappelnde Tier mit seiner löchrigen Mütze und Adan ließ einen spitzen Aufschrei ertönen.

»Ihr macht ein Geschrei, als ob ihr auf dem Scheiterhaufen verbrannt würdet!«, fluchte der alte Mann aufgebracht und warf einen missbilligenden Blick in den leeren Geldhut. »Verdient habt ihr bis jetzt noch nicht mal einen Kieselstein!«

»Irrtum!«, rief Mr. Herrick plötzlich und warf eine Münze herüber, die Ingrim sogleich gierig auffing.

»Schau mal, die fliegen auf uns …«, flüsterte Sarandon Adan zu und winkte dabei mit der Krücke zwei besonders laut kichernden Mädchen an einem Gemüsestand zu.

»Wo steckt dein Bruder?! Such ihn, aber schnell!«, befahl Ingrim, während er Sarandon, der nebenbei noch immer sein schmerzendes Gebiss befühlte, mit beiden Händen am Arm packte und von der Bühne schleifte.

»Da vorne kommt er! Sieht fast so aus, als hätte er Marty vor dem Ertrinken gerettet … Der ist ja klatschnass«, sagte Sarandon irritiert und deutete auf Senedin und Marty, die gerade um die Ecke gestolpert kamen.

»Was für ein Segen«, murmelte Adan, der sich im Schneidersitz auf die Holzplanken gesetzt hatte, machte ein Kreuzzeichen gen Himmel und stand auf, um die beiden zu begrüßen. Sarandon humpelte inzwischen hinüber zur Zeltbühne und suchte dort noch einmal den Boden ab. Als er die tote Biene zusammengekrümmt am Boden liegend fand, verstaute er sie behutsam in seiner Mütze, bevor er sie sich wieder auf den Kopf setzte.

»Was fällt dir ein, einfach abzuhauen und deinen Bruder hier allein in der Gegend herumsitzen zu lassen? In dieser Zeit hätten wir bereits Geld für das Abendessen in der Tasche haben können!«, brüllte Ingrim und versetzte Senedin einen gewaltigen Stoß, sodass dieser unsanft in Adans Armen landete und beim Sturz seinen Hut verlor.

Der geizige alte Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem schneeweißen Haar ließ seine beiden Enkel fast täglich mehrere Stunden singen und tanzen, obwohl es ihnen eindeutig an Erfahrung fehlte – wie das faule Obst und Gemüse bestätigte, das jeden Tag in Massen auf die Bühne flog. Sarandon war zwar mit einer kräftigen Stimme gesegnet worden, aber es gab niemanden, der ihm beibrachte, wie er sie einzusetzen hatte und so sang er viel zu laut und manchmal schief. Senedin hingegen versuchte unter Adans Anweisungen zu Martys Flötenspiel und Sarandons Gesang zu tanzen. Leider passte Adans Choreographie kaum zur Musik. Trotz allem waren die Zwillingsbrüder ihren Freunden unendlich dankbar für deren freiwillige Unterstützung.

 

»Es war meine Schuld, Mr. O’Malley, ich war mit den Gänsen zu lange unten am Teich«, murmelte Marty schuldbewusst und beobachtete dabei, wie Ingrim O’Malley den Bühnenboden nach halbwegs brauchbaren Lebensmittelresten absuchte.

»Schnapp dir deine Flöte und spiel!«, befahl er, ohne aufzuschauen, woraufhin Marty augenblicklich eine salutierende Pose einnahm und panisch seine Hosentaschen nach dem Blasinstrument absuchte. Er fand es und wollte gerade eine Melodie anstimmen, als anstelle der gewünschten Musik nur eine dünne Wasserfontäne herausspritzte.

Adan setzte Senedin seinen Hut wieder auf und die Truppe beobachtete erleichtert, wie sich Ingrim – mit erhobener Faust und unverständlich vor sich hin fluchend – auf den Weg in die nächste Taverne machte.

»Damit müssten wir die nächsten zwei Stunden sicher sein«, flüsterte Senedin und rieb sich die Schulter, die mit Adans Brustkorb kollidiert war.

Adan seufzte. »Bei eurem Großvater kann ich nur den Kopf schütteln.« Er strich sich mit beiden Händen das lange Haar aus dem gebräunten, runden Gesicht.

»Sind doch fast alle hier so«, sagte Marty und übte dabei ein paar Töne auf seiner Flöte. Sarandon nickte nur.

»Lasst uns das Thema wechseln«, schlug Senedin vor und zupfte sein Hemd zurecht, dann nahm er auf der Treppe zur Bühne Platz.

»Gute Idee. Übrigens, ich habe mir neue Tanzschritte für uns ausgedacht. Es beginnt mit – wo ist denn schon wieder dein Tamburin?«

»Hol ich nachher«, sagte Senedin teilnahmslos und wartete Adans Präsentation ab.

»Nun gut. Also, es beginnt damit, dass wir uns mit weit ausgebreiteten Armen auf der linken Seite der Bühne platzieren und …«

»Wie sollen wir bitte mit ausgebreiteten Armen nebeneinander passen? Ist das nicht …«

»So lass mich meinen Gedanken doch zu Ende bringen«, tadelte Adan Senedin und nahm dann erneut die soeben beschriebene Pose ein. Ein paar Sekunden vergingen, in denen er schnaufend versuchte, die Tanzschritte im Geiste noch einmal abzurufen. Dann fuhr er sich nickend durchs Haar.

»Also, wir stehen erst mit weit ausgebreiteten Armen nebeneinander, dann führen wir sie über unsere Köpfe – ungefähr so – schwingen sie im Kreis, lassen dazu unsere Hüften kreisen und drehen uns dann, ich glaube, im Uhrzeigersinn, dreimal um die eigene Achse. Um das Ganze noch ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten, könnten wir auch beide Hände mit gespreizten Fingern aneinanderlegen und sie uns vor die Nasen halten!«

Senedin verfolgte die Darbietung mit einer Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit.

»Ja! Ich glaube, so würde es gut aussehen. Du könntest dir danach das Tamburin auch gegen das Knie schlagen und …«

»Lieber nicht«, unterbrach ihn Senedin und sprang auf.

»Na gut, das überlasse ich dir, auch wenn ich der Meinung bin, es wäre unterhaltsam. Zu guter Letzt tippen wir uns mit den Fingerspitzen, angefangen von den Oberschenkeln bis hinauf zu unseren Köpfen, die Körper entlang und winken – bitte mit freundlichem Gesicht – dem Publikum zu!«

Senedin schlug sich die Hände vors Gesicht, as er seinen Zwillingsbruder Sarandon neben sich dabei erwischte, wie er Adans schreckliche Tanzschritte konzentriert nachahmte.

Es war immer ein magischer Moment, wenn die Zwillinge nebeneinanderstanden. Sie hatten die gleiche zerbrechliche Statur und fast dasselbe Gesicht. Senedins Lippen waren etwas voller als die seines Bruders und auch der Farbton ihrer Augen wich nur dezent voneinander ab. Senedins Augen waren grün, die seines Bruders hingegen blau. Ihr fransiges Haar trugen beide kinnlang und seitlich gescheitelt. Sarandons Haar war allerdings blauschwarz und das von Senedin hellbraun.»Bist du dir sicher, dass dieser Tanz gut aussieht? Ich glaube, es wäre sinnvoller, erstmal nicht mit ausgebreiteten Armen anzufangen und eine Drehung weniger …«, Senedin brach ab, als er den verletzten Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah, und hielt es für das Beste, die fragwürdige Choreografie doch einfach mal auszuprobieren.

Bereits beim ersten Durchgang hatte er Adans Ringfinger im Auge und drehte sich – vor Schmerz eine Hand dagegen gepresst – auf einem Bein. In der anderen hatte er das Tamburin und wedelte brüllend damit herum, als hätte es Feuer gefangen.

Zwei Männer, die gerade betrunken vorbeitorkelten und auf das Geschehen aufmerksam wurden, warfen belustigt ein paar Münzen in den alten Geldhut. Senedin warf Adan einen ungläubigen Blick zu, doch dessen Gesichtsausdruck ließ ihn darauf schließen, dass er dies als vollen Erfolg wertete.

»Mach genau so weiter«, forderte er Senedin mit seltsam leuchtenden Augen auf. »Du siehst ja, wie sich das Publikum davon unterhalten fühlt.«

»Sie haben sich kaputtgelacht …«, berichtigte Senedin und rieb sich das tränende Auge.

»Es hat ihnen gefallen!«, beharrte Adan.

»Ich habe doch noch gar nichts gemacht! Es war ein Unfall!«, protestierte Senedin und blickte zu Sarandon, der eifrig nickte.

»Aber warum lässt du denn nicht die Wahrheit in dein Herz dringen und gestehst dir ein, dass die Leute es amüsant fanden?«, fragte Adan und warf dabei grazil sein langes Haar zurück. »Wir sind doch hier, um die Menschen zu unterhalten, oder etwa nicht?«

»Die Hauptsache ist doch, dass sie etwas in den Hut geworfen haben«, mischte sich Marty in das Gespräch ein, um einen Streit zu verhindern. »Atmet einfach beide tief durch und versucht es nochmal von vorne.« Dann stimmte er mit fröhlicher Miene seine Melodie wieder an.

Darauf begann Sarandon mit seinem entsetzlich lauten und schiefen Gesang und es geschah dasselbe wie fast jeden Tag: Die Pearson Schwestern warfen einen verfaulten Salatkopf von ihrem benachbarten Gemüsestand auf die Bühne. Er verfehlte Sarandons Gesicht nur um Haaresbreite und traf Marty hart an der Schulter. Da er bereits daran gewöhnt war, reagierte er kaum darauf. Sarandon nahm das Geschehen als Herausforderung an und sang noch lauter – so lange, bis die ersten Eier geflogen kamen. Mr. Herrick und seine Frau sahen sich nach den Übeltätern um und schüttelten – wie so oft – die Köpfe.

»Lasst uns einfach weitermachen. Ich habe noch etwa eine halbe Stunde Zeit, ehe ich zurück muss«, warf Adan ein, der mit seinem Vater eine Schmiede betrieb. Dieser gestattete es ihm ungern, zu lange fernzubleiben.

Senedin beobachtete, wie Marty seinem Zwillingsbruder ein großes Stück Eierschale aus dem Haarschopf zerrte und seufzte, bevor er resignierend das Gesicht in den Handflächen vergrub. Schließlich stellte er sich mit ausgebreiteten Armen wieder neben Adan.

Sie tanzten und musizierten gemeinsam, so lange Adan konnte, dann verließ er die Truppe mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen. In den weiteren Stunden wurden die Kinder noch mit unzähligen Tomaten, Zwiebeln und ein paar Kartoffeln beworfen. Sarandon krächzte irgendwann nur noch wie ein sterbender Hahn und Senedin gelang es absolut nicht, Adans Tanz mit Martys Melodie in Einklang zu bringen. Irgendwann musste sich auch Marty verabschieden und dann wurde es am schlimmsten, da Senedin und Sarandon nun ohne Musik singen und tanzen mussten.

 

Es dämmerte allmählich. Lydia, die Mutter der Zwillinge, und deren Großmutter Meredith packten ihren Stand gegenüber dem Gemüsestand der boshaften Pearson Schwestern zusammen und auch die anderen Marktleute machten sich auf den Heimweg. Lydia warf einen besorgten Blick zur kleinen Zeltbühne hinüber und sah, wie ihre Söhne auf dem Bühnenboden saßen und gestenreich stritten. Irgendwann knallte Senedin seinen Hut auf den Boden und drehte sich beleidigt von seinem Bruder weg, woraufhin Sarandon ihm die Zunge rausstreckte. Vor dem Zelt hatten sich drei Schaulustige versammelt, die blökend lachten. Mr. und Mrs. Herrick waren in der Zwischenzeit ebenfalls nach Hause gegangen.

Im tiefsten Inneren ihres Herzens wünschte sich Lydia eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Es tat ihr in der Seele weh, Tag für Tag mitansehen zu müssen, wie sie zum Gespött der Dorfleute wurden.

Alle verbliebenen Leute auf dem Platz fuhren zusammen, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Rumpeln ertönte. Ein verfallenes Haus war soeben staubend in sich zusammengekracht. Die beiden Frauen vom Gemüsestand weiteten vor Schreck die Augen und wurden sofort von allen Seiten beäugt. Fast jeder wusste es: Es war das Haus der Pearson Schwestern gewesen.

 

 

 

Kapitel 3

Gasparos Sammelsurium

 

Von einem anstrengenden Tag vollkommen erledigt, trotteten Sarandon und Senedin gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Großeltern den einsamen Feldweg entlang. Der Himmel hatte sich inzwischen dunkelrosa gefärbt. Amseln sangen und die Luft roch nach feuchter Erde. Großvater Ingrim hatte lallend den rechten Arm um Lydia gelegt und den linken um seine Frau – wie üblich mussten sie ihn nach Hause schleppen. Der stundenlange Tavernenaufenthalt hatte nun mal seine Folgen.

Als weit hinter ihnen Hufgeklapper ertönte, machte Lydias Herz einen entsetzten Sprung.

»Sarandon! Senedin! Ein Pferdewagen kommt. Geht sofort zur Seite!«, befahl sie. Augenblicklich taten die Zwillingsbrüder wie geheißen und wichen dem nahenden Karren aus. Jeder in der Familie wusste, warum Lydia derart überängstlich reagierte. Als die Zwillingsbrüder zehn Jahre alt waren, war es eine Pferdekutsche gewesen, die Sarandon das Bein gebrochen hatte. Der hartherzige, launische Bürgermeister Tobias Flaherty hatte die Kinder einfach übersehen und mit seiner Kutsche zu Boden gestoßen, dabei geriet Sarandons Bein unter die Räder. Flaherty hatte ihnen danach auch noch die wüstesten Beschimpfungen an die Köpfe geworfen. Seitdem graute es Lydia vor sämtlichen Pferdefuhrwerken.

Ein finsterer Planwagen rollte langsam an ihnen vorbei. Merkwürdige, unbekannte Laute drangen aus dem von löchrigem Stoff verdeckten Anhänger. Auf dem Kutschbock saß ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren. Er hatte braunschwarzes Haar, das ihm fast bis zur Hüfte reichte, und trug einen dunklen Mantel. An seinen Fingern prunkte eine Menge silberner Ringe, außerdem trug er auffälligen Ohrschmuck und eine Halskette. Wieder lärmte irgendeine Kreatur aus dem Inneren des Wagens und ein wildes Flattern ertönte.

»Beruhige dich, Zerda! Es ist nicht mehr weit!«, sagte der Kutscher. Dabei warf er mit zusammengekniffenen Augen einen Blick auf Familie O’Malley und dann in den Anhänger hinter sich.

Senedin und Sarandon tauschten verwirrte Blicke und Ingrim hatte sogar aufgehört zu singen.

»Was fährt der denn da spazieren?«, flüsterte Sarandon, als ein hakenartiger Schnabel durch die Plane fuhr und ein weiteres riesiges Loch hineinriss.

Senedins Augen weiteten sich und er blieb stehen. »Ich will es gar nicht wissen …«, entgegnete er und zog Sarandon an sich heran. Den Kindern war nicht entgangen, dass der Wagen ganz plötzlich sehr langsam zu fahren schien.

»Einen wunderschönen guten Abend, meine Teure!«, säuselte es plötzlich vom Kutschbock hinunter und den Zwillingen drehte sich beinahe der Magen um. Der eigenartige Kerl hatte doch tatsächlich gerade mit ihrer Mutter gesprochen!

»Sagen Sie mal, sind Sie Mutter und Tochter? Ganz bestimmt sind Sie das! Wissen Sie, woher ich das weiß? Sie haben ihre Schönheit geerbt!«, sagte der Fremde und begann zu allem Übel auch noch damit, eine kleine Flamme in seiner Handfläche tanzen zu lassen. Glücklicherweise schien Lydia den Braten sofort zu riechen.

»Tatsächlich ist das meine Schwiegermutter«, sagte sie nüchtern und wandte sich mit den Augen rollend von ihm ab.

»Na sehen Sie! Was habe ich Ihnen gesagt«, flüsterte der junge Mann mit einem Augenzwinkern. Sarandon legte würgend eine Hand an die Kehle.

»W… wer ist die?«, stotterte der besoffene Ingrim plötzlich. Offensichtlich hatte er nur die langen Haare des Fremden in der Dunkelheit erkannt und ihn für eine Frau gehalten.

»Oldfield genießt kein hohes Ansehen, ich frage mich, was Sie hierher verschlagen hat?«, keuchte Meredith unter Ingrims Last. Der Fremde lachte geheimnisvoll.

»Ich bin Händler. Geschäfte von großer Wichtigkeit führen mich hierher. Glauben Sie mir, kein anderer Ort eignet sich besser dafür! Mein Wagen ist voll von wundersamen Mittelchen gegen sämtliche Gebrechen, magischen Amuletten und Kreaturen der Nacht!«

»Wundersame Mittelchen und magische Amulette?«, wiederholte Lydia, die bei diesen Worten hellhörig geworden war.

»So ist es, meine Teure! Ab morgen sind sie auf dem Markt auch für Sie zu haben! Sie finden Gasparos Sammelsurium da, wo sich die größte Menschenmenge versammelt hat! Schöne Frauen bekommen bei mir immer Rabatt!«, verkündete der junge Mann, der bereits erste Interessenten vermutete. Der Wagen setzte sich nach einem Schnalzen schneller in Bewegung. Das voll beladene, schwarze Pferd schnaubte und schüttelte den gewaltigen Kopf mit der langen Mähne. Ein klirrendes Geräusch verriet, dass der Fremde offensichtlich auch zerbrechliche Ware mit sich führte.

»Hast du gesehen, was für ein ganz und gar mystisches Zeichen er sich da um sein Auge gemalt hat?«, fragte Senedin seinen Bruder in nobel klingendem Ton.

»Das ist doch noch gar nichts gegen das sagenumwobene Glasauge, das in seinem Ring steckt«, erwiderte Sarandon, während er überlegen mit dem Kopf nickte und dabei im Sekundentakt blinzelte. Dabei stützte er sich mit beiden Händen grazil auf seinen Krückstock.

Inzwischen war der Wagen so weit vorausgefahren, dass sie ihn nur noch von hinten sehen konnten. Als sie durch die Öffnung auf der Rückseite des Wagens blickten, stockte ihnen allen der Atem: Im Wageninneren stand ein gigantischer Käfig mit einer gefangenen Habergeiß! Sie stieß meckernde Geräusche aus und ihr sichelförmiger Schnabel bohrte sich in die Plane.

»Eine Habergeiß! Das verheißt nichts Gutes …«, stotterte Meredith, deren Sohn – der Vater der Zwillinge – einem solchen Wesen zum Opfer gefallen war. »Sie gelten als Vorboten des Unheils … Die Leute werden diesen sonderbaren Händler aus dem Dorf jagen.«

Lydias Blick fiel auf ein aus der Erde gerissenes Wegkreuz mit einer Jesusfigur. »In jedem anderen Dorf würde man ihn davonjagen – aber hier …«, seufzte sie.

 

Als Familie O’Malley ihre Hütte erreicht hatte, hing der Mond bereits über dem schiefen, strohbedeckten Dach, obwohl der Himmel noch blassblau gefärbt war. Dutzende Grillen zirpten im hochgewachsenen Gras, das in einer sanften Brise hin und her schaukelte. Lydia und Großmutter Meredith bugsierten den laut vor sich hin lallenden Ingrim zur Eingangstür. Senedin lief voraus, um ihnen die Tür zu öffnen.

Sarandon gab sich große Mühe, nicht über die wild durcheinanderlaufenden Hühner zu stolpern und humpelte dann hinter die Hütte. Er zwängte sich geschickt zwischen zwei dichten Büschen hindurch und ging dann langsam ein Stück über die Wiese. Dort standen hohe Birken mit prachtvollen Baumkronen, deren Blätter im Wind rauschten. Davor befand sich ein kleiner, ausgedienter Hasenzaun, der aus stabilen Ästen zusammengezimmert war. Sarandon hatte eine ganz besondere Verwendung dafür gefunden. Seit jeher hatte er ein stark ausgeprägtes Mitgefühl entwickelt, wenn es um den Tod und das Sterben ging. Er besuchte leidenschaftlich gerne den Dorffriedhof und konnte Stunden damit verbringen, sich die einzelnen verwilderten Gräber genau anzusehen oder Kerzen für die Verstorbenen anzuzünden. Hin und wieder stolperte Sarandon über ein totes Eichhörnchen am Waldrand oder eine überfahrene Taube auf dem Marktplatz. Irgendwann hatte er den Entschluss gefasst, seinen eigenen kleinen Tierfriedhof anzulegen. Jedes der etwa zehn Gräber war entweder mit geschnitzten Holzkreuzen, von denen keines dem anderen glich, schön gemaserten Steinen oder Tannenzweigen geschmückt. Auf jeder Ruhestätte lag eine andere bunte Wiesenblume zum Gedenken an das jeweilige Tier. Eine zerbrochene Marienstatue, die Lydia aufgehoben hatte, sollte über die Verstorbenen wachen. Die rechte Hälfte der Figur war eingebrochen und aus dem hohlen Innenraum wuchs ein prächtiger Rosenstrauch. Lydia respektierte diese makabere Vorliebe ihres Sohnes zwar, doch warnte sie ihn regelmäßig davor, sich allzu oft auf dem alten Dorffriedhof blicken zu lassen – aus Angst vor dem Gerede der Leute.

Sarandon ließ seinen Krückstock ins Gras fallen und beugte sich dann behutsam über den niedrigen Holzzaun, was ihm aufgrund seines Beines schwerfiel. Er hatte gerade begonnen, mithilfe eines dünnen Astes ein weiteres kleines Grab zu buddeln, als Senedin dazukam.