Engel - Wolfgang Wirth - E-Book

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Wolfgang Wirth

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Beschreibung

In einer Mainzer Klinik geht der Dieb Baba auf Beutezug. Polizeischülerin Sarah darf sich mit dessen Diebstahl im Krankenhaus und dem Entführungsfall eines kleinen Mädchens beschäftigen. Krankenschwester Jessica glaubt, in Sarah ihre Tochter zu erkennen, die sie vor langer Zeit tot geboren hat. Alle Drei sind auf schicksalhafte Art miteinander verbunden und geraten in die Mühlen eines unmenschlichen Komplotts. Drei parallele und sich kreuzende Handlungsstränge führen zu einem überraschendem Finale: Die traurige Geschichte einer Krankenschwester, die vor langer Zeit ihr Kind verlor und nun glaubt dieses als Erwachsene wiederzuerkennen. Die spannende Geschichte eines Taschendiebs und Betrügers, der immer wieder stiller Zeuge seltsamer Ereignisse wird. Die aufregende Geschichte einer Polizeischülerin, die von einem langweiligen Routinefall in einen abenteuerlichen Skandal rutscht. Dieses Buch ist eine spannende Lektüre voller Wendungen für Leser, die sich in die Protagonisten hineinversetzen und von der Geschichte mitreißen lassen wollen, um der Auslösung entgegenfiebern.

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Wolfgang Wirth

Engel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

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Epilog

Engel

Wolfgang Wirth

Für meine beiden (B)Engel Cédric und Julien

und den kleinen Engel Marie, der für mein Cover Modell stand.

Über den Autor:

Wolfgang Wirth wurde 1967 geboren und lebt mit seiner Familie im rheinhessischen Oppenheim.

Nach den Erfolgen seiner Thriller „look back“, der Fortsetzung „look back again“, „…und ich will nicht gnädig sein!“, sowie „Der Stier im roten Mantel“ und „GAME OVER“ schafft es der Autor in seinem aktuellen Buch erneut unnachahmlich Spannung und Action mit Realismus und Sozialkritik zu kombinieren.

Impressum

Text: © 2024 Copyright by Wolfgang Wirth Umschlag: © 2024 Copyright by Wolfgang Wirth Verlag: Wolfgang Wirth

Baumschulweg 39

55276 [email protected]

https://wolfgangwirth.de.tl

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; weitere bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

„Es mag ein seltsames Prinzip sein, als erste Anforderung in einem Krankenhaus zu formulieren, dass es den Kranken nichts anhaben soll.“

Florence Nightingale, britische Krankenpflegerin und Erfinderin des Kriegslazaretts 1820 - 1910

Prolog

21 Jahre zuvor…

Jessica fühlte sich, als ob ihr Kopf in einem Schlammloch steckte. Feucht, dumpf, alles braunschwarz und die Geräusche der Außenwelt wie in einem dichten Nichts erstickt. Die Geschehnisse der letzten Stunden kamen nur langsam und in zusammenhanglosen Fetzen in ihre Erinnerung zurück.

Ja richtig, ihre Fruchtblase war geplatzt und ihr Vater hatte panisch und hilfesuchend nach seiner Frau gerufen. Doch diese hatte sich keinen Millimeter von ihrem Fernsehsessel und ihrer Lieblings-Talkshow wegbewegt. Diese Ignoranz war nicht wirklich verwunderlich. Hatte sie ihrer Tochter doch schon während der Schwangerschaft unmissverständlich klargemacht, dass diese sich ab jetzt selbst um ihr „Problem“ zu kümmern habe.

»Wer in deinem Alter zu blöd ist beim Sex zu verhüten, muss auch mit den Konsequenzen leben«, hatte sie damals mit ihrer rauchigen Stimme gebrummt, als ihre siebzehnjährige Tochter mit dem positiven Schwangerschaftstest aus dem Badezimmer gekommen war. »Glaube ja nicht, dass ich dir irgendwie zur Seite stehe, wenn der kleine Bastard während der Schwangerschaft Probleme bereitet oder wider Erwarten das Licht dieser hässlichen Welt erblickt.«

Dann hatte sie tief an ihrer Zigarette gezogen und ihrer Tochter den Rauch mitten ins Gesicht geblasen. »Soll sich doch der unverantwortliche Vater darum kümmern, wenn du überhaupt weißt, wer es ist.«

Worte einer Frau, die ihren Hass auf sich selbst in unbändigen Hass auf jeden in ihrem Umfeld ausgeweitet hatte.

Worte einer Mutter, die nie wirklich eine gewesen war. Eine solche, die Jessica nie werden wollte.

Gerade in den letzten Monaten der Schwangerschaft, nachdem auch sie sich mit dem ungeplanten Ergebnis einer wunderschönen Nacht arrangiert hatte, war ihre Liebe und Fürsorge dem ungeborenen Leben gegenüber immer stärker geworden. Jessica wollte ihrem Kind die liebevolle Mutter sein, die sie selbst nie hatte. Das allein machte ihre Bande zu dem heranwachenden Leben in ihrem Körper noch stärker.

Von ihrer eigenen Mutter war also keine Unterstützung zu erwarten gewesen. Und auch wenn Jessicas Vater in seiner Panik ebenfalls keine große Hilfe gewesen war und ihre eigene Angst noch mehr geschürt hatte, so war er doch zumindest dagewesen und hatte sie ins Krankenhaus gefahren.

Jessica lag immer noch schweißgebadet in ihrem Krankenbett und versuchte die Erinnerungsfetzen zusammenzusetzen. Jetzt nahm sie auch die Hand wahr, die die ihrige fest umschlossen hielt. Es war nicht die grobe Hand ihres Vaters, auch nicht die ihres Freundes und Vaters des Neugeborenen. Es war eine kleine, zierliche Hand, die trotz ihrer Sanftheit Jessicas Hand fest drückte und alles Herzliche und Verständnisvolle, was mit einem Händedruck zu vermitteln war, ausdrückte.

Die junge Mutter öffnete langsam die Augen. Fast kam es ihr schmerzhaft vor, als sie das helle Neonlicht des Krankenhauszimmers blendete. Nur verschwommen nahm sie die Person war, die auf dem Bettrand saß und sie irgendwie mitleidig ansah.

Jetzt erinnerte sich Jessica an die Krankenschwester, deren Umrisse deutlicher wurden und das hübsche südländische Gesicht preisgaben. Sie war es gewesen, die sie in der Entbindungsklinik in Empfang genommen hatte und seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen war. Jessicas Vater war schon am Eingang des Krankenhauses zusammengebrochen und sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ganz allein hatte sie sich ihren Wehen, den unablässigen Aufforderungen des medizinischen Personals, weiter zu atmen und den darauffolgenden Komplikationen ergeben müssen.

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte die jugendliche Frau das Gefühl gehabt, ihr Kopf steckte in einem riesigen Wattebausch. Was auch immer ihr die Krankenschwestern gespritzt hatten, ihre Wahrnehmung hatte zusehends abgenommen. Als sie dann aber die Information erreicht hatte, das Baby hätte sich nicht gedreht für eine normale Geburt und die Herztöne seien unregelmäßig, hatte sie schon befürchtet, sie könnte das Kind verlieren und war augenblicklich hellwach gewesen. Aber die Ärzte hatten ihr versichert, alles würde gut werden, man müsste nur einen Notkaiserschnitt vornehmen. Dies sei aber für Mutter und Kind keine Gefahr, ein Routineeingriff. Auch bei dieser Nachricht hatte die hübsche Krankenschwester ihre Hand gehalten. Sie war tatsächlich die einzige, die ihr beistand. Wie eine große Schwester, wie Jessica sie sich immer gewünscht hatte. Gerade für solche Situationen.

»Frau Klarnow«, sprach eine fremde Stimme sie vorsichtig an. »Wie geht es Ihnen?«

Jetzt griff Jessica instinktiv nach ihrem Babybauch. Dieser war verschwunden, an seiner Stelle war ein Verband zu spüren und es schmerzte bei der Berührung.

War etwas schiefgegangen? Wo war ihr Kind? War es nicht üblich, dass man das Neugeborene seiner Mutter direkt übergab? Gut, sie wäre bisher nicht wirklich in der Lage gewesen, sich um das Kind zu kümmern, so weggetreten wie sie war. Aber trotzdem musste ihr kleiner Engel doch in ihrer Nähe sein. Aber sie sah und hörte nichts, was auf die Anwesenheit eines Babys hinwies.

Stirnrunzelnd und blinzelnd suchte sie den Absender der Frage und fand ihn am Bettende in einem weißen Kittel, der ihn unweigerlich als Arzt identifizierte.

»Wo ist mein Kind?«, presste sie heraus und nach dem vielen erfolglosen Pressen während der Wehen kam es ihr fast genauso anstrengend vor.

»Es gab Komplikationen«, erklärte der Arzt in einem Tonfall aus einer seltsamen Kombination aus Sachlichkeit und Mitgefühl.

»Das weiß ich«, raunte Jessica zurück, der dieses ewige Um-den-heißen-Brei-herumreden zuwider war. »Deswegen sollte ja ein Kaiserschnitt gemacht werden. Aber wo ist mein Baby?«

»Auch trotz des Kaiserschnitts gab es Komplikationen, Frau Klarnow. Es tut mir leid, wir haben Ihr Kind nicht retten können. Die Nabelschnur hatte sich…«

»Bitte was?«, schrie Jessica hysterisch. »Mein Baby ist tot? Warum haben Sie mich dann nicht gleich mit ihm gemeinsam sterben lassen?«

»Für Ihr Leben bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr«, versicherte der Doktor, diesmal mehr sachlich als mitfühlend.

Dies konnte Jessica aber nicht davon abbringen lauthals zu schreien. Sie brüllte Worte der Verzweiflung, der Trauer, aber auch beleidigende Worte, die der Arzt und die Krankenschwester wortlos hinnahmen. Jetzt löste sich die warme Umklammerung ihrer Hand.

»Geben Sie ihr noch ein Milligramm Lorazepam«, versuchte der Arzt seine Aufforderung an die Krankenschwester gegen das Gebrüll der Patientin zu adressieren. Und an Jessica gerichtet sagte er; »Sie werden sich jetzt noch ein wenig ausruhen, Sie sind erschöpft und haben einen schweren Verlust erlitten. Erholen Sie sich und wir reden morgen nochmal in aller Ruhe miteinander.«

Es klang so, als hätte dieser Kurpfuscher diesen Satz schon unzähligen Patienten vor den Kopf geknallt und als sei es für ihn nur eine Erledigung einer unliebsamen Aufgabe. Er hatte Jessica ihr Kind genommen. Er hatte es verpfuscht. Nach all den Schwierigkeiten und Unverständnis in ihrer Familie, ihrem Ausbildungsbetrieb, der als Kinderarztpraxis ein wenig mehr Verständnis hätte aufbringen können, ja sogar in ihrem Freundeskreis, hatte sie sich so sehr gewünscht, dass sie jetzt all ihre Liebe und Aufmerksamkeit ihrem kleinen Engel schenken konnte. Ihrer ganzen Hoffnung. Aber diese Hoffnung hatte man ihr jetzt genommen.

Jessica merkte, wie das Sedativum Wirkung zeigte und ihre Umgebung langsam wieder undeutlich wurde. Die Krankenschwester war aufgestanden. Auch sie murmelte etwas von ausruhen, dann verließ sie das Krankenzimmer.

Jessica war allein.

Sie dachte an ihren Freund, ihre vielen gemeinsam verbrachten Stunden, das gemeinsame Lachen, die Nacht, in der sie sich vereint hatten, voller Zärtlichkeit und Liebe. Er hatte auch die Nachricht nach anfänglichem Schock gut verarbeitet und ihr versprochen, sich um sie und ihr gemeinsames Baby zu kümmern. Enrico wollte sie nicht im Stich lassen. Ja, er hatte sogar versprochen, sie zu heiraten.

Wo war er also?

Jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte.

Aber er wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sie hier war. Sie hatte ihn nicht informieren können und Jessicas überforderter Vater und ihre gehässige Mutter mit Sicherheit auch nicht. Auch Enrico wohnte noch bei seinen Eltern, in deren Autowerkstatt er eine Lehre zum Mechatroniker machte.

Sie würde ihn gleich morgen früh nach dem Aufwachen anrufen. Heute war es ihr nicht mehr möglich, der Schlaf würde sie in den nächsten Sekunden übermannen und sie glaubte nicht ihr Mobiltelefon bedienen zu können, oder es überhaupt erst einmal zu finden.

Die Nacht musste sie also alleine verbringen, wie so oft. Nun aber auch ohne ihr Baby.

Tränen liefen Jessica über die Wangen und nässten das Kopfkissen. Ihr Blick wurde dadurch noch weiter getrübt.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, es klang wie das Quietschen einer Schranktüre. Sie öffnete noch einmal ihre Augen, trotz aller Schwere ihrer Lider. Das Geräusch war aus der Nähe der Zimmertüre gekommen. Sie drehte ihren Kopf in diese Richtung.

Kletterte da gerade ein Junge aus dem Schrank?

Sie blinzelte einige Male, aber sie war sich sicher, er schaute ihr direkt in die Augen. Er war kaum jünger als sie selbst, hatte hellbraune Haut, leuchtend blaue Augen und ein sanftes Gesicht. Er sah aus wie ein Engel. Dann zwinkerte er ihr zu, drehte sich um und verschwand lautlos. Der Engel war davon geschwebt.

War das der Geist ihres toten Kindes?

Oder eine Halluzination aufgrund der Medikamente, die man ihr gespritzt hatte?

Aber es sah so real aus, warum sollte sie sich das einbilden?

Ohne den Blick von der Türe zu lassen, tastete Jessica nach dem Notknopf, aber fand ihn nicht. Ihre Arme wurden immer schwerer. Auch wenn sie hoffte, der Engel käme noch einmal zurück und schenkte ihr einen weiteren Blick der Hoffnung, fielen ihre Augen erneut zu und dann kam das dunkle Schlammloch zurück, in das sie eintauchte und das alles um sie herum verschluckte.

1

Heute…

Auf den Gängen herrschte die übliche Hektik. Aus den Krankenzimmern drangen fordernde, hilfesuchende oder manchmal auch witzige Rufe auf den Flur. Das Personal huschte gestresst von Raum zu Raum, fast immer versucht, alle Patienten zufriedenzustellen und sich selbst den Druck nicht anmerken zu lassen. Zwischendrin versuchte eine Schwesternschülerin mehr oder weniger erfolgreich Sauerstoffgehalt, Blutdruck und Puls der Patienten zu messen und wieder andere räumten das Frühstücksgeschirr in einen Geschirrwagen auf dem Flur.

Dieser Zeitpunkt des Tages war der geschäftigste auf den Krankenstationen und der aktuelle Personalmangel, der sich seit der Pandemie noch verstärkt hatte, verschärfte die Situation noch um ein Vielfaches.

Einzig der Wegfall der Maskenpflicht war ein Lichtblick bei der schweißgebadeten Belegschaft. Eine winzige Spur der Entspannung in der Tagesarbeit, die sich dadurch in der Nach-Corona-Zeit wenigstens ansatzweise normalisiert hatte.

Für Baba war es umgekehrt, in jeglicher Hinsicht. Diese hektischen Phasen im Tagesablauf kamen ihm entgegen, nur das Tragen der Maske vermisste er, gab sie ihm doch einen gewisse Anonymität, die ihm ohne diesen Mund- und Nasenschutz nicht zukam. Deswegen behielt er meist die Maske auch noch weiterhin an, was in einem Hospital grundsätzlich nicht ungewöhnlich war.

Es war schon verrückt. War man beispielsweise im Supermarkt vor nicht allzu langer Zeit ohne Maske gesehen worden, wurde man regelrecht von vorwurfsvollen Blicken durchbohrt, jetzt erntete man schon teilweise misstrauische Blicke, wenn man tatsächlich noch eine trug.

Außer, man hatte einen weißen Kittel an.

Menschen waren schon seltsam.

Baba empfand die Erfindung der Maske und deren verpflichtendes Tragen als das Beste, was ihm seit langem widerfahren war. Eine Arbeitserleichterung, wie sie wahrscheinlich nie wiederkommen würde. Denn für Baba war es ein großer Vorteil, unerkannt zu bleiben und da war dieser Mund-/Nasenschutz perfekt. Er hatte es selbst immer wieder in seinem Umfeld unbemerkt getestet. Hatte er die Chance, jemanden zunächst mit Maske zu sehen und dann die gleiche Person bei Abnahme derselbigen zu beobachten, hatte er immer wieder festgestellt, dass das menschliche Gehirn fehlende Informationen entsprechend eigener Erfahrungen und Erlebnisse ergänzte. Und dabei konnte es völlig daneben liegen. Sah man also jemanden mit einer solchen teilweisen Gesichtsabdeckung, so konstruierte man sich dennoch die Teile, die man nicht erkennen konnte, dazu und es entstand ein eigenes Bild dieser Person. Hätte man also jemandem beschreiben wollen, wie diese Person aussah, konnte man das problemlos tun, obwohl die dazugehörigen Informationen tatsächlich fehlen. Sah man dann aber diese Person plötzlich ohne Maske, gab es meist eine große Überraschung und derjenige sah doch völlig anders aus. Diese Tatsache kam Baba natürlich grundsätzlich entgegen, denn sollte man ihn nur mit Maske gesehen haben, nun aber ohne, war eine Wiedererkennung unwahrscheinlich.

Wären da nicht seine Augen!

Wobei sich Baba stets bemühte, bei seinen Mitmenschen in guter Erinnerung zu bleiben, sodass allein eine Verdächtigung schon ungewöhnlich gewesen wäre.

Dafür hatte er einen guten Grund.

Denn Baba war ein Dieb und Betrüger.

Allerdings einer mit Prinzipien und einem gewissen Ehrenkodex. Nie würde er einen Menschen bestehlen, dem es schlechter ging als ihm, oder der es nicht irgendwie verdient hatte.

Zugegebenermaßen eine sehr eigene Vorstellung von Ehre und eine mit hohem Auslegungspotential.

Aber Baba würde es entsprechend gut argumentieren und erklären. Wenn er sich irgendjemandem gegenüber zu erklären hätte.

Aber diesen Jemand gab es nicht.

Abgesehen von seiner Katze. Und der war es offensichtlich egal, solange man ihr zu fressen und ein paar Streicheleinheiten gab, wenn ihr danach war. Insofern waren sich die beiden durchaus ähnlich.

Eigentlich wusste niemand von Babas wirklichem Beruf. Er stand keinem Menschen so nahe, dass es jemanden interessiert hätte. Insofern führte er ein relativ einsames Leben. Freunde hatte er nicht, genauso wenig wie Familie. Es gab keine Partnerin, mit der er sein Leben hätte teilen wollen, und diejenigen, bei denen es, angesichts seines Berufs, problemlos möglich gewesen wäre, wollte er nicht. Kriminelle, Junkies, Prostituierte. Wer wollte denn schon mit so jemandem leben?

Also beließ er es bei kurzen Romanzen, bei denen er nicht viel von sich preisgeben musste. Baba nannte sich Fremden gegenüber meist Jason, denn er glaubte, dass dieser Name zu seinem Äußeren passte. Sein wirklicher Name klang ihm zu afrikanisch und außerdem ging er niemanden etwas an. Erschwerend kam hinzu, dass er ein wenig schüchtern war. Dabei kam er gut bei den attraktivsten Damen an, was in erster Linie an seinem gutem Aussehen lag und zum zweiten an seinem unwiderstehlichen Charme.

Beides hatte er seiner Mutter zu verdanken, seinem Vater lediglich die sportliche Statur und die dunkle Haut, die sich aber mit der blassen Variante seiner Mutter zu einer Milchkaffeefarbe vereint hatte, die jeder irgendwie als attraktiv und exotisch empfand. Vor allem in Verbindung mit den hellblauen Augen und den feinen Zügen, die der mütterlichen Line entstammten. Sein weißes Gebiss war sein eigener Erfolg, denn er hatte, wohin er auch immer in seinem Leben gewechselt war, immer seine Zahnbürste dabei gehabt und großen Wert auf seine Zahnpflege gelegt. Er hatte wohl früh geahnt, dass ein strahlendes Lächeln in vielerlei Hinsicht zum Erfolg führen würde.

Mit all diesen Vorzügen hätte er sicherlich die eine oder andere Frau überzeugen können, aber er war nun einmal schüchtern. Und zudem auch noch wählerisch. Sie sollte nicht nur gut aussehen und humorvoll sein, sondern auch was im Kopf haben. Gleichzeitig achtete er darauf, dass keine von seinen Kurzbeziehungen jemals zu ihm nach Hause kam. Was in dieser Kombination unweigerlich dazu führte, dass irgendwann Fragen gestellt wurden, die er nicht beantworten wollte. Und damit war dann die Beziehung auch schon wieder vorbei. Manchmal sogar schon beim ersten Date, wenn eine Vertreterin des anderen Geschlechts zu neugierig wurde und er keine Lust hatte, diesen Fragen auszuweichen. Gelegentlich hatte Baba es auch schon geschafft sich über Wochen herauszureden, aber irgendwann war ihm das selbst zu anstrengend gewesen und er hatte dann die Flucht ergriffen.

Sein Name Babatunde bedeutete „Hoffnung nach der Rückkehr seines Vaters“, doch bereits als Kind im Waisenhaus - oder wie man das heute nannte, Jugendwohngruppe - hatte der Junge schnell seinen Namen zu Baba verkürzt, bevor man ihn anderweitig verunstaltete. Dort hatte man ihm auch bereits erklärt, er leide unter einer Persönlichkeitsstörung und sei zu keiner sozialen Beziehung fähig. Natürlich alles zurückzuführen auf sein zerrüttetes Elternhaus, das es ja in der Form eigentlich überhaupt gar nicht erst gegeben hatte. Baba hatte sich schon mehr als einmal die Frage gestellt, ob dies tatsächlich die Erklärung war oder für ihn nur eine willkommene Ausrede, denn innerlich berief er sich gerne auf diese Diagnose.

Natürlich neigten Psychologen dazu, jegliche von ihrer Norm abweichende Verhaltensmuster auf eine verdorbene Kindheit zu schieben, was zumindest in seinem Fall sogar stimmte. Einen Vater hatte es wohl nie nachweislich gegeben und seine Mutter hatte ihn seit seiner Geburt aus den Pariser Vorstadtbezirken herausbringen wollen. Sie war mit dem kleinen Sohn nach Deutschland gekommen, wo sie kurz danach an einer Viruserkrankung verstarb. So war der kleine, dunkelhäutige Baba von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden, mit kurzen Zwischenaufenthalten im Waisenhaus und der Prognose, dass wohl nie etwas Vernünftiges aus ihm werden könne. Was Baba dann auch bestätigte, als er mit dreizehn aus seiner Jugendwohngruppe floh und bei einer Straßengang in Frankfurt ein neues Zuhause fand. Dort wurde ihm alles beigebracht, was er zum Broterwerb benötigte: Laden- und Taschendiebstahl, kleine Betrügereien und Einbrüche. Seine, für sein Alter, zierliche Gestalt erlaubte es ihm oft, sich in Verstecke oder durch Hausöffnungen zu zwängen, die für andere nicht zugänglich waren.

Als man ihn allerdings zwingen wollte eine ältere Rollstuhlfahrerin, die sich gerade ihre Tagesration Lebensmittel von der Tafel abholte, zu bestehlen, kam so etwas wie ein schlechtes Gewissen in ihm auf und entwickelte sich zu seinem eigenen Ehrenkodex. Erneut ergriff er die Flucht und verließ seine neue fragwürdige Familie mit fünfzehn.

Als er zu dieser Zeit einmal, und da war er noch am Anfang seiner kriminellen Karriere, von einem Auto erfasst und in ein Krankenhaus gebracht worden war, hatte er dort festgestellt, wie einfach es ist, Patienten in Kliniken zu bestehlen, da diese nur wenig Möglichkeiten hatten, ihr Hab und Gut sicher zu verstauen. Also hatte er diese neue Geschäftsidee weiter verfolgt und ausgebaut und über die Jahre perfektioniert, was ihm ein solides, wenn auch schwankendes, Grundeinkommen bescherte. Vor allem aber hatte er dieses Konzept für sich behalten, kein anderer sollte ihm in die Quere kommen. Und soweit er das einschätzen konnte, war das auch so geblieben und er war der Einzige, der so systematisch in Krankenhäusern Menschen bestahl.

Und eben so befand er sich auch heute, gut zwanzig Jahre später, auf Beutezug in der Mainzer Uniklinik, diesmal im Bereich der Kardiologie im vierten Stock des Gebäudes 605.

Baba achtete genau darauf in welchen zeitlichen Abständen er in einen gleichen Bereich zurückkehrte, um sicher zu sein, dass er nicht unbedingt auf die gleichen Patienten traf. Vom Personal wurde er gar nicht wahrgenommen, so sehr war es mit sich selbst und seiner Arbeit beschäftigt. Es mochte sein, dass der eine oder andere ihn wiedererkannte als einen Kollegen, den man nicht so häufig sah, aber mehr auch nicht. Keiner machte sich Gedanken darüber, was der Mitarbeiter in wechselndem Outfit gerade machte oder vorhatte. Es gab keinen Anlass ihn darauf anzusprechen. Und so konnte Baba sich meist gefahrlos und entspannt über die Flure begeben und seinen finsteren Plänen nachgehen. Natürlich war seine exotische Hautfarbe in Verbindung mit den blauen Augen etwas, was nicht gerade unauffällig war, dennoch funktionierte es einwandfrei.

Er hatte verschiedene Vorgehensweisen ausgearbeitet und erprobt.

Heute simulierte er den Mitarbeiter des Krankenhaus-Sozialdienstes, der einfach freundlich nach dem Rechten sah und die Patienten nach ihren Wünschen befragte. Meistens gab es gar keine konkreten Fragen, die man ihm stellte, aber er war auch fachlich inzwischen soweit auf dem laufenden, dass er tatsächlich unverbindliche Auskünfte zur Vermittlung von Pflegeplätzen oder Reha-Maßnahmen erteilen konnte. Zumindest soweit, dass die Patienten sich damit zufrieden gaben. Ganz beiläufig fragte er auch, inwieweit den Menschen etwas fehlte, ob sie mit den Telefon- und Fernsehkarten zurechtkamen und dann ergab sich häufig der Bedarf des Aufladens dieser Guthabenkarten, oder die Patienten besaßen sie noch gar nicht. In einem solchen Fall kam jetzt Babas aufrichtige Freundlichkeit zum Tragen und er bot den Menschen an, dies für sie zu erledigen. Denn tatsächlich war es für viele der Patienten gar nicht möglich ins Erdgeschoss zu dem Automaten zu kommen, wo man die Karten erhielt oder aufladen konnte und das medizinische Personal hatte dafür oft keine Zeit. Und da der unverschämt hohe Tagessatz für die Nutzung dieser Karte schon das Guthaben in kürzester Zeit auffraß, war es nicht selten, dass man dem höflichen Krankenhausmitarbeiter mindestens zwanzig, häufig fünfzig Euro mitgab, um die Karte zu laden. Jetzt nahm aber Baba nicht einfach das Geld mit und kam nicht wieder, nein, er lud tatsächlich die Karte auf. Allerdings lediglich mit fünf Euro, den Rest behielt er. Dann brachte er die Karte zurück, das System funktionierte wieder und der Patient war glücklich und dankbar. Wenn ein oder zwei Tage später das Guthaben erneut aufgebraucht war, verdächtigte man ihn am allerwenigsten, man schob es auf die Technik, einen Fehler im System oder ähnliches.

Und das funktionierte.

Baba war selbst manchmal überrascht, wie naiv diese Menschen waren. Zuweilen kam es sogar vor, dass ein Patient gar kein Bargeld mehr hatte und ihm bereitwillig die Bankkarte mitsamt des Pincodes anvertraute. Was durchaus dazu führen konnte, dass der hilfsbereite Sozialdienstmitarbeiter auf dem Weg zum Aufladeterminal bei dem Geldautomat vorbeischaute, der sich nur zehn Meter weiter befand und sich ein zusätzliches Einkommen generierte. Auch hier übertrieb es Baba nicht. Bei einem Betrag von mehreren hundert Euro, der nicht nachvollziehbar das Konto verlassen hatte, war man eher bereit dem nachzugehen, als bei einem zweistelligen Betrag, der vielleicht noch nicht einmal auf dem Kontoauszug auffiel.

Das Problem hierbei war nur leider, dass genau diese Patienten, die Baba so bereitwillig in die Falle gingen, häufig auch genau diejenigen waren, die laut seinem Ehrenkodex tabu sein sollten. Ältere, hilflose Menschen, die einem Fremden ihr Weniges, was sie besaßen, anvertrauten. Und das brachte ihn in die Bredouille und er tat diesen Menschen dann häufig den Gefallen, den er angeboten hatte, ohne sich selbst davon etwas einzubehalten.

Und genau einen solchen Fall hatte er vor wenigen Minuten vor sich gehabt. Ein altes Mütterchen, frisch am Herzen operiert, ans Bett gefesselt und auf die Hilfe Fremder angewiesen.

»Niemand kommt mich besuchen«, hatte die Alte gejammert. »Da hat man seine Kinder großgezogen und das ist der Dank dafür. Seitdem mein Mann tot ist und ich mit meiner kleinen Rente auskommen muss, sind halt keine großen Geschenke mehr möglich. Da gibt es bei der Oma nichts mehr abzusahnen, da braucht man auch nicht mehr hingehen. Das ist schon traurig. Da freut man sich doch über einen netten, freundlichen Besuch wie den Ihren. Ich würde Ihnen gern ein kleines Trinkgeld für Ihre Hilfe geben, junger Mann, aber ich habe nur noch diese zwanzig Euro. Ich hoffe, dass mein Sohn die nächsten Tage vorbeikommt und mir etwas Geld mitbringt.«

»Nein, schon gut«, hatte Baba freundlich erwidert und sofort gewusst, dass er genau die zwanzig Euro, die ihm das Mütterchen anvertraute, auch aufbuchen würde, »das würde ich auch gar nicht annehmen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen, kann aber einen Moment dauern.«

Er hatte das Geld und die Karte genommen und war aus dem Krankenzimmer verschwunden. Ein prüfender Blick den Flur hinunter verriet ihm, dass die Visite der Ärzte näher rückte. Jetzt konnte er sich dem Teil der Station widmen, wo die Privatpatienten lagen und wo er in der Regel keine Skrupel hatte, seinen Geschäften nachzugehen. Nur häufig waren gerade diese Patienten skeptischer und zurückhaltender, was seine Dienste anging. Auch waren sie eher mit Smartphones und Tablets inklusive großzügigem Datenvolumen ausgestattet, wo sie ihre Unterhaltung streamten, ohne auf das altmodische und qualitativ bescheidene Entertainmentangebot des Krankenhauses angewiesen zu sein.

Aber Baba hatte an diesem Morgen schon über hundert Euro verdient und es war noch früh, sodass er völlig entspannt dem weiteren Verlauf des Tages entgegensah. Und morgen würde er in einem anderen Bereich der Unikliniken auf Beutezug gehen. Das war ja das praktische an diesen Klinikverbund, dass man alles beisammen hatte, aber kein Bereich mit dem anderen kommunizierte, vor allem dann nicht, wenn es Probleme gab.

Nie würde beispielsweise eine Kinderklinik der Herzklinik mitteilen, dass es dort wohl einen Mitarbeiter gab, der Geld veruntreut hatte, auch wenn diese die gleiche Erfahrung gemacht hatte. So kam niemand auf die Idee, dass es sich eventuell um die gleiche Person handeln konnte und ein dazugehöriges professionell kriminelles System, das dahinterstand.

Wobei die Kinderklinik für Baba ein absolutes NoGo war. Nicht nur, weil er keine Kinder bestehlen wollte, sondern, weil er sich dort äußerst unwohl fühlte. Kinder in Betten, die teilweise qualvoll weinten, erinnerten ihn zu sehr an seine eigene Zeit im Waisenhaus und das waren keine schönen Erinnerungen.

»Nee, danke. Da brauchen Sie sich nicht bemühen, ich habe meine Leute, die solche Sachen für mich erledigen«, versicherte ihm der Mann mittleren Alters, bei dem Baba inzwischen angekommen war und der bereits im OP-Hemd dasaß. Allein schon wegen seiner arroganten Art hätte Baba ihm gerne etwas abgeknüpft. »Ich bin hier eh nur für einen Tag stationär, um diesen kleinen Eingriff machen zu lassen. Ist ohnehin unnötig. Da will das Krankenhaus doch nur wieder an mir verdienen. Von wegen nur zur Kontrolle. Ich werde hier gleich geholt, dann geht’s zur Untersuchung und den Rest des Tages muss ich mich langweilen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.«

Sofort schwenkte Baba zu einer anderen Strategie um, die sich bewährt hatte.

»Hat man Ihnen schon den Beutel für die Wertsachen gegeben, die Sie für die Dauer der Untersuchung auf der Station unter Verschluss geben können?«, fragte er beiläufig. Natürlich war er auch auf solche Situationen vorbereitet und bestens ausgestattet.

»Nein, das wusste ich nicht, das ist gut«, antwortete der Mann sichtlich erleichtert. »Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, wo ich am besten meine Brieftasche und mein Handy verstecke.«

Baba zog aus seiner Aktentasche, in der er allerlei Kopien von Formularen und sonstige, für ihn hilfreiche Utensilien verstaute, einen solchen Beutel.

»Schreiben Sie Ihren Namen und Ihre Zimmernummer drauf und packen Sie Ihre Sachen hinein. Aber warten Sie nicht bis zur letzten Minute. Manchmal kommt derjenige, der Sie zur Untersuchung abholt, ganz plötzlich und dann geht es sofort los. Wenn dann keine Schwester greifbar ist, liegt Ihr Zeug offen auf dem Tisch herum. Das ist wie eine Einladung zum Diebstahl.«

»Danke für den Hinweis«, erwiderte der Patient und suchte sofort seine Wertsachen zusammen, um sie in den Beutel zu stecken. Ein mit Geld und Karten gefülltes Portemonnaie, ein iPhone und seine Armbanduhr, die nicht billig aussah.

Welcher Idiot ging denn mit einer wertvollen Uhr ins Krankenhaus. Das schrie ja förmlich nach Bestrafung!

»Soll ich beim Rausgehen der Schwester Bescheid sagen, dass sie bei nächster Gelegenheit mal nach Ihnen schauen soll. Ich hoffe, sie findet noch rechtzeitig Zeit dazu.«

»Ja, gerne. Oder könnten Sie den Beutel gleich mitnehmen und dort deponieren? Dann muss ich nicht in diesem erniedrigenden Outfit nach draußen und kann sicher sein, dass die Sachen in Sicherheit sind.«

»Da können Sie absolut sicher sein«, erwiderte Baba und verkniff sich ein Grinsen. Das war schon fast der Tages-Jackpot. Er stand auf, nahm den Beutel und wandte sich zur Tür. »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Eingriff und die beste Gesundheit.«

Jetzt musste sich Baba beeilen. Die weiteren Patientenzimmer würde er fallenlassen und sich mit seiner Beute schnellstens in Sicherheit begeben. Sollte der Mann noch irgendetwas vergessen haben und nach dem Beutel fragen, könnte es Probleme geben, da sollte er besser über alle Berge sein. Und wenn ihn sein geschulter Blick nicht getäuscht hatte, war in dieser Geldbörse genug drin, was er nutzen konnte, um auf weitere Tageseinkünfte verzichten zu können.

Gerade als Baba nach der Türklinke griff, trat eine Krankenschwester ein. Sie beachtete ihn nicht weiter und hob einen leeren Plastikbeutel in die Luft. Es war derselbe, den Baba selbst in der Hand hielt.

»Hier noch etwas wichtiges, Herr Bernhard, bevor es gleich losgeht«, rief sie.

Jetzt musste Baba handeln.

Schnell.

Er musste sich entscheiden. Flucht und Sichern der Beute, mit dem Risiko gefasst zu werden und selbst, wenn nicht, nie wieder in diesem Teil der Klinik arbeiten zu können?

Oder Aufgeben der Ertrags und sauber hier rauskommen. So wie er es im Ernstfall immer machte.

»Schon erledigt, Schwester«, rief er kapitulierend und hielt ihr den prall gefüllten Beutel wie selbstverständlich entgegen.

»Oh«, entgegnete sie, ohne Verdacht zu schöpfen, und lächelte. »Da hat schon jemand vorgearbeitet. Prima. Dann halten Sie sich bereit, Herr Bernhard.«

Damit verschwand sie ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, mitsamt der schon sicher geglaubten Beute.

Baba hob noch einmal kurz die Hand zum Gruß und verließ das Zimmer.

Es war zu gefährlich auf dieser Station weiter zu machen. Auch wenn die Schwester ihn nicht beachtet hatte, so war es doch ein Risiko, wenn sich in einem anderen Raum ein ähnliches Szenario wiederholen sollte.

Also machte sich Baba auf den Weg in die nächste Station auf dem anderen Flügel.

Es gab noch viel zu tun.

2

»Mach dir keine Gedanken, das wird schon werden«, sprach ihr Jerome aufmunternd zu. »Du kannst das. Konzentriere dich auf deine Arbeit und mach das, was du gelernt hast. Dann kriegst du das schon hin.«

Wenn das so einfach wäre, dachte sich Jessica und atmete tief durch. Ihr linkes Augenlid zuckte unruhig auf und ab. Sie saßen im Krankenhauscafé, das um diese Stunde wenig besucht war, bei einem Cappucino, wobei Jessica noch nicht einmal daran genippt hatte.

Sie war plötzlich verunsichert. Vor einer Stunde war sie noch guten Mutes gewesen. Jetzt, wo ihr Arbeitsbeginn unmittelbar bevorstand, hatte sich all ihr Mut und ihre Zuversicht in Luft aufgelöst.

»Und wenn ich was falsch mache?«, erwiderte sie nervös. Ihre Stimme bebte. »Ich habe solche Angst, dass ich es wieder versaue. Das habe ich schließlich schon einmal.«

»Das ist doch ewig her, Jessica«, versuchte ihr Jerome weiter Mut zuzusprechen und wehrte mit einer übertriebenen Handbewegung ab.

Es waren solche Bewegungen, die ihn von weitem schon als Homosexuellen erkennen ließen. Viele Menschen hatten ein Problem damit und werteten ihn dann als Schwuchtel oder Tunte ab. Für ihn jedoch waren das keine Schimpfwörter, sondern nur Bestätigung dessen, was seine tiefste Überzeugung war. Und insofern war so etwas für ihn keine Beleidigung, er stand über diesen Dingen. Anders als die intoleranten Leute, die ihn damit treffen wollten.

Für diejenigen Menschen, die Jerome besser kannten, war er ein höflicher und zuvorkommender, witziger und offenherziger Gesprächspartner, der immer ein offenes Ohr hatte, selbst für die, die ihn verachteten.

Und erst recht für Jessica. Jerome war ihr bester Freund. Und seine exaltierte Körpersprache war für sie nur eine lustige Ablenkung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er das nicht sogar nur ihretwegen machte, denn sonst, im normalen Umgang mit anderen, fiel ihr das nicht so extrem auf.

Jerome hat es wieder mal geschafft.

Sie musste lächeln. Etwas, was ihr im Leben nicht so leicht fiel und selten vorkam. Zumindest nicht, seitdem sie diese Katastrophe vor vielen Jahren erlebt hatte. Die Fehlgeburt ihres Kindes hatte sie komplett zusammenbrechen lassen, lange unfähig, mit anderen darüber zu sprechen und dadurch auch unfähig, es gezielt zu verarbeiten. Jessicas Mutter hatte sie danach erst recht ignoriert und sie mit ihren Problemen alleine gelassen. Ihr Vater hatte dies zum Anlass genommen, noch mehr zu trinken als zuvor und hatte sich seitdem in ein menschliches Wrack verwandelt. Ihre Ausbildung hatte sie abgebrochen, nachdem sie zunächst lange durch eine akute Depression ausgefallen war und nach einem seichten Versuch des Wiederantritts hinter ihrem Rücken geredet wurde und damit ein Rückfall vorprogrammiert gewesen war. Der einzige Mensch, der sie vor dem Abgrund hätte retten können, war ihr Freund und Vater des Kindes gewesen. Aber als stolzer Sizilianer, der sich komplett der Gründung einer Familie hingegeben wollte, hatte Enrico sich in seiner chauvinistisch-machistischen Ehre verletzt gefühlt und sie fallen gelassen wie heiße Spaghetti. Nichts mehr von all den leeren Versprechungen des Kümmerns, des Versorgens und der ewigen Liebe. Alles um Jessica herum war zusammengestürzt, wie ein Kartenhaus mit ungleich geformten Karten. Von Anfang an dazu verdammt zu scheitern.

Das Einzige, was ihr wie ein Glücksbringer am Schlüsselbund dauerhaft Halt gegeben hatte, war seltsamerweise das Bild in ihrer Erinnerung von dem blauäugigen Engel, der trotz des Unglücks damals an ihrer Seite gewesen war und ihr all die Jahre mit seinem sanften Blick Mut zusprach.

Nun, einundzwanzig Jahre und unzählige Therapiestunden, zu denen sie sich dann endlich doch noch aufgerafft hatte, später, versuchte sie sich ein weiteres Mal an einem Comeback in die Arbeitswelt und eigentlich hatte sie sich gut gewappnet gefühlt. Für einen dritten Anlauf einer Ausbildung war sie weggegangen, wo sie keiner gekannt hatte und war erst vor ein paar Monaten zurückgekommen, ohne, dass sie es irgendjemandem mitgeteilt hatte. Außer Jerome, ihrem einzig verbliebenen Freund, den sie in einer Entzugsklinik kennengelernt hatte. Sie hatten sich gegenseitig aufgebaut und Halt gegeben, wobei Jerome, der körperlich und von seiner Art her noch zerbrechlicher wirkte als Jessica, tatsächlich der Stärkere von ihnen war.

Er war es auch, der sie überredet hatte, in der Klinik anzufangen, wo auch er ein Jahr zuvor einen Job als Krankenpfleger bekommen hatte. Es gab Personalmangel und sie hatte eine abgeschlossene Ausbildung. Kein Krankenhaus konnte es sich erlauben zu wählerisch bei der Einstellung zu sein, so groß war die Not. Und wenn jemand eine medizinische Ausbildung hatte, sich nicht zu idiotisch anstellte und freundlich war, gab es keinen Grund, ihn nicht einzustellen. Egal, ob man die Ausbildung, wie in Jessicas Fall, erst mit Mitte dreißig beendet hatte. Man hatte derzeit das seltsame Gefühl, dass selbst als ausländische Fachkraft deutsch nicht wichtig und als Deutscher Fachwissen nicht wichtig war.

Eine verrückte Welt.

Lange hatte Jerome auf sie eingeredet und es endlich geschafft, dass sie sich in der Gynäkologie des St.-Martin-Krankenhauses in Mainz vorgestellt hatte und man sie dort mit Kusshand nahm. Kurz war man skeptisch gewesen, warum sie nur als Krankenpflegehilfe anfangen wollte, aber mit dem Blick auf ihren Lebenslauf und der Erklärung, sie möchte langsam wieder einsteigen, war man sich einig geworden.

Was Jessica dennoch verunsicherte, war die Tatsache, dass es genau das Krankenhaus war, in dem sie ihre Fehlgeburt erlitten hatte. Ihre Psychotherapeutin und auch Jerome allerdings waren aber der Überzeugung, dass dies erstens lange her war, sich sogar der Name des Hauses verändert hatte, und zweitens dies sogar den Effekt des Verarbeitens verstärken könnte und somit endlich ein normales Leben ohne Ängste und Medikamente in greifbarer Nähe schien.

Ebenso die Tatsache, dass sie es in diesem Bereich mit werdenden Müttern und somit auch mit solchen, die ihr Kind verloren, zu tun haben würde, könnte zu einer Art Schocktherapie führen. Aber wenn hier der Einstieg gelang, dann würde sie es geschafft haben.

In der Vorfreude auf den Job war auch alles in Ordnung gewesen, doch nun, am ersten Arbeitstag, wurden Jessicas Knie weich.

Zudem hatte sie gerade in dem Café, in dem sie saßen, eine Suchanzeige der Polizei entdeckt, auf der ein kleines Mädchen abgebildet war. Ein Mädchen, wie ihre kleine Viktoria vielleicht ausgesehen hätte, wäre nicht diese Katastrophe passiert. Solche Meldungen warfen sie immer wieder zurück in ihre Scheinwelt der Erinnerungen.

»Die werden dich nicht gleich assistieren lassen, wenn sie einen Patienten von oben bis unten aufschneiden«, lachte Jerome und streichelte Jessica liebevoll den Arm.

Wobei, Jessica hatte wahrscheinlich schon mehr Blut gesehen als so mancher Arzt. Vor allem ihr eigenes.

Jerome drückte ihr einen Kuss auf die Wange und stand auf. Er deutete auf sein Tattoo am Unterarm. Das chinesische Schriftzeichen für Hoffnung.

»Lerne erstmal die Kolleginnen kennen, die sind hier alle total nett. Und finde dich ein wenig zurecht. Schick mir eine WhatsApp, wenn du Pause machst, dann treffen wir uns hier in der Cafeteria und du erzählst mir, wie es ist. Okay?«

Jessica nickte. Der Kloß in ihrem Hals war immer noch da, aber vor allem deswegen, weil sie von Jeromes Mitgefühl wieder einmal überwältigt war.

Wer einen solchen Freund hatte, brauchte keinen zweiten.

3

»Na, wie war die Woche, mein Schatz«, fragte ihr Vater wohlwollend vom Fahrersitz des schweren Mercedes-SUV.

»Anstrengend«, antwortete Sarah und sie meinte es exakt so, wie sie es sagte.

Es war eine schwierige Woche gewesen in der Ausbildungsstätte am Flughafen Hahn im Hunsrück. Dort, wo schon Hunderte Polizeischüler aus Rheinland-Pfalz ihr Studium absolviert hatten. Neben den inhaltlichen Themen wie Kriminalistik, Recht und Psychologie, standen dort auch Sport und Schießübungen an der Tagesordnung. Nicht, dass Sarah das keinen Spaß machte, im Gegenteil.

Allerdings war Sarah sehr ehrgeizig und stand natürlich unter ganz besonderer Beobachtung und Bewertung ihres Vaters, des Mainzer Polizeipräsidenten. Sie wollte zwar immer Polizistin werden, wusste allerdings nie, ob es an den Genen lag, an den täglichen Erzählungen des Vaters beim Abendessen oder ihren ganz eigenen Interessen und Vorstellungen von Zukunft ihrer eigenen, sowie der dieses Landes. Natürlich spielte es auch eine Rolle, dass sie eine junge Frau von zierlicher Statur war und damit nicht unbedingt dem Musterexemplar einer Polizistin entsprach. Aber davon ließ sie sich nicht beirren, im Gegenteil, es stachelte sie noch mehr an. Besonders, um es den Machos dieser Welt zu beweisen, die sie in ihrer Jugend, aber auch heute noch im Kollegenkreis belächelten.

Mit einem Meter dreiundsechzig Körpergröße gerade so die Einstellungsvoraussetzungen erfüllt, hatte Sarah bislang in allen Fächern überdurchschnittliche Noten, teilweise die maximalen Punktzahlen erreicht. Auch beim Kampfsportunterricht war sie hoch motiviert und legte dabei deutlich kräftigere Männer problemlos auf die Matte. Natürlich hatte ihr Vater eine ganz besondere Erwartung an seine Tochter, insgeheim träumte er sogar davon, dass sie eines Tages seinen Platz an der obersten Spitze des Polizeipräsidiums übernehmen könnte. Das würde zwar noch einige Zeit dauern, aber je früher die erforderlichen Wege geschaffen wurden und seine Tochter in die richtigen Bahnen gelenkt werden konnte, desto besser war es. Das hatte er zwar nie so formuliert, aber Sarah wusste, wie er dachte.

»Keiner hat gesagt, dass es ein Spaziergang wird«, quittierte Hans Marquardt das Stöhnen seiner Tochter.

»Ja, aber manchmal würde ich mir gerne eine Verschnaufpause gönnen.«

»Sei froh, dass du noch so jung und fit bist und genieße diese Zeit. Irgendwann kommen schon ganz automatisch die ersten Kreuzschmerzen, wenn du nur lange genug an deinem Schreibtisch sitzt.«

»Ich glaube, das wird nie passieren, Paps. Ich werde immer Sport machen und mich immer fit halten. Ich kann mir nicht vorstellen an einem Schreibtisch zu versauern. Das ist ja auch mit der Grund gewesen, warum ich mich für den Polizeidienst entschieden habe. Ich möchte raus auf die Straße. Ich will nicht am Schreibtisch vor Langeweile verhungern.«

»Im Gegenteil meine Süße, mit dem richtigen Schreibtischjob verhungerst du nicht, mit dem Job auf der Straße schon eher.«

»Du weißt wie ich das meine, Paps. Ich will natürlich keine Straßenpolizistin sein, das weißt du. Nur, ich stelle mir im Moment einen reinen Schreibtischjob noch als sehr langweilig vor. Ich denke, die Mischung macht es aus.«

»Die Aufgaben und Einstellung verschieben sich. Früher war es für mich auch das Größte, Verbrechen aufzuklären, die Bösen dingfest zu machen und ihrer Strafe zuzuführen. Dafür stehe ich auch heute noch. Aber mit zunehmendem Alter bekommt man eine gesunde Distanz zu dem Job auf der Straße und kennt die Strippen, die im Hintergrund gezogen werden müssen. Wie heißt es so schön: Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, der Kopf ist dafür verantwortlich, dass es dem ganzen Fisch gut geht, bis zur Schwanzspitze. Und das ist jetzt meine Aufgabe. Ich verhafte nicht mehr persönlich den Abschaum auf der Straße, ich sorge dafür, dass dort, wo man den Mob dingfest macht, auch die richtigen Mitarbeiter sind. Und glaube mir, das ist nicht immer einfach, bei all den Skandalen der letzten Zeit bundesweit mit Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfen, mit Reichsbürgern innerhalb der Behörden und irgendwelchen anderen verrückten Verschwörungstheoretikern innerhalb der Polizei, gibt es genug zu tun für einen, der nur an einem Schreibtisch sitzt.

---ENDE DER LESEPROBE---