Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall - Berndt Schulz - E-Book
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Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall E-Book

Berndt Schulz

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Beschreibung

Der Tod kennt keine Gnade – entdecken Sie „Engelmord“ von Berndt Schulz jetzt als eBook bei dotbooks. Der Engel ist tot. Eiskalt. Kein Tropfen Blut pulsiert mehr durch seine Adern. In einem Freizeitpark bei Fulda wird eine schöne junge Frau gefunden. Niemand scheint die Tote zu kennen oder zu vermissen. Ist sie ein weiteres Opfer jener Schlepper, die blutjunge Osteuropäerinnen nach Deutschland locken und sie zur Prostitution zwingen? Der Fall „Engelmord“ führt Hauptkommissar Velsmann und sein Team tief in die Abgründe von Sex-Mafia und Menschenhandel ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Engelmord“ von Berndt Schulz. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag

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Über dieses Buch:

Der Engel ist tot. Eiskalt. Kein Tropfen Blut pulsiert mehr durch die Adern. In einem Freizeitpark bei Fulda wird eine engelsgleiche Frau tot aufgefunden. Niemand scheint die Tote zu kennen oder zu vermissen. Ist sie ein weiteres Opfer jener Schlepper, die blutjunge Osteuropäerinnen in Busse locken und sie gewaltsam nach Deutschland entführen? Der Fall „Engelmord“ führt Hauptkommissar Velsmann und sein Team tief in die Abgründe von Sex-Mafia und Menschenhandel …

Über den Autor:

Berndt Schulz wurde 1942 in Berlin geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main.

Bei dotbooks erscheint Berndt Schulz' Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst: »Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall« »Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall« »Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall« »Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall« »Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall« Die ersten zwei Romanen der »Martin Velsmann«-Reihe sind auch als Sammelband unter dem Titel »Novembermord & Engelmord« erhältlich.

Außerdem erscheinen bei dotbooks Berndt Schulz' Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz«, der Roman »Eine Liebe im Krieg« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlicht Berndt Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald folgende Bände der »Tempelritter-Saga«:

»Die Suche nach Vineta«, »Das Grabtuch Christi«, »Der Kreuzzug der Kinder«, »Die Stunde der Gerechten«, »Die Säulen Salomons«, »Das Grab des Heiligen« Und die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2014

Copyright © der Originalausgabe 2006 Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Atelier Nele Schütz, München, unter Verwendung von shutterstock/Keijo Savolainen, Kostenko Maxim

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-841-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Berndt Schulz

Engelmord

Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall

dotbooks.

ERSTER TEIL HITZE

1.

Er sah, daß die Brände noch weit genug entfernt waren. Dennoch beunruhigten ihn die Rauchfanale am Horizont so sehr, daß in seinem Kopf das trostlose Pochen entstand, das er fürchtete. In sein Gedächtnis drängten sich sofort wieder die Bilder des anderen Feuers. Er erinnerte sich an das freistehende Haus in schwarzen Flammen. Und er sah sich am anderen Ufer des mit Schilf halb zugewachsenen Flusses stehen, ein zitternder Junge, der nicht wegsehen konnte. Jetzt beugten die Flammen seinen Stolz und seine Zuversicht nicht mehr, aber wenn er Feuer roch, das sich vorwärts fraß, sah er dieses Bild, als gäbe es keine anderen, fünfzigjährigen Bilder dazwischen.

Die schwarzen Rauchwolken der Brände im Süden, dort, wo sich die Kliniken befanden, wuchsen unaufhörlich, sie drangen als hauchdünne Geruchsfäden durch die versenkten Seitenfenster seines Autos. Er hätte die Fenster gern hochgedreht, aber seine Klimaanlage funktionierte nicht, und er fürchtete sich vor der schweißtreibenden Hitze im Wageninneren. Statt dessen setzte er seine Sonnenbrille auf und blickte durch die Frontscheibe zum wolkenlosen Himmel. Bald brennt alles, dachte er, alles wird schon dafür bereitet. Und, verdammt, während die Region in Flammen steht, tun sie, als sei es ein Ferienspaß. Jeden Tag aufgedrehte Rekordmeldungen über die Hitzewelle, jeden Tag gut verkaufte Sonnenbrände.

Aber ging ihn das noch etwas an?

Er registrierte zu beiden Seiten der Straße die üppig bewaldeten Hügel als etwas Vertrautes, die Wipfel der Bäume konnte er nicht sehen. Als ein Schwarm Graugänse vom See her über ihn hinwegflog, glaubte er, das Rauschen ihres Flügelschlags zu hören. Er beugte sich vor und sah über die Ränder seiner Sonnenbrille zu den Vögeln. Sie sind auf der Flucht, dachte er. Sie haben ein zu feines Gespür für die Veränderungen, für das Unheil, das wir anrichten. Vielleicht jedoch sehe ich das alles zu dramatisch, weil meine Stimmung auf dem Tiefpunkt ist.

Er merkte seit einiger Zeit, daß seine Grübeleien immer schwärzer wurden und seine Handlungen immer panischer. Als bewegte er sich auf etwas zu, das immer schnelleres und entschiedeneres Reagieren erforderte. Als hätte er keine Alternativen mehr. Er konzentrierte sich wieder auf die Landstraße und dachte: Ich schiebe mein Leben auf einen Abgrund zu. Oder ist es so, daß es vor mir flieht, wie diese Vögel vor dem Feuer?

Die Frage ist doch, dachte er, welchen Sinn dieses Leben hat, wenn mich das ständige Umherirren und Unterwegssein immer weiter von meiner Frau entfernt.

Martin Velsmann spürte seine Müdigkeit. In seinem Kopf pochte es immer stärker. Alle Ereignisse in dieser Hitze bedrückten ihn. Die Hitze brachte Vorahnungen mit sich, die sich bei näherem Hinsehen als völlig haltlos herausstellen mußten, denn hatten die Temperaturen und Waldbrände mit ihm und seiner morbiden Untergangsstimmung wirklich etwas zu tun?

Er stellte das Radio ab, in dem gerade eine aufgedrehte Moderatorin mit einem Kiekser in der Stimme neue Hochmeldungen heraussprudelte. Es gab sogar einen Preis zu gewinnen, wenn man sofort im Sender anrief. In der eingetretenen Stille wurde das Brummen des Automotors lauter, und Martin Velsmann hatte plötzlich wieder das unsinnige Gefühl, sich in diesem Augenblick auf etwas Entscheidendes in seinem Leben zuzubewegen. Unbewußt nahm er den Fuß vom Gaspedal und überlegte. Ich neige zu völlig blödsinnigen Inszenierungen, dachte er. Das bringt die ständige Alarmbereitschaft mit sich.

Der Straßenbelag begann, blasige Flecken zu bilden, nur die Wälder lagen im Schatten. Ketten von jaulenden Löschzügen passierten ihn jetzt in Gegenrichtung. Als sie vorbei waren, überholte ihn plötzlich auf Tuchfühlung ein roter Sportwagen, den er im Rückspiegel nicht kommen gesehen hatte. Martin Velsmann schrak zusammen. Der junge Fahrer des Wagens fuhr einen Moment neben ihm her, blickte höhnisch zu ihm herüber und startete dann durch.

Auch der Fahrtwind brachte keine Kühlung.

Die hier auf drei Fahrspuren verbreiterte Bundesstraße führte an einem Ort vorbei, der zu beiden Seiten wie hingeworfen und vergessen wirkte. Martin Velsmann nahm alles aus den Augenwinkeln wahr, aber er registrierte es genau, weil sein Kopf wieder leer war. Er war müde. Er dachte an nichts anderes als an sein Fahrtziel, das er in wenigen Minuten erreichen mußte. Und die Rauchfahnen hinter ihm standen noch immer sichtbar wie eine Mauer, die jede Rückkehr unmöglich zu machen schien.

Die Türme von Schlüchtern kamen in Sicht. Er fuhr langsam. Vor der Stadtsilhouette weideten Schafe, die Tiere standen regungslos und ergeben in der Sonne. Wie friedvoll war hier früher alles gewesen, kühl und still und schattig in langen duftenden Sommern. Rechts kletterten die ausladenden Villen der Reichen die Hänge zur Hochebene des Vogelsbergs empor, links machten Einfamilienhäuser den Eindruck, als duckten sie sich vor den Blicken des Vorbeifahrenden. Straßenunebenheiten schüttelten Velsmann plötzlich durch, er hörte die Stoßdämpfer krachen. Auf einer Baustelle lag ein verunglücktes Auto auf der Seite. Überall hatte man Schilder aufgestellt, die vor irgend etwas warnten.

Er kam nach Stahlau. Die Stadt der Märchen. Vor Jahresfrist war sie ihm wie die Stadt vorgekommen, in der sich Täter zusammenrotteten. Er sah die Gesichter, Gestalten, Ereignisse vor sich. Es war eine düstere Zeit gewesen.

Reiß dich mal zusammen, dachte Martin Velsmann. Entweder du baust gleich einen Unfall, oder du denkst an etwas Schöneres. An die klaren, stillen Tage im letzten Winter auf dem Darß beispielsweise. Oder wie wäre es mit diesem triumphalen Sonnenuntergang bei Barth, Andrea und die Kinder an meiner Seite? Es gibt sie, die schönen Tage.

Seine Kopfschmerzen nahmen mit jedem Kilometer, den er fuhr, beunruhigend zu. Er wußte, daß er dagegen nichts tun konnte. Sie würden in den nächsten Stunden wie ein Feuerball hinter seinen Augen aufsteigen.

Westlich von Stahlau ragten die Seifenfabriken in den Himmel. Mit ihrem eigentümlich weichen Grundriß ohne rechte Winkel und der Außenhaut von rotbraunem Sandstein wirkten sie wie aus einer anderen, friedfertigen Zeit. Dicht daneben quoll aus drei silbernen Hochschornsteinen weißer Wasserdampf. Dahinter stand das in matten Schieferfarben schimmernde, unbewohnte Gebirge, als warte es darauf, daß der Spuk verschwand.

Martin Velsmann steuerte seinen flaschengrünen Scorpio von der Bundesstraße herunter, fuhr eine Zeitlang parallel dazu und bog dann auf Forstwege in Richtung Wasser ein. Unter den Reifen knirschten die losen Schottersteine. Er sah zur Rechten die alten Pferdegestüte mit ihren weißen Gattern und flachen Ställen und ringsherum das tote, farblose Gras. Er erreichte den Stausee und stieg aus.

Er war lange nicht hier gewesen. Seit sich im letzten Winter in den Anliegergemeinden bizarre Morde ereignet hatten, mied er den Ort, doch wenigstens an seinem einzigen freien Tag wollte er in der Nähe von Wasser sein. Denn sein Alltag verbrannte in diesem Sommer in Hitze, Flammen und Rauch.

Es war still. Menschen sah er nicht. In der Ferne stolzierten einige Schwarzstörche über die Uferwiesen.

Das Wasser hatte sich vom Ufer zurückgezogen, der Betonrand der Einfassung war zu sehen, dort lagen ausgebleichte, dünne Bäume. In aufgeschwemmtem Sand und schmutziggrünem Schlick zeigten sich bunte Steine und schimmerndes Schildpatt. Martin Velsmann glaubte plötzlich das Kopfsteinpflaster einer früheren Straße zu erkennen. Wie ein Tier, das die Lefzen zurückzog und sein Gebiß zeigte, gab die Uferbefestigung eine Reihe von nebeneinander verlegten Steinquadern frei. Sie mußten sehr alt sein, denn in den Stein hatten sich parallellaufende, tiefe Furchen von Wagenrädern eingegraben.

Sein Handy klingelte. Mit einem Seufzer zog Velsmann es aus der Brusttasche seines blauweißen Sporthemdes.

»Velsmann!«

Eine fremde Stimme fragte: »Hauptkommissar Martin Velsmann?«

»Ja.«

»Tibor Hirschgraben. Ich gebe ein Informationsblatt in Huttenstein heraus. Vielleicht kennen Sie es.«

»Nein.«

»Es geschehen hier seltsame Dinge. Ich wollte Ihnen …«

»An meinem freien Tag interessieren mich keine seltsamen Dinge. Rufen Sie in der Generaldirektion in Schlüchtern an.«

»Habe ich ja. Ich erhielt die Nummer der Dienststelle in Fulda und dort Ihre Nummer.«

Velsmann unterdrückte einen Fluch. »Dann müßte es sich schon um Mord handeln.«

»So ungefähr.«

»Sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.«

»Können Sie herkommen? Ich will Ihnen etwas zeigen. Es hat mit diesen Dingen des letzten Jahres zu tun.«

Nein! dachte Velsmann. Davon will ich nichts wissen. Er hätte am liebsten nicht mehr hingehört. Statt dessen sagte er: »Ist es wichtig?«

»Sind Sie Polizist?«

Er ließ sich beschreiben, wohin er kommen sollte.

»Aber es kann eine Stunde dauern«, sagte er, »ich muß noch etwas erledigen.«

»Ich warte.«

Martin Velsmann sah in das klare Seewasser, er glaubte bis auf den Grund blicken zu können. Einen solchen Juli gab es noch nie, dachte er. Er legte sich nahe am Ufer ins heiße Gras und schloß langsam die Augen.

Der Mann mit dem Kinnbart über der farblosen Haut seines kräftigen Halses spitzte den Mund, aber er ließ keinen Ton heraus. Während sein schwarzweißer Hütehund, den er Omar nannte, herumschnüffelte, ging er mit mächtigen Schritten über den Hof. Das rot-schwarz-karierte Hemd über seiner Hose ließ einen vorgewölbten Bauch erkennen, und obwohl er noch nicht alt war, duckte er sich beim Gehen manchmal, als läge etwas Schweres auf seinen breiten Schultern. Mit einer Stimme, in der ein Lachen saß, ohne daß er je gelacht hätte, sagte er: »Omar! Platz! In den Schatten! Oder willst du dir einen Sonnenstich holen?«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und blieb unentschlossen stehen. Der Mann trat nach ihm. Winselnd sah ihn das Tier an. Sogleich überflutete den Mann eine Welle des Mitleids, und er streichelte Omar. Mein Gott, ich muß mich wirklich beherrschen, dachte er, sonst werde ich wie sie. Und welches Recht besitze ich dann noch!

Er schaute über den Hof, der in der Mittagsglut lag. Dann betrat er ein Stallgebäude. Dort, wo es süßsauer nach Schweinen roch, ein Geruch, den er mochte, hatte er in einem länglichen Raum seine Computer aufgebaut. Vor den Fenstern zum Hof, deren Glas manchmal mit noch feinerem Strohstaub bedeckt war als die zu den leeren Ställen im Rücken, stand sein ausladender Schreibtisch. Darauf lagen mehrere Tastaturen, die er jetzt zurückschob. Er rückte die Stapel von Zeitungen zu sich heran. Im Hintergrund zuckten die roten Linien auf den Displays, aber die Maschinen waren nun ausgeschaltet.

Der Mann begann, Meldungen auszuschneiden. Manchmal las er, dann verhärtete sich sein Gesicht, seine Lippen wurden schmal, er schüttelte den Kopf. Der Hund lag zu seinen Füßen und blinzelte zu seinem Herrn auf. Vielleicht begriff das Tier, was er tat? Daß er alles sammelte. Daß er ausschnitt, ordnete, einklebte. Daß seine Beobachtungsbücher mit den Verweisen und indiskreten Zusammenhängen immer voller wurden. Daß er diese Arbeit tun mußte, um nicht zu versinken.

Der Mann fragte sich das selbst manchmal. Ob sein Hütehund ihn eines Tages verraten würde. An diesem Tag wußte er, daß solche Gedanken Unsinn waren. Die Frage aber tauchte in seinem Inneren immer wieder auf. Schließlich war das Tier ständig mit ihm zusammen und sah ihn an. Der Hund war sein einziger Beobachter. Er speicherte alles hinter seinen dunklen, glänzenden Augen, seiner niedrigen Stirn. Und wer weiß, eines Tages, wenn sich seine Liebe aus irgendeinem Grund abkehrte, führte er die anderen auf seine Spur?

Er hatte einmal einen Roman gelesen, in dem der treue Hund seinen Herrn eines Tages nicht mehr riechen konnte. Etwas im Geruchssinn des Tieres hatte sich verändert. Vielleicht hatte auch sein Herr einen neuen Geruch bekommen. Ja, davon erzählte dieser Roman, er erinnerte sich genauer. Es war die Geschichte eines einsamen Mannes auf einem Seegrundstück gewesen, der plötzlich, mitten in der Schneeschmelze eines Frühlings, Krebs bekam und seinen Geruch verlor. Und sein Hund erkannte ihn nicht mehr und suchte sich einen neuen Herrn.

Ich bin gesund, dachte er. Auch wenn die anderen das nicht so sehen. Und die Frau? Sie gibt mir Geld. Aber was sie wirklich denkt, weiß ich nicht.

Manchmal brauchte er sie, um an ihrer Brust zu weinen.

Er beugte sich zu seinem Hund und streichelte ihn flüchtig zwischen den Ohren. Dann stand er auf, holte sich aus einem Wandschrank ein großes Stofftaschentuch und wischte sich damit die Stirn ab. Der Siedepunkt ist fast erreicht, dachte er dabei, es fehlt nicht mehr viel. Und dann? Es wird sicher furchtbar sein.

Er konnte sich heute nicht auf die Zeitungen konzentrieren. Als er aus dem Fenster sah, erblickte er die Frau, die schnell über den Hof ging und im Haupthaus verschwand. Sucht sie mich? dachte er verwundert. Warum jetzt? Wir hatten doch ausgemacht, daß sie sich erst am Abend zeigt.

Er sah sie gern gehen. Ihr blondes Haar wehte im Wind. Ihr fester Körper war noch jung und anziehend. Sie gehörte ihm!

Aber er mochte es nicht, herumkommandiert zu werden.

Hier im Stallanbau war es still. Die Schweine waren für dieses Jahr längst geschlachtet. Der Stall ohne Licht. Nur der vergorene Geruch hing noch über den Kojen, Klapptüren, Gängen und Futterkrippen. Er brauchte die Stille. Manchmal mußte sie absolut sein. Dann half nur, sich die Fäuste gegen die Ohren zu stemmen. Es gibt Menschen, dachte er, die sich abgrundtief abgestoßen fühlen von solchen Jahreszeiten. Von diesen Gesängen, von diesen oberflächlichen und lauten Amüsements in schamlosen Sommern, wenn sich alles entblößt, die Natur, die Menschen. Wenn sich schon die jüngsten in Positur stellen. Wenn die Hitzegrade und die Geilheit steigt, daß selbst die Schweine sich abwenden würden. Kommen die kleinen, persönlichen Katastrophen dazu wie bei mir, dachte er bitter, dann ist ein Siedepunkt erreicht. Mein seelisches Territorium, dachte er, wird schon lange verletzt. Dieses blinde Wohlleben, dieser eitle Hochmut. Daran sind schon ganz andere Reiche zugrunde gegangen.

Ich werde die Demütigungen stoppen, dachte es in ihm. Es kann nicht weitergehen, sonst bin ich es, der verrückt wird. Sie sollen mir auch das büßen, woran sie nicht schuld sind. Das ist nun einmal so vorgesehen.

Er hielt inne und ordnete fahrig seine Papiere. Er hatte immer Angst, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, hinter der es kein Zurück mehr gab. Sind meine Gedanken verbrecherisch? Wohl kaum, dachte er. Es ist die Nichtswürdigkeit der Gegenwart, unter der ich leide. Ich muß mich dagegen wehren, wenn ich es überstehen will. Ich will frei sein von ihren schrecklich banalen Begierden. Dafür – er stockte in seinem Gedankenfluß – bin ich sogar bereit, zu töten. Auch unschuldige Menschen.

Es ist Notwehr.

Er setzte sich wieder und versuchte, seine Gedanken zu beruhigen. Ich bin klug und kultiviert genug, um meine immer verwerflicher werdenden Gedanken zu zensieren, dachte er. Man hält mich im Ort für sympathisch genug, ich gelte also als harmlos. Sie kommen und fragen mich um Rat. Das ist gut. Es gibt mir Deckung. Aber wie lange noch, wenn ich jetzt beginne, um mich zu schlagen?

Wieder kam seine Frau in sein Blickfeld. Er beobachtete sie mit gemischten Gefühlen.

Nur sie hält mich davon ab, alle diese Regeln von Gesetz und Anstand zu brechen, dachte er. Solange sie lebt, werden meine Untaten im Grab meines Kopfes bleiben.

Aber wie oft drohen sie, daraus hervorzubrechen. Ich merke ja, es geschieht in immer kürzeren Abständen. In diesen heißen Nächten. An diesen brennenden Tagen.

Und wie fürchte ich mich davor!

Aber es muß sein! Sonst habe ich alle Ansprüche verwirkt. Sonst bin ich wie sie – oder was unterscheidet mich dann noch? Ich muß dieses Zeichen setzen.

Seine Frau kam wieder aus dem Wohnhaus und ging mit einem Korb in der Hand auf das Tor zu, hinter dem sich die elektrische Steuerungsanlage für die Schweinemast befand. Solange sie lebt, bin ich in ihrer Hand, dachte er ohne Zorn.

Er ging hinüber zu seinen Maschinen und stellte sie an. Ihr dumpfer Ton vibrierte in seinem Kopf nach. Dieser Lärm war der einzige, den er ertragen konnte. Wenn irgendwo eine Tür zuflog, zuckte er zusammen, als habe man auf ihn geschossen. Er wußte nicht, woher er diesen Tick hatte. Lärm höhlte ihn aus. Jeder laute Ton wies ihn zurecht. Er war dann deprimiert. Alles schien sinnlos. Lärm besetzte seine Welt auf unerträgliche Weise. Er mußte das alles endlich beenden. Damit die Stille einkehrte, die er brauchte, um sich zurechtzufinden. Um sich an seine Haltungen zu klammern.

Der Mann hantierte noch eine Weile. Er machte auf großem Papier einen sauberen Probeausdruck, den er am Schreibtisch zerstreut betrachtete. Er suchte nach Fehlern, benutzte manchmal eine Lupe und korrigierte mit einem Bleistift, den er oft anspitzte. Mittendrin sah er lange, ohne sich dessen bewußt zu werden, aus dem Fenster.

Dann stand er abrupt auf, durchquerte den Raum und verschwand durch den Hinterausgang im Trakt der Ställe. Er begann zu laufen, um die Frau einzuholen, die gerade zwischen zwei Silos verschwand.

Als Martin Velsmann die angegebene Anschrift erreichte, einen abgelegenen Hof in dem einsamen Ort Huttenstein, wunderte er sich, daß hier ein Zeitungsmacher wohnen sollte. Wer um alles in der Welt brauchte in einem so gottverlassenen Dorf eine Zeitung? Oder wie hatte der Anrufer sich ausgedrückt: Er gebe ein Informationsblatt heraus. Vielleicht eines jener Machwerke, die faule Konsumenten zur täglichen Schnäppchenhatz aufriefen. Wer las das hier? Lebten in diesem abgeschiedenen Ort nicht nur Waldarbeiter?

Er fuhr in den Hof ein, der einen unordentlichen Eindruck machte. Viele Bauernhöfe in der Gegend sahen so aus, aber dieser hier hatte etwas Verwildertes. Überall standen oder lagen Gerätschaften herum, einige waren verrostet, Stricke hingen an Haken oder Winden von den Dächern der Scheunen und Ställe. Ein Überdach aus Plexiglas lag schief auf seinen Stützen aus Leichtmetall, ein Hackklotz war umgestürzt, das Beil lag auf dem Pflaster. Geradeaus vor sich sah Velsmann das Wohnhaus aus Stein, es besaß hübsche Ornamente aus grünem Klinker, Blumenkübel standen vor den abgetretenen Stufen der Freitreppe, unter der ein Kellereingang geöffnet war. Martin Velsmann fuhr eine Schleife, dann parkte er seinen Wagen im Schatten einer Remise. Er stellte den Motor ab, legte den ersten Gang ein und stieg aus. Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal ein Hofhund ließ sich blicken.

»Hallo! Jemand zu Hause?«

Martin Velsmann sah sich um. War das die richtige Adresse? Da sich nichts regte, beschloß er, am Haupthaus zu klingeln. Er stieg die wenigen Sandsteinstufen zur Haustür empor. Als er den Finger nach dem Klingelknopf ausstrecken wollte, nahm er ein seltsames Bild wahr.

Durch das angelehnte Fenster im Hochparterre neben der Tür erblickte er ein Paar. Er wollte nicht indiskret sein und ging betont langsam ein paar Schritte zurück und dann wieder zur Tür in der Hoffnung, daß man ihn drinnen wahrnehmen würde. Sie schienen ihn jedoch nicht zu bemerken.

Der Anblick, der sich ihm bot, war so eigentümlich, daß er stehen blieb und unwillkürlich sogar noch dichter an die Scheibe herantrat. Er legte eine Hand über die Augen, um im spiegelnden Glas genauer zu sehen. Gleichzeitig spürte er, wie seine Blicke in obszöner Weise diese intime Szene durchdrangen, die nicht für ihn bestimmt war.

Ein Mann in mittleren Jahren lag an der Brust einer blonden Frau. Sein Kopf wackelte hin und her. Die Frau schien ihm zuzuhören oder auf etwas zu lauschen, das von irgendwoher kam. Ihr Blick war starr auf ihn, den ungebetenen Beobachter am Fenster, gerichtet, schien ihn jedoch nicht wirklich wahrzunehmen. Dann streichelte sie den Mann. Ihre Hände fuhren mit trauriger Zärtlichkeit über sein Haar, und während sein Kopf weiter hin und her wackelte, als besäße er dafür einen Mechanismus, küßte sie sein Haar, und jetzt kam auch Bewegung in den Körper des Mannes. Er legte seine Arme um sie, aber nicht wie ein Liebhaber, der sie in Besitz nehmen wollte, sondern wie jemand, den die Kräfte verlassen. Er griff nach ihrem Leib. Er klammerte sich an ihm fest und glitt daran ab, und wieder warf er den Kopf hin und her wie in Zorn und stummer Verzweiflung.

Martin Velsmann löste sich nur mühsam von diesem Bild. Der Anblick besaß etwas – er suchte nach Worten – etwas Unvernünftiges, etwas Animalisches. Ihm wurde bewußt, daß er kein Recht hatte, hier zu stehen. Er klingelte deshalb schnell und ausdauernd und überlegte dabei, ob dies der Mann sein konnte, der ihn angerufen hatte. Wollte er ihm wirklich etwas zeigen, das mit den Ereignissen des letzten Winters zu tun hatte? So hatte er sich ausgedrückt. Damals waren mehrere Personen in einer bestialischen Kulthandlung hingeschlachtet worden.

Die Stimme des Anrufers hatte sicher und bestimmt geklungen. Sie besaß sogar einen spöttischen Klang. Dieser Mann hier hing am Busen einer Frau wie ein haltloses Kind.

Endlich näherten sich Schritte. Die Tür wurde geöffnet. Im feuchten Gesicht des Mannes stand ein Ausdruck der Trauer. Wortlos bat er den Besucher mit einer ausladenden Geste ins Haus. Martin Velsmann trat ein. Dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

2.

Das Rentnerehepaar in schwarzer Tracht trotzte der Hitze. Wetter konnte ihnen nichts anhaben. Sie nahmen es nicht einmal wahr. Er trug sogar einen schwarzen Regenmantel. Eine zeitlose Bekleidung, denn Jahreszeiten spielten für sie keine Rolle. Nur einmal hatte Lisa Auhl ihren Mann Robert dabei erwischt, wie er im Hochsommer in halblangen, grau gestreiften Bermudashorts zum Einkaufen über die Straße gegangen war. Der Anblick seiner weißen, von Krampfadern überzogenen Waden hatte ihre Empörung hervorgerufen. Sie fand, ein solcher Anblick sei nicht zumutbar, denn er verführte zu einer geringschätzigen Meinung über Robert. Sie verbot ihm sogar, fortan die Wetterdienste zu hören. Lisa erinnerte sich, daß er, bockig wie er war, dasselbe prompt von ihr verlangt hatte.

An diesem Dienstagmorgen war es trocken und heiß. Sie kamen nicht oft her, einmal mit den Enkelkindern aus Offenbach, ein zweites Mal mit Kindern ihrer Nachbarn, Ausländern aus dem Osten, die für einen Tag verreisen mußten. Dann waren sie noch einmal am späten Abend hier gewesen, um sich die übergroßen Figuren anzusehen. Da war der Erlebnispark leer und gehörte ihnen. Und Robert Auhl hatte seine Frau in ein Drehkarussell gesetzt und mit dem Handschwungrad herumgewirbelt, bis beiden der Atem ausging.

Was sie an diesem Morgen bewegt hatte herzukommen, konnten sie später nicht angeben. Sie wußten es einfach nicht. Es gab keinen besonderen Grund – außer dem vielleicht, daß ihre Angst immer größer wurde. Manchmal wachten beide gleichzeitig mitten in der Nacht auf und machten Licht. Lagen dann schwer atmend nebeneinander im Bett und wagten es nicht, sich anzusehen. Sie schämten sich, weil sie keine Worte fanden, weil sie sich gegenseitig nicht trösten konnten. Sie spürten deutlich, wie der Tod langsam auf sie zukam.

Wenn es aber schon so war, was gab es dagegen besseres als einen Spaziergang durch den Erlebnispark, mit den vielen herumspringenden Kindern, für die das Leben ein gieriges Abenteuer war? Der Tod spielte hier überhaupt keine Rolle. Schon gar nicht an einem sonnenüberstrahlten frühen Morgen mitten im Juli.

»Willst du wieder gedreht werden?«, fragte er.

»Mir ist auch so schon ganz schwindlig.«

»Laß uns in die Tropfsteinhöhle gehen«, schlug er vor.

Sie nickte. »Dort ist es schön kühl.«

»Nicht wegen der Temperaturen«, sagte er.

»Natürlich nicht.«

»Dort drinnen ist es wie im Bauch eines Walfisches.«

»Was du ja kennst.«

»Mach dich nicht lustig über mich. Ich kann mir den Bauch eines Walfisches eben vorstellen.«

»Und ich nicht?«

»Vielleicht nicht, Lisa.«

Sie gingen an den gigantischen Rutschbahnen und überdimensionalen Mickymausfiguren vorbei. Noch klebten an ihnen nicht die Scharen von kleinen Besuchern, die hierher in Bussen transportiert wurden, behütet von Eltern oder Lehrern, dann ungehorsam davonlaufend, begeistert in dieser eigenen Welt der reinen Freude. Noch war es an diesem heißen Morgen still. Nur das Kettenkarussell, das wie ein Fliegenpilz aussah, drehte sich ohne Fahrgäste langsam im Kreis. Und so betraten Robert und Lisa als einzige die Tropfsteinhöhle.

Drinnen war es dunkel, nur an manchen Ecken leuchtete das indirekte Licht von eingelassenen Fußbodenlampen. Künstliche Stalaktiten hingen von einer hohen Felsendecke herunter, Wassertropfen schienen herabzufallen, ihr Geräusch vom Tonband war das einzige im Halbdunkel. Lisa glaubte plötzlich, den Flügelschlag von Fledermäusen zu hören, und vernahm man nicht auch ihren eigentümlich schrillen Ruf aus dem Hintergrund der Höhle?

Sie gingen tiefer hinein. Es wurde immer kühler. Ein künstlicher See breitete sich vor ihnen aus. Vom Grund her leuchtete ein grünes Licht, es ließ die Wasseroberfläche sichtbar in kleinen Wellen und Strudeln vibrieren. Die Ränder des Sees lagen im Dunkeln.

Das Ehepaar setzte sich auf einen Felsen. Sie hielten sich an den Händen und sahen wie betäubt auf dieses Funkeln von Weiß und Grün im Wasser. Es war, als erblickten sie einen Schatz, den jemand achtlos hineingeworfen hatte. Jetzt gehörte er ihnen. Er würde ihr Leben bereichern. So einfach war es, sich einer schönen Illusion hinzugeben.

Wenn man wie sie eine brauchte, um sich vor der herannahenden Furcht zu schützen.

Schon einmal, als sie hier gesessen hatten, waren sie auch von den kleinen Lebewesen fasziniert gewesen. Es waren winzige, weiße Albinokrebse. Sie besaßen keine Augen, sie lebten ausschließlich in der Finsternis der Höhle. Wenn man hierher kam, waren sie wie Haustiere, die warteten. Lisa und Robert nahmen sie wahr und verfolgten ihren Weg. Die Krebse schwammen im Wasser und ruderten mit ihren Scheren. Plötzlich vereinten sie sich am Ufer zu einer Bahn und schlugen eine gemeinsame Richtung ein. Robert, der vor seiner Pensionierung Biologe gewesen war, kannte das Geheimnis der Tierwelt. Er hatte Lisa oft genug von den morphogenetischen Feldern erzählt. Die Tiere fühlten sich nicht als einzelne Wesen, sie fühlten sich mit den anderen als Gesamtwesen. Deshalb folgten sie nur einem einzigen Willen. Es war das gleiche Geheimnis, das große Vogelschwärme besaßen. Sie stießen im Flug nicht zusammen. Sie verkörperten nur einen einzigen, großen Vogel.

Dieser eine Wille führte die Albinokrebse jetzt zu einem Ziel, das in ihrem ewigen, blicklosen Dunkel verborgen war.

Lisa und Robert folgten ihrem Weg mit wachsendem Erstaunen.

Was hatten die Tiere vor?

Plötzlich erschrak Lisa. Sie sah das Bündel, auf das sich die Albinos zubewegten. Ein abgelegter großer Sack am Rand des künstlichen Sees. Darin zeichnete sich etwas ab, das eine menschliche Form besaß.

Hauptkommissar Martin Velsmanns Gefühle waren ziemlich durcheinander. Der Anblick der blonden Frau, die vollkommen angekleidet, aber mit entblößten Brüsten auf dem Sofa saß, stieß ihn ab und zog ihn an. Ihr Kopf war vornüber gesunken, ihre Arme hingen schlaff zu beiden Seiten ihres Körpers herab.

»Meine Frau«, sagte der Mann, der ihn eingelassen hatte. »Sie ist im Moment etwas überfordert.«

Dann ging er zu ihr und verbarg sein Gesicht an ihrem nackten Busen. Durch die Berührung kam die Frau wieder zu sich. Sie flüsterte leise etwas, das Martin Velsmann nicht verstand. Er küßte sie, dann zog er sich ihre Bluse über den Kopf und wurde für Martin Velsmann unsichtbar.

Plötzlich fing er an zu sprechen. »Ich kann Ihnen sagen, hier passieren Dinge, die Sie nicht für möglich halten würden. Nicht wahr, Marlene? Meine Frau kennt das alles. Wissen Sie, ohne Marlene würde ich das alles hier gar nicht mehr aushalten. Kennen Sie das, wenn Ihr Territorium besetzt wird? Wollen Sie hören, was ich zu erzählen habe?«

»Ich bin deswegen hergekommen, aber es wäre mir lieb, Sie würden mich ansehen, während wir reden.«

Mit zerwühlter Frisur erschien das Gesicht des Mannes. Er zog die Bluse über ihre Blöße. Die Frau blickte nur abwesend. Martin Velsmann überlegte, ob sie betrunken war oder unter dem Einfluß von Drogen stand. Er kam zu keinem Schluß.

Der Mann sagte: »Es kommen hier Mädchen her. Irgendwelche Ausländerinnen. Ich kann nicht sagen, woher sie stammen, aber sie machen auf mich einen verheerenden Eindruck. Kennen Sie diese alten Zombie-Filme? Ich habe mich damit beschäftigt. George Romero und so. Die Nacht der lebenden Leichen. So sehen die Mädchen aus. Oder zumindest wirken sie so auf mich. Nicht wirklich angenehm, obwohl sie hübsch sind. Aber es gibt eine Art Hübschheit, durch die blickt man durch und sieht etwas ganz anderes. Etwas Abstoßendes.«

Martin Velsmann hatte das unangenehme Gefühl, daß der Mann von seiner eigenen Frau sprach. Er sagte: »Was ist mit diesen Mädchen? Was sollen diese Mädchen mit den Ereignissen des letzten Winters zu tun haben? Das deuteten Sie zumindest am Telefon an.«

»Sehen Sie – diese Mädchen kommen und gehen. Das fällt in einem so kleinen Ort, wo jeder jeden kennt, natürlich auf. Huttenstein ist für sie so eine Art Anlaufstation. Sie wohnen meistens im einzigen Gasthaus, sitzen abends auf den öffentlichen Plätzen. Dann verschwinden sie eines Tages. Wer bringt sie? Was wollen sie hier? Wer holt sie ab? Im Ort ist man höchst beunruhigt, aber es würde nie jemand die Polizei informieren. Die Mädchen tun ja auch eigentlich nichts, was man anzeigen könnte. Und der Gastwirt schweigt, er redet nie über Gäste. Huttenstein ist ein ängstliches Dorf.«

Martin Velsmann überlegte, ob der Mann vor ihm bei Verstand war. Er machte einen vernünftigen Eindruck, wenn man von dem bizarren Dialog mit seiner Frau absah. Er sagte: »Im letzten Winter gab es in der Region drei Ritualmorde einer okkulten Sekte. Was sollen diese Frauen ihrer Meinung nach damit zu tun haben, Herr Hirschgraben?«

Der Mann sah ihn geheimnisvoll an. »Nicht wahr? Was haben sie damit zu tun? Das ist gerade die Frage. Ich würde sagen: alles!«

Velsmann verlor plötzlich die Geduld. »Herr Hirschgraben, bitte, haben Sie die Güte, wenn Sie etwas wissen, dann drücken Sie sich deutlicher aus. Wovon reden Sie?«

»Einige Mädchen tauchen später wieder auf – in Filmen, wo sie mißhandelt und gefoltert werden. Ich habe solche Filme gesehen. Einige werden sogar vor laufender Kamera getötet –mit demonstrativ abgezählten Messerstichen. Sagt Ihnen das nichts?«

Martin Velsmann seufzte. »Der Fall des letzten Winters ist abgeschlossen. Es gab Ritualmörder und einen Täter, den ich eigentlich als das Opfer angesehen habe, er sitzt wahrscheinlich lebenslang ein. Die Hintermänner wurden sämtlich dingfest gemacht. Die Akte ist geschlossen. Ende.«

»Ein typischer Polizistengedanke. Nichts ist zu Ende! Es beginnt nicht, und es endet nicht. Es geht einfach nur immer weiter!«

Martin Velsmann mahnte sich zur Gelassenheit. »Was wollen Sie mir einreden! Wenn Sie etwas wissen, dann kommen Sie bitte mit Fakten, nicht mit Philosophie. Satanssekten schießen nicht wie Pilze aus der Erde. Sie sind ein Auswuchs, den man beseitigen kann. Alle Schuldigen sind hinter Gittern.«

»Und die dreiunddreißig Einstiche? Diese Filme? Haben Sie davon schon gehört?«

»Nein.«

»Es muß im Landkreis Studios geben, in denen diese Videos gedreht werden. Warum wären diese Mädchen sonst hier? Glauben Sie etwa, die arbeiten in der Holzwirtschaft? Sie sollten sich um diese Studios kümmern. Haben Sie noch keinen von diesen Filmen gesehen?«

»Nein.«

»Dann informieren Sie sich schleunigst, verdammt!«

»Immer schön langsam. Ich kenne natürlich die Gerüchte über solche Snuff-Videos, reale Folter, echte Morde vor laufender Kamera, für die ein reiches Klientel angeblich höchste Summen zahlt. Auch ich lese Zeitungen. Aber das sind alles Hirngespinste. Damit stopfen gewisse Medien Sommerlöcher. Nichts davon hat sich beweisen lassen. Wir haben noch nie wirkliche Anhaltspunkte für die Echtheit solcher Filme gefunden. Alles erwies sich letzten Endes als getürkt.«

»Sie sind naiv! Und ob das existiert! Unsere verderbte Welt wartet doch nur auf so was. Es gibt dafür einen riesigen Markt. Und er wird jetzt mit dem neuen Europa immer größer. Sehen Sie das nicht selbst? Wenn es das nicht gäbe, würde es in diesem Moment erfunden werden. Alles schreit ja geradezu danach!«

»Sie wollen mir also nahelegen, an die Existenz dieser Dinge zu glauben, einen Zusammenhang mit den Sektenmorden des letzten Winters anzunehmen und mit Ermittlungen zu beginnen? Gegen Bekannt, gegen Unbekannt? Oder gegen wen?«

»Und warum nicht, wenn die Tatsachen doch dafür sprechen?

»Ermittlungen gegen wen, Herr Hirschgraben! Von welchen Tatsachen sprechen Sie? Sie streuen Vermutungen aus, hier ein kleiner Verdacht, dort ein Vorurteil – was soll ich damit anfangen? Wissen Sie etwas, oder wissen Sie nichts?«

»Ich habe Ihnen eine Indizienkette gezeigt. Wenn Sie damit nichts anfangen können …«

»Es ist mir zu weit hergeholt. Ein Rühren in Kaffeeresten. Irgendwelche Mädchen, irgendwelche Filme, irgendwelche Zusammenhänge. Die Polizei interessieren Fakten. Geben Sie mir einen Anhaltspunkt.«

»Denken Sie, was Sie wollen. Vielleicht wachen Sie auf, wenn all die Dinge geschehen sind, die sich jetzt vorbereiten. Das läßt nicht lange auf sich warten. Dann werden ein paar Opfer zu beklagen sein, Herr Hauptkommissar.«

»An denen Sie mitschuldig sind, wenn Sie Informationen besitzen, die Sie zurückhalten.«

»Nein, so läuft das nicht. Ich lasse mich nicht unter Druck setzen. – Und nun gehen Sie. Sie sehen ja, wir möchten gern allein sein, meine Frau und ich.«

»Ich wollte mich nicht aufdrängen. Sie waren es, der mich angerufen hat. Ehrlich gesagt, habe ich ein paar konkretere Informationen erwartet. Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein, dann rufen Sie mich an.«

»Gehen Sie! Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich mehr zu sagen habe. Sie werden schon sehen, was hier abläuft. Das muß ja selbst die Polizei begreifen …«

Martin Velsmann war schon auf dem Rückzug. Er war noch nicht draußen, da klingelte sein Handy. Sein Assistent Alfons Freygang hatte keine guten Neuigkeiten.

Im ersten Moment wußte Lisa Auhl nicht, was sie da neben sich hatte. Etwas lag, in eine Art Tuch gehüllt, keine vier Meter von ihr entfernt. Lisa schaute ein zweites Mal hin und vergewisserte sich, daß sie sich den Anblick nicht einbildete. Nein, da lag dieses Bündel wirklich. Konturen eines menschlichen Körpers zeichneten sich unter dem Tuch ab, das wohl eher ein großer, grauer Müllsack mit einem rötlichen Aufdruck war. Lisa stieß ihren Mann an.

»Siehst du das? Was ist das?«

Robert beugte sich vor und sah an ihr vorbei. »Meine Güte! Es sieht aus, es sieht aus wie …«

»Ja.«

»Lisa, wir sollten hier weggehen. Das geht uns nichts an.«

»Was meinst du damit? Wenn es das ist, wofür ich es halte, dann müssen wir Hilfe holen?«

»Woher denn? Hier ist doch niemand!«

»An den Kassen sitzen doch Leute!«

»Wenn du meinst!«

»Ja, klar.«

»Also dann los!«

»Sollen wir nicht erst nachsehen, ob es wirklich …«

»Ich will hier nichts sehen, was tot ist!«

»Warte noch einen Augenblick! Wenn wir Hilfe holen, und dann war es keine Leiche – wie stehen wir da!«

»Faß bloß nichts an! Das bringt nur Unglück.«

Lisa erhob sich in ihren flachen Schuhen erstaunlich flink. Sie machte ein paar Schritte auf dem unebenen Untergrund zur Seite und beugte sich dann über den Sack. Robert hatte sich ebenfalls ächzend erhoben und sah ihr zu.

»Und?«, fragte er gespannt.

»Oben ist eine Öffnung, da, wo der Sack gebunden ist. Es schauen Haare heraus. Ein Kopf. Ein Mensch.«

»Faß um Gottes willen nichts an! Laß uns endlich gehen!«

»Ja. Holen wir Hilfe.«

Sie verließen die Höhle, dabei bemühten sie sich, langsam und würdevoll zu gehen und nicht zurückzublicken. Wieder ergriff Robert ihre Hand. Er sagte: »Ich bin stolz auf dich!«

Lisa blickte ihn verwundert an, erwiderte jedoch nichts. Sie durchquerten den Park, der sich allmählich füllte. Ein paar Kinder rannten bereits auf eine der Dinofiguren zu und verschwanden im aufgerissenen Maul, das als Eingang diente. An den Gittergängen der beiden Kassen drängelten sich die Besuchergruppen. Entschlossen machte Lisa die seitliche Tür zum Kassenhäuschen auf. Die junge Angestellte drehte ihren Kopf und blickte sie strafend an.

»Sie können hier nicht …«

»Sie müssen den Park schließen! In der Tropfsteinhöhle liegt eine Leiche! Vermutlich eine junge Frau. In einem Plastiksack. Schließen Sie den Park! Hören Sie? Rufen Sie die Polizei!«

Verwirrt und vollkommen sprachlos sah die Angestellte sie an. Dann schloß sie ihren Mund wieder und machte ihrem Kollegen in der gegenüber liegenden Kasse ein Zeichen. Zögernd griff sie zum Telefon. Sie wählte eine Nummer und wartete einen Augenblick. Lisa trat zu Robert hinaus ins Sonnenlicht und konnte hören, wie die Angestellte ins Telefon sprach.

»Ja, vermutlich tot … Von wem? Ein älteres Paar, die Frau kam eben rein und behauptet es … Nein … Soll ich schließen? Gut.«

Die Angestellte legte den Hörer auf und blickte hilflos zu Lisa und Robert hinüber.

»Und?«

»Die Polizei sagt, wir sollen niemanden mehr reinlassen. Sie kommen. Alles weitere machen sie.«

»Wie man es ja auch erwarten muß«, sagte Robert, nur um etwas beizutragen.

»Sollen wir hier bleiben?«, fragte Lisa die Angestellte.

Die junge Frau blickte verzweifelt, dann nickte sie stumm. Sie holte tief Luft, trat dann aus dem Kassenhäuschen und legte eine rotweiße Schranke vor den Eingang. Das Publikum murrte. Jemand rief ein Schimpfwort. Ein Kind begann zu weinen. Die junge Angestellte hob die Hände und gab mit beleidigter Stimme eine Erklärung ab. Dann ging sie zu dem zweiten Kassenhäuschen, sprach ein paar Worte mit dem Kassierer, der sich herausbeugte, und legte auch hier die Schranke vor. Der junge Kassierer trat aus dem Häuschen und zog an seinem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie berieten.

Lisa und Robert hatten sich auf eine Bank gesetzt. Sie fühlten nichts. Sie schauten zum wolkenlosen Himmel. Irgendwie roch es in diesen Tagen immer nach Brand. Irgendwas verbrannte, aber sie hatten noch nicht begriffen, was es war. Sie saßen und rührten sich nicht. Nach einer Weile ertönten im Hintergrund die Polizeisirenen.

Als der grün und silbern lackierte Polizeiwagen in der Nähe der Eingangskassen hielt und die Sirene verstummte, sprangen drei Polizisten heraus. Der Fahrer blieb im Fond und telefonierte. Die Kassiererin ging den Beamten entgegen und wies dann auf das Rentnerehepaar. Der Wortführer der Polizisten, ein blonder Hüne mit kurzgeschnittenem Haar und einem Ohrring im linken Ohr, kam herüber und sprach sie an.

»Also – Sie haben die Sache entdeckt?«

»Ja«, sagte Lisa.

»Dann führen Sie uns mal hin.«

»Sollen wir beide mitkommen?« wollte Robert wissen.

Der Polizist war unschlüssig, nickte dann aber. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

An der Tropfsteinhöhle angekommen, befiel Lisa und Robert ein mulmiges Gefühl. Robert sagte mit einer Geste, als wolle er eine große Distanz angeben: »Da drinnen am See liegt es. Besser wir warten draußen.«

»Ich gehe mit. Der junge Mann findet sie ja in der Dunkelheit nicht«, erwiderte Lisa vorwurfsvoll.

Schließlich schloß sich auch Robert an. Die Beamten leuchteten mit Taschenlampen und fanden den Sack aus graugrünem, undurchsichtigem Plastik. Sie leuchteten den Boden ab, um keine eventuellen Spuren zu zerstören, aber auf dem Felsen war ohnehin nichts zu erkennen. Die Albinokrebse krabbelten nach allen Richtungen von dem Bündel herunter und flüchteten schnell. Die Beamten umkreisten den Fund. Lisa und Robert warteten abseits. Einer der Polizisten ließ sich auf die Knie nieder und schaute sich den Fund aus der Nähe an. Er legte zwei Finger an den Kopf der Leiche.

»Eiskalt«, meinte er. »Was machen wir?«

Ein Polizist drehte sich zu dem Rentnerehepaar um. »Gibt es einen zweiten Eingang?«

Lisa überlegte und sagte dann: »Nicht, soweit ich weiß.«

Der Hüne bestimmte: »Wir lassen sie liegen und sperren die Höhle ab. Wenn die Kollegen aus Fulda eintreffen, sollen die sich um alles kümmern. Nehmen wir inzwischen das Protokoll der beiden alten Leute auf. Und das Gelände wird sofort geräumt.«

Wieder im Sonnenlicht war es dem alten Ehepaar, als habe sich etwas verändert. Sie brauchten nicht darüber zu sprechen, sie spürten es beide. Etwas von ihrer Todesangst war verschwunden. Es traf sie noch nicht. Es hatte zum Glück einen anderen getroffen. Irgendwie machte dieses Gefühl für den Moment alles leichter, und sie hofften, daß es keine Einbildung war. Sie wagten nicht, es auszusprechen, aber das Gefühl war eindeutig.

Die beiden Kassierer, Gärtner und technische Bedienstete des Parks waren inzwischen damit beschäftigt, die Besucher in Richtung Ausgang zu drängen. Einige Kinder hatten sich im Kopf des Dinosauriers versteckt. Kurze Zeit später war das Gelände geräumt. Die Besucher wurden von den Eingängen zurückgedrängt und reckten neugierig die Hälse. Gleichzeitig erstarben in einem langgestreckten Steinbau mit großen Fenstern die quäkenden, künstlichen Stimmen aus Plastikrobotern und Spielautomaten.

Die einkehrende Ruhe war nur von kurzer Dauer. Wenig später glich der Erlebnispark einem Aufmarschgelände. Einsatzkräfte riegelten auch das Gelände vor den Kassen weiträumig ab. Die Fuldaer Kripo kam mit großem Gefolge. Auch Kommandos aus der näheren Umgebung unter der Führung der Generaldirektion Schlüchtern trafen ein.

Der erste, der sich bei den beiden Kassierern namentlich vorstellte, war ein Hauptkommissar aus Fulda. Er hieß Martin Velsmann. Ein großer, vertrauenerweckender Mann, fand Lisa. Auch ihr Sohn hatte zur Polizei gehen wollen, doch er war ein Vierteljahr nach der Wende bei einem Autounfall auf nächtlicher Landstraße umgekommen.

Martin Velsmann verständigte sich mit seinem Assistenten Freygang, der ihn angerufen hatte. Seine Assistentin, die Polizeiaspirantin Tosca Poppe, hörte den Vernehmungen der beiden Alten mit gerunzelter Stirn zu, die der blonde Hüne umsichtig führte. Poppe unterbrach das Verhör einmal. Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzgelben Haarsträhnen und fragte: »War es tatsächlich Zufall, daß Sie heute am Morgen genau dorthin gingen, wo die Leiche liegt?«

»Na was denn sonst!« sagte Robert Auhl.

»Vielleicht haben Sie vorher etwas bemerkt, das Ihre Aufmerksamkeit erregte, und Sie wollten nachsehen?«

»Meine Kollegin meint wohl«, warf Alfons Freygang ein, »ob Sie nicht vielleicht schon dagesessen haben, als es passierte, so daß Sie den Mörder gesehen haben könnten, der vorbeiging und …«

Tosca Poppe stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. Robert Auhl erwiderte empört: »Also wollen Sie uns was unterstellen? Wir sind alte Leute!«

»Gar nichts, gar nichts.« Tosca Poppe winkte ab. Sie nickte dem Hünen zu. »Entschuldigen Sie die Einmischung, Kollege!«

Freygang zerrte sie mit sich.

»Sag mal, du hast wohl einen Knall«, giftete Tosca feindselig, »aus meiner harmlosen Frage einen deiner billigen Witze zu machen! Stell deine eigenen Fragen!«

»Ja, aber reg dich ab, Kleine!«

Freygang blickte ungeduldig zu ihrem gemeinsamen Chef hinüber. Hauptkommissar Martin Velsmann war damit beschäftigt, Reporter in Schach zu halten. Freygang wunderte sich immer wieder, wie schnell die Bluthunde vom Boulevard an Tatorten aufkreuzten. Natürlich hörten sie den Polizeifunk ab, was sie ja konnten, solange die Gelder für den abhörsicheren Digitalfunk noch immer nicht genehmigt waren. Immerhin mußten sie ständig in der Nähe des Geschehens sein. Eine sportliche Leistung, dachte Freygang unwillig.

Zwei Fotografen von der Polizeidirektion Schlüchtern erschienen und verschwanden in Richtung Tropfsteinhöhle. Der Polizeiarzt traf mit einem Assistenten ein und folgte ihnen. Sie schwenkten ihre Koffer. Die behandschuhten Männer der Spurensicherung sahen in ihren weißen Overalls aus, als müßten sie durch Plutonium gehen. Auch sie kamen mit Köfferchen und ließen einen starken Neonscheinwerfer auf Rädern heranrollen, den sie vor dem Höhleneingang aufbauten. Jemand gab über einen Handlautsprecher Anweisungen. Die Tropfsteinhöhle wurde noch einmal mit rotweißen Bändern abgesperrt.

Martin Velsmann begrüßte in diesem Moment den zuständigen Staatsanwalt. Alexander Keuper war ein drahtiger Mann von knapp vierzig Jahren, der die Eigenschaft hatte, Personen, die neben ihm standen, aus den Augenwinkeln zu betrachten. Er wandte nie den Kopf.

Velsmann mußte gegen die noch tief stehende Sonne sehen. Er ging deshalb auf die andere Seite und sagte: »Kollege Heberer kommt in einer knappen halben Stunde mit einem Hundeführer. Es ist sicher das beste, wir suchen erst die Umgebung nach Spuren ab, bevor wir uns mit der Leiche befassen. Wenn die Hunde dann von der Toten Witterung aufgenommen haben, führen sie uns vielleicht an ein Ziel. Möglicherweise können wir den Tathergang wenigstens ein Stück weit von rückwärts aufrollen. Obwohl ich daran zweifele, so viele Besucher wie es hier gibt.«

»Da hilft auch der beste Hund nichts«, bestätigte Keuper. »Ich möchte Sie auf jeden Fall bitten, kein Wort gegenüber der Pressemeute verlauten zu lassen. Sie wissen, die Ferien beginnen, und es wäre eine Katastrophe für den Tourismus in der Region, wenn der Leichenfund gleich an die große Glocke gehängt würde.«

»Das interessiert mich nicht, Herr Staatsanwalt«, meinte Velsmann. »Ich bin nicht in der Tourismusbranche, sondern Polizist.«

»Das Ministerium in Wiesbaden reißt uns beiden den Kopf ab, wenn die Ferien hier ein Flop werden, Martin!« sagte Keuper beschwörend. »Der Herr Ministerpräsident hat gerade heute morgen die Standortprobleme deutlich gemacht. Der Erlebnispark ist unser größter Hit! Warum müssen Mörder ausgerechnet hier herumschleichen!«

»Verbieten Sie es ihnen, ich hätte nichts dagegen«, sagte Martin Velsmann.

Der Staatsanwalt sagte humorlos: »Das kann ich nicht, aber wenn hier schon ein Mord geschehen ist, dann muß ich versuchen, den Schaden in der Öffentlichkeit in Grenzen zu halten.«

»Meiner bescheidenen Meinung nach ist das nicht unsere Aufgabe.«

»Wie Sie wissen, warten wir gerade auf Gelder, um unsere Dienststelle auszubauen, wie das in Schlüchtern schon geschehen ist. Dafür müssen wir auch was tun.«

Martin Velsmann hatte dazu seine eigenen Gedanken. Er wandte sich zu seinen herankommenden Assistenten um.

»Wir haben noch nichts wirklich Aufregendes, das Sie begeistern könnte, Chef«, sagte Freygang. »Wollen Sie die beiden Alten sprechen, die die Leiche gefunden haben?«

»Haben die was mitzuteilen?«

»Es sind zumindest nette, alte Leute.«

Martin Velsmann sah zu den beiden Alten hinüber. Der Frau hingen weiße Strähnen aus ihrem Dutt ins Gesicht. Der fast kahlköpfige Mann machte den Eindruck, als sei er beleidigt. Wahrscheinlich einfach überfordert, dachte Velsmann. Er beschloß, auf die Befragung zu verzichten. Dann haderte er mit seinem Herrgott, daß er dies alles an seinem freien Tag hatte geschehen lassen.

Martin Velsmann blickte über die zum Ort Stahlau hin leicht abfallende Anlage mit ihren grellen, künstlichen Plastikarrangements. In der Ferne waren bewaldete Hügel zu sehen, deren gleichmäßige Dunkelheit keine Ansiedlung unterbrach.

Er fühlte sich wie fast immer von der Routine der ersten Spurensicherung abgestoßen. Ich betreibe Mordermittlung, krieche an Tatorten herum, dachte er. Zu etwas Besserem habe ich es nicht gebracht. Wäre ich nicht lieber Vogelwart in Groß-Moordorf, um die Flugbewegungen der großen Kranichzüge zu studieren? Andrea hatte ihn im letzten Herbst dorthin mitgenommen. Eine große Ruhe war damals in ihn eingekehrt.

Er versuchte, klare Gedanken zu fassen. Sentimentalitäten waren jetzt unangebracht. Dort hinten lag die Leiche einer Frau.

Velsmann beschloß, hinüberzugehen und sich diese Leiche – die wievielte in seinem Leben war es? – anzusehen. Er winkte seinen Assistenten zu, ihn zu begleiten.

In der inzwischen hell erleuchteten Höhle wimmelten die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls mit aufgesetzten Kapuzen herum wie Albinokrebse. Sie sammelten alles in Plastiktüten, was ihnen verdächtig vorkam. Martin Velsmann wußte, ihnen entging nicht das kleinste Partikelchen oder Staubkörnchen, kein Schmutz von Schuhen und schon gar keine Fingerabdrücke. Sie fanden alles, was von draußen hereingetragen worden war. Da aber hier ständig Besucher ein und aus gingen, war es mehr als fraglich, ob die Techniker genau das fanden, was den Tod mit sich gebracht hatte.

Der Polizeifotograf schoß seine letzten Aufnahmen von dem Bündel und von der Umgebung. Der Arzt blickte Martin Velsmann entgegen. Seine Brillengläser funkelten, sein Gesicht war gerötet.

»Haben Sie schon was, Doktor?«

»Eine junge Frau, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht dreißig. Tod durch Messerstiche, der ganze verdammte Plastiksack zeigt Blutspuren, die wohl vom Körper der Toten stammen. Ich schätze, sie ist seit mindestens sechs Stunden tot, wahrscheinlich länger. Aber auf keinen Fall länger als zwölf Stunden.«

»Das heißt, sie wurde in der Nacht hier abgelegt.«

»Am späten Abend oder in der Nacht.«

»Nach Ende der Öffnungszeiten natürlich, also nach einundzwanzig Uhr. Es wird derzeit nicht vor zweiundzwanzig Uhr dunkel. Wahrscheinlich brachte man sie also danach. Können Sie schon was zur Identität sagen?«

Der Polizeiarzt zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht. Auch in ihrem Gesicht befinden sich Stiche, mindestens einer jedenfalls. Und die Viecher da scheinen auch an ihr herumgeknabbert zu haben. Sie hat rotblondes Haar, wenn Ihnen das was nützt.«

»Na ja, immerhin …«

»Wir nehmen sie mit ins Präsidium, so wie sie hier eingepackt liegt. Denn wissen Sie was, Kommissar? Das Ganze wirkt auf mich nicht wie ein gewöhnlicher Mord.«

»Nicht?«

»Nein. Ich ahne eher eine von diesen blöden Inszenierungen, mit denen uns jemand ein Rätsel aufgeben will.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»So embryonal, wie sie daliegt – das ist keine natürliche Todeshaltung. Sie lutscht sogar am Daumen.«

»Im Ernst?«

»Wie ein Kleinkind. Und sie ist eine junge, erwachsene Frau – übrigens nackt, soweit ich sehen konnte. Aber das versteht sich schon fast von selbst.«

»Warum denn das?«