Klostermord: Martin Velsmann ermittelt - Der fünfte Fall - Berndt Schulz - E-Book
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Klostermord: Martin Velsmann ermittelt - Der fünfte Fall E-Book

Berndt Schulz

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Beschreibung

Abgründe der Vergangenheit: „Klostermord: Martin Velsmann ermittelt - Der fünfte Fall“ von Berndt Schulz jetzt als eBook bei dotbooks. Schon als Kind war Martin Velsmann fasziniert von Geheimnissen und Rätseln. Eines davon lässt ihn auch Jahrzehnte später nicht los: Erinnerungsfetzen an einen Besuch im Kloster Eberbach, die Loreley-Sage und einen abscheulichen Mord. Gibt es einen Zusammenhang? Was als neugieriges Rätselraten beginnt, wird blutiger Ernst, als ein mit schockierender Grausamkeit verübter Mord das Rheingau erschüttert. Beinahe fanatisch verbeißt sich Velsmann in diesen grausigen Fall – und gerät dabei selbst gefährlich nahe an den Abgrund … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Klostermord“, der fünfte Fall für Martin Velsmann von Berndt Schulz. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 466

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Über dieses Buch:

Schon als Kind war Martin Velsmann fasziniert von Geheimnissen und Rätseln. Eines davon lässt ihn auch Jahrzehnte später nicht los: Erinnerungsfetzen an einen Besuch im Kloster Eberbach, die Loreley-Sage und einen abscheulichen Mord. Gibt es einen Zusammenhang? Was als neugieriges Rätselraten beginnt, wird blutiger Ernst, als ein mit schockierender Grausamkeit verübter Mord das Rheingau erschüttert. Beinahe fanatisch verbeißt sich Velsmann in diesen grausigen Fall – und gerät dabei selbst gefährlich nahe an den Abgrund …

Über den Autor:

Berndt Schulz wurde 1942 in Berlin geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main.

Bei dotbooks erscheint Berndt Schulz' Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst: »Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall« »Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall« »Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall« »Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall« »Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall« Die ersten zwei Romanen der »Martin Velsmann«-Reihe sind auch als Sammelband unter dem Titel »Novembermord & Engelmord« erhältlich.

Außerdem erscheinen bei dotbooks Berndt Schulz' Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz«, der Roman »Eine Liebe im Krieg« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlicht Berndt Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald folgende Bände der »Tempelritter-Saga«:

»Die Suche nach Vineta«, »Das Grabtuch Christi«, »Der Kreuzzug der Kinder«, »Die Stunde der Gerechten«, »Die Säulen Salomons«, »Das Grab des Heiligen« Und die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.

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eBook-Neuausgabe Juli 2019

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Die verzauberten Frauen – Ein Kloster Eberbach-Krimi« bei Sutton Verlag GmbH

Copyright © der Originalausgabe 2011 Sutton Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Andrey Kuzmin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-907-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Klostermord« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

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Besuchen Sie uns im Internet:

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Berndt Schulz

Klostermord

Martin Velsmann ermittelt – der fünfte Fall

dotbooks.

Sie sollen glauben, dass ich ganz unendlich unglücklich bin, so im Jammer, dass ich durch ihn durchwandeln kann, wie durch eine Hölle, die unendlich ist … So wie mir jetzt ist, da ich schwebe mitten in tiefem Gram, ist es mir unendlich viel, … nur zu wissen, ob jemand noch lebt, der mich liebt.

CLEMENS VON BRENTANO in einem Brief an den Buchhändler Reimer, geschrieben im Kloster Eberbach.

VORSPRUCH

Dies ist ein Roman. Einige der vorkommenden Personen haben tatsächlich gelebt. Die überwiegende Mehrheit existiert nur im rätselhaften Kosmos dieses Romans. Etwas ähnlich Vagabundierendes lässt sich über die Handlung sagen. Sie basiert auf tatsächlichen Ereignissen, ist im Übrigen aber frei erfunden.

IPROLOG

Der Kanzler hatte die Schriften, nach denen er suchte, in Rostock, Wittenberg und Jena studiert. Er wusste, jetzt waren sie hier, in diesem Kloster. Es handelte sich nicht um Bögen von feinem Papier, zu Lagen gefaltet und mit starken Fäden zusammengeheftet wie die Breviere der Novizen. Vor allem nicht das siebente Pergament, es war abgezogene Menschenhaut, er hatte nicht nur davon gehört, er hatte es gesehen. Als Scholar hatte es ihn in Erregung versetzt, der Soldat hingegen war nach so vielen Jahren gesättigt von solchen Anblicken, Menschenhaut, noch blutig, mit kleinen, weißen Klumpen Fleisch an der Hülle. Aber auf diesem schon gegerbten Leder hier stand etwas geschrieben, und das war der Grund seiner Suche, verfasst von seinen Feinden. Er wollte es zerstören. Zerstören.

Kloster Eberbach schien im Winterschlaf zu liegen. Oxenstierna wusste, es war der düstere Schlaf des Todes. In der zersplitterten Fensterfront der Orangerie brach sich das letzte Sonnenlicht, die Brücken über den Bach zerstört, verdorrter Taxus, herausgerissene Ziersträucher. Auf den Dächern wehten im kalten Januarwind die Wimpel des schwedischen Protektorats. Oxenstierna zügelte erstaunt seinen Falben, als die Glocke der Kirche fünfmal rief War die Zeit nicht stehen geblieben?

Er hatte die Schanzen und Laufgräben der von Pappenheimer und Tilly neu formierten Söldnerheere verlustreich überwunden, die sich ihm von den größten Heerlagern in Stralsund und Spandau durch das ganze Reich bis hinter Wiesbaden in den Weg gestellt hatten. Er hatte zwei Brücken über den Rhein und hundert Weinlastschiffe mit Feldschlangen, Mörsern und Kartaunen in die Fluten stürzen lassen und war durch die ausgebrannten Marktflecken aus der Ebene heraufgezogen; er hatte keinen Sinn für das Licht gehabt, das beim Aufstieg einmal mit Macht durch die niedrige Wolkendecke brach und den Fluss zum Leuchten brachte. Er war besessen von dem Gedanken, das ihm geschenkte Kloster im Kisselbachtal zu einem ständigen Vorposten seiner Truppen zu machen, während er den Thron im Kurfürstentum Mainz bestieg. Deshalb musste er die Zerstörungen in Grenzen halten. Und vor allem musste er den heiligen Ort von den niederträchtigen Prophezeiungen reinigen. Denn seine Soldaten, die in der Kälte kauerten, so roh sie auch waren, Wölfe inmitten von Aas, sie durften nicht durch düstere Omen beschmutzt werden. Sie glaubten zu schnell daran, so wie er selbst es glaubte. Dieser Glaube sog ihnen allmählich das Blut aus den Adern. Und ihm. Aber das behielt er für sich.

Oxenstierna, der Reichskanzler, seitdem sein gieriger und unglücklicher, an Geist und Körper zerrütteter König im Jahr zuvor gestorben war, hatte alles an sich gerissen und war in Eile. Er hatte sich vorgenommen, noch in diesen Tagen die evangelischen Stände des fränkischen, schwäbischen, oberrheinischen und kurrheinischen Reichskreises unter seiner Leitung zusammenzufassen, bis April den Heilbronner Bund zu gründen, sonst würden seine Gegner, diese Menschen fressende Bestie mit zehntausend katholischen Köpfen, ihn zermalmen. Und wenn er dieses verfluchte Ding im Kloster nicht fand, war sowieso alles vergeblich. Diese Menschenhaut. Auf der alles Unheil geschrieben steht. Er hatte es den aufrechten Frauen zu Hause, die nicht an den Spuk von Weissagungen glaubten, versprochen, er musste es zerfetzen, sonst nützte es nur den Hunden des Papstes, die damit herumzogen, um den Weltuntergang wie einen Ablass zu verkaufen, an dem sie sich bereicherten.

Er hatte seinen Experten gefragt. Hier, nur hier konnte das liegen, was sie für die Prophezeiung hielten. Die Prophezeiung! Es war das siebente der unheilvollen Pergamente, das noch übrig war. Es musste getilgt werden.

Der Reichskanzler riss an seinem weichen Koller aus gelbem Elchleder, auf dem das Kettenhemd lag, als ersticke er – in diesen Tagen wurde ihm alles zu eng. Er keuchte im Rauch der Brände. Über sich die schwarzen Vögel, die auf eine Schwäche lauerten, auf einen Moment des Zögerns, des Verschnaufens, der Ratlosigkeit. Lebendig eigentlich nur die entstellten Bettler, die sich an die durchschossenen, doppelten Mauern vor die Klosterpforte geschleppt hatten. Um sich der Tod in mancherlei Gestalt. Er blickte auf das, was der Zug seiner selbst in Lumpen gekleidete Landsknechte, eher nach Nahrung und Beute als nach dem Gegner Ausschau haltend, Weidenzweige um die morschen Sohlen, verrichtet hatte; beobachtet von ihren Frauen und Kindern, von Waffenschmieden, Hübschlerinnen und Predigern, die im Tross hinter ihnen her zogen. Ganze Arbeit. Wer von den Mönchen des Klosters, von den Bauern und Tagelöhnern der umliegenden Rheinauen und Weinberge nicht verhungert war, den schlitzten die Männer des schwedischen Königs auf. Überall auf dem Grund dieses eisigen Gartens lagen sie, Einwohner mit aus den Mauern herausgekratztem Kalk an den weißen Fingern, die sie abgeleckt hatten, um die nächsten Stunden zu überleben. Neben ihnen die geschlachteten Hunde und Katzen, zerlegte Pferde, die sogar auf dem vereisten Bach ins Tal rutschten, halbverdautes Gras und ausgespiene Wurzeln, Schafshäute. Und Menschenhaut.

Oxenstierna wischte sich über die Augen und schrie, um die Bilder loszuwerden. Er bekam keine Luft mehr, und das lag nicht nur daran, dass sie ihm vor Jahresfrist die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und die Kugel in seiner Brust mit glühenden Messern herausgeholt hatten. Aber er musste sich an seinen Auftrag erinnern. Wenn er um sich blickte, gefiel ihm durchaus, was er sah, die Plünderungen, in Blut getränkte Bücher, Rauch, Aas, Totenvögel, Lumpen, Leere. Aber das war nicht der Weltuntergang. Das war seine Reichspolitik. Was Jahrhunderte nach ihm kam, wenn der aufgeschriebene Teufelsspuk sich tatsächlich erfüllen sollte, war ihm egal. Ihm war es gleich, was im Jahr 1648 passieren würde, im Jahr 1111, im Jahr 1801, im Jahr 1961, im Jahr 1983 und 2012. Unvorstellbare Zeitläufte. Dann würden die Länder jedenfalls in protestantischen Händen sein.

Der Reichskanzler bemerkte die höhnischen Blicke seines Adjutors und bemühte sich, seine Gedanken zusammenzuhalten. Er war kein Gesandter für gefährliche Bücher, sondern Politiker und Soldat. Die evangelischen Reichsritter vom Mittelrhein hatte er schon. Die aus Franken würden folgen. Man hatte die katholischen Stände mitsamt den feisten Mönchen und Schriftenhütern so schnell verjagt, dass sie ihre Bücher nicht mitnehmen konnten. Sie hatten sie im Kloster Eberbach zurückgelassen.

Oxenstierna und sein Adjutor stiegen auf der Wendeltreppe des Turms zur Bibliothek empor. Mit Fußtritten bahnten sie sich den Weg durch gestürzte Standbilder, zersplitterte Waffen, Papierfetzen, besudelte Kleider. Jeder fluchte auf seine Weise, und der Reichskanzler spuckte gedankenverloren auf die Stufen aus rotem Sandstein, in Erinnerung an den Bischof von Speyer, der an diesem Tag die Festung Ehrenbreitstein den Franzosen überlassen hatte; Feinde wie diese verdienten den Tod, weil sie Verräter waren. Solche duldete er auf keiner Seite. Sein Adjutor fing ihn auf, er war gestolpert, sein Gesicht war weiß, er wollte zerstören, zerstören. Alles, was in dieser verfluchten Hexenküche der Mönche lag, würde er vernichten.

Als sie oben ankamen, den eisigen Wind durch die offenen Fensterhöhlen im Gesicht, der Adjutor schwer schnaufend, der nur das geistige Rüstzeug kannte, nicht den Waffendienst, der das Studieren gefährlicher Bücher im Armarium dieses Klosters, das Kopieren der alten Schriften im Scriptorium gewöhnt war, dieser langmähnige, verfettete Wolf ohne Zähne, da bannte sie der Blitzschlag des Anblickes. Die uralte Bibliothek, feierlich schweigend in der Eiseskälte, mit der Übe fülle ihrer Bücher bis zur Decke, keiner Partei angehörend. Oder welcher?

Oxenstierna stierte aus übermüdeten Augen auf die Regale aus Eichenholz mit den Folianten, auf denen Eiskristalle lagen, auf die überfüllten Läden mit den Codices und Inkunabeln, auf die Schriftrollen überall. »Teufelszeug«, flüsterte sein Adjutor. »Teufelszeug, ja«, schnaufte Oxenstierna, »verfluchte Verheißungen, die uns an die Wand nageln.« »Ans Kreuz«, flüsterte der Adjutor, »ans Kreuz, denn das geschieht uns allen.« »Aber das hier muss fort! Fort, versteht Ihr! Dieser Spuk mit der Prophezeiung muss beendet werden. Suche die verfluchte Menschenhaut mit dem Omen. Das wenigstens muss verschwinden. Am besten aber alles hier. Ich will leere Räume. Leere Räume. Ich will den Tod sehen. Ich will keine Bücher in meinem Kloster Eberbach sehen, die irgendetwas verheißen! Nur den Tod!«

Als alle Bücher der Galerie endlich auf dem Boden lagen, sah er das, was er gesucht hatte. Seine Soldaten kamen und schaufelten das nutzlose, bedruckte Zeug in Weinfässer und Körbe, um es zu verbrennen, zu verhökern, im Rhein zu versenken, den Feinden ins Maul zu stopfen. Sein schlauer Adjutor zog den Lappen, der zusammengerollt in einem Kasten steckte, aus dem die Edelsteine längst herausgebrochen waren, mit spitzen Fingern aus einem Haufen. »Das hier«, sagte er mit schiefem Lächeln, »ist es, eine richtige Reliquie, siehst du, Reichskanzler!« Oxenstierna riss es ihm aus der Hand. Entfaltete es. Las es. Nur den Tod, dachte er. Nur den Tod!

ENDE SEPTEMBER 1961

Über dem Gelände von Kloster Eberbach lag der feine Dunst des Frühherbstes. Die Ernte am Steinberg war eingeholt, der junge Wein von den Rebstöcken, die zum Rhein abfielen, schon in der Kelter. Alles war an seinem Platz. Doch manchmal bleiben Überreste.

Rosenthal blickte skeptisch auf die Gestalten in der mächtigen Basilika am südlichen Rand des Klausurbereichs. Hätte man das morgige Konzert nicht absagen müssen? Angesichts des Fundes schien es ihm ratsam, die Pforten für die Öffentlichkeit zu schließen, wenigstens solange, bis sich alles aufgeklärt hatte. Denn auf einen solchen Vorfall wartete die Presse mit Heißhunger. Und die Feinde des Klosters ebenso. Rosenthal wusste, wie viele Bestrebungen es gab, diesen Ort zu schließen, ihn ein für allemal zu versiegeln, erst am Morgen hatte er einen Brief von der hessischen Staatskanzlei erhalten. Er wusste auch, dass die Begründung dafür vorgeschoben war, nein, es ging nicht wirklich darum, dass die Grunderneuerung schon bis zum heutigen Tag so viel Geld verschlungen hatte und immer noch mehr verschlang. Es gab andere Gründe. Aber darüber wollte niemand sprechen.

Und das in einem Moment des Glücks, der hochfliegenden Pläne!

Rosenthal, der Leiter der Klosterverwaltung, klärte die Einzelheiten mit dem Archäologen von der Denkmalakademie. Drei ehrenamtliche Experten aus der Region für die Vorgeschichte des Klosters vervollständigten die kleine Gruppe. Rosenthal bemerkte wohl, wie sehr sie hinter der steifen Miene von Pflichtmenschen versuchten, gelassen zu erscheinen, aber das gelang ihnen nicht. Sie sprachen leise, wie unter Vorbehalt, jemand lächelte, aber die Anspannung stand ihnen in die Gesichter geschrieben.

Zur Linken erschienen jetzt drei Arbeiter mit den Werkzeugen. Der Leiter der Klosterverwaltung gab ein Zeichen hinüber, man würde sich gleich darauf den Männern anschließen. Als sie sich in Bewegung setzten, ahnten alle und Rosenthal wusste es, dass ihre Protokolle der Vergangenheit neu geschrieben werden mussten.

Die jetzt achtköpfige Gruppe durchquerte, von der Klostergasse kommend, einen Seitenflügel der Kirche. Hier wurden Bodengräber restauriert. Verstreut über die großflächigen Mosaike des Fußbodens lagen aufgelassene Grabdeckel. In einem Grab hatten die Archäologen einen zweiten Grabdeckel unter dem ersten gefunden. Etwas sehr seltenes. Und sehr schönes. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Fund der vergangenen Nacht.

Die Männer wichen den Grabstellen aus, die unter Zeitdruck gerade wieder geschlossen wurden, um die Stuhlreihen für das Konzert aufzustellen. Sie durchquerten das Seitenschiff der Basilika, warfen nur flüchtige Blicke auf die Arbeiten in den Arkadenbögen, auch dort bewahrte man nun endlich das Erbe dieses einzigartigen Ortes. Das waren Bildwerke ihrer Zeit, darunter jenes Hochgrab an der Ostflanke des Kapellenschiffes. Sockel und Umrahmung gehörten zum Baldachingrab des Mainzer Erzbischofs Gerlach von Nassau, des Abts, der lachte. Warum hatte sein Lachen auf die Zeitgenossen so verstörend gewirkt?

Aber auch diese Gestalt, die hervortrat, als wäre der Zeitpunkt geeignet für Rätsel, war nichts im Vergleich zu dem Toten, der unter einem Tumbendeckel begraben lag, den die Männer jetzt lüften wollten. Der Fund hatte sie geblendet. Im Tresorraum, der der ehemaligen Wohnung der letzten Äbte gegenüberlag, durfte es ein solches Grab eigentlich nicht geben. Auf keinem Plan, in keiner Chronik war es vermerkt. Niemand, auch nicht die Experten für die Geschichte des Zisterzienser-Ordens, nicht die Fachleute für dieses Kloster, hatten es in Erwägung gezogen.

Jetzt sahen sie es. Ein Zufall hatte mit dem Zeigefinger darauf gedeutet. Es war so, als träte es allmählich, von einem unbekannten Totengräber von Erde befreit, immer deutlicher zu Tage.

Die Männer gingen schweigend die Steinstufen zum Dormitorium der Mönche empor. Der Klosterverwalter kannte hier jede der fünfzehn Stufen und überhaupt jeden Stein, er hätte mit geschlossenen Augen laufen und jede Einzelheit im Geist vor sich hinsagen können. Es war ein Spiel, das er außerhalb der Dienstzeiten manchmal mit seinen beiden kleinen Töchtern spielte. Aber heute, in dieser Anspannung, wollte er an nichts denken, nichts stand ihm klar vor Augen.

Hinter ihnen, unter ihnen lag jetzt die Basis der Basilika. Auf halber Höhe des Aufgangs zum Dormitorium der Mönche blieben sie stehen. Noch einmal drei Stufen, dann lag zur Rechten die Höhlung der ehemaligen Äbte, ein sakraler Raum, aber einem archaischen Versteck aus der Zeit der Märtyrer ähnelnd. Direkt gegenüber, linker Hand, war der Ort. Eine Nische mit einer kleinen Fensteröffnung, die sich in die dicken Mauern einschmiegte. Dort war der dunkle Fleck aufgetaucht, hinter einem Türgitter mit einem schlichten Altaraufsatz. Bei der Suche nach Fundamentproben aus der Gründungszeit des Klosters war ein Archäologe darauf gestoßen und sofort und unangemeldet in Rosenthals Arbeitsraum gestürmt, um es zu melden. Er hatte den Teppich aus der Zeit der letzten Äbte mit Erde beschmutzt. Man hatte die Ränder eines Tumbendeckels herausgekratzt, ein zwei mal ein Meter großes Grab. Niemand wusste, wer hier begraben lag. Dieses Grab, sagte sich Rosenthal immer wieder, durfte es nicht geben. Und jeder, der den Fleck bisher zu Gesicht bekommen hatte, teilte seine Meinung.

Die Männer blickten sich an, jeder suchte im Blick des anderen etwas Beruhigendes.

Der Leiter der Klosterverwaltung seufzte. »Ich denke«, sagte er, »wir sollten beginnen. Wenn es sich tatsächlich um eine Grablege handelt, sollten wir wissen, wer hier seinen letzten Frieden suchte.«

Es hallte bis in den dunklen, schweigenden Raum des Dormitoriums, als die Arbeiter damit begannen, den Deckel des mysteriösen Grabes zu bearbeiten, um ihn zu lösen.

»Vorsichtiger! Wir müssen vorsichtiger sein, sonst beschädigen wir ihn!«

Sie träufelten Wasser ringsum auf die Grabkanten. Die Abmessungen traten auf dem feuchten Stein deutlich hervor. Sie wischten mit Tüchern darüber.

Als der Deckel vom Schutt befreit worden war, die Reste alten Staubes fortgefegt und allmählich Ornamente und Bilder des Grabdeckels erkennbar wurden, beugten sich die Archäologen darüber. Einer schüttelte den Kopf Alles war klar zu erkennen, das war nicht das Problem. Nur konnte sich niemand einen Reim darauf machen. Die Maurer traten in die zweite Reihe zurück, die Wissenschaftler setzten ihre Pinsel an, immer feinere, um die Einzelheiten aus dem Untergrund herauszulösen. Der Eindruck blieb. Eine solche Schrift, solche Namen und solche Hinweise auf einen Lebenden hatte bisher noch niemand gesehen.

Sie standen um das Grab herum und wussten nicht, was sie tun sollten.

Wenn man den schweren Deckel jetzt lüftete, das Grab öffnete, konnte alles Mögliche passieren. Jeder der beteiligten Männer im ehemaligen Tresorraum des Klosters hatte dazu seine eigenen Bilder im Kopf.

»Sollten wir nicht doch die Behörden benachrichtigen?«, fragte der Sekretär der Verwaltung.

»Wir als Kloster entscheiden, was zu tun ist«, erwiderte Rosenthal.

»Und wie machen wir es?«

»Wir graben das Grab aus. Ganz einfach.«

»Ganz einfach, meinen Sie, Herr Verwalter?«

Rosenthal bemerkte das Lauernde im Tonfall des Sekretärs, ging aber darüber hinweg. Er seufzte noch einmal, dieser Laut war ein oft zu hörender, unbewusster Teil seines milden, sentimentalen Wesens, denn er war am romantischen Rhein geboren, dem Land der Sagen und Märchen. Er bat darum, dass die Arbeiter noch einmal ihre Werkzeuge ansetzten.

Die Männer in den blauen Arbeitsanzügen gingen ans Werk. Beinahe wirkte es wie Wut, was sie antrieb, aber der Leiter der Klosterverwaltung konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eher eine wohlbegründete Angst war. Er verstand das. Noch am gestrigen Abend hatte er selbst auf einer Zusammenkunft gesagt: »Lassen wir diesen schwarzen Kasten lieber geschlossen, es ist besser so. Wer weiß, was sonst entweicht.«

Die Arbeiter würden nun den schwarzen Kasten öffnen. Und sie konnten nicht wissen, was daraus entwich. Sie wollten es einfach nur hinter sich bringen.

Der Junge stand im Chorraum vor der Figur, die lachte. Warum hatten sich alle davor erschreckt, wie sein Großvater erzählte, als er ihm das Märchen vorgelesen hatte? Der Lachende war jugendlich, schlank, harmlos. Martin stellte sich so in Positur, dass er die Haltung des Abtes nachäffte. Dann lachte er. Er bewegte seine Hüften und begann, im Kreis herumzuspringen, allmählich gingen seine Bewegungen in Tanz über. Er tanzte zu seinem eigenen Gesang. Wie hieß das Märchen von der gezeichneten Frau, die alle Fragen beantworten konnte? Es fiel ihm nicht ein. Auch der Dichter fiel ihm nicht ein, der gleich hier um die Ecke gewohnt hatte. Vielleicht sogar im Kloster. Als er sich wieder dem Bildrelief zuwandte, übersah er die große Hand, die auf ihn zuflog. Er spürte den Schlag auf seiner Wange wie etwas Böses und Gemeines. Er vernahm das Klatschen, noch immer betäubt. Er schaute auf die steinerne Figur, sie hatte sich nicht gerührt. Der Vater herrschte ihn mit mühsam unterdrückter Stimme an. Er hasste seinen Vater einen heißen, intensiven Moment lang, er wünschte ihm Verletzungen. Natürlich war das hier eine Kirche. Aber Martins Blick war vom Lachen dieses Vertrauen erweckenden Abtes wie verzaubert worden. Wo Lachen war, da war auch Tanz. Aber der Vater sah das nicht so. Er war ein selbstgerechter Mensch. Martin rieb sich ausgiebig die Wange, um seinen Widerstand zu betäuben und nichts zu tun, was seinen Vater erneut erbost hätte. Er hörte der Strafpredigt zu, die sich über ihn ergoss.

»Ja«, sagte er mit verschlossenem Gesicht.

»Komm jetzt endlich! Immer musst du herumzappeln wie ein Sechsjähriger. Das Konzert fängt gleich an! Großvater sitzt schon!«

»Wie das Goldfischchen wiederkehrt und von dem blonden Ameleychen und den Kindern im Wasserschloss des alten Rheins erzählt, so heißt es«, flüsterte Großvater Martin, als Martin neben ihm saß.

»Ja«, flüsterte Martin. »Ich hab’ es vergessen.«

»Und der Dichter heißt Clemens von Brentano; das kannst du dir merken.«

»Ja«, sagte Martin. »Leicht. Ich bin ja nicht elf.«

»Und die Frau heißt Loreley«, flüsterte der Großvater. »Und sie beantwortet alle sieben Fragen auf einmal, und jede Antwort gibt sie dreimal.«

»Warum?«

»Seid beide ruhig! Sie fangen an«, knurrte der Vater.

Großvater, der wegen seiner Krankheit wie immer nach Balsam Acht roch, legte die Hand auf seine rissigen Lippen und schmunzelte.

»Jetzt sitz einfach mal still«, brummte der Vater.

Martins Blicke wanderten über die Bühne mit den Musikern, seitlich dahinter musste der lachende Abt stehen, er sah ihn jetzt aber nicht mehr, auch wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, eine dicke Basstuba verdeckte ihm die Sicht. Vater drückte ihn auf seinen Sitz zurück. Seine Blicke flogen über die wenigen Zuschauerreihen vor ihm, die dicht besetzt waren, er war von den unterschiedlichen Landschaften der Frisuren und Scheitel beeindruckt. Er sah auch, dass zur Linken, dort wo eine Treppe hinaufführte, ein paar Männer standen, die aufgeregt tuschelten. Gleich würden sie vom Vater eine Ohrfeige kriegen! Polizisten sind eben so, hatte ihm der Großvater erklärt, der selbst einer gewesen war, sie gestatten dir nur zu reden, wenn du gefragt wirst. Martin war froh, dass er nicht Polizist werden musste. Er wollte tanzen. Und sonst gar nichts.

Die tuschelnden Männer stiegen jetzt die Treppe hoch, oben blieben sie auf dem Podest stehen, wo sich die Pforte mit dem halbrunden Türsturz befand. Sie schienen aufgeregt zu sein. Hatte das mit der Musik zu tun? Eher mit den geöffneten Gräbern, die er überall gesehen hatte. Sie suchten etwas, das war Martin klar.

In diesem Moment brandete Beifall auf. Der Dirigiert dieses riesigen Orchesters, das an den Seitenrändern vom Podest herunterzustürzen drohte wie eine Familie Pinguine, betrat die Bühne. Er verneigte sich, und Martin tat es ihm im Geiste nach. Dann wendete er sich dem Orchester zu und Martin hob heimlich den Dirigentenstab. Ein Stab wie ein Strich. Der sauste durch die Luft, zerschnitt das Bild, das Martin sah, und in der Furche, die die beiden Hälften trennte, entstanden Klänge, wie ein Donner, der auf den Blitz folgt. Drei Donnertöne, dem ein lang gezogener, tieferer Ton folgte. Dann das Ganze noch einmal. Dann tobte das ganze Orchester.

Martin begriff allmählich, dass einige Besucher lieber bei der Gruppe der Männer oben auf der Treppe sein wollten. Sie konnten es einfach nicht vermeiden hinüberzuschauen, so wie er, manche verdrehten geradezu die Hälse. Sie tuschelten. Etwas ging hier vor. Er musste Großvater fragen, sah diesen auch an. Aber der legte erneut einen Finger auf den Mund. Der Vater räusperte sich.

Die sieben Bogengänge führen zu sieben reinen, goldnen Türen, die sieben Treppen dann berühren.

Martin ließ sich von den Bildern, der Musik und dem Anblick der mächtigen Kirchenmauern, die in Schwindel erregende Höhen führten, verführen. So entstanden die Gedichtzeilen in seinem Kopf Er hörte die Stimme seines Großvaters.

Und diese Treppen auf sich winden, bis sie in einem Saal verschwinden, dem sieben Kammern sich verbinden.

Die Männer oben an der Pforte verschwanden jetzt. Martin wäre aufgesprungen, um ihnen zu folgen, hätte er nicht die beruhigende Hand des Großvaters auf seinem Arm gespürt. Die Musik donnerte weiter mit Posaunen, sie schien immer schneller zu werden. Dann ertönten wieder die hämmernden vier Klänge. Pause. Vier donnernde Töne. Ein Überfall an Klängen.

Im Saal auf siebenfachen Thronen, sitzt Lorelay mit sieben Kronen, rings ihre sieben Töchter wohnen. Frau Lorelay, die Zauberinne, ist schönen Leibs und kluger Sinne, hoch hebt sich ihres Schlosses Zinne.

So spricht doch eigentlich keiner, dachte Martin. Warum hatte Großvater ihm gerade dieses Märchen vorgelesen? Er hatte ihm etwas sagen wollen. Es ging um ein Geheimnis. Martin liebte Geheimnisse über alles. Er wollte eigentlich nichts anderes hören, er wollte darin leben. Aber in der Schule waren Geheimnisse verboten, dort ging es um Zahlen, Kriege und das Auswendiglernen der europäischen Hauptstädte, und jetzt bauten sie in der Stadt Berlin diesen Wall, über den niemand klettern konnte. Warum machten Erwachsene so was? Sicher, um Kinder zu ärgern, die keine geschlossenen Türen mochten. Großvater hatte nur die Schultern gezuckt. Sie machen es, weil sie nicht tanzen können, dachte Martin. Und nicht lachen.

In seinem Kopf rumorte es immer lauter. Sie ist die Hüterin vom Hort. Sie lauscht und horchet immerfort. Und … singt ein Schiffer einen Schrei, so ruft die Töchter sie herbei. Und siebenfach schallt das Geschrei, zum Zeichen, dass sie wachsam sei.

Vater hatte versprochen, nach dem Konzert den Berg zu besuchen, wo diese seltsame Frau noch heute wohnte, wie Großvater behauptete. Gleich nach der Musik würden sie aufbrechen. Ein richtiger Ausflug. War es dann überhaupt noch hell genug?

Man würde schon sehen!

Martin schaute nach links, die Männer an der Pforte waren wieder da. Jetzt begriff er, wie ungeduldig sie warteten. Spielt schneller, schienen sie hinunterzurufen. Martin lachte innerlich. Er stellte sich das Gedudel vor, das folgen würde. Alles hat seine Zeit, würde Großvater sagen. Alles muss zu seinem Ende kommen.

Dann war es so weit, die Musik hörte auf. Martin begann begeistert zu klatschen. Aber der Vater drehte ihm das Ohr um. Großvater schickte einen Schwall Balsam Acht herüber und griente: »Es ist doch nur der erste Satz gewesen, es kommen noch drei.«

Martin taten jetzt beide Ohren weh, wahrscheinlich waren sie knallrot, das kannte er schon. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Vielleicht würden ihm noch die anderen Zeilen einfallen. Oder das ganze Märchen. Er nahm die Lippen seines Mundes zwischen Daumen und Zeigefinger seiner beiden Hände, um nicht herauszuplatzen. Er versuchte, sich die einsame Frau hoch oben auf ihrem Berg vorzustellen. Aber das gelang ihm nicht.

Rosenthal vergoss den Kaffee, nur ein paar Tropfen, aber sie genügten, um ihn laut fluchen zu lassen. Er hatte die Tasse schief gehalten, im letzten Moment merkte er, dass er sie überhaupt hielt, als er auf seine neue Junghans blicken wollte, die er seit zwei Tagen besaß. Manche Angewohnheiten müssen erst durch alle Gehirnwindungen gekrochen sein, vor allem bei Menschen, die festen Gewohnheiten gehorchten.

Rosenthal überlegte, ob er die Tropfen auf seinem Handrücken ablecken sollte. Dann besann er sich und wischte sie mit dem Ärmel weg. Vorher stellte er lieber die Tasse ab.

Der Raum war voller Menschen. Es war stickig und zu dunkel. Zwei Deckenlampen waren defekt, und am Freitagabend waren im gesamten Rheingau bis runter nach Eltville, bis rauf nach Lorsch keine Handwerker zu bekommen. Rosenthal gab seiner klugen Sekretärin ein Zeichen und die schaltete auch noch die Stehlampen mit dezent geblümten Lampenschirmen aus Trevira ein.

Rosenthal hätte gern seine beiden Kinder dabeigehabt, und vielleicht auch seine Frau. Er litt unter der Einsamkeit in den Büros. Obwohl, Einsamkeit war vielleicht nicht das richtige Wort. Es ging eher um menschliche Wärme. Die Kollegen empfanden sich nicht als Teil einer Gemeinschaft, die an einer großartigen Sache arbeitete. Rosenthal rückte den Stuhl zurecht und nahm Platz. Es herrschte Hauen und Stechen im Kloster Eberbach. Vor allem seit die Posten von drei Beiräten zu besetzen waren. Rosenthal verstand die Aufregung sogar. Beiräte hatten das Recht, kostenlos auf dem Gelände des Klosters zu wohnen. Ein Privileg, wenn man bedachte, dass sie, wie weiland die Mönche, dann auch das Anrecht auf eine geregelte Zuteilung Riesling der Staatsdomäne besaßen. Und zu Weihnachten erhielt jeder Angestellte ein Päckchen mit den weithin berühmten Eltviller Würsten.

Rosenthal riss sich zusammen. Er blickte in die Runde. Vierzehn Augenpaare starrten zurück. Er seufzte. Worauf wartest du, dachte er, nun mach doch schon, damit du nach Hause kommst. Er stellte sich Maria in ihrem Festtagskleid vor, das so schneeweiß war, als wollte sie noch einmal heiraten. Sie würde ihm erzählen, wie das Konzert mit Beethovens Fünfter gewesen war.

»Herr Rosenthal?«, drang die Stimme des Sekretärs zu ihm. Der Mann hatte sich vorgebeugt und blickte seinen Chef wie einen Kranken an. Gleich würde er ihm den Puls fühlen.

»Herr Rosenthal, können wir anfangen? Ich muss noch nach Wiesbaden.«

»Ja und, es ist doch erst acht und bis halb zehn bleibt es hell«, sagte jemand schnell.

Rosenthal vertrieb den Wust lästiger Gedanken mit einer Handbewegung. »Ja, ja«, sagte er leise, »fangen wir an. Ich bin ein bisschen benommen von dem, was uns da in die Quere gekommen ist.«

»Ich habe hier den Bericht«, sagte der Archäologe. Sein Name war Rosenthal entfallen. »Soll ich kurz vortragen, Herr Rosenthal?«

Wir haben den schwarzen Kasten geöffnet, und etwas Ungutes wird entweichen, das ist klar, dachte Rosenthal. Es ist besser, wir schließen die Fenster.

»Soll ich?«

»Die Fenster schließen?«

»Nein, anfangen, Herr Rosenthal.«

»Aber ja! Fangen Sie doch bitte an!«

»Direkt nach dem Sichten des Grabinhaltes haben wir uns gefragt, wie wir an diese Dinge rankommen, ohne sie zu beschädigen oder gar zu zerstören. Denn wir wissen ja noch nicht, wie alt sie sind. Das ist, wie Sie wissen, das alte Problem der Archäologie. Wir haben eine Lösung gefunden. Wir lassen dieses Pergament, die Kindersachen, die Schatulle mit den Bändern im Grab. Dort, an Ort und Stelle werden ab morgen früh die Kollegen versuchen, die Fundstücke zeitlich zu bestimmen. Was wir hier noch finden werden, wenn wir richtig suchen, das wage ich gar nicht, mir vorzustellen. Das ganze Kloster ist ja ein einziges Grab.«

Rosenthal fiel der Name des kleinen, rosigen Mannes wieder ein. Kohler-Schmitt, einer, der doppelt ausgesprochen werden wollte. Man hatte ihn im Verband als besonders fähig empfohlen, Rosenthal konnte bis hierhin nur beurteilen, dass er stark schwitzte.

Bevor Rosenthal auf Kohler-Schmitts Aussagen etwas erwidern konnte, warf Brendenahl ein, dass es zöge. Brendenahl war nicht nur zugempfänglich, sondern auch ein Sprachästhet, er war nach Rosenthals Kenntnis der einzige Sachse, der ständig im Konjunktiv verweilte.

»Dass es zöge«, lachte die kluge, dünne Sekretärin, hielt sich aber gleich darauf den Mund zu.

Schließen wir die Münder, hätte Rosenthal sagen wollen, aber er sagte: »Dann schließen wir doch bitte alle Fenster, dann zieht es nicht, die warme Luft bleibt draußen und wir können uns endlich konzentrieren.«

»Das wäre wünschenswert«, brummte Rosenthals Nachbar, Klosterleiter a.D. Dinslaken. Seine Stimme war rauchgeschwängert.

Der Archäologe wischte sich mit einem karierten Stofftaschentuch so heftig über das ganze Gesicht, dass sein Standesdünkel verflog. Rosenthal versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er sagte.

»Jedenfalls sind wir jetzt schlauer. Die Besucher sind draußen, wir können also die ganze Nacht arbeiten. Ich bin wirklich begierig zu sehen, was es mit diesen Grabbeigaben auf sich hat. Wenn sich nicht jemand einen üblen Scherz erlaubt hat, sind wir womöglich einer ganz großen Sache auf der Spur.«

»Ja, und deshalb bitte ich mir aus, dass allergrößte Geheimhaltung herrscht!«, raunzte Dinslaken. »Wir hatten hier schon einmal einen ähnlichen Fall, der liebe Rosenthal wird sich erinnern. Wir fanden vor sechs Jahren die Geburtsurkunde unseres Herrn Gerlach von Nassau. In einer unterirdischen Grabkammer. Und das, nachdem sie sechshundertundfünfzig Jahre verschollen war. Einfach so, wirklich außergewöhnlich. Als das Fernsehen davon Wind bekam, konnten wir nicht mehr in Ruhe arbeiten. Diese Leute denken ja, sie sind mit ihrer neuen Erfindung die Herren der Welt.«

»Was befindet sich eigentlich unter dem Kloster?«

Rosenthal blickte den Fragenden an, musste den Vorhang von Zigarrenrauch lüften, den sein Nebenmann aufgespannt hatte. Kleinthaler blickte zurück. Rosenthal hatte gerade mit ihm und seiner Frau einen Urlaub vereinbart. Man würde … Rosenthal verstand die Frage an sich gerichtet, verschob die Vorstellung von wogenden Meereswellen unter dem südlichen Himmel der Adria und sagte: »Unter dem Kloster, mein lieber Kleinthaler, befindet sich nichts. Das schiere Nichts.«

»Das gibt es nicht«, sagte Kleinthaler, »und das wissen Sie. Es gibt keinen leeren Raum im Irdischen, nequaquam vacuum – nirgends leerer Raum …«

»Jetzt hör doch auf mit deiner Weisheit«, sagte der Leiter des Weinverkaufs. »Das passt doch nun im Moment wirklich nicht.«

Rosenthal nickte dem Archäologen zu, damit er weitermachte.

»Ich werde«, nahm dieser den Faden auf, »einen Grafologen hinzuziehen, einen Textilfachmann, einen zweiten Archäologen. Wir werden dentrochronologische Abklärungen vornehmen. Wir müssen wissen, aus welcher Zeit der Fund ist, bevor wir ihn anfassen.«

»Wann ist das Kloster eigentlich gegründet worden?«, wollte der Fahrer Dinslakens wissen.

Rosenthal dachte, dass der junge Mann mit seiner lackiert wirkenden Ententolle à la Ted Herold in dieser Runde eigentlich nichts zu suchen hatte. Und seine Frage damit auch nicht. Aber der verdienstvolle a.D. Dinslaken besaß einen Berg an Bonus und hatte es durchgesetzt.

»1136 mein lieber Mann, da hat das alles angefangen«, sagte Brendenahl aufgeräumt.

»Kann das, was Sie da gefunden haben, so alt sein?«, staunte der Fahrer.

»Das sicher nicht, dann wäre zwangsläufig alles stärker verfallen und mir müssten nicht rätseln«, erwiderte der Archäologe. »Aber das müssen wir abwarten.«

Der Fahrer hielt sich im Spiel. »Gibt es im Kloster überhaupt was Altes aus der Gründungszeit?«

Dinslaken blickte ihn wohlwollend an. »Ja, wir haben was. Ein kostbares Glasfenster der Zisterzienser, einen Schatz. Es wandert demnächst ins Museum, wenn es eingerichtet ist.«

Rosenthal erblickte seine schöne Frau Maria vor dem geistigen Auge, sie lächelte ihm zu. Er sagte ungeduldig: »Bleiben wir doch bei der Sache. Herr Kohler-Schmitt, erzählen Sie uns, was wir wissen müssen. Ich würde dann nämlich gerne …«

Der Archäologe tippte auf ein Blatt. »Nach meinen bisherigen, wie Sie verstehen werden, vorläufigen und deshalb nicht mit der Maschine geschriebenen Notizen, kann ich nur das Rätselvolle dieser Sache betonen. Eine Art Arrangement, beinahe ein Kunstwerk, sehr merkwürdig. Heute sprechen wir ja von Installationen, aber zu welchem Zweck? Jedenfalls handelt es sich im eigentlichen Sinne nicht um ein Grab, niemand ist beerdigt worden, auch keine humanen Teile. Nur tote Objekte.«

»Na ja«, brummte Brendenahl, »was heißt schon nur tote Objekte. Wenn was im Grab liegt, egal was –«

Kohler-Schmitt wischte den Einwand mit seiner großen Hand weg. »Es handelt sich nicht um eine Grablege, das ist mir wichtig, Sie müssen das also nicht den Behörden melden. Ich bitte Sie alle, über den Fund Stillschweigen zu bewahren. Er gehört uns. Und wir behalten ihn, solange wir nur können. Wir können ihn in aller Ruhe untersuchen und dann entscheiden, inwiefern wir die Öffentlichkeit informieren.«

»Werden Sie deutlicher«, sagte Rosenthal. »Droht uns irgendeine böse Überraschung?«

»Was meinen Sie damit?«

»Herrgott! Ich kann wirklich nichts gebrauchen, was unsere Aufbauarbeit hier blockiert!«

»Warten wir’s ab. Es geschieht, was geschieht«, sagte Kohler- Schmitt bräsig.

»Aber was befindet sich nun wirklich unter dem Kloster?«

Nicht alle Anwesenden richteten ihre Blicke auf den entweder dreisten oder schwachsinnigen Fahrer Dinslakens. Einige sahen zu Boden. Aber allmählich begannen sie durchaus, sich für diese Frage zu interessieren.

Nur Rosenthal nicht, der die Antwort kannte.

Der Berg drehte sich durchaus um den Jungen herum. Darüber der noch helle Abendhimmel. Erst als sie oben waren, hörte das auf, die Scharniere des Berges rasteten hörbar ein. Es war der Moment, in dem Martin Stillstand.

Er hatte beim Aufstieg ein Schwirren gehört. Ein Flügel hatte ihn gestreift. Das war gleich nach dem Aussteigen aus Vaters blauem VW 1500 hinter dem Bergplateau gewesen. Ein echtes Herumfahrauto, das sportlich brummte. Martin hatte den Flügel nicht sehen können, aber ihn gespürt. War ja auch klar, auf diesem Berg, der niedrige Himmel wie ein Deckel darauf, hier wohnten nur Engel und Geister, wie Großvater versicherte. Und oben thronte die geheimnisvolle Frau mit der Sieben, die sie von dem Dichter hatte.

Martin rannte voraus. Dann hörte er, wie Vater etwas erklärte. Er rannte zurück. Das Rheintal unter ihnen begann zu raunen, und Martin erblickte ganz weit unten, auf dem schmalen, hellen Band, eine Reihe von Lastkähnen. Sie glitten nacheinander in einer Richtung dahin, als hielten sie sich an den Schwänzen fest. Er hatte in den Sommerferien im Zirkus so etwas gesehen. Ponys, die sich mit ihren Zähnen an den Schwänzen hielten und in der Manege herumliefen, bis eine Peitsche knallte.

Er hörte das Tuten eines Kahns. Martin rief hinunter und winkte. Das Echo warf seinen Ruf dreifach durch den Abgrund. Es hörte sich toll an und er wiederholte es. Als er wieder in die Höhe blickte, sah er die versteinerte Frau.

Die Stimme seines Vaters erklärte: »… das hat die Loreley getan. Es ist ein Gedicht. Ein Lied gibt es auch. Aber das ist von einem anderen. Im Rheingau kennt das jedes Kind.«

Sie erreichten die höchste Plattform. Martin schwindelte es. Wer diesen Berg hinabkollerte, der kam unten bestimmt nicht heil an. Er wollte es gar nicht erst versuchen. Und die versteinerte Frau? Sie standen jetzt so dicht vor ihr, dass Martin die Träne in ihrem linken Auge sah.

»Hör mal, mein Junge«, sagte der Großvater. »Jetzt kannst du uns das Gedicht aufsagen, die Loreley wird sich freuen.«

»Damit kannst du dir die beiden Ferientage in Eltville verdienen«, erklärte der Vater.

»Aber Vorsicht! Die Frau ist verzaubert. Man muss es können, sie mag nicht alles.«

Martin versuchte, sich zu konzentrieren, und es gelang ihm, das Gereimte aus dem Märchen wiederzugeben. Jedenfalls mit Pausen. Am Ende lächelte sogar der Vater. Großvater hielt ihm auf der flachen Hand einen Himbeerdrops hin und Martin steckte ihn schnell in den Mund.

Der Vater sagte: »Hier hat es mal einen scheußlichen Mord gegeben. Gerade da, wo du stehst, Martin. Das muss damals ein Schock für die ganze Region gewesen sein. Die Leute wollten nicht glauben, dass so was ausgerechnet am schönen Rhein passieren kann.«

»Davon weiß ich nichts«, brummte der Großvater.

»Es ist natürlich schon lange her, selbst noch vor deiner Zeit«, sagte der Vater. »Es erregte sogar bei Napoleon Aufsehen, der damals hier das Sagen hatte. Die Behörden haben es lange untersucht und mussten den Fall schließlich zu den Akten legen.«

»Wer hat wen ermordet?«, fragte Martin.

»Das weiß keiner«, erwiderte sein Vater. »Es kamen jedenfalls vier Menschen zu Tode. Drei Männer und eine Frau. Es hieß, die Frau hat sich am Ende selbst umgebracht.«

Martin verstand nicht. »Warum denn?«

»Du kannst fragen! Jedenfalls fand man sie zerschmettert am Fuß dieses Felsens. Die anderen drei – na ja, eine scheußliche Geschichte.«

Maltin wollte noch mal nachfragen. Aber dann spürte er, wie sein Magen zu brennen begann. Auch der Himbeerdrops konnte das aufkommende Gefühl von Angst nicht mindern.

Vielleicht hat sie sich den Berg runtergerollt, dachte Martin. Und die drei Männer? Er beschloss, dass die Antwort zu grob war, also nicht zu den Geheimnissen gehören würde. Ihn also nicht interessierte. Er lief um das Denkmal herum. Jetzt sah er die versteinerte Frau von hinten.

Der Mond gehet unter, die Liebe geht unter, das Schiff zieht hinunter, wer hält sie auf? Und Frau Lorelay rief siebenmal zurück: Wer hält sie auf?

Sie starrte ihn an. Nicht unfreundlich, aber …

Im Saal auf siebenfachen Thronen, sitzt Lorelay mit sieben Kronen, rings ihre sieben Töchter wohnen. Frau Lorelay, die Zauberinne, ist schönen Leibs und kluger Sinne, hoch hebt sich ihres Schlosses Zinne …

So ganz genau stimmte das nicht. Ein Schloss konnte Martin nirgendwo sehen. Das musste daran liegen, dass es ein Märchen war. Da stimmte selten was. Das dachten sich Dichter beim Weintrinken aus.

»Wo ist das Schloss mit den siebenfachen Thronen?«

Großvater griente. »Als der Dichter das Märchen schrieb, stand es hier irgendwo, inzwischen hat man es abgerissen. Sie reißen ja alles ab, was der Krieg übrig gelassen hat, in den Innenstädten siehst du das. Dann bauen sie diese hässlichen Kaufhauskästen aus Waschbeton hin.«

»Menschen müssen einkaufen«, sagte der Vater.

Martin dachte: Sie reden immer herum. Sie sind nie einer Meinung. Sie setzen sich nie hin und lösen ein einziges Rätsel, obwohl sie dafür da sind.

Zum Beispiel das Rätsel der Frau Lorelay, die eine Zauberinne war. Was konnte sie verzaubern? Vielleicht sich selbst. Und dann war sie gar nicht tot. Eine andere war den Berg runtergerollt, irgendeine andere. Und die Frau Lorelay lachte oder weinte und versteckte sich eine Zeit lang. Irgendwann, wenn alle die Sache vergessen hatten, war sie wieder da.

Dass es mir nur könnte werden, lieben und geliebt zu werden. Und nun sprach Frau Lorelay ihm siebenmal zurück: Lieben und geliebt zu werden!

»Kommt mal hierher!«, rief der Vater.

Martin sah über sich eine Schar Vögel herumtorkeln. Er ahmte ihren Flug mit ausgebreiteten Armen nach. Dann stürzten die Vögel den Berg hinunter und fielen ins Wasser. Martin rannte in Schlangenlinien zu seinem Vater.

»Hier!«, sagte der Vater. Er wartete, bis auch der Großvater sich genähert hatte. »Schaut euch das an. Hier sind Spuren. Irgendwas Rotes. Was sagst du dazu, Martin?«

Flügelschlag ist Flügelschlag, dachte Martin und blickte zum Himmel. Dort sah er aber nichts mehr.

»Eine Coladose«, sagte Martin leise.

»Nein, schau doch genauer hin. Du willst doch mal Polizist werden, dann musst du an Tatorten ganz genau hinsehen. Der erste Eindruck ist immer der entscheidende.«

Ich will Tänzer werden, dachte Martin.

»Da liegt doch eine Coladose im Gestrüpp!«, ließ sich der Großvater vernehmen, dessen Kleidung ganz verrutscht war. »Alu kommt jetzt ganz groß in Mode, aus Flaschen schmeckt es ihnen nicht mehr.«

»Tatsächlich«, musste der Vater zugeben. »Aber das ist nicht wichtig. Man muss die Dinge unterscheiden lernen. Schaut euch diesen langen, roten Faden an.«

»Sieht aus wie eine Blutspur, ist aber keine«, sagte der Großvater. »Polizisten sehen zu viel Gemeines. Das hier ist tatsächlich nur ein Faden, Gütermanns Nähseide, la Qualität. Das erkenne ich doch.«

Martin blickte von einem zum anderen. Erwachsene bringen es tatsächlich fertig, dass Märchen verschwinden, dachte er. Sie verlieren sich in ihren Sätzen sogar selbst. Ist das ein Spiel? Ich müsste hier allein sein, sinnend auf die Strahlen lauern. Das mache ich auch. Wir sind ja noch einen ganzen Tag in der Gegend. Aber wie soll ich herkommen? Vielleicht per Anhalter. Für das Rad ist es zu weit. Und ich habe ja auch gar kein Rad.

Wir werden schon sehen!

Der Junge starrte auf das grüne Leuchten, tief drinnen in dem Auge wohnte der Sender Hilversum. Martin versuchte sich vorzustellen, wo Hilversum lag. Niemand kannte es. Aber von dort sendeten sie diese Lieder. Und dabei vibrierte der aufgeraute, von Tabakqualm gebräunte Stoff rund um das magische Auge. Martin legte das Ohr an die Haut über der Membrane, gleich darauf drangen die Töne durch seinen Kopf dann durch seinen ganzen Körper, bis in die Zehenspitzen. Er schloss die Augen, hörte dem Gesang zu, die Zahl Sieben zog durch ihn hindurch, schlängelte sich durch seine inneren Welten und löste sich als rotes Band auf, ohne ihn wirklich zu verlassen.

Siebenmal in der Woche möcht’ ich tanzen, siebenmal möcht’ ich glücklich sein mit dir, siebenmal, siebenmal, das ist meine Lieblingszahl siebenmal …

»Martin! Hörst du nicht?«

Martin fuhr zusammen und blickte seinen Vater an. »Doch!«

»Na also. Dann hab die Güte und verschwinde für einen Moment von deinem Lauschposten. Ich möchte die Nachrichten hören. In Berlin geht es drunter und drüber. Vielleicht gibt es Krieg.«

Die Tante und der Onkel waren auch in der Wohnküche. Sie sahen ebenso besorgt aus wie Vater. Martin zog sich zurück, setzte sich an den Tisch, der von einer störrischen Kunststoffdecke überspannt war, die seltsam roch. Der Schlager verstummte.

es jaulte im Radio, als Vater am Rädchen drehte, eine in Rauschen eingelegte Stimme ertönte, es wurde lauter gedreht. In Berlin passierte tatsächlich etwas. Aber was war eine atomare Bedrohung?

»Sie haben es prophezeit, jetzt ist es eingetreten«, sagte Großvater. »Jetzt weiß niemand, was wird.«

»Wer hat es prophezeit?«, wollte Martin Velsmann wissen.

»Na die Politiker, sie arbeiten doch andauernd daran!«

»Unsinn«, sagte der Onkel in seinem breiten Dialekt. »Niemand hat es prophezeit. Es ist einfach geschehen. Die Ostler glauben doch nicht an Prophezeiungen und Weissagungen, vielleicht vom Anbeginn der Welt, oder wie? Die schaffen sich ihren Anfang selbst und machen, was sie wollen!«

»Sag ich ja, deshalb ist es prophezeit«, beharrte der Großvater. »Die Politik schafft das, es ist doch als Drohung dauernd da, hörst du das nicht?«

»Ach was!«

»… als Verheißung aus der Vergangenheit. Seit eh und je ist es da, es steht doch schon in der Bibel, und sie machen immer weiter, begreift ihr das nicht? Jetzt arbeiten sie es Stück für Stück ab. Die Politik ist dafür zuständig und macht es nur noch schlimmer. Und wir sind davon abhängig.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach dagegen tun, Senior?«

»Gar nichts! Wir können dagegen nichts tun, sie haben uns am Wickel!«

»Ach nee!«

»Seid doch mal ruhig«, sagte Vater und hob den Zeigefinger.

Alle schwiegen und lauschten den Nachrichten im Radio. Ihre Gesichter wurden immer länger. Martins Beine begannen zu zittern. Seine Finger krabbelten über die seltsam riechende Tischdecke. Seine Blicke tasteten sich an dem unbegreiflichen, wie lackiert wirkenden Muster der Rolltapete an den Wänden entlang, sogar die Decke war tapeziert. Der Radiosender in seinem Kopf sendete weiter die Hitparade und eine Stimme sagte: Diese Woche auf Platz drei, Illo Schieder und »Sieben einsame Tage«. Martin sang das einsetzende Lied stumm mit.

Er stellte sich Illo Schieder als Frau Lorelay vor. Sie bewegte sich traurig zur Musik. Was soll das bedeuten, dachte Martin, jetzt geht alles durcheinander. Vielleicht werde ich ein Dichter.

»Hör mal, Martin!«, rief die Tante. Aber sie meinte nicht den Jungen, und auch nicht dessen Vater, sondern den Großvater. »Wir sollten dann essen. Essen muss man auch unter einer atomaren Bedrohung.«

»Dann sogar erst recht«, behauptete Großvater Martin.

Die drei Männer am Radio richteten sich auf, der Onkel drehte den abschließenden Wetterbericht leiser, sie kamen zum Tisch. Großvater verströmte eine so starke Wolke von Balsam Acht, dass Martin nicht riechen konnte, was die Tante im Kochtopf hatte. Vorher hatte es nach Kohl gerochen. Sie deckte, tischte auf und da endlich alle saßen, begannen sie zu essen. Martin merkte, wie hungrig er war.

»Sie machen Ernst«, sagte der Vater.

»Vielleicht sollten wir hierbleiben«, kicherte der Großvater. »In den Weinbergen kann uns doch gar nichts passieren. Und das Manna gibt es kostenlos.«

»Ausgerechnet!«, sagte der Onkel laut und kaute so vorsichtig, als hätte er Zahnschmerzen. »Hier wimmelt es doch von unterirdischen Atomanlagen! Hier geht alles mit einmal hoch, wenn es den Herren Besatzern passt!«

»Das stimmt«, sagte die Tante. »Niemand weiß es genau. Aber ich spüre es manchmal, wie sich unter uns der Boden bewegt, wenn die Raketen in die Abschussrampen einfahren. Es grummelt dann so, dass ich aufwache. Unter uns ist ja alles ausgehöhlt.«

»Na, ganz so schlimm ist es nicht«, wiegelte der Onkel ab. »Aber in Sicherheit ist hier im Rheingau keiner, dazu gibt es zu viele Atombunker, das steht fest.«

»Martin, iss noch! Du bist so dünn!«

Diesmal war der Junge gemeint. Aber Martin war satt.

»Er ist so dünne, weil er dauernd tanzt«, meinte Großvater. »Und das kommt daher, dass er diesem Tanzorden angehört.«

»Was ist los?«, wollte der Vater wissen und legte die Gabel beiseite.

»Ach nichts!«

»Nun erzähl schon! Ich sollte wohl Bescheid wissen, wenn mein Sohn einem …«

»Er ist Mitglied im Orden der Philochoreiten, wusstest du das nicht?«

Martin blickte den feixenden Großvater an. Jetzt würde eine seiner verrückten Lügengeschichten folgen.

»Wovon redest du eigentlich, Papa! Kannst du mal deutlicher werden?«

»Nun«, sagte der Großvater und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Er probt heimlich, wie alle Besessene dieses Ordens. Ein geheimer Tanzorden, müsst ihr wissen, sehr mysteriös. Im 19. Jahrhundert ganz berühmt, aber erst seitdem Martin ihm angehört, wirklich bedeutsam. Und das kam so –«

»Ach, nun hör doch auf, Papa!«, entfuhr es Martins Vater Martin. Das ist doch nur wieder eine deiner Schrullen! Hahaha! Und ich hab’ schon geglaubt …«

Martin war selig. In der Bibliothek des Onkels würde er später nachsehen, ob es diesen Orden tatsächlich gab. Und ob er tatsächlich Mitglied war. Jetzt fühlte er sich erstmal geborgen, am richtigen Platz, in Sicherheit. Endlich wieder einmal. Eigentlich zum ersten Mal, seit Mutter gestorben war. Er blickte von einem zum anderen, und als die Erwachsenen begannen, erneut über Berlin zu reden, spürte er, wie müde er war.

Man erlaubte ihm, schlafen zu gehen.

Martin suchte sich ein dickes Lexikon aus einer ganzen roten Reihe mit den Buchstaben O wie Orden und P wie Philochoreiten heraus und nahm es mit in die Kissen. Von nebenan hörte er das Grummeln der Stimmen. Er suchte in dem Buch und fand einen Eintrag. Er verstand nicht alles. Vor allem nicht das auf Französisch. L’ordre des Philochoréites ou Amants du plaisier. Aber es klang gut. Eine geheime Verbindung von Männern und Frauen, vor schwindelerregend langer Zeit von jungen Offizieren eingeführt und nach Spanien verbreitet. Aufnahmegebräuche wie an den Liebeshöfen. Androgyner Orden, der tanzte. Was waren Liebeshöfe, was ein androgyner Orden?

Was Großvater alles wusste! Martin beschloss noch, Mitglied in diesem androgynen Orden zu werden, denn er hatte keinen Beweis dafür gefunden, dass er es schon war, auch wenn Großvater es behauptete. Dann schlief er ein. Er hörte nicht mehr, wie das schwere Buch zu Boden polterte.

Rosenthal hatte schon während der Sitzung daran gedacht, seinen Wanderbruder Martin Velsmann zu Rate zu ziehen, von dem er wusste, dass er sich mit Sohn und Vater zufällig gerade in Eltville bei Verwandten aufhielt. Der Polizist gehörte zum inneren Kreis der erfolgreichen Ermittler Hessens. Und seit der Gründung des Wandervereins Rheingauer Höhenweg gehörte Velsmann zu seinen Freunden. Aber er hatte Angst davor. Er wusste, Velsmann war nicht mehr zu kontrollieren, wenn er einmal seine Nase in einen mysteriösen Fall gesteckt hatte. Und das war zu diesem Zeitpunkt zu riskant.

Sie hatten tatsächlich keine menschlichen Überreste gefunden, niemand war im Tresorraum begraben worden. Aber wozu dann dieses Grab? Wegen der Kleidungsstücke? Wegen des Kinderspielzeugs? Wegen der Schatulle mit diesen albernen Bändern oder wegen dieser Rolle beschrifteten Pergamentes? Wer machte so was? Und vor allem, wann hatte er es getan?

Ein makabrer Scherz? Irgendwas in Rosenthal sagte: Nein.

Die Schriftrolle war natürlich am interessantesten. Ihre Zeichen mussten untersucht werden. Und sie würden verstanden werden. Er wollte später selbst einen Blick darauf werfen. Wahrscheinlich war es nachitische Schrift, eine sehr alte Schriftsprache. Aber ein Armutszeugnis war es schon, dass keiner der anwesenden Experten die Steinmetzzeichen und das Wappen auf dem Grabdeckel entziffern konnte. Man hatte bis zum Morgengrauen darüber gebrütet. Schriftzeichen, natürlich, ein Witzbold wollte etwas verrätseln, hatte Brendenahl gelacht. Und Menschenhaut? Jemand von den Archäologen hatte das behauptet. Natürlich, dachte Rosenthal und massierte seine schmerzenden Schläfen, darunter machen wir es heutzutage nicht.

Abgezogene Menschenhaut!

Er wusste, wie Pergament nach entsprechender Behandlung aussah. Der Papiersachverständige aus der Denkmalakademie würde es bestätigen.

Maria schlief noch und er wusste ohnehin, das Konzert würde ein voller Erfolg gewesen sein. Beethovens Fünfte zog immer, schon wegen der Hoffnungsschimmer in C-Dur am Ende, nachdem am Anfang alles im schicksalhaften Moll zu versinken drohte, und die Bamberger Symphoniker zogen sowieso.

Rosenthal streckte sich nach der Sitzung, die nach einem schleichenden Anfang, einem angestrengten Mittelteil bis zum frühen Morgen gedauert hatte, aus und schloss die Augen. Hinter seinen Augen begann jemand, auf ihn zu deuten. Ein ausgestreckter Zeigefinger. Ja, er war gemeint. Ein ekelhafter Besserwisser wollte nicht, dass er einschlief Es ging um die verschwundene Bibliothek des Klosters. Ist ja gut, dachte Rosenthal. Damit habe ich mich schon so oft beschäftigt, mehr als du denkst, lass mich in Ruhe. Sieben Manuskripte, sagte der Besserwisser, alle verschollen, einst der größte Schatz des Klosters, erinnerst du dich? Das erste ein Lob der Schöpfung, das vierte eine Ahnung und Ermahnung, das letzte eine böse Verheißung. Das Ende der Welt, versuche, dich zu erinnern! Ja doch!, dachte Rosenthal, hier kommt ohnehin keiner darum herum, darüber nachzudenken, das ist doch das allerbeliebteste Geheimnis hinter den Klostermauern überhaupt – selbst Konrad Adenauer hat danach mit rheinischem Dialekt gefragt, als er im Frühjahr zu Besuch war, und dabei seine Gesichtsmaske zerknautscht. Und diese Schriftrolle könnte das siebte Pergament sein, nach dem alle so gereizt suchen? Undenkbar! Das Pergament! Die Prophezeiung! Das Ende der Welt! Jaja!

Menschenhaut!

Rosenthal stöhnte. Neben ihm rührte sich Maria. Rosenthal stellte sich schlafend. Maria lag wieder still. Schließlich schlief Rosenthal tatsächlich ein. Im gleichen Moment erwachte seine Frau, öffnete die Augen und sah, dass ihr Mann selig schlummerte.

Dieser Langschläfer!

Sie rüttelte an seiner Schulter. Dass er verschlief, war noch nie passiert. »Du musst doch zum Dienst! Was ist denn mit dir los, Lothar?«

Rosenthal fuhr hoch. Die sieben Sekunden Schlaf hatten ihn nicht wirklich erfrischt. Aber er wusste jetzt, dass er sich diese Schriftrolle sehr genau ansehen musste. Denn tief im Inneren seines Gedächtnisses, dort wo sich die Geheimnisse jahrelanger Lektüre ablagerten, hatte es eine Art Wiedersehen gegeben.

Warum sind Menschen überhaupt da, fragte sich der Junge. Was soll das? Großvater, Vater, Sohn und dann noch Onkel und Tante. Wozu? Vielleicht, um die Vorräte aufzuessen, die sich in der Speisekammer befinden. Es war jedenfalls leichter, eine Frage zu stellen als eine Antwort zu bekommen. Überhaupt hatte er oft das Gefühl, seine Gedanken waren vor der Sprache auf der Flucht. Er dachte sie und erst allmählich konnte er für sie Worte finden. Er legte die Gedanken vor sich hin und sah sie an. Umhüllte sie mit hübschen Wortkleidern. Dann waren die Gedanken schon woanders.

Jetzt zum Beispiel waren sie schon wieder auf dem Berg. Sie krabbelten an den Weinbergen hoch und Martin versuchte, zu folgen. Ein Wort hob die Hand, steinerne Frau, sagte es in ihm, verzauberte Frau, die Gedanken sausten weiter. Martin lauschte, in der Küche rumorte es. Draußen war es schon taghell. Vater hatte gestern versprochen, sie würden noch einmal ins Kloster gehen. Irgendeiner wollte etwas von ihm.

Martin stand auf, wusch sich im Badezimmer. Als er die Küche betrat, verließen Vater und Großvater den Raum. Wir lassen dich hier, Tante Irma wird sich um dich kümmern, immer nur Männer um dich, das ist nicht gut. Tante Irma versorgt dich, wir sind am Nachmittag wieder hier.

»Ich will aber mit«, bettelte Martin.

»Na gut, dann komm, aber ohne Frühstück.«

Martin atmete auf Er hatte nichts gegen Tante Irma. Schon gar nicht, seit die Mutter gestorben war. Mutter und Tante Irma waren sich ähnlich, kein Wunder, sie waren ja Schwestern, sie sprachen sogar den gleichen, singenden Dialekt. Aber er fühlte sich wohler, wenn Männer um ihn waren. Dann gab es was zu tun. Frauen wollten immer nur, dass Kinder nichts taten, weil sie sonst krank würden.

Die Fahrt im VW 1500 war himmlisch. Der Himmel floss als Luftzug in das eine Fenster herein und zum anderen wieder hinaus. Martin hatte sich die Erlaubnis geholt, die Scheibe herunterzukurbeln. Er legte den Ellenbogen in die Fensteröffnung und seinen Kopf darauf. Er dachte wehmütig an die tote Mutter. Sie war jeden Abend an sein Bett gekommen und hatte ihm vorgelesen. An ihre Stimme erinnerte er sich wie an fernen Glockenklang. Ihre sanften Augen glichen dem Mondschein.

Das Kloster kam in Sicht, es sah von weitem hell und lieblich aus. Aber Martin wusste, wie düster die Innenräume waren. Fast schwarz. Nur erleuchtet von Fackeln. Wie die Hölle.

»Du bleibst hier draußen. Du kannst im Park herumrennen. In einer Stunde holen wir dich hier ab.«

»Ich will aber mitkommen!«

»Na gut. Aber kämm dir die Haare! Hier ist der Kamm. Was soll Herr Rosenthal sagen, wenn er sieht, was ich für einen verwahrlosten Jungen habe!«

»Großvater hat sich auch nicht gekämmt.«

»Großvater hat keine Haare mehr.«

»Aber er hat einen weißen Bart.«

»Widersprich mir nicht immer!«

Sie überquerten die Zufahrt, passierten das Portal mit der verschnörkelten Schrift Herzlich Willkommen im Kloster Eberbach