Engelszwillinge - Laura Wille - E-Book

Engelszwillinge E-Book

Laura Wille

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Beschreibung

»Wenn sie stirbt, stirbst auch du, denn ihr seid wie Yin und Yang, Gut und Böse, Licht und Finsternis. Ihr könnt nur gemeinsam existieren.« Das Gedächtnis der siebzehnjährigen Ciel ist wie ausgelöscht, sie hat keinerlei Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Als schreckliche Unfälle um sie herum geschehen und sogar Morde, hat sie immer öfter das Gefühl, verfolgt zu werden. Hat es jemand auf sie abgesehen? Aber warum? Steckt womöglich das mysteriöse Mädchen dahinter, das ihr so erschreckend ähnlich sieht? Oder der attraktive Lucien, der ihr zwar das Leben rettet, aber selbst ein Geheimnis zu haben scheint? Offensichtlich weiß er etwas über sie und die Unbekannte, denn er warnt sie eindringlich davor, nach ihr zu suchen. Doch Ciel muss herausfinden, was es mit ihrer Doppelgängerin auf sich hat, denn sie könnte der Schlüssel zu den schrecklichen Vorfällen und ihrer eigenen Vergangenheit sein – selbst wenn es sie töten könnte … Für alle ab 13 Jahre, die spannende Fantasyliteratur aus dem Tomfloor Verlag über Engel lieben.

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Laura Wille

Engelszwillinge

 

 

Für meine (chaotische) Familie

Prolog

 

Solange er sich erinnern konnte, war die Suche nach den beiden Mädchen alles, was seinem Leben einen Sinn gab. Doch sie zu finden, war, als suche man das Licht in endloser Finsternis.

Viele Jahre waren vergangen, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf ihren Aufenthalt. Dabei waren diese Mädchen keineswegs gewöhnlich. Sie waren etwas Besonderes. In ihnen schlummerte eine ungeheure Macht, die es zu erwecken galt. Eine Macht, von der sie aber nicht einmal selbst etwas wussten. Und doch würde es immer auf das Gleiche hinauslaufen – die beiden würden aufeinandertreffen und sterben.

Sie zu kontrollieren, um mit ihrer Macht alles wieder in Ordnung zu bringen, würde nie funktionieren. Im Grunde war diese Mission ein sinnloses Unterfangen. Lucien war sich dessen bewusst, als er mit langsamen Schritten durch den stockfinsteren Wald ging, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Es war so still um ihn herum, als würde selbst die Zeit stillstehen. Der Vollmond erhellte den sternenlosen Nachthimmel, und ein eiskalter Wind blies ihm durch das blonde Haar. Irgendwo im Geäst heulte eine Eule.

Manchmal fragte er sich, ob es nicht besser war, diese verdammte Mission abzubrechen. Sie dauerte schon viel zu lange an, und eine Garantie, dass sie in naher Zukunft erfolgreich sein würde, gab es nicht. Doch jedes Mal, wenn ihn solche Zweifel umtrieben, vernahm er in Gedanken die resolute Stimme seiner Königin. Ihr unausweichlicher Befehl, dem er nie widersprechen könnte. Er würde erst ruhen, wenn er die Mission beendet hatte. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Es musste einfach funktionieren – auch wenn die Chancen sehr gering waren, dass diesmal etwas anders sein würde. Und doch … es musste eine Möglichkeit geben, ihren Tod zu verhindern, sodass beide überleben und ihrer Bestimmung folgen konnten.

Es war kurz nach Mitternacht, als Lucien den Treffpunkt auf der Lichtung im dunklen Wald unter der alten Eiche erreichte. Oscuro erwartete ihn bereits.

Genau wie Lucien mochte man auch ihn für einen Menschenjungen von siebzehn Jahren halten – wenn sie denn Menschen wären. Doch die beiden Jungen hatten aufgehört zu altern, als die Königin sie mit dem äußeren Erscheinungsbild von Teenagern für die Mission zur Erde geschickt hatte. Oscuro und er teilten ein gemeinsames Geheimnis, das unter gar keinen Umständen gelüftet werden durfte: Sie waren als Menschen getarnte Engel.

Lucien zählte schon gar nicht mehr, wie oft er die Gegend hatte wechseln müssen, damit sein wahres Wesen nicht erkannt wurde, denn Menschen waren schlau. Oscuro hatte sich in der Vergangenheit darüber beschwert, wie armselig und erbärmlich es doch sei, zwischen ihnen unterzutauchen und nach zwei besonderen Mädchen zu suchen, die überall und nirgendwo in der Menschenwelt zu finden sein konnten. Früher hätte Lucien ihm niemals zustimmen wollen, doch allmählich kam auch er sich wie ein Idiot vor. Die lange Suche war nervenzerreißend und die Chancen standen nicht einmal fünfzig Prozent, dass es klappte und die Mission Erfolg haben würde.

Oscuro war einen halben Kopf größer als Lucien. Er trug ein schwarzes Shirt und darüber eine halb zugezogene dunkle Sweatshirt-Jacke. Seine rabenschwarzen Haare waren vom Wind zerzaust, und einige Strähnen hingen ihm wirr in die Stirn. Lässig lehnte er am Stamm eines Baumes, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. Mit seinen schwarzen Kampfstiefeln kickte er einen Stein aus dem Weg. Im Gegensatz zu Lucien, der eine weiße Kapuzenjacke trug und von dessen Körper ein sanftes Leuchten ausging, schien Oscuro beinahe mit seiner dunklen Umgebung zu verschmelzen.

Erst als Lucien vor ihm stand, blickte er auf. Sein ehemals bester Freund hatte sich nicht verändert. Die Farbe seiner Augen war noch immer von einem unglaublich intensiven Eisblau, das strahlender leuchtete als ein weiter, kristallklarer Ozean.

»Oscuro«, sagte Lucien, und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Zorn. Seine smaragdgrünen Augen funkelten in der Dunkelheit, heller als der Mond am Himmel.

»Na sowas, du bist also doch gekommen.« Oscuro grinste.

»Hör auf mit dem Scheiß! Sag mir, warum du mich hierher bestellt hast. Ich denke, du willst allein arbeiten?«, fuhr Lucien ihn an.

Seit Jahren hatten sie sich nicht zu Gesicht bekommen – aus guten Gründen. Oscuro war ein Egoist und Einzelgänger geworden, der immer tat, was er allein für richtig hielt. Und das, obwohl sie doch eigentlich zusammenarbeiten mussten! Dennoch hatte Oscuro ihm den Rücken gekehrt. Er hatte sich verändert, seit sie hier auf die Erde gekommen waren. Die Menschen hatten seinen ehemaligen Freund verändert und das Leid, was er hier erlebt hatte. All das hatte ihn hart gemacht.

Lucien fühlte sich schlecht, wenn er an die Vergangenheit dachte. Vielleicht hätte er mehr tun müssen. Vielleicht hätte er Oscuro zwingen müssen, sich von ihm helfen zu lassen, nach dieser schrecklichen Sache damals. Doch dieser zornige Blick und das Entfalten seiner herrlichen Schwingen, die ihn in den Himmel hatten emporschießen lassen, waren alles, was Lucien zuletzt von ihm gesehen hatte. Er hatte ihm nachgeschaut und ihn nicht aufgehalten, denn Oscuro hatte seine Freundschaft nicht mehr gewollt.

Lange Zeit war Oscuro dann verschwunden gewesen, wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann hatte Lucien angefangen, doch nach ihm zu suchen, in der Hoffnung, es würde wieder wie früher zwischen ihnen. Er war sich sicher gewesen, Oscuro hin und wieder ganz nahe gewesen zu sein, doch er hatte sich ihm immer wieder um Haaresbreite entzogen, als wollte er nicht gefunden werden.

Kurz darauf hatte Lucien eine Nachricht von ihm erhalten, in der Oscuro schrieb, dass er in Zukunft allein arbeiten würde, um die Engelszwillinge aufzuspüren.

Jahre waren vergangen. Lucien hatte sein Leben bei den Menschen gelebt, dabei aber nie den wahren Grund seines Aufenthalts vergessen. Und dann hatte er von Oscuro überraschenderweise eine weitere Nachricht übermittelt bekommen. Und deshalb war Lucien nun hier. Er fragte sich, was Oscuro für einen Grund hatte, sich nach all der Zeit bei ihm zu melden, wo er ihm doch so verständlich gemacht hatte, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.

Oscuro lachte. »Warum so mies gelaunt, Lucien? Nach so langer Zeit sehen wir uns endlich wieder. Schon vergessen, dass wir uns bei der Mission aufteilen müssen? Soll die Chancen bei der Suche nach ihnen erhöhen. Das waren deine Worte vor … lass mich überlegen«, er tippte sich ans Kinn, »dreißig Jahren? Dabei bin ich nur gekommen, weil ich gute Neuigkeiten zu verkünden habe. Aber wenn du mich so böse anguckst, verrate ich dir nichts und diese Neuigkeiten werden für immer mein Geheimnis bleiben.« Er grinste Lucien höhnisch an.

Luciens Augen funkelten vor Wut. Früher waren sie Freunde gewesen, aber heute … Alles nur weil Oscuro beschlossen hatte, sich von seinem einstigen Freund zu entfernen und die Mission getrennt anzugehen. Seitdem schien sein Herz eiskalt geworden zu sein. Aber sie teilten beide nicht nur ein Geheimnis, sondern hatten auch eine gemeinsame Mission, die nur zu zweit zu bewältigen war. Deshalb mussten sie miteinander klarkommen, ob sie wollten oder nicht.

»Was für Neuigkeiten?«, hakte Lucien nach und blickte Oscuro misstrauisch an.

Sein Kollege stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Hier bei den Menschen ist es so langweilig. Noch zehn weitere Jahre in dieser beschissenen Welt und ich komme mir selbst wie einer von denen vor.« Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare, und seine Lippen kräuselten sich zu einem teuflischen Grinsen.

»Lenk nicht vom Thema ab. Sag mir endlich, warum du mich herbestellt hast!« Lucien machte einen Schritt auf ihn zu und ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er Oscuro eine reingehauen, doch er unterdrückte diesen Drang. Es würde überhaupt nichts bringen, sie konnten sich nicht gegenseitig töten. Die Königin hatte so einige Regeln aufgestellt, bevor Lucien und Oscuro von ihr auf die Erde geschickt worden waren und die Mission angetreten hatten. Eine Regel besagte, dass die beiden jungen Engel sich nicht töten konnten. Verletzen ja, töten nein.

»Ich bin nicht allwissend, Lucien, aber ich kann dir verkünden, dass die Suche endlich vorbei ist. Sie sind hier.« Oscuro blickte Lucien herausfordernd an, und sein Grinsen wurde breiter.

Lucien riss die Augen auf. »Die Engelszwillinge? Du hast sie gesehen?« Er wurde hellhörig und stand wie erstarrt da. Endlich! Nach so langer Zeit des Suchens schien es einen Hoffnungsschimmer zu geben. Es sei denn, Oscuro log ihn an. Konnte es wirklich sein, dass er die beiden Mädchen gesehen hatte? »Oscuro, wenn das ein Scherz sein soll …«, setzte Lucien scharf nach.

»Denkst du ernsthaft, ich würde dich hierher bestellen, um dich anzulügen? Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.« Oscuro blickte auf seine Hand hinab, ballte sie zu einer Faust und öffnete sie wieder. »Ich habe sie gesehen. Allerdings nur eine der beiden. Jene des Lichts. Sie ist hier in der Stadt. Habe sie in der Nähe des Supermarkts gesehen. Ich warte noch auf eine günstige Gelegenheit, um sie anzusprechen. Sie trägt immerhin ungeahnte, mächtige Kräfte in sich. Ich muss vorsichtig sein. Sie könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, mein Leben beenden.« Sein Blick streifte Lucien kurz, ehe er wieder nach unten starrte und mit seinen Kampfstiefeln einen weiteren Stein wegkickte. »Aber sie sah so erbärmlich aus, als ob sie tatsächlich nur ein schwacher Mensch ist. Merkwürdig. Hatte sie mir anders vorgestellt. Stärker. Weniger zerbrechlich.«

»Und was ist mit der, die zur Finsternis gehört?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen, du Idiot«, brummte Oscuro genervt und zuckte die Achseln. »Hab sie nicht gesehen. Sie kann hier und dort und überall sein, wer weiß das schon.«

»Aber man braucht beide, damit …«

Oscuro brachte ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Ja, ja, ich weiß! Einzeln bringen sie uns nicht viel, aber die Zwillinge zusammen öffnen uns die Pforten zu einer Macht, die uns unbesiegbar macht.«

Lucien seufzte. »Du weißt, wie schwer es ist, sie zu erwecken. Selbst wenn wir sie tatsächlich finden sollten, die Mädchen sind tickende Zeitbomben. Sobald sie sich begegnen, werden sie …« Er schüttelte den Kopf.

»Jetzt halt mal die Luft an, Lucien. Damit das nicht passiert, dafür sind wir ja da.« Oscuro grinste. »Bist du dir ihrer Macht eigentlich bewusst oder was wir mit ihr alles erreichen können? Ist dir denn gar nicht klar, dass die Königin uns bloß ausnutzt? Wir erledigen die Drecksarbeit, während sie am Ende mit der Macht der Engelszwillinge praktisch alles erreichen könnte? Sie könnte über die Menschenwelt herrschen und uns dann wie Abfall beseitigen. Schon mal daran gedacht?«

»Was redest du da für einen Quatsch? Wir haben die Mission begonnen, wir werden sie auch beenden«, entgegnete Lucien. »Wenn du noch mehr solchen Unsinn redest, wird die Königin dich bestrafen. Ich kann das nicht zulassen. Nimm Vernunft an, und lass uns endlich vernünftig zusammenarbeiten, wie wir es schon die ganze Zeit hätten tun sollen.«

Oscuros Augen wurden schmal. »Du begreifst es einfach nicht, oder? Zusammen mit diesen beiden Mädchen liegt uns die Welt zu Füßen! Wäre es nicht schön, wenn die Menschen endlich ausgelöscht würden?«

»Was sagst du da?«

Oscuro lachte. »Guck nicht so entsetzt! Ich meine, stell dir nur mal vor, wie es wäre, wenn die Menschen aufhörten zu existieren. Erbärmliche Versager, die sich für die Größten halten, würden einfach vernichtet. Man benötigt dazu nur die Hilfe der Engelszwillinge – und schon kann man über die Welt herrschen wie ein König, ohne die dummen Menschen.«

»Das wagst du nicht!« Luciens Hände schossen vor und packten Oscuro am Kragen. »Wir nutzen die beiden Mädchen nicht für so einen Schwachsinn aus! Die Königin würde das nicht tolerieren. Die Menschen bleiben am Leben. Wir werden mit der Hilfe der Engelszwillinge die Welt der Menschen verbessern. Wir werden den Hass, den Zorn und all die negativen Gedanken aus den Köpfen der Menschen verbannen. Nur so kann Frieden einkehren. Und deshalb sind wir hier. So lauten die Befehle unserer Königin. Hast du das vergessen?« Verzweiflung glitzerte in seinen Augen. Er konnte nicht glauben, was er aus dem Mund dieses Typen zu hören bekam. War das überhaupt noch der Oscuro, den er mal gekannt hatte, oder jemand ganz anderes?

Oscuros Augen wurden schmal. Härte trat auf sein schönes Gesicht. »Ich hätte dich für ein bisschen kooperativer gehalten, Lucien. Ich bin eigentlich hier, da ich es mir anders überlegt habe und dachte, wir könnten es vielleicht gemeinsam schaffen, nun, da endlich Zwilling Nummer eins aufgetaucht ist. Wir könnten die Mädchen gemeinsam erwecken und ihre ungeheure Macht für uns beide nutzen. Ich hätte die verdammte Mission ja gerne allein bewältigt, aber nein, die Königin meint, es ist nur zu zweit zu schaffen und stellt mir so einen Nichtsnutz wie dich an die Seite.«

Lucien erhöhte den Druck, mit dem er immer noch Oscuros Kragen gepackt hielt, und öffnete den Mund.

Doch sein ehemaliger Freund schlug seine Hände weg und fuhr fort: »Außerdem sind mir die Befehle der Königin scheißegal. Für so einen Schwachsinn werde ich die ungeheure Macht der Engelszwillinge nicht verschwenden. Wenn mir in den vielen Jahrzehnten in der Menschenwelt etwas klar geworden ist, dann das. Alles, was wir tun müssen, ist, darauf aufzupassen, dass keines der beiden Mädchen stirbt, ehe ihr wahres Wesen erwacht ist. Ich habe keine Lust, weitere fünfzig Jahre auf ihre Rückkehr zu warten und wieder Jahrzehnte nach ihnen zu suchen. Ist dir wirklich nicht klar, was wir mit ihrer Macht alles erreichen könnten?«

Lucien schüttelte den Kopf. »Die Königin hat uns einen Befehl gegeben, den wir ausführen werden. Der Hass in den Herzen der Menschen wird immer mächtiger! Irgendwann entstehen aus den negativen Gefühlen Dämonen, die eine ernsthafte Bedrohung für sie und uns darstellen. Wir müssen das verhindern, und nur die Engelszwillinge können uns dabei helfen. Also sei kein Dummkopf!«

»Sollen die Menschen sich doch gegenseitig ausrotten.«

Lucien spürte, wie ungeheure Wut in ihm hochstieg. Ehe er sich versah, hatte er mit der Faust ausgeholt, um Oscuro eine zu verpassen, doch Oscuro war schneller. Er packte Lucien am Halsausschnitt seiner weißen Kapuzenjacke und stieß ihn zu Boden. Lucien keuchte, als er rücklings auf die harte Erde fiel. Er stützte sich mit beiden Händen vom Boden ab und blickte empor.

»Wage es nicht, mich aufzuhalten, Lucien!« Oscuro sah ihn mit blitzenden Augen an. »Da draußen gibt es so viele Menschen, die den Tod verdienen.« Er grinste teuflisch, dann trat er einen Schritt zurück. »Ich werde mir jetzt den Zwilling des Lichts schnappen. Sobald ich ihn habe, wird mir jener der Finsternis folgen. Die beiden ziehen sich schließlich an wie Magnete. Lebwohl.« Mit diesen Worten drehte er sich um, und Lucien konnte nur noch seinen Rücken sehen, der sich mit jedem Schritt immer weiter von ihm entfernte und eins mit der Finsternis wurde.

»Hör auf damit! Das schaffst du nicht! Sie bringen dich um, noch bevor du in ihre Nähe kommst!«, brüllte er ihm nach, doch Oscuro war bereits in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.

Lucien konnte sich nicht mehr bremsen. Zorn benebelte seine Sinne, und seine Flügel, der eine glänzend schwarz, der andere in einem strahlenden Weiß, brachen aus seinen Schulterblättern hervor, zerrissen seine Kapuzenjacke und breiteten sich zu beiden Seiten aus. Vereinzelte Federn wurden vom Wind davongetragen. Doch Lucien unterdrückte den überwältigenden Drang, Oscuro hinterherzufliegen und ihn zu verprügeln. Es würde nichts nützen, wenn sie wie von Sinnen aufeinander einschlugen, denn sich gegenseitig töten konnten sie ja nicht, dafür hatte die Königin gesorgt. Selbst wenn sie sich bekämpften, sich gegenseitig grün und blau schlugen, sämtliche Knochen brachen und jede noch so lebensgefährliche Verletzung zufügten, würde jede davon nach kurzer Zeit wieder verheilen.

Davon abgesehen war Streit das Letzte, was Lucien jetzt gebrauchen konnte. Oscuro konnte nicht so dumm sein und tatsächlich glauben, damit durchzukommen. Warum tat er das? Was sollten diese Alleingänge? Warum ließ er Lucien im Stich? Waren die Mächte der Engelszwillinge das alles wert? Er würde sich nur sein eigenes Grab schaufeln. Außerdem würde die Königin ihn vernichten, sollte sie von seinen egoistischen Plänen erfahren. Und Lucien wollte nicht, dass man ihm etwas antat. Er war sein einziger und bester Freund, der auf einem finsteren Pfad wandelte, aber Lucien würde alles tut, um ihn wieder ins Licht zurückzuholen. Auch wenn er Oscuro nichts mehr zu bedeuten schien und der ihn offenbar lieber tot als lebendig sehen wollte – für Lucien blieb er sein Freund, der sich unwissend in große Gefahr begab.

Luciens aufkommender Zorn wandelte sich in Trauer. Er bohrte seine Finger in die Erde und stieß einen erschöpften Laut aus. Das Brennen in seinen Flügeln verschlimmerte seine seelischen Schmerzen nur noch mehr. Hilflosigkeit und Verzweiflung ließen sein Herz erstarren. Bei dem bloßen Gedanken daran, Oscuro gelänge es, beide Mädchen in seine Gewalt zu bringen, erbebten seine Flügel. Dann wäre er in der Lage, einfach alles zu tun. Würde er es etwa auch wagen, Lucien, seinen einzigen und besten Freund, zu töten?

Tränen brannten in seinen Augen, die er verzweifelt niederzukämpfen versuchte.

Kapitel 1

Das Mädchen in Schwarz

 

Ciel wurde wach, als ihr Wecker klingelte.

Sie schaltete ihn aus, seufzte tief, setzte sich auf ihrer schäbigen Matratze auf dem Fußboden auf und blickte sich in ihrem ebenso schäbigen kleinen Zimmer um. Da war ein großer Wasserfleck an der Wand, die Tapete schälte sich an manchen Stellen bereits ab. Und sie fror bis auf die Knochen, denn sie hatte nur eine dünne Decke über sich ausgebreitet. Ihre Heizung funktionierte nicht mehr, und ihr Chef hatte ihr erklärt, sie erst dann reparieren zu lassen, wenn Ciel alle ihre Aufgaben erledigt hatte – allerdings war diese Zusage nun auch schon seit Wochen überfällig.

Ciel wohnte in einer winzigen Einzimmerwohnung und arbeitete als Kellnerin in einer kleinen Pizzeria, deren unfreundlicher Chef Henry sie tagtäglich anbrüllte. Es gefiel ihr nicht, dass der Chef so gemein zu ihr war, aber sie brauchte diesen Job.

Merkwürdigerweise war er nur zu ihr so fies, denn täglich riefen unzählige seiner Freunde an, und auch seine Kunden schätzten seine Freundlichkeit sehr. Ciel wusste nicht, warum er sie so hasste. Vermutlich bereute er einfach, damals eine Waise ohne Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufgenommen zu haben und sich nun um sie kümmern zu müssen.

Auch die Wohnung gehörte ihm, und solange sie bei ihm arbeitete, durfte sie dort schlafen. So schäbig und ranzig die Unterkunft auch sein mochte, alles war besser, als auf der Straße oder in einem Heim zu leben.

Ciel konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Weder an ihre Gesichter noch an ihre Namen, geschweige denn an ein Zuhause. Sie hatte keinerlei Erinnerungen an ihr früheres Leben vor dem trostlosen Waisenheim, in dem sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr gelebt hatte.

Mit zehn war sie dann in eine Pflegefamilie gekommen. Doch bei ihrer neuen Familie war es ihr auch nicht besser ergangen. Ihre Pflegemutter war früh gestorben, und ihr Pflegevater hatte daraufhin angefangen zu trinken. Bald schon war er aggressiv und gewalttätig geworden. Er hatte Ciel geschlagen, wann immer sie es gewagt hatte, den Mund aufzumachen. Irgendwann hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als davonzulaufen. Einige Monate hatte sie auf der Straße verbracht, bis ihr Chef, Henry, sie gefunden und bei sich aufgenommen hatte. Er hatte versprochen, sich um sie zu kümmern, solange sie für ihn arbeitete, und so war ihr schreckliches Leben weitergegangen.

Als sie damals zu Henry gekommen war, hatte er sie natürlich über ihre Vergangenheit ausgefragt. »Wo kommst du eigentlich her? Was ist mit deinen Eltern passiert? Wieso hast du nicht einen einzigen Verwandten?«

Ciel hätte ihm so gerne Antworten gegeben, doch sie wusste gar nichts. Nichts über ihre Eltern, woher sie kam oder wann sie Geburtstag hatte. Gar nichts. Da war nur Leere in ihrem Kopf. Manchmal fragte sie sich, ob sie in der Vergangenheit vielleicht einen furchtbaren Unfall gehabt und deshalb ihr Gedächtnis verloren hatte. Es war zum Verrücktwerden – je mehr Ciel nachdachte und sich zu erinnern versuchte, desto schlimmer wurden jedes Mal ihre Kopfschmerzen. Einmal waren sie sogar so heftig gewesen, dass sie zusammengebrochen war.

Da war nichts als Nebel. Es kam ihr vor, als wollte ihre Vergangenheit nicht gelüftet werden, unter gar keinen Umständen. Oder als wäre da irgendjemand oder irgendetwas, das sie zu einem Leben voller Leid verdammte, an dem sie irgendwann zerbrechen würde. Ihr Chef hatte sie jedenfalls schon als psychisch krank abgestempelt. Ciel hoffte innigst, dass das nicht wahr war.

Gähnend stand sie auf, um sich an dem kleinen Waschbecken zu waschen. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und warf dann einen Blick in den zersprungenen Spiegel. Ihr blondes, hüftlanges Haar war zerzaust, matt und glanzlos, trotzdem strahlten ihre smaragdgrünen Augen Wärme aus. Ihr Gesicht war schmal, die Haut sehr blass. Genauso blass wie der Rest ihres mageren Körpers.

Schnell schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich ein hellblaues T-Shirt an und darüber eine weiße Strickjacke. Ihr Magen knurrte, doch es gab in der ganzen Wohnung nichts zu essen.

Heute würde sie erst abends arbeiten müssen. Ein langer, einsamer Tag erwartete sie, der nur durch ihren einzigen tierischen besten Freund erträglich wurde. Menschliche Freunde besaß sie keine. Niemand interessierte sich für sie oder wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ciel hatte sogar einmal mitbekommen, wie ihr Chef einer Gruppe von Mädchen erzählte, Ciel verdiene keine Freunde, und sie sollten sich alle von ihr fernhalten. Als sie versucht hatte, ihn darauf anzusprechen, hatte er sie nur zu noch mehr Arbeit verdonnert.

Henry kümmerte sich ohne jegliche Zuneigung um sie, seine Bedingungen waren hart und die Regeln streng. Trotzdem war er die einzige Sicherheit, die sie hatte. Darum blieb sie bei ihm. Und so sehr Ciel auch wollte, sie konnte ihren Chef nicht hassen. Jemanden zu hassen oder auch nur lange wütend zu sein, lag nicht in ihrem Wesen. Es gab Tage, da fürchtete sie sich sogar selbst vor ihrem extrem gütigen Charakter.

Doch ihr einziger Freund Toivo, ein kleiner Labradorwelpe, liebte sie. Er war ihr zugelaufen, ohne Halsband oder einen Hinweis auf seinen Besitzer. Kurzerhand hatte Ciel beschlossen, ihn Toivo zu nennen und bei sich aufzunehmen.

Henry war keineswegs begeistert, dass sie einen Hundewelpen anschleppte, erlaubte ihr aber gnädigerweise, ihn zu behalten. Falls er aber Ärger machte, würde ihr Chef sie allerdings zwingen, Toivo in ein Tierheim zu stecken, damit hatte er schon gedroht.

In die Wohnung durfte er auch nicht, sondern musste draußen in der kleinen Gasse vor ihrem Fenster schlafen, egal bei welchem Wetter. Es schmerzte sie, ihren geliebten Hund leiden zu sehen, doch sie versuchte ihr Bestes, um ihm trotzdem ein schönes Leben zu ermöglichen.

Sie öffnete die Haustür. An der Klinke war eine Plastiktüte befestigt, samt einer Notiz in kaum leserlicher Schrift von ihrem Chef:

 

Hier hast Du etwas Futter für Deinen Hund. Für Dich habe ich auch etwas eingepackt. Sobald Du nachher zu mir in den Laden kommst, bekommst Du eine bessere Mahlzeit.

Und wage es bloß nicht, zu spät zu kommen!!!!!!

 

Sie seufzte, aber es war besser als nichts.

Der Lohn, den sie von Henry bekam, war gering, und so konnte sie sich nicht viel leisten. Schon gar keine Schul- oder Ausbildung. Neben ihrem Job hätte sie das sowieso nicht geschafft, dazu war sie tagsüber immer viel zu müde.

Sie verließ mit der Plastiktüte ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.

Draußen war es ein wenig bewölkt und windig. Der Himmel trug eine graue Farbe, und die Sonnenstrahlen brachen kaum durch die Trübheit des Tages hindurch.

Sie holte Toivo, der vor Aufregung laut zu bellen begann, von seinem Schlafplatz ab, nahm ihn an die Leine und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Das war eine Bank gegenüber eines Supermarktes, von wo aus sie immer die Leute beobachtete, die den Laden betraten und verließen. Es war keine besonders tolle Freizeitbeschäftigung, aber für etwas anderes hatte sie kein Geld. Außerdem war sie so an der frischen Luft, konnte mit Toivo zusammen sein und fühlte sich nicht ganz so einsam.

Unterwegs hielt sie an einem Kiosk an. Die Titelseite der Zeitung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

ERNEUT SUCHEN DUTZENDE MYSTERIÖSE TODESFÄLLE UNSERE STADT HEIM – OPFER BRECHEN EINFACH ZUSAMMEN. TODESURSACHEN NOCH UNKLAR.

 

POLIZEI STEHT VOR EINEM RÄTSEL UND RÄT DEN EINWOHNERN, VORSICHTIG ZU SEIN UND VERDÄCHTIGES SOFORT ZU MELDEN.

 

Ciel bekam mit, wie ein Passant die Zeitung aufklappte und kopfschüttelnd zu dem Kioskbesitzer sagte: »Schlimm sowas. Nicht mal hier ist man noch sicher. Es geht das Gerücht um, dass jedes Mal ein Mädchen in Schwarz am Tatort gesehen worden sein soll. Dabei kann sie unmöglich etwas damit zu tun haben. Immerhin sind die Opfer von ganz allein tot umgefallen.«

»Sehr mysteriös das Ganze«, murmelte der Verkäufer, der nebenbei Schokoriegel in ein Regal einräumte. »Vielleicht eine neue Krankheit oder …«

Ciel lief schnell weiter. Von so schrecklichen Dingen wollte sie nichts hören. Es passierte schon genug Grausames auf dieser Welt.

Schließlich hatte sie ihren Lieblingsplatz auf der mit Graffiti beschmierten Bank erreicht. Sie setzte sich und nahm Toivo auf den Schoß, der ihr vor Freude mit seiner feuchten Zunge so lange übers Gesicht leckte, bis Ciel kichern musste.

Sie holte aus dem kleinen Plastikbeutel eine Dose Hundefutter heraus, riss sie am Verschluss auf und hielt sie dem Hund hin. Toivo fraß gierig, während sie noch einen Blick in die Plastiktüte warf. Drinnen befanden sich eine große Wasserflasche und eine Brottüte.

Als Ciel sie öffnete, seufzte sie enttäuscht. Etwas hartes Pizzabrot, außerdem zwei Sandwiches, die mit einem undefinierbaren Aufschnitt belegt waren – Ciel vermutete, dass es sich um Käse oder Ei handelte. Nicht sehr appetitlich oder gesund, aber das hier war immer noch besser, als zu hungern.

Sie teilte sich das Wasser mit ihrem Hund, kaute auf einem der trocknen Sandwiches herum und seufzte, als sie Toivo über den Kopf streichelte. »Ich wünschte, ich könnte wenigstens dir ein besseres Leben bieten«, murmelte sie traurig und lächelte, als der Kleine ihre Hand beschnupperte, um noch mehr zu fressen zu bekommen.

Leises Vogelgezwitscher ließ sie aufblicken. Hinter einem geparkten Auto konnte sie einen kleinen Spatzen erkennen, der um einen weiteren Spatz herumhüpfte und dabei aufgebracht zwitscherte. Doch der Vogel, der auf dem Boden lag, regte sich nicht. Vermutlich war er angefahren worden oder gegen eine Scheibe geflogen.

Ciel erhob sich und ging zu dem toten Vogel hinüber. Der aufgeregt piepsende Spatz flog davon, als sie sich bückte.

»Armer kleiner Vogel.« Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie allein war und niemand sie bei dem beobachtete, was sie gleich tun würde.

Sie wartete, bis eine Mutter mit ihrem nörgelnden Kind im Supermarkt verschwand, dann nahm sie den toten Vogel in die Hände. Die Flügel waren verdreht, der Schnabel stand offen, und die kleinen Beine zeigten starr nach oben. Ciel schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihre Hände warm wurden, als würde sie einen Becher heißen Tee halten.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel lebendig, hüpfte laut zwitschernd auf ihrer Hand, als wollte er sich bedanken, ehe er die Flügel ausbreitete und davonflog.

Ciel lächelte glücklich und blickte ihm nach. »Alles Gute, kleiner Vogel«, flüsterte sie und ging zurück zu ihrem Hund, der brav auf der Bank saß und auf sie wartete. Toivo sprang ihr auf den Schoß, kaum dass sie sich setzte. Sie streichelte ihn, während sie gedankenverloren sagte: »Ist es sehr komisch, Toivo, dass ich Tiere heilen und sie ins Leben zurückholen kann? Ich weiß auch nicht, warum ich das kann.«

Es war ihr größtes Geheimnis. Sie hatte nie jemandem von ihren Fähigkeiten erzählt. Wem auch?

Außerdem würde ihr niemand glauben.

»Ob das auch bei Menschen funktioniert?« Sie zuckte die Achseln und seufzte. »Jedes Mal fürchte ich mich dabei vor mir selbst.« Sie blickte hinüber zu einem Auto, auf dessen glänzendem Lack sich ihr Gesicht spiegelte. »Wer oder was bin ich?«

Toivo wedelte mit dem Schwanz und bellte, ehe er ihr erneut mit der feuchten Zunge über die Wange fuhr, als würde er ihren Kummer spüren und wollte sie trösten.

Ciel lachte. »Mein lieber, süßer Toivo, du darfst mich niemals verlassen, versprich mir das, ja?«

Sie saß noch lange auf der Bank, beobachtete die vielen Leute, die den Supermarkt besuchten – junge und alte, Familien, Jugendliche, Kinder. Menschen, die normal waren und einfach ihr Leben lebten. Wie gerne sie mit ihnen tauschen wollte!

 

 

Irgendwann schlief Ciel vor lauter Erschöpfung ein. Als sie nach einiger Zeit wieder aufwachte, war der Himmel in ein orangefarbenes Licht getaucht. Die Sonne ging bereits unter. Vögel zwitscherten in den Bäumen und sangen ihre Abendlieder.

Sie gähnte, rieb sich die Augen und blickte Toivo entschuldigend an, der vor ihr auf dem Boden saß und mit seinen großen Hundeaugen zu ihr hochblickte.

»Wie spät ist es? Ich muss wohl eingeschlafen sein.«

Nachdem sie in letzter Zeit von morgens bis abends schwer arbeitete, wunderte es sie nicht, wenn sie am Tag so viele Stunden schlafend verbrachte.

Sie setzte sich auf und streckte sich. Ihre Glieder waren bleischwer, ihr Körper ganz steif, ihr tat der Nacken weh und ihr Magen knurrte schon wieder. Ihr Blick fiel auf den Supermarkt. Auf dem Parkplatz war es bereits menschenleer und sie sah, wie die Mitarbeiter Schilder hineintrugen und sich auf den Feierabend vorbereiteten, also musste es bereits achtzehn Uhr sein, denn da schloss der Laden.

»Oje, in einer Stunde muss ich zur Arbeit. Ich darf bloß nicht zu spät kommen, sonst bekomme ich Ärger vom Chef. Gehen wir besser, Toivo!« Sie erhob sich und schnappte sich die Leine. Toivo bellte und wedelte erfreut mit dem Schwanz, als sie einen letzten Blick zum Supermarkt warf.

In diesem Moment stürmte ein Verkäufer aufgebracht aus dem Laden und blickte sich mit geballten Fäusten hektisch um. »Halt sie fest! Sie hat uns bestohlen!«, schrie er quer über den menschenleeren Parkplatz.

Ciel brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie gemeint war. Nur einen Augenaufschlag später sah sie, wie eine ganz in Schwarz gekleidete Person direkt auf sie zustürmte. Sie konnte vom Körperbau her nicht männlich sein, das bemerkte Ciel sofort. Die weibliche Person, die höchstens so groß war wie sie selbst, trug einen Beutel im Arm, in dem sich wohl das Gestohlene befand. Außerdem hatte sie sich die Kapuze ihrer schwarzen Jacke tief ins Gesicht gezogen, um unerkannt zu bleiben.

Ciel handelte, ohne nachzudenken. Sie rannte los, um die Diebin festzuhalten. Auch wenn sie vielleicht arm war, so wie Ciel, gab es ihr noch lange nicht das Recht, Supermärkte auszurauben. Es gab andere Wege, um seine Armut in den Griff zu bekommen.

Sie stürmten nun beide direkt aufeinander zu. »Halt!«, schrie Ciel, machte einen Satz nach vorn und packte die Diebin am Arm – doch die war stärker, als sie ausschaute. Sie riss sich von Ciel los und warf sie dabei zu Boden.

Als Ciel aufsah, bemerkte sie, wie Toivo auf die dunkel gekleidete Person zusprang und sich in ihrem Hosenbein festbiss, wodurch die Diebin ins Stolpern geriet.

»Gut gemacht, Toivo!«, rief Ciel und rappelte sich auf. Sofort sprang sie auf die Fremde zu und warf sich auf sie, um sie an einer weiteren Flucht zu hindern. Sie schrien beide gleichzeitig auf, als sie auf das Pflaster des Parkplatzes fielen. Ciel war sofort wieder auf den Beinen, setzte sich rittlings auf den Bauch der Diebin, um sie am Boden zu halten, doch die wehrte sich gar nicht. Nicht einmal als Ciel ihr den Beutel aus den Händen riss.

Das war seltsam. Diebe würden ihre kostbare Beute doch niemals so leicht wieder hergeben, vor allem dann nicht, wenn ein Mädchen es mit ihnen aufnahm, das schwach und zerbrechlich war und nicht mal fünfzig Kilo wog.

»Man bestiehlt niemanden!«, schimpfte Ciel und riss dem Mädchen die Kapuze vom Kopf.

Doch was sie sah, ließ ihr Herz erstarren und das Blut in ihren Adern gefrieren. Ihre Lunge zog sich zusammen, und ihr wurde übel. Ungläubig weiteten sich ihre Augen. Selbst die Zeit schien stehenzubleiben, denn Ciel blickte in ihr eigenes Gesicht.

»Aber … was … wer …«, stammelte sie. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war unmöglich! Das konnte einfach nicht wahr sein!

Aber dieses Mädchen, die Diebin in Schwarz, sah genauso aus wie sie selbst. Das gleiche hüftlange blonde Haar und das gleiche schmale Gesicht. Die abgemagerte Statur, die blasse Haut. Einzig ihre Augen unterschieden sich. Während Ciel smaragdgrüne Augen hatte, waren die des anderen Mädchens kristallblau.

Es war, als sähe Ciel ihr eigenes Spiegelbild. Sie hätten glatt Zwillinge sein können!

Ciel schüttelte fassungslos den Kopf. »N-nein, das kann nicht …« Tränen brannten in ihren Augen, aufgewühlt von den plötzlich in ihrem Herzen einschlagenden Gefühlen.

Ihr Double schien über Ciels Anblick genauso entsetzt zu sein, denn sie schaute sie mit dem gleichen Blick an. Genauso ängstlich, verwirrt und erschrocken. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht leichenblass.

Ciel saß noch immer rittlings auf ihr und hielt sie mit ihrem Gewicht am Boden, was jedoch völlig unnötig war, denn ihre Doppelgängerin schien zu Stein erstarrt. Ciel war so durcheinander, dass sie vergessen hatte, weshalb sie das eigentlich tat, geschweige denn was hier vor sich ging. Selbst Toivo, der noch immer vergeblich am Hosenbein des Mädchens zog, nahm sie kaum wahr. Ihre Welt begann sich zu drehen. Das Schwindelgefühl überwältige sie mit solcher Macht, dass sie sich beide Hände an den Kopf presste und einen erstickten Schrei ausstieß.

Einen Moment lang sahen sich die beiden Mädchen wieder an, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich glitzerten auch in den Augen der Unbekannten Tränen. Ihr blasser Mund öffnete sich, doch sie blieb stumm.

»Wer bist du?«, hauchte Ciel.

Wieso siehst du genauso aus wie ich?

Wieder öffnete das Mädchen den Mund. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange – dann gab es einen fürchterlichen, ohrenbetäubenden Knall am Himmel, der sich schlagartig und binnen Sekunden pechschwarz färbte.

Ciel schrie auf, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu, während ein eiskalter Wind über sie hinweg heulte und sie erschaudern ließ. Ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht, während die Temperaturen rasant sanken. Weit in den Minusbereich, denn Eiskristalle bildeten sich urplötzlich auf dem Beton und auf Ciels Kleidung. Sie keuchte panisch, zitterte vor Kälte und blies eine Atemwolke aus.

Schwarze Wolken türmten sich auf und verschluckten jeden Lichtstrahl. Mit einem Mal war alles stockdunkel.

Zu Ciels Erleichterung gingen in diesem Moment die Straßenlaternen an und sie sah den Verkäufer auf sie zurennen.

»Was ist hier los?« Der junge Mann mit schwarzen zurückgegelten Haaren, braunen Augen und großer Nase, blieb schwer atmend vor ihnen stehen. Erschrocken blickte er sich um, sah ängstlich zu der sich auftürmenden Finsternis, die sich überall um sie herum noch immer wie Nebel ausbreitete. Als ein weiterer lauter Knall am Himmel dröhnte, zuckte er zusammen. Erschrocken richtete er den Blick nach oben und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.

Das muss ein böser Traum sein. Nur ein böser Traum!, redete sich Ciel panisch ein, während sie sich mit zusammengekniffenen Augen die Ohren zuhielt.

»Was zum …?«, murmelte der Verkäufer nervös, aber als sein Blick wieder auf Ciel und dann auf das Gesicht des fremden Mädchens fiel, verzerrte sich seine Miene zu einer wütenden Grimasse. »Ihr beiden steckt also unter einer Decke?«

»Was? Nein, ich …«, stammelte Ciel.

Doch in diesem Moment zog sich ihre Doppelgängerin die Kapuze wieder tief ins Gesicht, schob sich unter Ciel hervor und rannte davon – ohne Beute und ohne sich noch einmal umzudrehen.

Mit ihrem Verschwinden lösten sich der schwarze Nebel und auch die dunklen Wolken am Himmel auf, verschwanden so schnell, wie sie erschienen waren. Als hätte man mit der Hand über den Himmel gewischt und die Finsternis einfach weggezaubert. Auch die eisige Kälte wich – und wie bei einem sich öffnenden Vorhang kam der abendrot gefärbte Himmel wieder zum Vorschein.

Ciel hatte keine Erklärung dafür, was da gerade geschehen war. Ihr Blick fiel auf den Beutel, den sie noch in der Hand hielt. Neugierig öffnete sie ihn, um zu sehen, was die Diebin gestohlen hatte. Zu ihrer Überraschung befanden sich weder Alkohol, noch teure Zigaretten oder Geld darin, sondern ganz normale Lebensmittel. Ein halbes Brot, zwei Äpfel und eine Wasserflasche.

Sie hob den Kopf und schaute in die Richtung, in die ihre Doppelgängerin verschwunden war. Selbst wenn ihr die Angst über die Wahrheit womöglich das Herz einfror, sie musste das Mädchen zur Rede stellen!

»Warte!«, schrie sie, als sie sich aufgerappelt hatte, doch das Mädchen war auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes bereits im Wald verschwunden. Ciel wollte ihr nach, aber der Verkäufer packte sie grob am Oberarm und hielt sie fest.

»Ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten«, knurrte er.

»Nein, bitte, ich habe nichts getan!« Verzweifelt wehrte sich Ciel gegen den starken Griff. »Hier, ich habe den Beutel mit den gestohlenen Sachen und …«

»Spar dir das für die Bullen auf!«, brüllte der Verkäufer, der sie weiter mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen sein Handy aus der Hosentasche zog.

Jetzt geriet Ciel richtig in Panik. Was sollte sie der Polizei sagen? Sie hatte ja selbst keine Ahnung, was hier passiert war, wer das Mädchen war und warum es genauso aussah wie sie.

»Lassen Sie das Mädchen los!«

Der Verkäufer wirbelte herum und zog Ciel mit sich. Hinter ihnen stand ein Junge, der ungefähr in Ciels Alter sein musste. Er war so leise aufgetaucht, dass keiner der beiden es gemerkt hatte. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber eine weiße Jacke, und dunkelblaue Jeans. Außerdem hatte er leuchtend blondes Haar und grüne Augen, die wie Smaragde funkelten.

Ciel spürte, wie sie rot wurde, während sie ihn anstarrte. Er war so unglaublich schön, auf eine Art wie die Männer in Modezeitschriften schön waren. Sie schluckte. Kam es ihr nur so vor oder war es ziemlich warm geworden?

»Was willst du?«, fuhr der Verkäufer ihn mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an. »Ich wurde gerade ausgeraubt. Die Täterin ist zwar auf der Flucht, aber hier habe ich ihre Komplizin.« Er verstärkte seinen Griff um ihren Arm, sodass sie vor Schmerzen aufstöhnte.

»Ich bin nicht …«

»Schweig!«, brüllte der Verkäufer sie an. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe.«

»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum«, versprach der Junge ruhig und griff nach Ciels Hand.

Sie erschauderte, als seine Berührung eine heiße Welle durch ihren gesamten Körper sandte. Für einen kurzen Moment wurde ihr sogar leicht schwindelig, als die Wärme sich in jedem Winkel ihres Körpers ausbreitete. Ein Teil von ihr empfand seine Berührung als befremdlich und wollte am liebsten sofort fliehen. Doch dann war da noch ein anderer, noch mächtigerer Teil von ihr, der nicht wollte, dass er sie jemals wieder losließ. Aus irgendeinem Grund hatte seine Berührung etwas Beschützendes, denn all ihre Ängste waren mit einem Mal komplett verflogen. Und diese Wärme, die er verströmte … So etwas hatte sie noch nie gespürt. Oder bildete sie sich das alles nur ein?

»Was fällt dir ein, du frecher Bengel? Wer zum Teufel bist du überhaupt?«, verlangte der Verkäufer zu wissen, doch der Junge sah ihn bloß schweigend und mit einem kühlen Blick an.

Der Verkäufer hielt noch immer Ciels Arm fest und wedelte mit dem Handy in der Hand herum. Eine Warnung, dass er jederzeit die Polizei rufen konnte.

»Steckst du etwa auch mit den beiden Mädchen unter einer Decke, hä? Ihr werdet jetzt so lange hierbleiben, bis ich …«

Doch was immer er noch sagte, bekam Ciel nicht mehr mit. Sie spürte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen, und ihr Gesicht verzerrte sich. Ihr war schlecht, und vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr Herz schlug ihr plötzlich so schmerzhaft gegen die Brust, dass sie nach Luft schnappen musste. Hätte man sie nicht festgehalten, wäre sie zu Boden gesunken. Verzweiflung und Wut schlugen mit aller Macht die Klauen in ihr Herz.

»Ich sagte, ich habe nichts getan!«, schrie sie, gegen die Tränen ankämpfend, und das Echo ihrer eigenen Stimme hallte ihr in den Ohren wider.

Für einen kurzen Moment sah sie an dem Verkäufer vorbei zum Supermarkt. Im nächsten leuchtete ein greller Blitz, ein Lichtfunken, vor ihren Augen auf und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Lautes Bersten ertönte– und hinter ihnen stand der Supermarkt lichterloh in Flammen! Loderndes, knisterndes Feuer verzehrte das große Gebäude. Dichter, schwarzer Rauch stieg empor und verdunkelte den Himmel binnen Sekunden ein weiteres Mal an diesem Tag. Glasscherben regneten auf den Asphalt des Parkplatzes nieder. Brennende Trümmerteile des Supermarkets wurden durch die heftige Explosion in die Lüfte geschleudert, stürzten wie Kometen zurück auf die Erde und hinterließen Löcher im Beton. Alles geschah beinahe gleichzeitig.

»Was zum …« Der Verkäufer starrte mit leichenblassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen auf das Feuer und ließ Ciel augenblicklich los.

Sie hätte diesen Moment zur Flucht nutzen können, doch auch sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Sie war wie erstarrt, konnte sich nicht rühren und zitterte vor Angst am ganzen Körper. In ihrem Kopf pochte es unerträglich. Was war hier los? Etwa ein Bombenanschlag?

Da wirbelte der Verkäufer herum und starrte sie und den blonden Jungen so hasserfüllt an, dass ihm Tränen in die Augen schossen. »Ihr! Wie habt ihr … ihr habt … Feuer …« Doch mehr brachte er nicht hervor, ehe er mit geballten Fäusten auf den Jungen losging, ihn am Kragen packte und zu Boden drücken wollte. Doch dann …

Urplötzlich erstarrte der Verkäufer, und seine Augen wurden so groß, dass sie fast aus den Höhlen traten. Er gab ein würgendes Geräusch von sich, als bekäme er keine Luft. Weißer, mit dunkelrotem Blut gemischter Schaum sickerte ihm aus dem Mund, bevor er mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel und dort regungslos liegen blieb.

Ciel wollte schreien, doch der Junge hielt ihr gerade noch rechtzeitig den Mund zu.

»Still! Ich bin das nicht gewesen!«, flüsterte er.

Er drehte Ciel so weit herum, dass sie zu einem nicht mehr als hundert Meter weit entfernten Baum blicken konnte, hinter dem ihre Doppelgängerin stand. Sie schien die beiden aufmerksam zu beobachten. Doch als ihr die Tränen über die Wangen flossen, wirbelte sie herum und rannte davon.

»Sie ist es tatsächlich. Das zweite Gegenstück«, glaubte Ciel den Jungen leise murmeln zu hören. Sie wirbelte mit Tränen in den Augen zu ihm herum, brachte jedoch keinen Ton heraus.

»Komm mit!«, sagte er, schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und schnappte sich Toivos Leine.

In der einen Hand die Leine, an der anderen Ciel, schleifte er Hund und Frauchen hinter sich her. Zumindest bis sich Ciel, von Panik erfasst, zur Wehr setzte.

»Nein, lass mich los!«, schrie sie. »Wer bist du überhaupt? Und was ist gerade geschehen? Der Verkäufer … er ist …« Der Rauch kratzte ihr in der Kehle und ließ sie husten. Sie hörte das laute Knistern, mit dem das Gebäude von den Flammen verzehrt wurde, spürte die sengende Hitze und sah das Flimmern in der Luft. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

Der Junge seufzte. »Hör zu, es tut mir leid, aber du musst mir vertrauen. Lauf einfach weiter, okay?«

»Dir vertrauen? Du spinnst wohl«, fluchte Ciel. Sie sah zu dem Baum, hinter dem ihr merkwürdiger Zwilling gestanden hatte. Das Mädchen war fort. Als hätte es sie nie gegeben. Als wäre das alles nur ein böser Traum.

Ciel hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so verzweifelt, so schrecklich verwirrt und hilflos gefühlt. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was ging hier bloß vor? Wer war dieser Junge? Und wer hatte den Supermarkt in Brand gesteckt? Warum sah das Mädchen genauso aus wie sie? Und der Verkäufer war …

Wie aus dem Nichts spürte Ciel solch eine Hitze in sich aufsteigen, als hätte sie eine Chilischote verschluckt. Ihr wurde so heiß, dass ihr davon schwindelig wurde und sie von einem Bein aufs andere schwankte. Sie konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, wo ihr Double gestanden hatte. Selbst der Junge, der noch immer ihre Hand festhielt, keuchte auf, als würde er es auch fühlen.

Ciel unterdrückte einen Aufschrei, als sich die Hitze in ihr immer mehr verstärkte. Für einen kurzen Moment bekam sie sogar keine Luft mehr. Sie hatte das Gefühl, innerlich in Flammen zu stehen, so wie der Supermarkt hinter ihnen.

Als sie sich benommen zu dem Jungen umdrehen und um Hilfe schreien wollte, spürte sie einen harten Schlag am Hinterkopf, der sie zu Boden gehen ließ. Dann verlor sie das Bewusstsein.

 

 

Als Ciel die Augen öffnete und zu sich kam, hatte sie furchtbare Kopfschmerzen, und ihr war wahnsinnig schlecht.

Sie stöhnte, rieb sich den Kopf und richtete sich schwer atmend auf. Alles tat ihr weh und noch immer drehte sich alles vor ihren Augen. Bloß zu blinzeln, sandte Wellen des Schmerzes durch ihren gesamten Körper. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich in tausend Teile zerspringen.

»Wo bin ich?«, murmelte sie benommen. Sie saß auf einem Feldbett, das voller Decken und Kissen war. Sie kannte weder das Bett noch den Geruch, den es verströmte. Vorsichtig tastete sie nach der Decke, unter der sie lag.

»In Sicherheit«, antwortete eine Stimme.

Der Junge mit den blonden Haaren und smaragdgrünen Augen setzte sich neben sie auf den Bettrand. »Ich musste dich k.o. schlagen, sonst hättest du nie Ruhe gegeben. Tut mir leid. Weißt du, es tut dir nicht gut, wenn du so«, er brauchte einen Moment, bis er die richtigen Worte fand, »emotional aufgewühlt bist.«

»Du?!« Ciel wollte aufspringen, doch der Junge hielt sie am Handgelenk fest und versuchte, sie zu beruhigen.

»Lass es mich erklären«, begann er.

Als die Erinnerungen an alles, was geschehen war, auf sie einstürmten, keuchte sie auf und begann am ganzen Körper zu zittern.

»Was soll das? Wo hast du mich hingebracht? Und was …« Sie kämpfte gegen die Tränen an.

»Sei unbesorgt! Du bist in Sicherheit, Ciel« antwortete der Junge mit einem so sanften Lächeln, das Ciels Tränen unverhofft versiegen und ihr Herz schneller schlagen ließ.

Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, so glaubte sie ihm, in Sicherheit zu sein. Doch wie konnten seine Worte nur solche Macht haben, und das Gefühl von Geborgenheit in ihr auslösen?

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie war zu erschöpft. Ihre blassen Lippen bebten nur stumm. Sie knetete ihre zittrigen Hände, versuchte ruhig zu atmen und sich zu beruhigen. Flüchtig blickte sie umher, um herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand.

Sie war offensichtlich in einer schäbigen, alten Hütte. Von der Decke baumelte eine Armeelaterne, und das flackernde Licht ließ tanzende Schatten auf den Wänden erscheinen. Außer dem Bett, in dem sie lag, und einigen Taschen und Holzkisten gab es nicht viel.

Als sie für einen kurzen Moment die Augen schloss, glaubte sie, Meeresrauschen von draußen zu hören. Sie musste sich irgendwo am Wasser befinden. Der Geruch von Salz hing in der Luft.

»Hier, du musst am Verhungern sein«, sagte der Junge plötzlich mit unglaublich netter Stimme und riss Ciel aus den Gedanken.

Er reichte ihr einen Teller, auf dem mit Wurst und Käse belegtes frisches Brot, Obst und Gemüse lagen. Ciel starrte das Essen an, so lange bis ihr der Magen knurrte.

Der blonde Junge lachte leise. »Jetzt iss schon!«

Ciel sah ihn skeptisch an. »Wo ist …?«

»Toivo? Hier!«, unterbrach er sie und zeigte zu dem kleinen Welpen, der es sich auf einer Decke gemütlich gemacht hatte und schlief.

Vor ihm lag ein großer angekauter Knochen, ein leerer Fressnapf und ein weiteres Schälchen mit Wasser standen ebenfalls in seiner Nähe.

»Woher …«, begann Ciel, doch wieder wurde sie unterbrochen.

»Woher ich wusste, dass du vermutlich hungrig bist?«

»Nein, ich will wissen, woher du meinen Namen kennst und Toivos.« Sie starrte auf ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. »Und was ist geschehen? Dieser Supermarkt … er stand plötzlich in Flammen. Du hast es doch auch gesehen, du warst dabei! Und dann dieses Mädchen, das genauso aussieht wie ich … und plötzlich ist auch noch der Verkäufer zusammengebrochen und …« Ihr versagte die Stimme und hinderte sie am Weitersprechen. Sämtliche Erinnerungen an diese schrecklichen Ereignisse explodierten förmlich vor ihren Augen. Sie schloss die Lider kurz, doch allein diese kleine Bewegung sandte nur erneut stechende Schmerzen durch ihren Kopf und ihren Körper. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, als Tränen in ihr hochstiegen.

»Hey, hör mir zu.« Der Junge nahm sanft ihre Hände herunter und legte sie in ihren Schoß, damit sie ihn ansah. »Ich werde dir alles erzählen. Du musst dich aber beruhigen.«

Ciels Lippen bebten. Sie öffnete den Mund, doch der Kloß in ihrer Kehle stoppte ihre Worte.

»Aber zuerst wirst du etwas essen. Toivo hatte ebenfalls großen Hunger.« Der Junge lächelte und hielt ihr den Teller unter die Nase. »Du ernährst dich nur von hartem Brot und abgelaufenen Dingen. Es wird Zeit für ein paar Vitamine mehr. Iss einen Apfel. Tomaten, Karotten und Gurken habe ich auch besorgt. Extra für dich. Ich wusste nicht, wann wir uns zum ersten Mal begegnen, aber ich habe jeden Tag gehofft, dass dieser Moment endlich kommen würde.« Seine Augen leuchteten hell.

Ciel starrte auf den Teller, streckte die Hand aus und wollte sich gerade eines der belegten Brote nehmen, doch plötzlich zögerte sie. »Du hast das Essen doch nicht etwa vergiftet?«

Der Junge lachte. »Du bist viel zu wertvoll, um dich zu töten.«

Ciel fand seine Worte komisch, und auch, dass er über sie Bescheid wusste, aber ihr Magen knurrte, und sie hatte seit Tagen nichts Anständiges gegessen, also griff sie zu und machte sich über ein Schinkenbrot her.

Der Junge lächelte, während er ihr beim Essen zuschaute, doch dann wurde seine Miene plötzlich traurig, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Ciel, hör mal …«

»Woher kennst du denn nun meinen Namen?«, unterbrach sie ihn, nachdem sie hastig zu Ende gekaut hatte. »Und woher weißt du so viele Dinge über mich? Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet? Bist du ein Kunde von meinem Chef?«

Warum nur spürte sie so eine starke Verbundenheit zu diesem Jungen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte? Trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sie einen Kindheitsfreund nach Jahren wiedergetroffen, ohne jedoch seinen Namen zu kennen. Dennoch spürte sie, dass da etwas zwischen ihnen war.

»Ich bin das nicht gewesen mit dem Feuer, okay?«, sagte der Junge traurig, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Ich bin zwar anders als die Menschen, die du kennst, aber es gibt Leute, wie d–« Er stockte und schüttelte den Kopf, als hätte er etwas sagen wollen, das er nicht sagen durfte. »Ich meine, Leute, die dir sehr ähnlich sind und solche ungeheuren Kräfte haben, die du dir nicht mal im Traum vorstellen kannst. Auch du hast besondere Kräfte, aber wenn du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast, passiert so etwas wie heute. Du hast mit einem einzigen Blick dafür gesorgt, dass der Supermarkt in Brand stand. Aber der Verkäufer ist nicht deinetwegen gestorben. Du tötest keine Menschen, im Gegenteil.«

Ciel wollte gerade den nächsten Bissen nehmen, als sie erstarrte und den Mund schloss. Fassungslos starrte sie ihn an. Doch der Junge sprach einfach weiter, ohne auf ihre Verblüffung zu reagieren.

»Nein, du bist eigentlich von friedlicher Natur. Das gerade war ein Unfall. Und das mit dem Verkäufer, war sie. Sie hat das getan! Sie kann auch nichts dafür, aber wo immer sie hingeht, zieht sie eine Spur von Leichen hinter sich her. Aber du bist ihr Gegenstück! Du bist anders. Du kannst heilen und sogar tote Tiere wieder ins Leben zurückholen. Doch wenn du verzweifelt oder wütend bist, wird der Funken in dir, dein Licht, unkontrollierbar hell erstrahlen und … ja, dann geschehen halt solche furchtbaren Brände. Also, hör zu, ihr …«

»Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe kein einziges Wort. Du redest wirres Zeug, du Spinner!« Ciel blickte ihn ängstlich an und legte das Brot, das sie sich gerade genommen hatte, zurück auf den Teller. Ihr war der Appetit vergangen. Wieder zitterte sie am ganzen Körper, und doch regten seine Worte etwas tief in ihr. Ihre Haut kribbelte, und ihr Herz schlug schneller.

»Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.« Sie wollte aufstehen und davonlaufen. Raus aus der Hütte und fort von dem unheimlichen Typen, dessen seltsames Gerede ein ungutes Kribbeln in ihrem Inneren auslöste. Doch er hielt sie wieder am Handgelenk fest.

»Nein, bitte hör mir zu. Dein Zwilling ist gefährlich! Du darfst ihr nicht zu nahekommen. Du wirst sterben …«

»So ein Blödsinn! Lass mich sofort los!« Ciel riss sich los, schnappte sich den schlafenden Toivo und rannte mit ihm zur Tür.

»Ciel, warte! Ich muss dir noch etwas sehr Wichtiges sagen!«, schrie der Junge und folgte ihr hinaus aus der Hütte und in die kalte Nacht.

Er hatte sie schnell eingeholt, ehe Ciel in der Lage war, sich zu orientieren und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Sie kannte diese Gegend nicht. Stattdessen stand sie mit einem unbekannten Jungen, der sie wieder am Arm festhielt, an einem Strand vor einer schäbigen, heruntergekommenen Hütte. Überall im Sand lagen leere Flaschen und anderes undefinierbares Zeug herum. Tote Möwen wurden von dem Wasser umspült, das gegen das Ufer schlug.

Niemand, nur ein Verrückter, würde auf die Idee kommen, in so einer dreckigen Gegend und in einer so heruntergekommenen Hütte zu wohnen, wie es dieser Junge tat. Es sei denn, dieser Jemand wollte unerkannt und in Ruhe sein Leben leben, abgeschieden von der Zivilisation. Dieser Typ war eindeutig verrückt. Er machte Ciel inzwischen Angst und zwar auf eine Art und Weise, wie sie es nicht in Worte fassen konnte.

»Lass es mich erklären!«, flehte er mit solch einer Verzweiflung in der Stimme, dass sie glaubte, er würde gleich anfangen zu weinen. Er packte sie nun mit beiden Händen an den Schultern und wirbelte sie herum, sodass sie sich ansahen.

»Du bist in großer Gefahr, begreifst du das denn nicht? Du und sie …«

»Nein! Was ist dein Problem? Ich kenne dich nicht einmal! Und jetzt lass mich los.«

Dann tat Ciel etwas, das sie noch nie getan hatte. Sie holte mit der flachen Hand aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Der Junge keuchte auf, ließ sie augenblicklich los und taumelte benommen zurück. Ciel ließ die Hand sinken, in der anderen Armbeuge hielt sie noch immer Toivo fest. Als sie den Jungen anblickte, erschrak sie. Die Stelle, auf die sie ihn geschlagen hatte, war mit blutroten, angeschwollen Brandblasen übersäht. Es roch nach verbranntem Fleisch, und Ciel musste von dem Gestank würgen.

»War ich das? Habe ich dir das angetan?«, stammelte sie und starrte auf ihre zitternde Hand. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich … wie habe ich das …« Sie hatte ihm mit einem einzigen Schlag die Haut verbrannt.

Doch dem unbekannten Jungen waren keine Schmerzen anzusehen.

»Ciel …« Der Junge trat einen Schritt auf sie zu.

Doch sie wollte kein Wort mehr von ihm hören. Sie wirbelte herum und rannte davon, während Tränen ihr die Sicht nahmen.

»Warte!«, schrie er und wollte ihr nach, doch eine gehässige Stimme hinter ihm hinderte ihn daran.

»Na, Lucien, du hoffnungsloser Fall. Was versuchst du da zu tun?« Ein fieses Lachen ertönte.

Lucien sah Ciel nach, die um eine Ecke bog und verschwand, dann wirbelte er herum. »Oscuro, was tust du hier?«

»Zusehen, wie deine Hoffnung, in den Besitz des Engelszwillings des Lichts zu kommen, immer mehr schwindet.«

Oscuro trat aus dem Schatten der Hütte hervor. »Ich bin gerade zufällig an deiner baufälligen Bruchbude vorbeigekommen und habe Ciel herausstürmen sehen. Etwa ein missglücktes Date?« Er strich sich das dunkle Haar zurück und feixte. »Sie scheint dich nicht sonderlich zu mögen, im Gegenteil. Dein Gesicht sieht furchtbar aus.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die eigene Wange, um auf Luciens verbrannte Gesichtshälfte hinzuweisen.

Lucien tastete nach der schmerzhaften Stelle. Er musste sie schnell heilen lassen, die Wunde brannte höllisch.

»Sie hat überreagiert«, murmelte er und biss sich auf die Lippe.

»So bekommst du sie niemals.« In Oscuros Augen funkelten Hohn und Spott. »Ich werde das jetzt übernehmen.«

»Wenn du es wagst, sie anzufassen …«, knurrte Lucien und hob drohend die Fäuste. »Ich weiß genau, dass deine Pläne, was die Engelszwillinge betrifft, sehr anders sind als meine. Du Verräter! Unsere Mission ist ein und dieselbe, schon vergessen?« Lucien wollte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht rammen, doch er hielt sich zurück und fasste sich mit einem tiefen, bebenden Atemzug. »Ich habe jetzt keine Zeit für dein Gequatsche.« Er drehte sich um, um Ciel zu folgen. Er wusste zwar nicht, wo sie jetzt war, aber er würde sie finden. Doch Oscuros eisige Stimme ließ ihn erstarren.

»Worüber hast du mit ihr gesprochen?«

»Ich habe ihr nur versucht klarzumachen, dass es nicht ihre Schuld war«, murmelte Lucien und wünschte sich, ihr das alles niemals erzählt zu haben. Oscuro hatte recht – Ciel verabscheute ihn nun wahrscheinlich.

Oscuro grinste. »Ah, ich verstehe, du versuchst den Engelszwilling des Lichts um den Finger zu wickeln. Und zwar, indem du ihr Dinge erzählst, die sie nicht hören will und niemals begreifen kann. Sie hat keinerlei Erinnerungen an das, was sie ist, du Vollidiot. Es ist ein sinnloses Unterfangen, das du da versuchst! Du weißt genau, dass sie sich womöglich niemals in ihre wahre Gestalt wird verwandeln können, wenn sie sich an etwas erinnert. Das würde alles kaputt machen, verdammt!« Seine Augen wurden schmal. »Sag mir, wie gedenkst du, an den Zwilling der Finsternis heranzukommen? Sie wird genauso wenig was mit dir zu tun haben wollen, wie der Engel des Lichts. Du wirst keine der beiden bekommen.« Zynisch lächelnd machte er einen Schritt auf Lucien zu, doch der wich nicht zurück. »Sobald ich beide Zwillinge habe, werden ihre Erinnerungen erwachen. Sie werden sich wieder daran erinnern, was sie sind. Ihre mächtigen Flügel werden hervorschießen, und sie werden ihrer Bestimmung folgen, dem Töten von niederträchtigen, bösen Menschen. Selbst die Königin wird nichts gegen mich ausrichten können. Sie kann mich mal mit ihrer dämlichen Mission.«

»Wenn du meinst, damit durchzukommen, dann bist du nichts weiter als ein naiver Dummkopf!«, feuerte Lucien zurück.

»Du solltest auf meiner Seite stehen, Lucien«, zischte Oscuro. »Wieso willst du nicht einsehen, dass mein Weg der einzig richtige ist? Es ist weder Ciels noch Heavens Bestimmung, die Menschen zu reinigen, sondern sie zu vernichten.«

Doch Lucien interessierte sich nicht länger für ihn. Das hier war vergeudete Zeit. Er rannte los. Er musste Ciel auf seine Seite ziehen – ehe etwas geschah, das sie und auch er noch schwer bereuen würden.

Kapitel 2

Blutiger Schicksalsschlag

 

Es war lange nach Mitternacht, als Ciel erschöpft, ausgelaugt und ganz in Gedanken versunken im kleinen Laden des 24-Pizza-Lieferservices Mamma Mia aufkreuzte.

Auf dem Weg dorthin hatte sie sich mehrmals verlaufen, war besorgt und grübelnd herumgeirrt und immer wieder die grausamen Dinge durchgegangen, die geschehen waren und die sie sich noch immer nicht erklären konnte.

Sie hatte noch schnell Toivo an seinem Platz in der Gasse angebunden, bevor sie nun ihrem Chef gegenübertreten musste. Dass sie die ganze Zeit nicht aufgetaucht war, ihre Arbeit nicht erledigt hatte und ihr nun womöglich schlimme Konsequenzen drohten, interessierte sie im Moment jedoch kaum. Ihre Gedanken kreisten immer noch um all die mysteriösen Dinge, die ihr passiert waren. Sie hatte Angst, fühlte sich hilflos und wusste nicht, was sie tun oder glauben sollte. Es gab niemanden, der ihr aus diesem schwarzen Loch heraushelfen konnte. Sie musste mit all ihren verwirrenden Gefühlen und jenen merkwürdigen Ereignissen selbst klarkommen. Und nichts von alledem ergab einen Sinn, so sehr sie auch versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen.

Der Laden war nicht sonderlich sauber. Die Tische klebten und die roten Sitzbezüge der Stühle hatten Risse, aus denen die Füllung quoll. Es roch unangenehm nach Schweiß und Zwiebeln. Auch der Boden war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gewischt worden. Das Licht der Glühlampen flackerte schwach, eine funktionierte gar nicht.

Außer ihr selbst und dem ständig grimmig dreinblickenden Inhaber war niemand mehr hier. Ihr Chef Henry stand hinter dem Tresen und bereitete gerade mehrere Pizzateige zu. Er schnaubte, Strähnen seines schwarzen Haares klebten ihm an der schweißnassen Stirn, während er wortlos die Teige knetete. Über seinen Schwabbelbauch spannte sich eine Schürze, die mit Mehl und Schmutzflecken übersät war. Er war so in seine Arbeit versunken, dass er nicht gehört hatte, wie Ciel den Laden betreten hatte. Erst als sie am Tresen stand, blickte er zu ihr auf.

Seine Augen verengten sich, sein Gesicht färbte sich schneller rot als eine Ampel, und der hässliche Schnauzbart erzitterte, als er tief Luft holte, um Ciel eine Standpauke zu halten.